CLB Chemie in Labor und Biotechnik - Chemie - Leben - Biotechnik
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
CLB Analytik Biotechnik Optimierte Prozesse Komplexe Materialien Maßgeschneiderte Moleküle Menschen und Chemie Chemie in Labor und Biotechnik Aus- und Weiterbildung Emergente Phänomene Gips in Natur und Industrie Primärdaten in der Chemie 11 / 2010 *** 60 Jahre CLB *** D 2046 E
CLB-Geschichte Einen Geschichtsbezug für eins der Hauptthemen dieser CLB zu finden erforderte nur ein Zurückblicken um 22 Jahre; zu neu sind die Arbeiten zu komplexen Systemen, Emergenz etc. Ein Grund dafür ist sicherlich das Aufkommen immer schnellerer Computer, die erst Simulationen von selbstorganisierenden oder deterministisch chaotischen Systemen ermöglichen. Dabei führen diese Themen zu einem Umbruch in dem Verständnis der Naturwissenschaften, zusammen mit Relativitätstheorie und Quantentheorie. Dies beschrieb CLB-Autor Prof. Josef Schurz in der Augustausgabe der CLB von 1988 so deutlich in seinem mehrseitigen Artikel „Prometheus oder Fachidiot? Wissenschaftsver- ständnis im Wandel“, dass wir hier entsprechende Auszüge quasi als Einleitung in die Thematik der Emergenz in dieser CLB wiedergeben. U2 CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010
Editorial Liebe CLB-Leserin, lieber CLB-Leser, wenigstens in der Chemie lag mein Nobel- Der Artikel über die Emergenz spannt auch preisraten vom vergangenen Editorial richtig; einen Rahmen über den Artikel zu Neuro- ich hatte ja auf den Bereich der Katalyse ge- morphic engineering mit seinen Versuchen tippt. Der Preis ging an drei Forscher für „die zur Simulation des Gehirns (siehe vorange- palladium-katalysierte Verknüpfung in orga- gangene CLB vom Oktober). Wie dort und nischer Synthese“ (s. S. 507). Und was den auch am Ende dieses Emergenz-Artikels Physik-Nobelpreis anging: Zumindest das in angesprochen zeichnen sich mittlerweile diesem Jahr ausgezeichnete Thema „Gra- ja bislang unvorstellbare Möglichkeiten ab. phen“ hat die CLB erst kürzlich aufgegriffen, Sie haben bei ihrer denkbaren Realisierung als Artikel von den zwei Jugend forscht-Bun- zur Folge, dass die erstaunlichste Emergenz, dessiegern 2010 für die beste interdiszipli- die wir kennen, unser Bewusstsein, noch näre Arbeit (siehe CLB 07-08/2010: Jugend übertroffen werden könnte. Aber lesen Sie forscht – Anwendungen von Graphen, Seiten selbst... 310-319). Wenn das Licht nicht so langsam wäre, In der Physik galt lange Zeit übrigens auch könnten wir uns wohlmöglich bereits über Hermann Haken als Kandidat für den No- die Folgen weitergehender Emergenz mit belpreis, zumindest in Deutschland. Haken anderen intelligenten Bewohnern der begründete die Synergetik, die mittlerweile Milchstraße austauschen. Nach neuesten aber von dem angloamerikanischen Begriff Abschätzungen von Wissenschaftlern sind der Nonlinear Science überdeckt wird. Tat- erdähnliche Planeten in unserer Galaxis sächlich erschließt sich jemandem, der sich nämlich nicht selten, sondern überaus häufig zunächst nur einem dieser Begriffe nähert, anzutreffen (Science 29 October 2010: Vol. eine erstaunliche Vielfalt von Phänomenen, 330. no. 6004, pp. 653 - 655). Nach ihren für die es nur wenige methodische Herange- Berechnungen besitzt fast jeder vierte son- hensweisen gibt – neben der Synergetik zum nenähnliche Stern in der Galaxis ein Plane- Beispiel auch die Chaostheorie. Die Phäno- tensystem, das erdähnliche Planeten enthält. mene versetzen uns aber immer wieder in Demnach dürfte allein in unserer Milchstra- Erstaunen, und sie haben eins gemeinsam: ße mit Dutzenden Milliarden erdähnlicher Aus einem Viel-Komponenten-System tau- Planeten zu rechnen sein! Wenn da nicht chen plötzlich Eigenschaften auf, mit denen auch außerirdisches intelligentes Leben niemand rechnen konnte, weil die Einzel anzutreffen ist, vielleicht sogar ein bereits elemente nicht im Ansatz Hinweise auf die- emergiertes planetares Bewusstsein, se neuen Eigenschaften geben. Man spricht daher von Emergenz. Die Faszination dieser Phänomene will ich Ihnen in dieser CLB auf Ihr den Seiten 480-491 weitergeben. Die dort besprochenen Begriffe Emergenz, Komplexität und deterministisches Cha- os haben dem Weltbild der Naturwissen- schaften im ausgehenden 20. Jahrhundert im Vergleich zu dessen Anfangsjahren „den Rest gegeben“ hin zu einem fundamentalen Wandel. Angestoßen wurde dieser zuvor schon durch die Relativitätstheorie und die Quantentheorie (siehe dazu auch den Teil des Aufsatzes „Wissenschaftsverständnis im Wandel“ von 1988 auf der nebenstehenden CLB Geschichts-Seite). CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010 473
INHALT Emergenz: Der Funke der Schöpfung Aufsätze Wenn viele Teile wechselwirken – mathematisch fassbar und doch unvorhersehbar__________________ 480 Rohstoff für das Kunsthandwerk – oder auch Kraftwerkprodukt Gips als Natur-, Synthese- und Industrie-Produkt__________________ 492 Editorial_ __________________________________________________ 473 Rubriken Impressum_ ________________________________________________ 475 F & E im Bild________________________________________________ 475 Unternehmen_______________________________________________ 476 Personalia__________________________________________________ 478 Nachschlageseite____________________________________________ 503 Forschung und Technik________________________________________ 504 Der neueste Stand___________________________________________ 506 Umfeld Wissenschaft_________________________________________ 507 Literatur_ __________________________________________________ 508 Zum Titelbild: Eisblumen an einem Fenster Bezugsquellenverzeichnis_____________________________________ 519 sind ein Beispiel für emergente CLB-Geschichte_______________________________________________ U1 Phänomene. Über Emergenz in Theorie und Beispielen berichtet der Artikel ab Seite 480 (Foto: Kickuth). Deutschland attraktiv für Spitzen-Studierende Erreichen & Erhalten Vor allem bei Ingenieuren und Naturwissenschaftlern hoch im Kurs___ 510 Zahl der Beanstandungen weiterhin gering BVL stellt Ergebnisse der amtlichen Lebensmittelüberwachung 2009 vor____________________ 511 Komplexe Daten sorgen für Abstimmungsbedarf Studie über vernetzte Primärdaten-Infrastruktur in der Chemie______ 512 Konstrukteure verzweifelt gesucht Projekt „Konstrukteur 2020“ gestartet – Berufsbild attraktiver darstellen________________________________ 516 Weiterer Investitionsbedarf in Ausbildung Deutschland hinkt Österreich und Schweiz bei Bildungsausgaben hinterher________________________________ 517 Probenvorbereitung und erste Analysen Mehrere richtige Antworten pro Frage sind möglich._______________ 518 474 CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010
