Demokratisierung der Polizei - Beiträge zu einer Fachtagung der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft

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Demokratisierung
der Polizei
Beiträge zu einer Fachtagung der
Fraktion DIE LINKE in der
Hamburgischen Bürgerschaft
DIE LINKE. Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft
Rathausmarkt 1, 20095 Hamburg
Telefon: (0 40) 42 831 22 50
E-Mail: info@linksfraktion-hamburg.de
V.i.S.d.P.: Christiane Schneider

Endfassung: September 2010

Mehr Informationen zu unseren parlamentarischen Initiativen finden
Sie unter:
www.linksfraktion-hamburg.de
www.grundrechte-kampagne.de
Inhaltsverzeichnis

Vorwort                                          2

Ulrike Donat und Carsten Gericke:
Thesen zur Reformierungsbedürftigkeit des
Hamburger Polizeirechts                          3

Günter Schicht:
Menschenrechtsbildung für die Polizei            5

Bela Rogalla:
Generalverdacht im Gefahrengebiet                8

Jan Wehrheim:
„Gefahrengebiete“ in Hamburg                     11

Charles A. von Denkowski:
Einstufungen von „politisch motivierten
Gefährdern“ und deren polizeirechtliche
Überwachung: Eine verfassungswidrige
präventive Kriminalstrategie?                    14

Anna Luczak:
Gefährderdateien, praktische Auswirkungen
und Rechtsschutz                                 19

Elke Steven:
Rechtswidrige Polizeigewalt                      22

Martin Herrnkind:
„Für Dich schwör ich jeden Meineid!“ — Defizite
interner Kontrolle von Polizeiarbeit             26

Tobias Singelnstein:
Polizisten vor Gericht                           31

Fritz Sack:
Demokratisierung der Polizei — Erfahrungen
als Mitglied der Hamburger Polizeikommission     35

                                                      1
Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,                                                der Bürgerschaft erfahren müssen: Dass unser Gesetz-
                                                                           entwurf für eine individuelle Kennzeichnungspflicht
    vor einigen Jahren schrieb der frühere Hamburger                       der Polizei2 durch die Mehrheit von CDU, GAL und
Innensenator und heutige Vorsitzende der Humanis-                          SPD abgelehnt wurde, wundert noch nicht unbedingt.
tischen Union Hamburg, Hartmuth Wrocklage: „Die                            Dann aber hat die Polizei den Beschluss des Innenaus-
hierarchisch gegliederte Polizei als Inhaberin des                         schusses der Bürgerschaft, dass Gespräche mit dem
innerstaatlichen Gewaltmonopols ist immer auch ein                         Personalrat und den Polizeigewerkschaften zu führen
potentieller Gefahrenherd für ein demokratisches                           sind mit dem Ziel, eine individuelle Kennzeichnung ir-
Staatswesen.“ Beides – die Aufgabenstellung der Poli-                      gendwie doch zu erreichen, mit einem strikten „Kommt
zei, staatliche Gewalt auszuüben, und die hierarische                      gar nicht in Frage“ beschieden. Und die Innenbehör-
Gliederung und Abschottung des Polizeiapparates – be-                      de hat gekuscht, die Bürgerschaft den Beschluss mit
dingen eine Tendenz zur Verselbstständigung, die sich                      einem Schulterzucken beerdigt.
„nur allzu leicht und schnell in eine Selbstgesetzlichkeit
entwickeln kann“.1                                                             Was kann, was muss getan werden, um die hier nur
    Dieses strukturelle Problem hat seit dem 11.9.2001                     kurz skizzierte Entwicklung umzukehren? Wie kann
noch einmal enorm an Brisanz gewonnen. Die Ge-                             staatliche Gewalt eingehegt werden? Wie definieren wir
setzesänderungen bzw. neuen Gesetzespakete, die                            eigentlich aus linker und bürgerrechtlicher Sicht das
seither auf Bundes- und Länderebene zur „Inneren                           Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit
Sicherheit“ verabschiedet wurden, sind nicht mehr zu                       und wie die Aufgaben von Polizei in einer demokra-
zählen. Zunehmend hat sich die Vorstellung vom „ge-                        tischen Gesellschaft?
fährlichen Individuum“ durchgesetzt – die Vorstellung,                         Unter diesen Fragestellungen führte die Fraktion DIE
dass Jeder und Jede ein potenzielles Sicherheitsrisiko                     LINKE am 29. Mai 2010 die Fachtagung „Demokratisie-
darstellt, vor dem der Staat das Gemeinwesen präven-                       rung der Polizei“ durch. Wir veröffentlichen mit dieser
tiv zu schützen habe. In der Folge sind wir konfrontiert                   Broschüre die dort gehaltenen Vorträge.
mit einer Enthemmung staatlichen Überwachungs- und                             Als Teil der politischen Opposition brauchen und
Kontrolldranges im Namen der Sicherheit. Liberale                          wollen wir Austausch und Kooperation mit anderen: mit
Kritiker der Entwicklung warnen, dass die zum Staats-                      Wissenschaftler/innen, mit Bürgerrechtler/innen, mit
zweck erhobene Sicherheit zu einem Ermächtigungsve-                        Vertreter/innen gesellschaftskritischer Bewegungen.
hikel unbestimmter Größenordnung wird. Freiheit stirbt                     Als parlamentarische Opposition müssen wir darüber
mit Sicherheit!                                                            hinaus sehr konkrete Vorstellungen entwickeln, was auf
    Die „Verpolizeilichung der Bundesrepublik“, wie das                    der Ebene der Gesetze wie geändert werden muss. Vor
Komitee für Grundrechte und Demokratie diese Ent-                          allem geht es für uns um die längst überfällige Novellie-
wicklung charakterisierte, wirkt sich auf die Polizei als                  rung der in Teilen verfassungswidrigen Hamburger Po-
Inhaberin des innerstaatlichen Gewaltmonopols aus.                         lizeigesetze, bei der wir mit eigenen Anträgen Position
Die Eingriffsschwelle für polizeiliches Handeln wird weit                  beziehen werden. Dazu haben die Referent/inn/en und
und weiter vorverlegt.                                                     Teilnehmer/inn/en der Fachtagung wichtige Beiträge
    Der große Zuwachs an Machtfülle bei der Polizei                        geliefert. Wir bedanken uns bei allen, die an der Tagung
bedingt auf der Gegenseite die Schwächung und Aus-                         teilgenommen haben, und insbesondere bei den Rere-
höhlung der Grund- und Bürgerrechte. Das Verhältnis                        fent/inn/en ganz herzlich.
zwischen Staat und Bürger/inne/n verschiebt sich
deutlich zu Lasten der Letzteren.                                          Christiane Schneider
    Die Polizei hat sich zu einem Machtzentrum entwi-                      innen- und rechtspolitische Sprecherin
ckelt, das bestrebt ist, sich jeder Kontrolle, auch der                    der Fraktion DIE LINKE
parlamentarischen, zu entziehen. Das hat die LINKE in                      in der Hamburgischen Bürgerschaft