F & E im Bild Pheromone spielen nicht nur beim Termitenbau eine Rolle (s. S. 482 und 483: Allelopathie). Bei der nur etwa zwei Millimeter großen Erz- wespe Nasonia vitripennis sind sie von zentraler Bedeutung bei der Partnersuche. Wie nun eine Gruppe von Forschern um Prof. Joachim Ruther von der Universität Regensburg herausgefunden hat, ist die Reaktion auf solche chemischen Reize bei der Erzwespe allerdings auch maßgeblich von deren Paarungszustand abhängig. So ergaben Verhaltensuntersuchungen im Labor, dass ausschließlich jungfräuliche Weibchen von dem Duft der Männchen angezogen werden. Die attraktive Wirkung des Pheromons geht jedoch inner- halb weniger Minuten nach der Paarung verloren. Die attraktive Wirkung der Männchen geht von einem aus drei Kom- ponenten bestehenden Sexualpheromon aus, das sie in ihrem Enddarm produzieren und über die Analöffnung durch tupfende Bewegungen ihrer Hinterleibspitze abgeben. Faszinierenderweise ist es ein weiteres Pheromon des sich paarenden Männ- chens, welches die Reaktion der Weibchen auf das Sexualpheromon praktisch abschaltet. Das Männchen trägt den – bisher noch nicht identifizierten – Stoff während der Balz aus einer oralen Drüse auf die Antennen des Weibchens auf, was bei die- sem Paarungsbereitschaft auslöst und gleichzei- tig dafür sorgt, dass es sich nicht mehr zu dem Duft ande- rer Männchen hingezogen fühlt. Stattdes- sen bevorzugen verpaarte Weibchen nun den Geruch von Flie- genpuppen, die sie zur Eiablage brauchen. Das Foto zeigt ein Pärchen der Erzwespe Nasonia vitripennis bei der Paarung. Das Weibchen hat mit dem Pheromone für Sex Legebohrer zur Eiablage in ein Fliegen- puparium (Puppenhülle) eingestochen (Abb.: Uni Regensburg). Impressum CLB Redaktion: Abonnentenbetreuung: Erfüllungsort ist Heidelberg. Mitglieder Chemie in Labor und Biotechnik Rolf Kickuth (RK, verantwortlich; Natalia Bajramovic des VBTA, des VCÖ sowie des VDC erhal- E-Mail: kickuth@clb.de), E-Mail: service@clb.de ten die CLB zu Sonderkonditionen. Verlag: Dr. Christiane Soiné-Stark Agentur & Verlag Rubikon (CS, E-Mail: stark@clb.de). Layout und Satz: Anzeigenpreisliste: für technische und wissenschaftliche Agentur & Verlag Rubikon Nr. 46 vom 01. 12. 2006. Fachinformation – Rolf Kickuth Ständige Mitarbeiter: Druck: Printec Offset, Ochshäuser Straße Anschrift: Raymond Blavatt (Grafik) San Diego (USA); 45, 34123 Kassel Bei Nichterscheinen durch Streiks oder CLB, Agentur & Verlag Rubikon Dr. Maren Bulmahn, Bensheim; Störung durch höhere Gewalt besteht kein Bammentaler Straße 6–8 Knut Burgdorf, Ried-Brig (CH); CLB erscheint monatlich. Anspruch auf Lieferung. 69251 Gaiberg bei Heidelberg Prof. Dr. Wolfgang Hasenpusch, Hanau; © 2010 Agentur und Verlag Rubikon Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Deutschland Dr. Mechthild Kässer, Diekholzen; Rolf Kickuth einzelnen Beiträge und Abbildungen sind E-Mail: redaktion@clb.de Dr. Annette von Kieckebusch-Gück, Liestal (CH); urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer- Prof. Dr. Röbbe Wünschiers, Quedlinburg. Bezugspreise: tung außerhalb der engen Grenzen des Gründungsherausgeber: CLB Chemie in Labor und Biotechnik Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim- Dr. Dr. h.c. Wilhelm Foerst (†) VBTA-Verbandsmitteilungen: mit der Beilage „CLB-MEMORY“. Ein- mung des Verlags unzulässig und straf- Prof. Dr. Wilhelm Fresenius (†) Thomas Wittling, zelheft – außerhalb des Abonnements bar. Raiffeisenstraße 41, 86420 Diedorf – 13,00 Euro, im persönlichen Abonne- Für die Rückgabe unverlangt eingesand- Herausgeber: Telefon (0821)327-2330 ment jährlich 104,00 Euro zuzüglich Ver- ter Buchbesprechungsexemplare kann Prof. Dr. Dr. U. Fitzner, Ratingen Fax (08 23 8) 96 48 50 sandkosten; ermäßigter Preis für Schüler, keinerlei Gewähr übernommen werden. Prof. Dr. K. Kleinermanns, Düsseldorf, E-Mail: info@vbta.de Studenten und Auszubildende (nur ge- Prof. Dr. J. Schram, Krefeld gen Vorlage der Bescheinigung) jährlich ISSN 0943-6677 Prof. Dr. Georg Schwedt, Bonn Anzeigenservice: 79,45 Euro zuzüglich Versandkosten, Dr. Wolfgang Schulz, Stuttgart Natalia Bajramovic inkl. 7% MWSt. Ausland sowie Firmen- Prof. Dr. G. Werner, Leipzig. CLB, Agentur & Verlag Rubikon bzw. Bibliothekenabonnements auf An- Bammentaler Straße 6–8 frage. Bezug durch den Buchhandel und 69251 Gaiberg bei Heidelberg den Verlag. Das Abonnement verlängert Telefon (0 62 23) 97 07 43 sich jeweils um ein weiteres Jahr, falls Fax (0 62 23) 97 07 41 nicht 8 Wochen vor Ende des Bezugsjah- E-Mail: service@clb.de res Kündigung erfolgt. CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010 475
Unternehmen NACHRICHTEN & NOTIZEN MOFs im Industriemaßstab Vizaar AG, Albstadt, übernimmt alle Aktien der Fort Neues Verfahren der BASF für Gasspeicherung SA in Dourdan. Der deutsche Spezialist für die Ent- E wicklung, Herstellung und Prüfdienstleistung fernge- rstmals im Industriemaßstab steuerter Sichtprüfungen stärkt damit seine Position lösungsmittelfrei herstel- auf dem französischen Markt. len lassen sich jetzt metallor- Galapagos, eine belgische Biotech-Firma aus Mechelen, ganischer Gerüstmaterialien hat den Europäischen Biotechnica-Preis 2010 gewon- (MOF; metal organic frame- nen. Die Firma ist spezialisiert auf die Entwicklung von work). Antikörper- und kleinmolekularen Therapien. Entdeckt wurden die MOFs Roche erwarb jetzt für 175 Millionen US-Dollar welt- Ende der 90er Jahre von dem US- weit alle Entwicklungs- und Vertriebsrechte an Dano- amerikanischen Chemiker Omar previr von InterMune, Inc. Danoprevir ist ein gegen das M. Yaghi (siehe CLB 03-2009, S. Hepatitis-C-Virus gerichteter Proteasehemmer der 2. 94-99). BASF-Forscher hatten Generation. nach seinem 1999 veröffentlich- Metal organic framework-Prototyp BASF wird ihre Geschäfte mit Styrol-Monomer (SM), ten Artikel in der Fachzeitschrift MOF-5 (Abb.: Yaghi). Polystyrol (PS), Acrylbutadienstyrol (ABS), Styrol-buta- Nature Kontakt aufgenommen diencopolymere (SBC) und weiteren Styrol-basierten und forschen seither gemeinsam Copolymeren ausgliedern und in separate Gesell- mit Yaghi an der Synthese me- Verfahren eine hohe Materialaus- schaften einbringen. Das globale Geschäft mit Poly- tallorganischer Gerüstmaterialien. beute aus wässrigem Medium und styrolschäumen verbleibt innerhalb der BASF. Das gilt Ziel ist es, MOFs mit möglichst eignet sich für bestehende Produk- auch für die zu ihrer Herstellung notwendigen SM- großer Oberfläche und Speicher- tionsanlagen. und PS-Kapazitäten in Ludwigshafen. dichte zu entwickeln. Mit MOF- Die nach dem neuen Verfah- Meeco Inc., USA, Hersteller von Feuchtigkeitsanaly- 210 gelang Yaghi vor kurzem die ren produzierten MOFs werden satoren für industrielle Anwendungen, erweitert sein Synthese eines Zinkcarboxylats derzeit zur Erdgasspeicherung im globales Vertriebsnetz in Europa. Dazu