1 Wrocklage, Hartmuth, Polizei im Wandel - Ist eine Demokratisierung der
  Polizei möglich? http://www.amnesty-polizei.de/d/wp-content/
  uploads/demokratisierung-polizei_wrocklage.pdf                           2 Bürgerschaftsdrucksache 19/1255

2
Thesen zur Demokratisierung des Hamburger
Polizeirechts
Ulrike Donat und Carsten Gericke

    1. Die Änderungen im Landes- und Bundespoli-          der Folge begrenzter Rechtsschutzmöglichkeiten und
zeirecht der vergangenen Jahre haben die rechtliche       Leerlaufen der „Grundrechtssicherung durch Verfah-
Landschaft vollständig verändert. Unter der Überschrift   rensgarantien“ (z.B. Telefonüberwachung);
„Sicherheit statt Freiheit“ wurden Polizeibefugnisse         • Senkung der Eingriffsvoraussetzungen für beson-
großflächig ausgebaut und bürgerliche Freiheitsrechte      dere verdachtsunabhängige oder heimliche Eingriffs-
beschnitten. Immer neue „Sicherheitstechnik“ erfordert    akte durch Verwendung von Scheindefinitionen, wenn
immer wieder neue Eingriffsbefugnisse. Eine seriöse       etwa „die Straftaten von erheblicher Bedeutung“ als
Evaluierung von Nutzen und Schaden der neuen Über-        Eingangsvoraussetzung weder durch einen abschließen-
wachungstechnik fehlt weitgehend.                         den Katalog von Straftatbeständen beschrieben werden
                                                          noch eine Differenzierung im Hinblick auf betroffene
    2. Polizeiliche Eingriffe beschränken verfassungs-    Rechtsgüter erfolgt;
rechtlich garantierte Freiheitsrechte und brauchen da-       • Unkontrollierbare Kombination von erhobenen Da-
her immer eine gesetzliche Ermächtigung. Diese muss       ten mit der Möglichkeit umfassender Persönlichkeits-
Eingriffsbefugnisse fixieren und die Beachtung der         und Bewegungsprofile;
Verhältnismäßigkeit (Erforderlichkeit und Geeignetheit       • Datenerhebung auch im Kernbereich privater
der Maßnahme, Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne)       Lebensführung (z.B. Wohnraumüberwachung).
sowie des Wesensgehaltes der Freiheitsgrundrechte
und der Menschenwürde sicherstellen. Grundrechtliche          5. Ein zentrales Anliegen muss es daher sein, die
Beschränkungen sind nur hinzunehmen zum Schutz            vorgenannten Grundsätze und ihre Bedeutung für eine
gleichwertiger oder höherrangiger Rechtsgüter, jede       grundrechtlich gebotene Begrenzung und Kontrollier-
Einschränkung muss gemessen an Zweck und Intensi-         barkeit polizeilicher Macht wieder sichtbar zu machen.
tät des Eingriffs verhältnismäßig sein. Sie finden ihre    Ausgehend davon lassen sich Anforderungen für eine
absolute Grenze in der Wahrung der Menschenwürde.         Demokratisierung des Polizeirechts auch im Hinblick
                                                          auf einzelne Eingriffsbefugnisse ableiten. Orientierung
   3. Wesentliche Entscheidungen der Freiheitsbegren-     bietet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
zung sind vom Gesetzgeber zu treffen und dürfen nicht     richts, denn das Gericht hat in den letzten Jahren über
der Interpretation der Exekutive überlassen werden. Die   eine Vielzahl von Verfassungsbeschwerden und Nor-
Eingriffsakte müssen justiziabel sein. Dafür muss die     menkontrollverfahren zu Polizei- und Sicherheitsgeset-
gesetzliche Ermächtigung methodisch klar und über-        zen entschieden und dabei die verfassungsrechtlichen
sichtlich gefasst werden (Bestimmtheitsgebot), denn       Anforderungen an das „neue Sicherheitsrecht“ konkre-
   • Bürger/innen müssen sich auf eine etwaige            tisiert.1
Polizeipflicht oder sonstige Inanspruchnahme einstellen
können;                                                       6. In den genannten Entscheidungen betont das
   • Bürger/innen müssen sich der polizeilichen Über-     Bundesverfassungsgericht deutlich und mit steigender
wachung zum Erhalt ihrer Intim- und Freiheitssphäre       Tendenz folgende fünf Prüfungskriterien für die Verfas-
entziehen können;                                         sungsmäßigkeit präventivpolizeilicher Eingriffsakte und
   • Polizeibeamt/innen müssen die Grenzen ihrer          Ermächtigungsnormen:
Befugnisse erkennen und verstehen können;                     • Gesetzgebungskompetenz, speziell im Grenzbe-
   • Polizeiarbeit muss kontrollierbar sein durch die     reich „Straftatenvorsorge“ und „vorbeugender Verbre-
Gerichte, das Parlament und durch die Öffentlichkeit.     chensbekämpfung“2;

   4. Das „neue“ Sicherheitsrecht vollzieht gegenüber
diesen Traditionen einen Wandel und hebelt die eben       1 Vgl. u.a. Großer Lauschangriff, Urteil vom 03.03.2004 - 1 BvR 2138/98
                                                            und 1 BvR 1084/99; Rasterfahndung, Beschluss vom 04.04.2006 - 1
genannten traditionellen Begrenzungsmechanismen im
                                                            BvR 518/02; Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit
Polizeirecht - ersatzlos - aus, z.B. durch:                 und Ordnung, Urteil vom 27.07. 2005 (TKÜ) - 1 BvR 668/04; Videoü-
   • Verdachts- und gefahrunabhängige Eingriffe mit         berwachung, Beschluss vom 23.02.2007 - 1 BvR 2368/06; akustische
                                                            Wohnraumüberwachung, Beschluss vom 11.05.2007 -2 BvR 543/06;
Ortsanknüpfung statt Personenverantwortlichkeit (z.B.
                                                            Automatisierter Kfz-Kennzeichenabgleich in Hessen und Schleswig-Hol-
Videoüberwachung);                                          stein, Urteil vom 11.03.2008 - 1 BvR 2074/05 und 1 BvR 1254/07).
   • Heimlichkeit statt offener Inanspruchnahme mit       2 U. 27.07. 2005 - 1 BvR 668/04 - zur TKÜ nach NdsSOG