wurden Part- mit einer Oberfläche von mehr Schwerlasttransport getestet. Erd- nerschaften mit vier neuen Distributoren vereinbart: als 10 000 Quadratmetern pro gas-Fahrzeuge sollen in Zukunft Bernt Messtechnik GmbH in Deutschland, APT in Ita- Gramm Material. Zum Vergleich: mit einer Tankfüllung doppelt so lien, SPA (Systemy Pomiarowo-Analityczne) in Polen Die durchschnittliche Oberfläche weit fahren können wie bisher. und OmniProcess AB in Schweden. der bekannten MOFs lag bisher Wegen ihrer Struktur und großen Tiger Optics hat neue Partnerschaftsabkommen mit bei maximal 5000 Quadratmetern Oberfläche eröffnen die MOFs Per- acht namhaften Distributoren in Europa und den USA pro Gramm. spektiven für alternative Antriebs- unterzeichnet, um die stark steigende Nachfrage nach Die nun von der BASF entwi- techniken, in der Katalyse, als modernen Gas-Analyzern zu erfüllen. Die Partner- ckelte großtechnische Synthese Nanoreaktoren oder bei der Wirk- schaften bestehen zu Bernt Messtechnik in Deutsch- hat den Vorteil, dass keine or- stofffreisetzung und sind deshalb land, S.E.C. Scientific Equipment (Israel), A&LCO ganischen Lösungsmittel mehr sowohl für die Industrie als auch Industries (Italien), APT (Italien), SPA (Polen), OmniPro- benötigt werden. Nach Unterneh- für die universitäre Forschung von cess (Schweden), Instrumentación Analítica (Spanien) mensangaben ergibt das einfache großem Interesse. und Flowmaster (USA). Lanxess hat an seinem Standort Jinshan in Shang- Zum Artikel rechte Seite: GFK-Produktionsmengen in Europa nach Verfahren/Teilen hai/China eine neue Produktionsanlage für Eiseno- (2010* = geschätzt; Abb.: AVK). xid-Schwarzpigmente in Betrieb genommen. Künftig stellt das Feinchemie-Unternehmen zusätzlich zu den Eisenoxid-Gelbpigmenten, von denen bislang 28 000 Tonnen jährlich produziert werden, weitere 10 000 Tonnen Eisenoxid-Schwarzpigmente her. 454 Life Sciences, eine Firma von Roche ist jetzt eine Partnerschaft mit der britischen DNA Electronics eingegangen. Ziel ist die Entwicklung eines kosten- günstigen Hochdurchsatz-DNA-Sequenziersystems. Nunhems, eine Firma von Bayer CropScience, hat eine neue Gemüsesaatgut-Aufbereitungsanlage in Parma, USA, eröffnet. Rund 30 Millionen US-Dollar hat das Unternehmen in die neue Anlage und die Moder- nisierung bestehender Kapazitäten für Saatgutaufbe- reitung und -lagerung investiert. 476 CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010
Unternehmen Markt für Composites besser als prognostiziert AVK: Europa-Produktion 2010 um ein Viertel höher als im Vorjahr D er Markt für Faserverbund- kunststoffe/Composites 2010 wird sich voraussichtlich der Erzeuger von Rohstoffen (Harze, nur wenigen Herstellern produ- Glasfasern). Es kann sein, dass nach dem zunächst erfolgten Abbau von ziert, wohingegen die Anzahl der Komponentenhersteller und somit wesentlich besser entwickeln Lagervorräten das derzeitige starke die Menge der hergestellten Pro- als 2009 prognostiziert. Das Wachstum auch durch Auffüllen dukte sehr hoch und damit schwer gesamte Produktionsvolumen der Läger bedingt ist. In Europa gibt zu beurteilen ist. Die Bewertung des betrachteten europäischen es etwa 10 000 Composites verar- des Marktvolumens erfolgt daher Marktes wird bis Ende 2010 beitende Unternehmen mit über anhand des Geldwertes der ver- vermutlich um etwa ein Viertel 100 000 Beschäftigten. Die meistenkauften Fasern. höher ausfallen als im Vorjahr. Unternehmen sind kleine oder mit- Im Rahmen der Wirtschafts- und Damit ist – früher als erwartet – telständische, die nur schwer sta-Finanzkrise hat sich der Carbonfa- das Niveau des Jahres 2008 fast tistisch zu erfassen sind. Danebenser-Markt analog zur allgemeinen wieder erreicht. gibt es mehrere tausend Unter- Industrie im Jahr 2009 rückläufig Wie im Vorjahr hat der deutsche nehmen, die Zulieferer, Ausrüster entwickelt. Inzwischen geht es Fachverband AVK – Industrieverei- oder Dienstleister sind. Nachdem deutlich aufwärts. Bis 2011 wird nigung Verstärkte Kunststoffe e.V. 2009 die schlechte wirtschaftlichedas Niveau von 2008 voraussicht- die Einschätzung der Produkti- Situation und die rückläufige Pro-lich wieder erreicht sein. Die Pro- onsmengen über eine Befragung duktion das dominante Thema war, duktion von CFK-Komponenten erhoben. Aus Gründen der Ver- beschäftigen sich die Unternehmen beginnt sich, bei vermutlich deut- gleichbarkeit beinhaltet das hier nun mit der Konsolidierung der lich geringeren Einbrüchen als auf betrachtete „Gesamt“-Europa nur verbesserten Geschäftslage, der der Faserseite, ebenfalls schnell zu die Länder, deren Produktion sich Wiederbelebung stillgelegter Pro- erholen. 2010 wird voraussichtlich den befragten Rohstofflieferanten duktionskapazitäten, dem Ausbau ein Wachstum von 7,5 % bringen. explizit erschließt. Die Marktdaten- der Produktion sowie der Erschlie-Dies entspricht einem weltweiten erfassung beruht auf dem Verstär- ßung neuer Märkte. Im Wesent- Produktionsvolumen von 5,8 Mrd. kungsmaterial Glasfasern, das in lichen hängt diese Entwicklung Euro. etwa 90% der Composites-Menge mit der deutlichen Belebung der Die CFK-Produktion findet verarbeitet wird. Erstmals enthält Absatzmärkte zusammen. derzeit hauptsächlich in vier Re- der AVK-Marktbericht auch Daten Die „Big Five“ sind weiterhin gionen statt. Hierbei entfällt der speziell zum CFK-Markt. Diese wur- Spanien, Italien, Deutschland, Hauptanteil auf Nordamerika den vom CCeV – Carbon Composi- Großbritannien und Frankreich. (36%) und Westeuropa (34%). In tes e.V. – erhoben. Die unterschiedliche Länder- der Asien-Pazifik Region und in Die o.g. generell positive Ent- Entwicklung hängt eng mit den Japan werden jeweils etwas mehr wicklung gilt aber nicht in gleichem differierenden Entwicklungen der als 10% des weltweiten Volumens Maße für jedes Unternehmen und Industrie-Anwendungen zusammen. produziert. nicht für jedes Land. Je nach Ein- Auch die wirtschaftspolitischen Die Hauptanwendungsindustrie satzgebiet, Verfahren und Unter- Reaktionen auf die Krise hatten von CFK-Komponenten ist die nehmensgröße unterscheidet sich Einfluss: So hat in Deutschland Luftfahrtindustrie. Hier werden die Wachstumsrate teils deutlich. die Förderung von Kurzarbeit da- etwa 29% der Produkte verwendet. Die Märkte sind weiterhin sehr dy- zu geführt, dass der betriebswirt-Weitere wichtige Bereiche sind die namisch. Noch immer gibt es ein en- schaftlich eigentlich erforderliche Windkraft (13%), der Fahrzeugbau, ormes, bisher nicht ausgeschöpftes Beschäftigungsabbau gebremst der Sportbereich und allgemeine Potenzial der Composites als nach- wurde. Auf wachsende Nachfrage Industrieanwendungen (jeweils haltig sinnvolle Substitution „traditi- konnte dann gut und schnell rea- 11%). Etwa 7% entfallen auf den onell“ eingesetzter Werkstoffe. giert werden. Im Zuge der Globa- Medizinbereich. Die GFK-Produktionsmenge ist lisierung spielen die asiatischen Für die nächsten Jahre sind in Europa mit 1,015 Millionen Märkte für die europäischen Com- die Aussichten sehr positiv: Dem Tonnen (s. Abb. linke Seite) um posites-Unternehmen künftig eine Carbonfaser- und damit dem CFK- etwa ein Viertel gegenüber dem immer größere Rolle. Markt wird bis 2015 ein über- niedrigen Volumen des Vorjahres durchschnittliches Wachstum gewachsen. Damit ist das Niveau Naturfaser- und kohlenstofffaser- prognostiziert, wobei Europa dann von 2008 fast wieder erreicht. Al- verstärkte Kunststoffe (CFK) allein möglicherweise die Hälfte lerdings beruht die Datenerfassung Carbonfasern, das Ausgangsmate- des Weltbedarfs ausmachen wird. im Wesentlichen auf den Angaben rial für CFK, werden weltweit von Dr. Elmar Witten CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010 477