                                                                                                                                3
• Normenklarheit und Bestimmtheitsgebot3;                                • erweiterte Zwangsbefugnisse, z.B. Ausdehnung
    • Grundrechtsschutz durch Verfahren4;                                 der Dauer des Gewahrsams, des Vollzugs des Gewahr-
    • Absolute Grenzen: Menschenwürde5, Schutz des                        sams in Justizvollzugsanstalten (§ 13c SOG) und Neure-
privaten Kernbereichs6, Berufsschutz7;                                    gelung des Schusswaffengebrauches mit Befugnis zum
    • Verhältnismäßigkeit, speziell bei Eingriffen in das                 finalen Todesschuss (§ 24 ff. SOG).
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung8.
                                                                              8. Die beiden Hamburger Polizeigesetze sollten im
    7. Vor diesem Hintergrund wird der Reformbedarf                       Lichte der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfas-
für das Hamburger Polizeirecht deutlich. Die Ände-                        sungsgerichts einer vollständigen Revision unterzogen
rungen des Gesetzes zum Schutz der öffentlichen                           und in einem einheitlichen Hamburger Polizeigesetz
Sicherheit und Ordnung (SOG) und des Gesetzes über                        zusammengefasst werden. Die Speicherung und
die Datenverarbeitung der Polizei (PolDVG) von 2005                       Verarbeitung von Daten sowie die technischen Überwa-
umfassen eine Vielzahl sehr unterschiedlicher und teil-                   chungsmaßnahmen sollten gegenüber den grundlegen-
weise problematischer Änderungen, so z.B.                                 den polizeilichen Eingriffsbefugnissen kein Eigenleben
    • eine neue Definition des Begriffs „Straftaten von                    führen. Dies gilt insbesondere für heimliche informati-
erheblicher Bedeutung“ in § 1 Abs. 4 PolDVG;                              onstechnische Eingriffe. Überlappungen von Strafver-
    • verdachtsunabhängige Eingriffe wie Befragung mit                    folgung (= Bundeskompetenz) und Gefahrenabwehr
Auskunftspflicht § 3 PolDVG, Identitätsfeststellung § 4                        (= Länderkompetenz) müssen vermieden werden.
PolDVG;                                                                   Die ausufernde Mehrfachnutzung der anlässlich eines
    • neue bzw. erweiterte Eingriffsbefugnisse durch                      einzigen Vorfalls erhobenen Daten muss normenklar
technische Mittel wie Videoüberwachung, Telekommu-                        und justiziabel beschränkt werden. Der zeitliche Ab-
nikationsüberwachung (TKÜ), verdeckte Beobachtung,                        stand zum 09.11.2001 sollte es zudem ermöglichen,
Großer Lauschangriff, Videoüberwachung, automati-                         die neuen Eingriffsbefugnisse auf ihre Notwendigkeit
sche Kennzeichenerfassung, Rasterfahndung (§§ 8 - 10                      und Tauglichkeit zum angegebenen Zweck zu überprü-
b 11 - 13 PolDVG);                                                        fen. Die Erfahrungen mit allen neuen technischen Über-
    • erweiterte Befugnisse in der Datenverarbeitung,                     wachungsbefugnissen sollten nach wissenschaftlichen
insbesondere Auflösung der Zweckbindung von Daten                          Kriterien ausgewertet werden. Die Rechtsprechung des
(§§ 14, 16 PolDVG);                                                       Bundesverfassungsgerichtes verlangt einen sensibleren
                                                                          Umgang mit den Grundrechten und mehr gesetzgeberi-
                                                                          sche Sorgfalt.
2 U. v. 3 03 2004 - 1 BvR 2378/98 - Gr. Lauschangriff; B. v. 27.07.2005
   - 1 BvR 668/04 - NdsSOG; B. v. 12.03.2004 - 1 BvF 3/92 - Außenwirt-
   schaftsgesetz; B. v. 04.04.2006 - 1 BvR 1518/02 - Rasterfahndung; B.
   v. 23.02.2007 - 1 BvR 2368/06- VÜ-Kunst; B. v. 13.06.2007 - 1 BvR      Ulrike Donat ist Rechtsanwältin in Hamburg.
   1550/03 - Kontenabruf; B. v. 27.02.2008 - 2 BvR 370/07 - Online-
   Durchsuchung; v. 11.03.2008 - 1 BvR 2074/05 - Kfz-Kennzeichenab-
                                                                          Carsten Gericke ist Rechtsanwalt in Hamburg und Ge-
   gleich                                                                 schäftsführer des RAV.
3 U. v. 03.03.2004 - 1 BvR 2378/98 - Gr. Lauschangriff                    Ulrike Donat und Carsten Gericke haben im Auftrag der
4 U. v. 15.02.2006 - 1 BvR 357/05 Luftsicherheitsgesetz
5 U. v. 03.03.2004 - 1 BvR 2378/98 - Gr. Lauschangriff;
                                                                          Fraktion DIE LINKE ein Gutachten zu den Hamburger
6 B. v. 12.04. 2005 - 2 BvR 1027/02; B. v. 30.04.2007 - 2 BvR 2151/06     Polizeigesetzen verfasst, das sich unter
7 z.B. v. 11.03.2008 - 1 BvR 2074/05 und 1 BvR 1254/07                    www.grundrechte-kampagne.de findet.

4
Menschenrechtsbildung für die Polizei
Vier Thesen zu den Anforderungen an die Ausbildung und
Organisationsstruktur der Polizei1
Günter Schicht

These 1: Es ist sinnvoll, zwischen Menschen-                                zu betrachten, welche Auswirkungen sie auf das Ziel
rechtsbildung im engeren und im weiteren Sinne                              haben, dass Polizistinnen und Polizisten in ihrer Berufs-
zu unterscheiden.                                                           ausübung die Menschenrechte achten, schützen und
                                                                            gewährleisten.
    Menschenrechtsbildung für Polizistinnen und Poli-                           Diese Unterscheidung spiegelt sich auch in den
zisten ist einer von mehreren Wegen, um zu erreichen,                       Forderungen in internationalen Menschenrechtsdoku-
dass Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei                           menten wider. So enthält die Allgemeine Empfehlung
zurückgedrängt werden. Dabei sollen Lernprozesse
                                1
                                                                            Nr. XIII des UN-Fachausschusses gegen rassistische
angeregt werden, die den Lernenden dazu befähigen,                          Diskriminierung (CERD) „Die Ausbildung im Menschen-
eigene Menschenrechte zu kennen und einfordern zu                           rechtsschutz für Beamt/innen mit Polizeibefugnissen“
können, die Menschenrechte anderer zu kennen und                            die Feststellung, der Schutz vor rassistischer Diskrimi-
für ihre Wahrung eintreten zu können und zu wollen                          nierung sei u.a. abhängig davon, „ob diese Beamten/
und vor allem die Menschenrechte als eigene Werte zu                        innen angemessen über die Verpflichtung informiert
                                                        2
verinnerlichen und handlungsleitend werden zu lassen .                      sind, die ihre Staaten im Rahmen des Übereinkommens
    Menschenrechtsbildung zielt also sowohl auf                             eingegangen sind. Beamte/innen mit Polizeibefugnis-
Wissensvermittlung wie auch auf die Ausprägung von                          sen sollten eine intensive Ausbildung erhalten, um zu
Werten und Handlungskompetenzen. Damit besitzt                              gewährleisten, dass sie bei der Durchführung ihrer
sie einen Doppelcharakter: sie ist juristische wie auch                     Pflichten die menschliche Würde achten und schützen
moralisch-ethische Bildung.                                                 sowie die Menschenrechte eines jeden ohne Unter-
    Für praktische Verbesserungen auf diesem Gebiet                         scheidung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe oder
sollte zwischen Menschenrechtsbildung im engeren                            der nationalen oder ethnischen Herkunft wahren und
und weiteren Sinne unterschieden werden. Als Men-                           verteidigen.“3
schenrechtsbildung im engeren Sinne lassen sich all                             Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter
die Maßnahmen ansehen, bei denen die Lehrenden                              und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung
explizit die Menschenrechte als Ganzes oder einzelne                        oder Strafe (CPT) fordert in seinen „CPT-Standards für
Menschenrechte zum Gegenstand einer Bildungsmaß-                            die Polizeiarbeit“, dass ein Schwerpunkt polizeilicher
nahme machen. Beispiele sind Bildungsveranstaltungen                        Ausbildung auf der Ausbildung kommunikativer Fähig-
zur Geschichte der Menschenrechte, zur Allgemeinen                          keiten liegen muss: „Der Besitz derartiger Fertigkeiten
Erklärung der Menschenrechte oder zur Arbeit von                            wird einen Polizei- oder Gefängnisbeamten häufig dazu
Menschenrechtsorganisationen. Menschenrechtsbil-                            befähigen, eine Situation zu entschärfen, die anderen-
dung im weiteren Sinne sind Maßnahmen, mit denen                            falls zur Anwendung von Gewalt führen könnte, und
implizit solche Einstellungen und Handlungsmuster                           - allgemeiner - zu einer Abnahme der Spannung und zur
beeinflusst werden sollen, die im Zusammenhang mit                           Steigerung der Lebensqualität in Polizei- und Gefäng-
menschenrechtskonformem Verhalten oder mit dem                              niseinrichtungen führen. Das CPT ermutigt nationale
Eintreten für Menschenrechte stehen. Beliebig ge-                           Behörden, Menschenrechtskonzepte möglichst in die
wählte Beispiele zu diesem Bereich sind Kommunika-                          praktische Ausbildung über den Umgang mit Hochri-
tions- und Stressbewältigungstrainings, (interkulturelle)                   sikosituationen wie etwa die Festnahme und Verneh-
Konflikttrainings oder Lehrveranstaltungen zur Berufse-                      mung von Straftatverdächtigen zu integrieren; dies wird
thik. Es würde die Menschenrechtsbildung unzulässig                         sich als wirksamer erweisen als separate Menschen-
reduzieren, betrachtete man nur Maßnahmen mit dem                           rechtskurse.“4
entsprechenden Etikett beziehungsweise offensicht-                              Beide Arten von Menschenrechtsbildung existie-
lich verknüpften Inhalten. Vielmehr sind grundsätzlich                      ren in der Polizei bereits. Es lassen sich jedoch keine
alle polizeilichen Bildungsmaßnahmen dahingehend                            verbindlichen Aussagen darüber treffen, wie es mit der
                                                                            Qualität (und teils auch Quantität) an den polizeilichen
1 Der vorliegende Text wurde auf der Grundlage des auf o.g. Veranstaltung   Aus- und Fortbildungseinrichtungen bestellt ist. Erst
  benutzten Vortragsskriptes und einer dazu bestehenden Präsentation
  nachträglich verfasst. Er entspricht nicht dem Wortlaut des Veranstal-
  tungsvortrags.                                                            3 Punkt 2. und 3., Deutsches Institut für Menschenrechte (2005), S. 370.
2 In leichter Erweiterung von Lenhart (2004), S. 41.                        4 Europarat (2004), S. 80.

                                                                                                                                                   5
recht sind keine Aussagen über die Wirksamkeit dieser      und -referenten lassen sich ansehen:
Bildungsmaßnahmen zu tätigen, da es an entspre-               - der Erwerb von spezifischem Wissen auf dem Ge-
chenden Evaluierungen mangelt.                             biet der Menschenrechte,
                                                              - die ständige Aktualisierung dieses Wissens,
These 2: Es bedarf in der Aus- und Fortbildung der            - resultierende Bezüge zum polizeilichen Handeln
Polizei eines „human-rights-mainstreaming“.                klar zu fokussieren,
                                                              - in ihren Dienststellen bzw. Ländern als Multiplika-
    Angelehnt an den Begriff des Gender Mainstreaming      toren dieses Wissens zu agieren (z.B. im Rahmen der
soll hierunter eine Überprüfung aller Inhalte der Aus-     polizeilichen Aus - und Fortbildung) sowie
und Fortbildung der Polizei unter folgenden Fragestel-        - Kontakte zu anderen mit den Menschenrechten be-
lungen verstanden werden:                                  fassten Personen (z.B. an Universitäten und Instituten
    Sind Menschenrechte berührt?                           oder innerhalb von NGOs) herzustellen und zu pflegen
    Sind Menschenrechte berücksichtigt?                    sowie diesen als Ansprechpartnerin oder Ansprechpart-
    Sind die Methodik und Didaktik der Aus- oder Fort-     ner zu dienen.
bildung menschenrechtskonform?                                Diese Aufgabenbeschreibung ist nicht als umfas-
    Entsprechend der Beantwortung dieser Fragen            send anzusehen. Vielmehr handelt es sich um eine
sind die Curricula sowie die Unterrichtsformen zu          erste grobe konzeptionelle Darstellung.
verändern. Dies lässt sich sicher nicht schlagartig
bewältigen. Es wäre schon viel erreicht, wenn die für      These 4: Es gibt gute Beispiele für Menschen-
die polizeiliche Aus- und Fortbildung Verantwortlichen     rechtsbildung in der Polizei.
die Notwendigkeit einer solchen Prüfung anerkennen
und entsprechende Schritte einleiten würden, so dass           In einer Studie des Deutschen Instituts für Men-
nach und nach ein menschenrechtlicher Fokus in den         schenrechte wurde 2007 der Stand der Menschen-
unterschiedlichsten Fächern bzw. Bildungsangeboten         rechtsbildung bei den deutschen Polizeien untersucht5.
existiert. Um es an einem Beispiel plausibel zu ma-        Dabei konnten viele gute Beispiele für Menschenrechts-
chen: Bestandteil der Ausbildung in Kriminaltechnik ist    bildung im engeren und im weiteren Sinne gefunden
beispielsweise das Abnehmen von Fingerabdrücken für        und dargestellt werden.
Spurenvergleiche. Dies kann nun so erfolgen, dass der          Im Rahmen meines Vortrages möchte ich kurz auf
betroffene Mensch das Gefühl hat, lediglich Instrument     drei Beispiele aus meiner eigenen Praxis eingehen. An
polizeilicher Arbeit zu sein. Oder es erfolgt menschen-    der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, an
rechtskonform, mit Erklärungen, mit der Beschränkung       der die Ausbildung für den gehobenen Dienst der Ber-
auf die unumgänglichen Eingriffe, mit der Respektie-       liner Polizei stattfindet, hielt ich im vergangenen Jahr
rung der Empfindungen des Betroffenen etc.                  im Rahmen eines Lehrauftrags eine Seminarreihe mit
    Nicht zuletzt kommt es auch darauf an, dass in der     dem Titel „Fair Cop: Polizeiarbeit und Menschenrechte
Aus- und Fortbildung ein Bewusstsein für die Faktoren      – Chancen und Risiken“. Im Rahmen dieser Seminare
geweckt wird, die in der polizeilichen Praxis für Men-     wurde die Verpflichtung der Polizei, Menschenrechte zu
schenrechtsverletzungen als hauptverantwortlich anzu-      gewährleisten, zu achten und zu schützen, untersucht
sehen sind: die negativen Seiten der Cop Culture, die      und den verschiedensten Facetten des polizeilichen
mangelhafte Fehlerkultur, der so genannte Korpsgeist       Dienstalltags in einer Großstadt gegenübergestellt.
und die damit verbundene „Mauer des Schweigens“. In        Die Studierenden wurden im interdisziplinären Denken
verschiedenen Fächern bzw. Maßnahmen sind diese zu         geschult. Sie trainierten, verschiedene Situationen
thematisieren, hinsichtlich ihrer Hintergründe zu disku-   der Polizeiarbeit aus unterschiedlichen Perspektiven
tieren und Wege der Prävention zu erarbeiten.              zu beurteilen. Das Seminar verknüpfte die Inhalte der
                                                           völkerrechtlichen Konventionen und die Realität des
These 3: In der Polizei sollte es Menschenrechts-          Menschenrechtsschutzsystems mit Aspekten der Ein-
referentinnen und -referenten geben.                       satzlehre, Psychologie und Ethik sowie der polizeilichen
                                                           Praxis. Kritisches Denken und die Reflexion der eigenen
    Ohne an dieser Stelle etwas über die Frage vorhan-     Werte wurden geübt. Neben Referaten der Studieren-
dener Stellen oder Gelder sagen zu wollen, ist die Exis-   den zu Themen wie „,Vergiss die Schule! Wir zeigen
tenz eines solchen Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin   Dir, was ein richtiger Polizist ist‘ – Zur Wirkung der Cop
in jeder Landespolizei, bei der Bundespolizei und beim     Culture und deren Rechtsauslegungen auf Dienstan-
Bundeskriminalamt wünschenswert und als nützlich           fänger/innen“, „,Racial profiling‘ – Dienstliche Notwen-
anzusehen. Mit diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-       digkeit oder latenter Rassismus?“ oder „Partner oder
tern könnten die Polizeiorganisationen dem Ziel, die       Täter? – Zum Umgang mit polizeilichem Fehlverhalten“
Menschenrechte ständig und umfassend zu achten, zu         gab es Besuche in der Gedenkstätte Berlin-Hohen-
schützen und zu gewährleisten, weiter näherkommen.
    Als Aufgaben dieser Menschenrechtsreferentinnen        5 vgl. Schicht (2007)