Personalia BASF Ab Mai 2011 werden Sartorius tätig und leitet seit 2003 Der mit 5000 Euro dotierte Rei- Margret Suckale als Arbeitsdi- die Konzernkommunikation. mund-Stadler-Preis der Fachgrup- rektorin und Leiterin des Ressort pe Makromolekulare Chemie der II sowie Michael Heinz als Leiter Signature Diagnostics Gesellschaft Deutscher Chemiker des Ressort IV neu in den Vor- Sommer Der Molekularbiologe Dr. Rainer (GDCh) wurde dem Chemiker Prof. stand der BASF SE berufen. Dr. Kramer ist neuer Geschäftsführer Dr. Jürgen Groll (34), Lehrstuhl Hans-Ulrich Engel wird zum Chief und Vorstandsmitglied bei Signa- für Funktionswerkstoffe in der Financial Officer ernannt und über- ture Diagnostics, Potsdam. Das Medizin an der Universität Würz- nimmt das Ressort III mit Sitz in Unternehmen wird 2011 neue burg, verliehen. Mit dem Preis den USA. Dr. Harald Schwager Therapeutika gegen Dickdarm- werden Grolls wissenschaftliche folgt Engel als Leiter des Ressort krebs auf den Markt bringen. Leistungen bei der Entwicklung V. Als Nachfolgerin von Stephen Spiess von Funktionswerkstoffen für die K. Green soll Anke Schäferkordt Medizin gewürdigt; im Besonderen (47), Geschäftsführerin der Me- seine Arbeiten zu Polymeren für diengruppe RTL Deutschland und EHRUNGEN biofunktionelle Beschichtungen, RTL Television, in den Aufsichtsrat dreidimensionaler Zellkulturträger der BASF SE nachrücken. Der mit insgesamt 60 000 Euro und Hydrogele. Kösterr dotierte Paul Ehrlich- und Lud- GWK Die Gemeinsame Wis- wig Darmstaedter-Nachwuchs- Prof. Hans Wolfgang Spiess, Di- senschaftskonferenz (GWK) hat preis 2011 geht an den Dresdner rektor am Max-Planck-Institut für den bisherigen Staatssekretär in Biophysiker Dr. Stephan Grill Polymerforschung in Mainz, wurde der Senatsverwaltung für Bildung, (36), Forschungsgruppenleiter am in Kazan, Hauptstadt der Republik Wissenschaft und Forschung des Max-Planck-Institut für moleku- Tatarstan, mit dem internationalen Landes Berlin, den Geschichts- und lare Zellbiologie und Genetik und Zavoisky-Preis der Russischen Politikwissenschaftler Dr. Hans- Rybalka am Max-Planck-Institut für Phy- Akademien der Wissenschaften Gerhard Husung zu ihrem neuen sik komplexer Systeme, für seine ausgezeichnet. Spiess erhielt den Generalsekretär bestellt. Dr. Hu- „Beiträge auf dem Gebiet der Zellbi- Preis für seine Pionierarbeiten auf sung löst Jürgen Schlegel ab, den ologie“. Dr. Grill hat die „laserge- dem Gebiet der gepulsten magne- langjährigen Generalsekretär der stützte nicht-invasive intrazelluläre tischen Resonanz zur Erforschung ehemaligen Bund-Länder-Kom- Mikrochirurgie“ entwickelt. von supramolekularen Systemen mission (BLK) und jetzigen Ge- Felser sowie für die Entwicklung von neralsekretär der Gemeinsamen Die Juniorprofessorin und Phy- Methoden zur Abstandsmessung Wissenschaftskonferenz (GWK), sikerin Prof. Dr. Sarah Köster zwischen definierten Molekülseg- der in den Ruhestand geht. (31) erhält den mit 10 000 Euro menten im Bereich von 0,1 bis dotierten Helene-Lange-Preis 10 Nanometer. Diese Methoden MPIE Prof. Dr. -Ing. Dierk 2010 für Nachwuchswissenschaft- werden heute von vielen Arbeits- Raabe (45) ist als Vorsitzender Dingermann lerinnen, der von der EWE-Stiftung gruppen zur Untersuchung von der Geschäftsführung des Max- in Kooperation mit der Universität Biopolymeren eingesetzt. Planck-Instituts für Eisenforschung Oldenburg jährlich vergeben wird. (MPIE) für die nächsten fünf Jahre Sie leitet die Nachwuchsgruppe Der mit 10 000 Euro dotierte bestätigt worden. Der bisherige In- „Nanoscale Imaging of Cellular Dy- Wolfgang-Stille-Preis, der Wis- stitutsvorsitzende Prof. Dr. rer. nat. namics“ am Courant Forschungs- senschaftspreis der Paul-Ehrlich- Martin Stratmann (56) wird somit zentrum „Nanospektroskopie und Gesellschaft für Chemotherapie die Funktion des stellvertretenden Röntgenbildgebung“. (PEG), wurde an Prof. Dr. Oliver Vorsitzenden der Geschäftsfüh- Bürmann Keppler und Dr. Christine Goffi- rung am MPIE wahrnehmen. Dierk Nataliya Rybalka erhält für ihre net aus der Abteilung für Virologie Raabe ist seit 1999 Direktor am Forschungsarbeit mit Algenkul- des Universitätsklinikums Heidel- MPIE Düsseldorf und Professor turen den Preis „For Women in berg verliehen. Den Forschern ist am Institut für Metallkunde und Science“. Die Auszeichnung der es gelungen, Wirkmechanismen Metallphysik an der RWTH Aachen. deutschen UNESCO-Kommis- eines Medikaments gegen die sion, L’Oréal Deutschland und HIV-Infektion beim Menschen in Sartorius Petra Kirchhoff Goffinet der Christiane Nüsslein-Volhard- einem von ihnen entwickelten (41) ist neues Mitglied im Auf- Stiftung wird an Wissenschaft- transgenen Rattenmodell zu zei- sichtsrat der Sartorius AG. Sie lerinnen mit Kindern verliehen gen. Die Preisträger konnten zu- vertritt dort die Leitenden An- und ist mit 20 000 Euro dotiert. sammen mit Wissenschaftlern von gestellten und folgt auf Manfred Nataliya Rybalka ist seit 2008 am GlaxoSmithKline zeigen, dass die Werner (62), der dieses Mandat Albrecht-von-Haller-Institut für orale Behandlung der Ratten mit niedergelegt hat. Dipl.-Volkswirtin Keppler Pflanzenwissenschaften der Uni- dem HIV-Integrase-Inhibitor die- Petra Kirchhoff ist seit 2001 für versität Göttingen tätig. sen Einbau fast vollständig hemmt. 478 CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010