6
schönhausen und bei der NGO Ban Ying, die mit Opfern      vorzubeugen ist.
des Menschenhandels arbeitet.                                 Vergleichbare Bildungsangebote sind für alle
    Im Folgesemester fand dieses Seminar mit noch         Bundesländer wünschenswert. Nicht zuletzt bedarf
größerer Resonanz eine Fortsetzung unter dem Titel        es spezieller Fortbildungsangebote für die erste Hi-
„Auch beim Großeinsatz die Menschenwürde achten -         erarchieebene. Das sind z.B. die Dienstschicht- oder
Polizeipraxis und Menschenrechte auf dem Prüfstand“.      Dienstgruppenleiter, die Trupp- oder Einsatzgrup-
Dabei wurde auf einem fortgeschrittenen Niveau der        penführer, die einerseits über so viel Nähe zur Praxis
Vergleich konkreter Praxisfälle und -situationen mit      verfügen, dass sie von ihren Unterstellten als kom-
den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Polizei        petent angesehen werden, und die andererseits eine
vorgenommen, wie sie in den völkerrechtlichen Kon-        Führungsverantwortung besitzen. Auch der Menschen-
ventionen und in den Empfehlungen der UN-Fachaus-         rechtsbeirat in Österreich empfiehlt, die Gruppe der
schüsse sowie der Europaratsgremien einschließlich        dienstführenden Beamten als spezielle Zielgruppe von
polizeirelevanter Urteile des Europäischen Gerichtshofs   Menschenrechtsbildung anzusehen. Sie sind diejeni-
für Menschenrechte formuliert sind. Insbesondere wur-     gen, die den maßgeblichsten Einfluss auf die „Praxis
de auf die Europaratsbroschüre „Polizeiarbeit in einer    auf der Straße“ haben6. Entsprechende Bildungsange-
demokratischen Gesellschaft - Ist Ihre Dienststelle ein   bote sollten zunächst auf Sensibilisierung und Motivie-
Verteidiger der Menschenrechte?“, den Europäischen        rung für das Thema zielen, sie sollten ein Problembe-
Kodex der Polizeiethik, die Standards des CPT für         wusstsein wecken und die spezifische Verantwortung
Polizeiarbeit sowie auf die UN-Kodices für Polizeibe-     verdeutlichen. Getragen von Ressourcenorientierung
amte Bezug genommen. Mit den Studierenden wurde           sollten die Teilnehmenden befähigt werden, insbe-
erarbeitet, welche Probleme, aber auch Chancen in         sondere in der täglichen Dienstauswertung mit ihren
der Praxisumsetzung zu sehen sind. Zu den Problem-        Unterstellten menschenrechtliche Fragestellungen zu
lagen in den Praxisfällen und -situationen wurden die     fokussieren. Sinnvoll erscheint auch ein Follow up nach
Ursachen und Hintergründe analysiert, und es wurden       einigen Monaten, um die Wirksamkeit der diskutierten
Handlungsalternativen als Lösungsansätze gesucht.         Vorgehensweise zu prüfen und Erfahrungen und Pro-
Auch hier gab es Referate der Studierenden zu Themen      bleme zu diskutieren.
wie „Menschenrechtliche Grenzsituationen am Beispiel
einer Beschuldigtenvernehmung“, „Das Brechmittelur-       Quellen:
teil des EGMR – Notwendigkeit oder Hindernis?“ oder       Deutsches Institut für Menschenrechte (2005): Die „General Comments“ zu
„Der Daschner-Fall: Wie weit darf ein Polizist gehen?“.      den VN-Menschenrechtsverträgen. Baden-Baden: Nomos.
Ergänzt wurde das Seminar durch eine Diskussions-         Europarat (2004): Die Standards des CPT. Straßburg: Europarat.
                                                          Lenhart, Volker (2004): Kontextspezifische Didaktik der Menschenrechtsbil-
veranstaltung in der deutschen Zentrale von Amnesty          dung. In: Mahler, Claudia / Anja Mihr (Hg.)(2004): Menschenrechtsbil-
International in Berlin.                                     dung. Bilanz und Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen-
    Zuletzt möchte ich die Fortbildung „UNO-Konventi-        schaften.
                                                          Menschenrechtsbeirat Österreich (2005): Menschenrechte in der Aus- und
on und Streifenfahrt“ erwähnen, die im Fortbildungs-         Fortbildung der Sicherheitsexekutive. Wien: Bundesministerium für
katalog des Bereiches Politische Bildung der Berliner        Inneres.
Polizei angeboten wurde und wird. Die bisherigen          Schicht, Günter (2007): Menschenrechtsbildung für die Polizei. Berlin:
                                                             Deutsches Institut für Menschenrechte.
Veranstaltungen, die in Kooperation mit dem Deut-
schen Institut für Menschenrechte stattfanden, trafen
auf eine gute Resonanz. Die teilnehmenden Polizeibe-
amtinnen und -beamten kamen aus unterschiedlichen
Dienststellen und Bereichen, darunter Beamte aus den      Günter Schicht, Berlin, Dipl.-Kriminalist, freiberuflicher
Einsatzhundertschaften, von den Polizeiabschnitten        Sozialwissenschaftler, Trainer und Berater; Schwer-
und aus dem Landeskriminalamt. Anhand ihrer kon-          punkte: Psychologie, Menschenrechte
kreten Arbeit wurde offen, kontrovers und produktiv
diskutiert, wie sich menschenrechtliche Fragestellun-
gen täglich im polizeilichen Dienst finden, wo Risiken
für Menschenrechtsverletzungen liegen und wie diesen      6 Siehe Menschenrechtsbeirat Österreich (2005), S. 32 – 33.