Förderungen / Preise Den mit 20 000 Euro dotierten Der Klung-Wilhelmy-Weberbank- Preis für Analytische Dechema-Preis der Max-Buchner- Preis des Jahres 2010 geht an den Forschungsstiftung erhält Prof. Dr. Chemie-Professor Stefan Hecht Spektroskopie Rolf Müller (45) für seine For- (36) von der Humboldt-Universität schungsarbeiten zur Entdeckung zu Berlin. Er erhält die mit 100 000 Der DASp, Deutscher Arbeitskreis und Biosynthese mikrobieller Euro dotierte Auszeichnung für sei- für Angewandte Spektroskopie in Wirkstoffe aus Myxobakterien für ne Arbeiten auf dem Gebiet funkti- der Fachgruppe Analytische Che- pharmazeutische Anwendungen. onaler organischer Nanostrukturen, mie der Gesellschaft Deutscher Müller forscht am Helmholtz- insbesondere Substanzen, deren Chemiker, vergibt regelmäßig Institut für Pharmazeutische For- chemisches und physikalisches den „Bunsen-Kirchhoff-Preis für schung Saarland, der Saarbrücker Verhalten mit Licht an- und aus- analytische Spektroskopie“, um Außenstelle des in Braunschweig geschaltet werden kann. Seine bedeutende Leistungen vor allem angesiedelten Helmholtz-Zentrums Forschungsergebnisse sind rich- jüngerer Wissenschaftler in der für Infektionsforschung, und lehrt tungsweisend für die Entwicklung analytischen Spektroskopie aus- an der Universität des Saarlandes. „intelligenter“ Materialien. zuzeichnen. Besonders erwünscht ist eine Arbeit in neuen Gebieten, Die Wissenschaftshistorike- Dipl.-Biol. Frank Bürmann vom wie Spektroskopie im Nanobereich, rin Marianne Sommer, SNF Institut für Biochemie der Univer- Spektroskopie an Biomolekülen (Schweizerischer Nationalfonds)- sität zu Köln erhielt den mit 2500 oder Ähnliches. Der von der Fir- Förderungsprofessorin an der Euro dotierten 1. Preis des Bio- ma Perkin Elmer mit 2500 Euro Forschungsstelle für Sozial- und technica Studienpreises 2010. ausgestattete Preis soll für das Wirtschaftsgeschichte der Univer- Der vom Verband Biologie, Biowis- Jahr 2011 wieder verliehen und sität Zürich, untersucht mit kul- senschaften und Biomedizin (VBIO auf der Anakon, im März 2011 in turwissenschaftlichen Methoden, e. V.) ausgeschriebene Gesamtpreis Zürich übergeben werden. Weitere wie die Naturwissenschaften bei ist mit 5000 Euro dotiert und wird Informationen unter www.dasp. der Erforschung der Geschichte von Roche gesponsert. Bürmann info. Vorschläge senden Sie bitte des Menschen vorgehen. Für ihre untersuchte in seiner Diplomar- bis zum 31. Dezember 2010 an: interdisziplinären Forschungen er- beit bakterielle Dynamine, deren Prof. Dr. Detlef Günther, Labora- hielt Marianne Sommer nun den Aufreinigung und Interaktion mit torium für Anorganische Chemie, vom SNF im Auftrag der Latsis- Membranen unter definierten Be- ETH Hönggerberg, HCI, CH-8093 Stiftung vergebenen, mit 100 000 dingungen („Fundamental characte- Zürich/Schweiz. Franken dotierten Nationalen risation of a bacterial dynamin“). Latsis-Preis 2010. Prof. Dr. Claudia Felser vom Preis für Für seine Leistungen in den phar- Institut für Anorganische Che- Diabetes-Forschung mazeutischen Wissenschaften mie und Analytische Chemie der erhielt Prof. Theo Dingermann Universität Mainz hat die Naka- Die mit 25 000 Euro dotierte Hans vom Institut für Pharmazeutische mura-Vorlesung 2010 an der Christian Hagedorn-Projektförde- Biologie der Goethe-Universität Universität von Kalifornien, San- rung für das Jahr 2011 ist ausge- die Carl-Mannich-Medaille. Di- ta Barbara (UCSB) gehalten. Das schrieben. Der Forschungspreis es ist die höchste Auszeichnung Materialwissenschaftliche For- wird von der Novo Nordisk Pharma der Deutschen Pharmazeutischen schungslabor der Universität ver- GmbH gestiftet und von der Deut- Gesellschaft (DPhG), benannt gibt diese Auszeichnung jährlich an schen Diabetes-Gesellschaft (DDG) nach einem ihrer langjährigen Prä- einen Materialwissenschaftler. Die und diabetesDE auf ihrer Jahresta- sidenten. Auch Dingermann war Vorlesung ist nach Shuji Nakamura, gung verliehen. Gefördert werden von 1996 bis 1999 zunächst Vize- Professor an der UCSB, benannt. soll das beste Forschungsprojekt präsident und dann Präsident der Die Forschung von Claudia Felser auf dem Gebiet der experimentel- DPhG (2000 bis 2003). Er hat sich „Materialien für optische, magne- len oder klinischen Diabetologie. in vielfältiger Weise für sein Fach tische und Energie-Technologien” Bis zum 30. November 2010 engagiert: von 2005 bis 2010 war hat einen starken Bezug zur Ar- können sich international ausge- er Mitglied der Deutschen Arznei- beit von Nakamura. Mit der Ent- wiesene Arbeitsgruppen aus dem buch-Kommission, seit 2005 ist wicklung neuer durchstimmbarer deutschen Sprachraum bewerben. er Biotechnologiebeauftragter im Halbleiter in der großen Familie Das prämierte Projekt muss bereits Technologiebeirat der HA Hessen- der Heusler-Materialien eröffnet Ergebnisse vorweisen, die inner- agentur GmbH und seit 2007 ist diese Materialklasse nicht nur das halb des deutschen Sprachraums er Mitglied des wissenschaftlichen Design neuer Materialien, sondern gewonnen wurden. Weiteres un- Beirats des Bundesinstituts für Arz- auch die Auswahl der Materialien ter www. deutsche-diabetes-gesell- neimittel und Medizinprodukte unter den Gesichtspunkten Nach- schaft.de/redaktion/foerderungen/ (BfArM). haltigkeit und Preis. DDG.php. CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010 479
Emergenz Emergenz: Der Funke der Schöpfung Wenn viele Teile wechselwirken – mathematisch fassbar und doch unvorhersehbar Rolf Kickuth, Gaiberg Emergenz heißt „auftauchen“; plötzlich wird etwas stem eine Mindestanzahl von miteinander wech- Neues sichtbar, wo zuvor nur eine Ansammlung von selwirkenden Bausteinen, die für die Entwicklung Einzelteilen war. Aus vielen einzelnen Elementen einer emergenten Eigenschaft notwendig ist. entsteht unvorhersehbar etwas Komplexes, im Sinne Ein Schlüsselwort in dem vorangegangenen Satz von: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. ist „wechselwirken“. Betrachtet man ein ideales Emergente Phänomene begegnen uns in Natur und Gas, beschränkt sich die Wechselwirkung der Gesellschaft. Sie treten oft im Zusammenhang mit Atome lediglich auf gegenseitige elastische Stö- Selbstorganisationsprozessen auf und sind omni- ße; aus deren Anzahl und Intensität lassen sich präsent – und gleichermaßen unerklärlich. Einige Druck und Temperatur ableiten. Es gibt aber Grundprinzipien lassen sich formulieren, und nicht auch zwischen Atomen und Molekülen weitere immer ist Selbstorganisation auch mit Emergenz Formen von Wechselwirkungen; aus deren Zu- verbunden (siehe dazu den Artikel „Technische sammenspiel erwachsen auch Selbstorganisations- Nutzung der Selbstorganisation“ in CLB 10/2004). prozesse, die wiederum die Basis für Emergenz Zum ersten Mal genannt wurde der Begriff Emergenz sein können. Eine derartige Selbstorganisation 1875 zur Erklärung von Bewusstsein durch George beruht häufig auf dem Wirken relativ schwacher Henry Lewes [1], dem wohl erstaunlichsten Auftreten Kräfte. Bei der molekularen Selbstorganisation einer neuen Eigenschaft aus Milliarden von Basisbau- spielen zum Beispiel nichtkovalente Bindungen steinen. eine entscheidende Rolle. Dadurch ist ein leichter Auf- und Abbau der einzelnen Bausteine möglich; Selbstorganisation führt nicht automatisch zu zufällige Fehler lassen sich