                                                                                                                                  7
Generalverdacht im Gefahrengebiet
Ausgrenzung und Kriminalisierung durch die Konstruktion gefährlicher Stadtteile
Bela Rogalla

    Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit Ihrem Hund          Stadtteilen, werden weder bei der Einrichtung eines
spazieren und werden von zwei Zivilpolizisten mit dieser    Gefahrengebiets noch im Nachhinein veröffentlicht.
polizeilichen Aufforderung konfrontiert: „Anhalten              Die bisher von der Polizei eingerichteten Gefahren-
- Polizeikontrolle! Wo wollen Sie hin? Ihren Personalaus-   gebiete lassen sich zu vier Fallgruppen zusammenfas-
weis! Öffnen Sie Ihre Tasche! Sie befinden sich in einem     sen:
Gefahrengebiet!“ Das ist keine Seltenheit in Hamburg,           Am häufigsten wird die Einrichtung von Gefahren-
wenn Sie sich in einer polizeilichen Sonderrechtszone       gebieten mit der polizeilichen Lageerkenntnis „Drogen-
mit dem Namen „Gefahrengebiet“ aufhalten, dort arbei-       kriminalität“ begründet. Aktuell in den Stadtteilen St.
ten, wohnen oder leben.                                     Georg und in St. Pauli, bis vor kurzem auch noch in der
    Seit der Verschärfung des Polizeigesetzes im Juni       Sternschanze.
2005 hat die Polizei das Recht, aufgrund ihrer „Lageer-         Als zweithäufigste Begründung wird die „Jugend-
kenntnisse” sogenannte Gefahrengebiete zu definieren,        und Gewaltkriminalität“ von der Polizei angeführt, bei-
in denen sie verdachtsunabhängig „Personen kurzfristig      spielsweise im „Vergnügungsviertel St. Pauli“ oder auch
anhalten, befragen, ihre Identität feststellen und mitge-   im Gefahrengebiet „Bergedorf – Neuallermöhe“.
führte Sachen in Augenschein nehmen” darf (§ 4 Abs. 2           Die dritte Fallgruppe bilden Fußballspiele, wobei die
PolDVG). Seitdem hat die Polizei mehr als vierzig Gefah-    Gefahrengebiete in der Regel für einen Zeitraum von 24
rengebiete in Hamburg auf die Stadtkarte gezeichnet.        Stunden um das St. Pauli-Stadion am Millerntor sowie
Ganze Stadtteile unterliegen dem polizeilichen Ausnah-      die HSH-Norbank-Arena im Volkspark eingerichtet
mezustand, um Identitätsfeststelllungen, Befragungen,       werden.
Durchsuchungen, Platzverweise und Aufenthaltsverbote            Die vierte Fallgruppe besteht ausschließlich aus
zu begründen.                                               linken Demonstrationen, bei der die Polizei aufgrund
    Die gesetzliche Grundlage für diese verdachtsun-        der Lageerkenntnis „Versammlung mit einem progno-
abhängigen Kontrollen wurde mit dem „Gesetz zur             stisch gewaltsamen Verlauf“ Gefahrengebiete ausruft.
Erhöhung der Sicherheit und Ordnung” vom 16. Juni           Aufgrund dieser Lageerkenntnis wurde beispielsweise
2005 geschaffen, das die CDU-Bürgerschaftsfraktion          die gesamte Innenstadt zu einem Gefahrengebiet dekla-
als „schärfstes Polizeigesetz in Deutschland” feierte.      riert.
    Die verdachtsunabhängigen Kontrollen der Polizei in         Bei allen Gefahrengebieten legt die Polizeiführung
den Gefahrengebieten sind ein gravierender Eingriff in      – wie es in der Gesetzesbegründung heißt – „lage-
das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung         abhängige Zielgruppen“ fest, die von der Polizei ver-
der Menschen, die zur Zielgruppe der Polizei gehören.       dachtsunabhängig kontrolliert werden sollen.
    Auf der Homepage www.grundrechte-kampagne.de
haben wir das ganze Ausmaß der polizeilichen Kon-           1. Fallgruppe „Drogenkriminalität“
trollen in den Gefahrengebieten dargestellt. Mit zehn           In den Gefahrengebieten zur „Drogenkriminalität“
Kleinen Anfragen und einer Großen Anfrage zur „Grund-       sind die polizeilichen Maßnahmen „zur Gefahrenab-
rechtswirklichkeit in Hamburg“ haben wir einerseits die     wehr“ besonders drastisch. Beispielsweise wurden in
geographische Lage der Gefahrengebiete aufgedeckt           St. Georg in einem Zeitraum von fast vier Jahren (2.
und andererseits die Anzahl der Personenkontrollen,         Halbjahr 2005 bis 30.3.2009) 22.412 Personen ange-
Durchsuchungen, Platzverweise, Aufenthaltsverbote,          halten, bei weiteren 29.840 Personen Identitätsfeststel-
Ingewahrsamnahmen sowie der Strafverfahren erfragt.         lungen durchgeführt, gegenüber weiteren 38.587 Per-
    Zu Beginn unserer Kampagne gegen die Gefahren-          sonen Platzverweise erteilt sowie gegenüber weiteren
gebiete in Hamburg bestanden zeitgleich acht Gefah-         53.181 Personen Aufenthaltsverbote ausgesprochen.
rengebiete: in Bergedorf, in Lurup und in Osdorf, im        In diesem Zeitraum wurden weitere 7.771 Personen in
Schanzenviertel, in St. Georg jeweils ein Gefahrenge-       polizeilichen Gewahrsam genommen.
biet sowie drei Gefahrengebiete in St. Pauli.                   Hinsichtlich der aus diesen Kontrollen resultieren-
    Derzeit (September 2010) sind zeitgleich drei Ge-       den 23.375 „Straftaten“ liegen dem Senat übrigens
fahrengebiete dauerhaft eingerichtet, eins in St. Georg     keine Zahlen darüber vor, welchen Verfahrensausgang
und zwei in St. Pauli. Die geographischen Ausmaße           die Ermittlungsverfahren genommen haben.
der von der Polizei konstruierten Gefahrengebiete, d.h.         Die personenbezogenen Daten der kontrollierten
die Begrenzung der Gefahrengebiete in den jeweiligen        Personen aus allen Gefahrengebieten werden von der