ausmerzen. Der Selb- emergenten Phänomenen, und nicht immer be- storganisationsprozess ist also quasi selbstkorri- darf es der Selbstorganisation, um Emergenz her- gierend und ermöglicht Zielstrukturen mit hoher vorzurufen. Einfache Beispiele dafür sind Druck Präzision. Auch eine selbstorganisierte Struktur und Temperatur von Gasen. Von einzelnen kann jedoch niemals perfekt sein; die Gesetze der Atomen oder Molekülen kann man keinen Druck Thermodynamik verhindern dies. und keine Temperatur angeben, bestenfalls eine Werden die Prinzipien der Selbstorganisation zu einem Bezugspunkt relative Geschwindigkeit. auf die chemische Synthese und Strukturbildung Selbst im niedrigsten Bereich von Ultrahochvaku- übertragen, ergeben sich ganz neue Synthese- um bei einem Druck von einem Milliardstel Hek- wege und Produktklassen. Eine Reihe von Ar- topascal (Millibar) enthält ein Volumen von einem beiten in diesem Forschungsfeld beschäftigt sich Liter noch zehn Millionen Moleküle, die jedoch mit der Synthese von supramolekularen Systemen, praktisch nur noch mit den Behälterwänden kol- molekularen bzw. nanoskaligen Oberflächen und lidieren. Ihre mittlere freie Weglänge – diejenige Clustern sowie von mesoskopischen und makro- ohne Zusammenstoß mit anderen Molekülen – be- skopischen Materialien. So beruhen viele Bei- trägt nämlich zehntausend Kilometer. Wann tritt spiele der Nanotechnik auf dem Phänomen der nun Druck auf? Es existiert offenbar für jedes Sy- Selbstorganisation. Ein aktuelles Beispiel dafür lieferte jetzt eine internationale Forschergruppe mit Beteiligung von Forschern der Universität Bayreuth [2]. Ihnen ist erstmals die Herstellung Der Autor von Nanokristallen gelungen, die durch Selbst- Rolf Kickuth ist Verleger der CLB. Schon während seines Che- organisation zu leitfähigen zweidimensionalen miestudiums war er etwa für FAZ, Bild der Wissenschaft und Che- Nanostrukturen zusammenfinden (Abbildung 1). mische Rundschau wissenschaftsjournalistisch tätig. Später gab Die Nanokristalle bestehen aus Bleisulfid. Die er die AXON für Anwendungen und Methoden der künstlichen treibende Kraft für die Bildung der zweidimensio- Intelligenz heraus. Er war zudem Chefredakteur des Informatik nalen Nanostruktur geht bei diesem Prozess von Spektrum, der Zeitschrift der Gesellschaft für Informatik, sowie Ölsäure (cis-9-Octadecensäure) aus. Ihre Mole- Kongressveranstalter; u.a. organisierte er 2007 ein Symposium zu küle befinden sich auf der Oberfläche der Nano- Brain Computer Interfaces. kristalle. Hier üben sie auf deren innere Struktur 480 CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010
Emergenz eine stabilisierende Wirkung aus. Der Prozess der Selbstorganisa- tion beginnt dadurch, dass die organischen Moleküle kristalli- sieren. Dadurch veranlassen sie die Nanokristalle, sich ihrerseits in eine kristalline, zusammen- hängende Struktur zu fügen. Diese flächigen Nanostrukturen ermöglichen Elektronen einen sehr guten Durchfluss. Mag man bei diesem Beispiel auch das Auftreten elektrischer Leitfähigkeit als Emergenz bezeichnen: So sehr beein- druckend ist das noch nicht; schließlich ist auch Kupferdraht leitfähig, während es einzelne Abbildung 1: Links: Schema von einzelnen Nanokristallen, die durch Selbstorganisation in zweidimen- Kupferatome nicht sind. sionale Strukturen verschmelzen. Rechts: Elektronenmikroskopische Aufnahme von flächigen Nano- strukturen (Bleisulfid-Lagen) im Mikrometer-Bereich und einer Höhe von ca. zwei Nanometern (Abb.: Christian Klinke, Uni Hamburg). Diverse Definitionen Offenbar gibt es verschiedene Qualitäten von subservient.“ [3] Laughlin ist überzeugt, zukünf- Emergenz. Schon Emergenz zu definieren ist tige Physik würde sich verstärkt mit makrosko- nicht einfach. Kurz gefasst heißt es typischer- pischen Phänomenen wie der Selbstorganisation weise: Emergenz ist das Auftauchen von neuen der Materie befassen, die nicht durch atomare Systemzuständen durch das Zusammenwirken sei- oder subatomare Vorgänge erklärbar seien. Er ner Elemente, die nicht durch die Eigenschaften sieht sogar ein „Zeitalter der Emergenz“ kommen. der beteiligten Systemelemente erklärt werden Natürlich stößt diese unkonventionelle Phy- können. Aber es gibt reichliche Facetten von der sikanschauung auf Widerstand, zumal es nicht Definition für Emergenz, wie es die Sätze-Samm- mal eine eindeutige Definition von Emergenz lung von Robert B. Laughlin dazu zeigt*: „Emer- gibt. Neben den hier genannten Ansätzen von gence means complex organizational structure Laughlin gibt es zahlreiche weitere – und nicht growing out of simple rules. Emergence means nur dass: Landläufig unterscheidet man zwischen stable inevitability in the way certain things are. schwacher und starker Emergenz. Schwach emer- Emergence means unpredictability, in the sense of gent sind Phänomene, die man zunächst nicht small events causing great and qualitative changes erklären kann, die sich aber mit vertiefter Kennt- in larger ones. Emergence means the fundamen- nis der betrachteten Systeme erschließen. Stark tal impossibility of control.“ Und der US-Physiker emergent sind solche, die sich grundsätzlich nicht Laughlin, Nobelpreisträger des Jahres 1998 für seinen Beitrag zur theoretischen Erklärung des fraktionellen Quanten-Hall-Effekts und mittler- weile Verfechter einer Auffassung über Physik, nach der alle – und nicht nur einige – der uns be- Kurz gefasst kannten Naturgesetze aus kollektivem Geschehen • Emergenz entsteht aus der Wechselwirkung einer Viel- durch Emergenz hervorgehen, schließt daraus**: zahl von Einzelelementen miteinander. „Emergence is a law of nature to which humans are • Es gibt verschiedene starke Ausprägungen und Ord- nungsgrade von Emergenz. Die entsprechenden Eintei- lungen sind teils Subjekt der Diskussion. • Die Ausprägung der Erscheinungen von Emergenz sind * Emergenz bedeutet, eine komplexe Organisationsstruktur ent- nicht vorhersagbar. steht aus einfachen Regeln. Emergenz bedeutet eine stabile • Mit der Synergetik, den Nonlinear Sciences, der Chaos- Unausweichlichkeit gemäß der Lage der Dinge. Emergenz theorie gibt es jedoch deterministische mathematische bedeutet Unvorhersagbarkeit in dem Sinne, dass kleine Formulierungen, die emergente Phänomene beschrei- Ereignisse große qualitative Veränderungen bei größeren ben. (Ereignissen) hervorrufen. Emergenz bedeutet die grund- • Beispiele für Emergenz sind allgegenwärtig. Die heraus- sätzliche Unmöglichkeit von Kontrolle. ragende emergente Erscheinung stellt das Bewusstsein ** Emergenz ist ein Naturgesetz dem die Menschen untergeordnet dar. sind. CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010 481
Emergenz Abbildung 2: Strukturformel von derartige Phänomene zu erklären. Dieser Artikel Juglon (5-Hydroxy-1,4-naphthalindion). soll daher im Wesentlichen ihre Faszination bei- Die Substanz ist ein natürlich vor- spielhaft vermitteln, Erklärungen soweit vorhan- kommender Farbstoff und kann aus Walnussschalen isoliert oder auch den skizzieren – und zu eigenen Gedanken und synthetisiert werden. Juglon hat Nachforschungen anregen. antibakterielle und fungitoxische Wirkung und wirkt blutungsstillend Allelopathie (antihämorrhagisch), ist aber auch mutagen. Juglon ist isomer zu Lawson, Die anfangs genannten Gaseigenschaften-Bei- dem Farbstoff der Hennablätter. spiele zur Emergenz waren eher „trockener Stoff“. Zu besonders interessanten emergenten Phänomenen auf dem Gebiet von Biologie und Chemie führt hingegen die Allelopathie. Was wie eine Krankheit klingt (vom Griechischen allelon: voneinander sowie pathos: Leiden) ist vielmehr eine besondere Art der Kommunikation zwischen aus ihren Elementen und deren Interaktionen er- biologischen Organismen. Dabei beeinflusst eine klären lassen; so sind auch die Definitionsansätze Art von Organismen eine andere Art durch die Laughlins zu sehen. Nur: Wer sagt, dass irgend et- Freisetzung einer oder mehrerer chemischer Sub- was später nicht doch erklärbar ist? Diese Unter- stanzen in deren Wachstum, Überlebensfähigkeit scheidung ist also auch nur eine Hilfskonstruktion oder Reproduktionseigenschaften. Die zur Infor- für mehr oder minder ausgeprägtes Unvermögen, mationsübertragung eingesetzten Substanzen hei- ßen Allelochemikalien. Allelopathie findet man bei Pflanzen, Algen, Bakterien, Korallen und Pilzen. Abbildung 3: Etwa fünf Meter hoher und ca. 50 Jahre alter 1937 beschrieb der österreichische Botaniker Termiten-Kathedralbau im Litchfield National Park, Northern Hans Molisch erstmals entsprechende gegensei- Territory, Australien (Foto: J. Brew). tige Beeinflussungen von Pflanzen [4]. Allelochemikalien entstammen meist dem pflanzlichen Sekundärstoffwechsel. Ihre Verbrei- tung erfolgt durch Verdunstung, über flüssige Wurzelaussonderungen oder durch verrottende Pflanzenteile. Ein oft genanntes Beispiel für Alle- lopathie ist der Schwarze Walnussbaum (Juglans nigra). Wirksubstanz ist ein Glucosid eines Naph- talenderivates, das in grünen Pflanzenteilen ge- bildet wird. Regen wäscht die Substanz von den Blättern ab, die so in den Boden gelangt – oder auch dort über Wurzeln abgegeben wird. Dort erfolgt die hydrolytische Abspaltung der Glucose; es liegt dann Hydrojuglon vor, welches mikrobi- ell zu Juglon oxidiert wird (Abbildung 2). Dies wirkt bereits in sehr geringen Konzentrationen hemmend auf die Keimung anderer Pflanzen wie Tomaten, Kartoffeln, Getreide oder Apfelbäume. Durch Allelopathie lassen sich aber statt negativer Wirkungen auch positive Effekte im Empfänger- organismus auslösen. Forschungen zu Alleloche- mikalien konzentrieren sich heutzutage darauf, natürliche Herbizide zu finden. Weitere Fassung des Allelopathie-Begriffs Die beiden vorangehenden Absätze beschreiben die Standarddefinition von Allelopathie. Es gibt je- doch auch eine sehr weitergehende Fassung [5]. Danach ist Allelopathie das Verhalten, das sich aus dem Verhalten der nächsten Nachbarn ergibt und dann wieder auf diese zurückwirkt; sicherlich gibt es bei solchen sozialen Rückkopplungssyste- 482 CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010
Emergenz men Emergenzen. Soziobiologen kennen noch eine andere Form der Allelopathie, beschrieben von dem US-amerikanischen Biologen Edward O. Wilson, der auch den Begriff der Soziobiologie prägte [6]. In der Insektenforschung bezeich- nen sie damit Regeln, die – über die Vermittlung durch chemische Botenstoffe, Pheromone – zu be- stimmten Verhaltensmustern zwischen Nachbarn führen. Dabei können Ordnungsphänomene ohne einen besonderen Steuermechanismus auftreten; ein bemerkenswertes Beispiel für eine derartige Emergenz liefern Termiten. Sie bauen bis zu fünf Meter hohe Nester, mehr als zehn Tonnen schwer und stabil genug, um 300 Jahre zu überdauern (Abbildung 3). Ihr Aufbau erfolgt über nur weni- ge genetisch festgelegte Verhaltensregeln, die auf allelophathische Vermittlung basieren. Zu Beginn des Nestbaus sieht alles noch eher zufällig aus: Eine überschaubare Zahl einzelner Termiten läuft ohne Vorzugsrichtung über ein be- Abbildung 4: Prinzipieller Ablauf evolutionärer Optimierungsverfahren (Abb.: RK). stimmtes Areal, lagert hier und da etwas Material ab; von Bau ist da noch nicht zu sprechen. Das Material ist allerdings mit Pheromonen versetzt. Wächst die Population, lagern mehr Termiten Evolutionäre Algorithmen Material ab; es ergeben sich zufällige Material- häufungen. Diese ziehen durch ihre Pheromon- Evolutionäre Algorithmen sind ein Oberbegriff konzentrationen weitere Termiten an, die zu von Optimierungsalgorithmen, zu denen auch weiterer Botenstoffkonzentration beitragen – ein genetische Algorithmen gehören, ebenso wie Selbstverstärkungsprozess, der zu einem Attrak- auch etwa die Evolutionsstrategien oder auch ge- torfeld führt. Darunter versteht man in der The- netische bzw. evolutionäre Programmierung. Die orie dynamischer Systeme einen mathematisch Übergänge zwischen den Verfahren sind jedoch definierten Teilbereich, auf den hin sich im Laufe teilweise fließend und verwischen mehr und mehr der Zeit die zunächst zufällig verteilten Einzele- (siehe Kasten). Der Stammbegriff „evolutionärer lemente des Gesamtbereichs hin bewegen (siehe Algorithmus“ macht jedoch schon sprachlich eins auch weiter unten im Abschnitt Chaos). So geht sehr deutlich: Es geht dabei um Entwicklungen, das auch beim Termitenbau: Aus kleinen Bau- Optimierungen, um das Entstehen von Neuem, materialhäufchen entwickeln sich – gemäß stei- eben auch um Emergenz. gender Pheromonkonzentration auf deren Spitze Das läuft bei evolutionären Algorithmen im – einzelne Säulen. Mit wachsender Höhe bilden Grunde einfach und in nur fünf Stufen ab (Ab- die zunächst einzelnen Pheromonwolken Brücken bildung 4): zwischen sich aus, Sattelpunkte, die dann selbst 1. Zunächst werden zufallsgesteuert eine be- zu Attraktoren werden. Die Termiten auf den stimmte Anzahl von Individuen erzeugt; Pfeilern wandern bevorzugt in diese Richtung; die 2. daraus werden Elternteile selektiert (s. Kasten); Pfeiler wachsen so zu Bögen zusammen. Schließ- 3. dann erfolgt eine Rekombination der Eigen- lich bildet sich eine Art Dachboden aus mehreren schaften, die Vererbung. Was bei Mensch und „Kathedralpfeilern“, von dem aus ein weiterer Auf- Tier der Sex erledigt, übernehmen etwa bei bau nach gleichem Muster möglich ist. genetischen Algorithmen Crossover-Verfahren. Notwendig für diesen allelopathischen Kuppel- Beim Crossover schneidet man – in biologischer bau sind im Grunde nur zwei Regeln: 1. Folge der Analogie ausgedrückt – ein ausgewähltes Chro- steigenden Pheromonkonzentration (der Richtung mosomenpaar an jeweils gleicher Stelle ausei- des Dufts); 2. Lagere den Baustoff bei der höch- nander und fügt die Teile über Kreuz wieder sten Konzentration ab (eine Schwellwertfunktion). zusammen. Da dies für alle Individuen gilt, heißt das auch: 4. Eine Mutation ermöglicht dann eine meist ge- Mach dasselbe wie alle anderen. Kein Wunder, ringfügige Veränderung des Nachkommens. dass sich solch ein Termitenbau durch evoluti- 5. Schließlich wird mit Hilfe einer Bewertungs- onäre Algorithmen simulieren lässt – was zum funktion die Qualität der Individuen, ihre Fit- Beispiel in der Architektur für die Konstruktion ness, bewertet. Auf dieser Grundlage wird statisch optimierter Bogenkonstruktionen genutzt entschieden, welche Individuen die nächste Ge- werden kann. neration bilden; dann beginnt der Zyklus erneut. CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010 483