8
Polizei in der Datei „ComVor-Index“ (Computergestützte     Kommunikationsstrategie der Polizei ist bei dieser
Vorgangsverwaltung) für die Dauer von drei Monaten         Fallgruppe bewusst eine andere: Die Einrichtung und
gespeichert. Die Daten von DrogenkonsumentInnen            die geographische Lage des Gefahrengebietes werden
werden überdies in der Datei „Offene Drogenszene“ für      vorab in allen Medien angekündigt. Die Polizei redet
einen Zeitraum von maximal 24 Stunden gespeichert.         von „Null-Toleranz“ und „Gewalt“, die Medien von
Die Errichtungsanordungen für die Datenspeicherungen       „Sperrzonen“. So hat die Polizei parallel zum Fußball-
in „Com-Vor-Index“ und „Offene Drogenszene“ wurden         spiel FC St. Pauli gegen FC Hansa Rostock vom 27.
von der Innenbehörde bis heute nicht veröffentlicht.       März bis 28. März 2010 im Stadionumfeld in St. Pauli
    Als Zielgruppe wurden „Personen, die sich in den       ein Gefahrengebiet eingerichtet. In diesem Zeitraum
Grenzen des Gefahrengebietes aufhalten und vom äu-         wurden 140 Personen angehalten, zusätzlich wurden
ßeren Erscheinungsbild und/oder ihrem Verhalten der        107 Aufenthaltsverbote und 12 Platzverweise ausge-
Drogenszene zugeordnet werden können“, festgelegt,         sprochen und 22 Personen in Gewahrsam genommen,
wie es in einer Senatsantwort wörtlich heißt.              wobei kein einziges Strafverfahren eingeleitet wurde.
                                                               In der Antwort des Senats auf die Kleine Anfrage der
2. Fallgruppe „Jugend- und Gewaltkriminalität“             LINKEN heißt es zu den Zielgruppen der Polizei wört-
    Bei der Fallgruppe der „Jugend- und Gewaltkrimina-     lich:
lität“ wird die Kriminalisierung von Jugendlichen durch        „Für das Gefahrengebiet Stadionumfeld/St. Pauli 27.
die Polizei besonders deutlich. Bestes Beispiel ist das    März 2010 - 28. März 2010 (Fußballspiel FC St. Pauli
Gefahrengebiet Bergedorf/Neuallermöhe/Nettelnburg.         - FC Hansa Rostock) sind als Zielgruppen festgelegt
Für dieses Gefahrengebiet ist von der Polizei vorab        worden:
folgende Zielgruppen definiert worden:                          • Einzelpersonen, die nach polizeilicher Erfahrung
    „Für das Gefahrengebiet Nettelnburg 5. Dezember        der gewaltbereiten Fußballszene zuzurechnen sind oder
2006 - 28. Oktober 2009 (Gewaltdelikte) sind als Ziel-         • 16-35–Jährige in Gruppen ab drei Personen oder
gruppe festgelegt worden:                                      • Fußballfans, die nach dem Fußballspiel den Bereich
    • 16-25–Jährige in Gruppen ab drei Personen oder       St. Pauli erreichen (unabhängig von der Erkennbarkeit
    • Personen, die alkoholisiert sind und/oder sich       sowie einem bestimmten „Vereinsbekenntnis“) oder
auffällig verhalten.“                                          • Personen, die alkoholisiert sind und/oder sich
    Aufgrund ihrer eigenen Lageerkenntnis „Gewaltkri-      auffällig aggressiv verhalten.“
minalität“ hat die Polizei vom 5.12.06 bis zum 27.9.09         Zielgruppe sind demnach alle Menschen, die „den
verdachtsunabhängig insgesamt 7.889 Personen an-           Bereich St. Pauli“ erreichen, weil sie „unabhängig von
gehalten, 972 Personen durchsucht, gegenüber 2.188         der Erkennbarkeit“ als Fußballfans kontrolliert werden
Personen Platzverweise erteilt und 114 Personen in         sollen. Deutlicher kann die Polizei nicht beschreiben,
Gewahrsam genommen. In diesen drei Jahren hat die          dass es sich um verdachtsunabhängige Kontrollen
Polizei insgesamt 5.312 Strafanzeigen gestellt.            handelt.
    Dieser drastischen polizeilichen Kontrollpraxis
stehen im Jahr 2008 nur zwei Freiheitsstrafen, davon       4. Fallgruppe „Linke Demonstrationen“
eine zur Bewährung, sowie drei Jugendstrafen, sieben           Die vierte Fallgruppe für die Einrichtung von Ge-
Geldstrafen und drei Erziehungsmaßregeln vor Gericht       fahrengebieten in Hamburg sind Demonstrationen,
gegenüber. Freigesprochen, eingestellt oder erledigt       und zwar ausschließlich linke Demonstrationen. Zwei
haben sich sieben Verfahren vor Gericht. Signifikant ist    Beispiele verdeutlichen die Polizeipraxis gegen linke
auch die Zahl von 56 Einstellungen gemäß § 170 StPO        Proteste und Demonstrationen. Der eine Fall ist die
sowie neun Einstellungen nach § 153 StPO durch die         langjährige Auseinandersetzung um den Bau eines
Staatsanwaltschaft (BüDrs. 19/3198 und 19/4214).           Mövenpick-Hotels im Wasserturm des Sternschanzen-
    Der exemplarische Vergleich dieser Zahlen zeigt        parks. Hier wurde ein ganzer Park zu einem Gefahren-
deutlich, dass die Polizei durch die Konstruktion          gebiet deklariert, um verdachtsunabhängige Kontrollen
gefährlicher Stadtteile eine Ausgrenzung und Kriminali-    durchzuführen.
sierungsstrategie verfolgt, die vor den Gerichten keinen       In der Antwort des CDU/GAL-Senats auf eine Kleine
Bestand hat.                                               Anfrage der LINKEN heißt es wörtlich: „Für das Gefah-
    Die politische und juristische Aufklärungskampagne     rengebiet Schanzenviertel/Wasserturm 11. Juni 2007
der Fraktionen DIE LINKE in der Bezirksversammlung         - 13. Juli 2007 (Allgemeine Kriminalität/Eröffnung Mö-
Bergedorf und der Bürgerschaft war übrigens erfolg-        venpick-Hotel) sind als Zielgruppen festgelegt worden:
reich: Das Gefahrengebiet Bergedorf/Neuallermöhe               • Personen, die augenscheinlich dem linken Spek-
wurde Ende 2009 von der Innenbehörde aufgehoben.           trum zuzurechnen sind oder
                                                               • Personen, die sich auffällig verhalten und sich in
3. Fallgruppe „Fußballspiele“                              der unmittelbaren Nähe zum Wasserturm bewegen.“
    Die dritte Gruppe, die von der Polizei verdachtsu-         Das Resultat sind 97 Identitätsfeststellungen sowie
nabhängig kontrolliert werden, sind Fußballfans. Die       die Durchsuchung von weiteren 58 Personen. Au-