Emergenz Abbildung 5: Auch Lösungen zu finden; die beste Lösung kann aber Schwarmverhalten eine andere sein. ist ein emergentes Eine erfolgreiche und effektive Anwendung Phänomen. Es lässt sich mit wenigen evolutionärer Algorithmen hängt sehr stark von Regeln beschrei- den verwendeten Verfahren (Codierung, Selek- ben (Foto: RK). tions-Schema, etc.) und Parametereinstellungen (Populationsgröße, Mutationsraten, etc.) ab. Bei- spielsweise gibt es Varianten, die ohne Rekombi- Da diese Algorithmen nicht wissen können, ob nation auskommen, was jedoch durch geringere nicht eventuell unter den Individuen ein Optimum Streuung der Eigenschaftsprofile der Nachkom- gefunden wurde, definiert man noch Abbruchkri- men meist weniger gute Ergebnisse erbringt. Wer- terien. Das kann entweder eine Festlegung der den Verfahren oder Parameter schlecht gewählt, Generationenzahl sein, oder es kann eine mindest so kann dies dazu führen, dass das Auffinden ei- geforderte Nähe zu einer geforderten Lösung sein. ner Lösung für das jeweilige Problem erschwert Dies lässt sich durch Kostenfunktionen festlegen, oder gar unmöglich gemacht wird. die etwa bei technischen Problemstellungen meist Wie das Termitenbeispiel zeigte lassen sich mit bekannt sind, Beispiel: die minimale Kabellänge evolutionären Algorithmen durchaus Selbstorga- bei der Verbindung einer Anzahl von Stromkun- nisationsprozesse und Phänomene der Emergenz den (solche Fragen der Wegstreckenoptimierung darstellen; allgemeiner betrachtet ist dies ein Bei- sind bekannt als „Travelling salesman problem“). spiel der Schwarmintelligenz. Auch das Schwarm- Grundsätzlich arbeiten evolutionäre Algorithmen verhalten von Fischen und Vögeln lässt sich mit metaheuristisch: Sie sind in der Lage, mit vertret- wenigen Regel beschreiben, ist jedoch ein emer- barem Aufwand bei komplexen Problemen gute gentes Phänomen (Abbildung 5). Elektronik kann sich selbst evolvieren Evolutionäre Algorithmen: Verfahrensvarianten Im Deutschen hält sich die Zitierung von „evolutionärer Algorithmus“ zu „gene- In welch erstaunlichem Maße Evolutionsalgorith- tischer Algorithmus“ laut Google mit 4:5 fast die Waage, im Englischen unterlie- men auch bei technischen Systemen zu Emergenz gen die evolutionary algorithms allerdings trotz des Oberbegriff-Charakters mit führen können zeigen Arbeiten über evolvierbare 1:8. Tatsächlich verwischen die Übergänge zwischen den Verfahren immer mehr. Elektronik von Adrian Thompson an der Universität Hier als Beispiel Unterschiede zwischen genetischen Algorithmen und Evolutions- von Sussex in Brighton [7]. Schon in den 90er Jah- strategie: Die beiden Evolutionsverfahren arbeiten mit Populationen, die mögliche ren stellte er an einen elektronischen Schaltkreis Lösungen in Form von Individuen enthalten. Auch selektieren sie auf ähnliche Art die Anforderung, zwischen einem Ton von einem und Weise – oft nach dem Prinzip „survival of the fittest” – erfolgversprechende und einem Ton von zehn Kilohertz zu unterschei- Individuen, was gegebenenfalls dazu führt, dass mit den selektierten Individuen den und entweder an seinen Ausgang eine Span- eine verbesserte Population potentieller Lösungen erzeugt wird. nung von fünf Volt bzw. – beim hohen Ton – keine Während jedoch bei den Evolutionsstrategien die Mutation und die selbstregu- Spannung aufzuweisen. Nur: Er wollten keinen lierende Schrittweitenanpassung für Verbesserungen sorgt, ist dies bei den gene- Schaltkreis bauen, auch keine Computersimula- tischen Algorithmen die genetische Rekombination durch die verschiedenen tion durchführen. Den Schaltungsentwurf sollte Crossover-Verfahren. ein Chip selbst erledigen, ein Field Programmable Die beiden Verfahren unterscheiden sich auch durch ihre unterschiedlichen Selek- Gate Array (FPGA; übersetzt etwa (Anwendungs-) tionsprozesse. Bei Evolutionsstrategien werden Elter-Individuen, unabhängig von Feld-programmierbare (Logik-)Gatter-Anordnung). ihrer Fitness oder Bewertung, rein zufällig ausgewählt. Aus den erzeugten Nach- Dessen besondere Eigenschaften gegenüber einem kommen werden dann jeweils die Besten ausgewählt. Hier handelt es sich also normalen Chip: Universelle Logikelemente auf um ein „survival of the fittest” bei den Nachkommen. Dagegen wird ein „sur- dem FPGA lassen sich flexibel untereinander ver- vival of the fittest” bei den genetischen Algorithmen schon bei der Auswahl der schalten („verdrahten“); ihre Verbindungen lassen Eltern durchgeführt. sich durch gesteuertes Anlegen von Spannungen Ein weiterer Unterschied liegt in der bei den Evolutionsstrategien integrierten an Schaltpunkten über die Halbleitereigenschaften Selbstadaption, durch die Steuerungsparameter, wie die Mutationsschrittweite, das Chipmaterials beliebig variieren. selbstständig und automatisch angepasst werden können. Dies führt zu einer Auf solch einem FPGA ließ Thompson nun einen gewissen Reaktionsfähigkeit auf verschiedene Faktoren. Eine solche Selbstadap- evolutioären Algorithmus laufen, der die Konfigu- tion wäre bei genetischen Algorithmen nur durch eine recht umständliche Codie- ration des Chips veränderte. Er begann mit einer rung dieser zusätzlichen Parameter möglich. Anordnung von einhundert logischen Zellen auf Vergleicht man andererseits das Verfahren der genetischen Programmierung mit dem Chip und ließ einen Computer eine Popu- genetischen Algorithmen, dann erscheinen letztere eher als recht unflexibel. In lation von fünfzig Anweisungscodes zufällig zu ihnen werden meist nur die Parameter einer Gleichung oder eines in anderer erzeugen (Abbildung 6); jede der Zellen konnte Form vorgegebenen strukturierten Lösungsansatzes optimiert, anstatt jedes Indi- jede boolesche Funktion mit zwei eingehenden viduum als eigenständiges Programm zu interpretieren. Signalen ausführen (etwa Kontradiktion/Nullfunk- tion, Identität, Negation oder Tautologie/Einsfunk- 484 CLB 61. Jahrgang, Heft 11/2010
Sie können auch lesen