                                                                                                                 9
ßerdem wurde ein dreimonatiges Aufenthaltsverbot                Es ist ein rechtsstaatlicher Skandal, dass die Innen-
gegenüber einer Parknutzerin ausgesprochen, das             behörde und die Polizei vom Gesetzgeber ermächtigt
der Justitiar der Polizei Hamburg allerdings kurz bevor     wurden, aufgrund ihrer eigenen polizeilichen Lageein-
der Fall beim Verwaltungsgericht verhandelt wurde,          schätzungen Gefahrengebiete auszuweisen und Ziel-
kurzfristig wieder aufhob. Darüber hinaus wurde eine        gruppen für die verdachtsunabhängigen Kontrollen zu
Vielzahl von Strafverfahren wegen Hausfriedensbruch         definieren. Damit werden die Grundrechte der Bürge-
geführt, weil die Geschäftsführung des Mövenpick-Ho-        rinnen und Bürger, insbesondere auf informationelle
tels Strafanzeige wegen Betreten des Rasens auf dem         Selbstbestimmung, sowie die Bewegungs- und Ver-
Gartengrundstück im öffentlichen Park gestellt hatte.       sammlungsfreiheit mit dem Polizeirecht ausgehebelt.
Nachdem die Staatsschutzkammer des Oberlandesge-                Der polizeiliche Generalverdacht gegen Zielgruppen
richts Hamburg urteilte, dass es sich bei dem Garten-       richtet sich diametral gegen die verfassungsrechtlich
grundstück nicht um „befriedetes Besitztum“ handelte,       verbürgten Grundrechte, insbesondere von Jugendli-
wurden alle Strafverfahren eingestellt.                     chen, DrogenkonsumentInnen, Fußballfans und poli-
    Das beste Beispiel für die Praxis eines präventiven     tisch aktive Menschen aus der Linken.
Sicherheitsstaates ist ausgerechnet die Demonstration           DIE LINKE fordert deshalb die Aufhebung aller
„Gegen Sicherheitswahn und Überwachungsstaat“ in            Gefahrengebiete und die verfassungskonforme Novel-
der Innenstadt am 15.12.2007. Obwohl die Veranstal-         lierung der Hamburger Polizeigesetze:
ter der Demonstration vor dem Verwaltungsgericht                • Gefahrengebiete ermöglichen der Polizei, ver-
Hamburg eine Demonstrationsroute durch die Innen-           dachtsunabhängig die Identität von Personen festzu-
stadt rechtlich erfolgreich durchgesetzt hatten, wurde      stellen, sie anzuhalten, zu befragen und zu durchsu-
parallel zur Demonstration die gesamte Innenstadt zu        chen,
einem Gefahrengebiet erklärt.                                   • die Polizei hat die Definitionsmacht darüber, ob
    Zur Begründung diente der Innenbehörde die selbst-      ein Gebiet als Gefahrengebiet ausgewiesen wird, und
gefertigte Lageerkenntnis „Versammlung mit einem            entscheidet damit selbständig über die Ausweitung
prognostisch gewaltsamen Verlauf”, und auch die             ihrer Eingriffsbefugnisse,
Zielgruppe wurde klar definiert:                                 • ohne konkrete Verdachtsmomente existieren kei-
    „Für das Gefahrengebiet Innenstadt 15. Dezember         ne sinnvollen Kriterien für die Auswahl der zu kontrol-
2007 - 16. Dezember 2007 (Versammlung mit progno-           lierenden Personen. Die Ermittlungstätigkeit wird von
stisch gewaltsamen Verlauf) sind als Zielgruppen festge-    Vorurteilen geleitet, so dass bestimmte Personengrup-
legt worden:                                                pen, insbesondere Flüchtlinge, MigrantInnen, Drogen-
    • Personen bzw. Personengruppen, die augenschein-       konsumentInnen und DemonstrantInnen, diskriminiert
lich dem linken Spektrum zuzuordnen sind und/oder           und kriminalisiert werden,
    • Personen bzw. Personengruppen, die sich verdäch-          • die Ursachen von Kriminalität werden durch die
tig verhalten bzw. verdächtige Gegenstände mit sich         Konstruktion von Gefahrengebieten nicht behoben. Es
führen.“                                                    erfolgt ein Zuschreibungsprozess, der die Stadtteile als
    In der Innenstadt wurden deshalb 730 Personen           „gefährliche Orte” stigmatisiert und die Vertreibung
aufgehalten und bei weiteren 34 Personen Durchsu-           „unerwünschter Personen” oder „Störer“ mit Hilfe von
chungen durchgeführt.                                       Platzverweisen und Aufenthaltsverboten rechtfertigen
    In der Gesetzesbegründung zu den Gefahrengebie-         soll.
ten heißt es: „Die Identitätsfeststellung dient in erster       Die Kampagne „Grundrechte verteidigen – Gefah-
Linie dazu, eine von der kontrollierten Person mögli-       rengebiete aufheben!” der Fraktion DIE LINKE will die
cherweise ausgehende Gefahr abzuwehren. Daneben             Grund- und Menschenrechte stärken und richtet sich
kann die Aufhebung der Anonymität bei potentiellen          gegen die Konzeption eines präventiven Überwachungs-
Störern zum Verzicht auf bestimmte Aktivitäten füh-         staats. Im Internet haben wir deshalb die Gefahren-
ren.“                                                       gebiete auf der Seite www.grundrechte-kampagne.de
    Weit im Vorfeld von konkreten Gefahren und weit im      geographisch dargestellt und informieren aktuell über
Vorfeld von Sachverhalten, die im konkreten Einzelfall      weitere Auseinandersetzungen im Politikfeld von Grund-
mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verlet-       rechten und Demokratie.
zung der Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder
Ordnung führen, werden von der Polizei Identitätsfest-
stellungen, Durchsuchungen, Platzverweise, Aufent-
haltsverbote und Ingewahrsamnahmen durchgeführt.            Bela Rogalla war Mitherausgeber des Grundrechte-Re-
Gezielt soll die Anonymität von Versammlungsteilneh-        ports und ist Dipl. Wirtschafts- und Arbeitsjurist und
merInnen aufgehoben werden, wenn sie auf dem Weg            wissenschaftlicher Mitarbeiter von Christiane Schneider,
zur Demonstration oder von der Demonstration nach           innen- und rechtspolitische Sprecherin der Fraktion DIE
Hause die Innenstadt betreten.                              LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft.

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„Gefahrengebiete“ in Hamburg
Jan Wehrheim

   Die Praxis der so genannten Gefahrengebiete ist seit     wenigen Tagen (Demonstrationen, Fußballspiele) über
Mitte der 1990er Jahre bekannt. Mit der Novelle des         wiederkehrende Zuschreibungen (an Wochenenden we-
Hamburger Polizeigesetzes wurde sie 2005 kodifiziert,        gen Discoprügeleien) bis zu Jahren (Drogendelikte). Mit
und seitdem richtete die Freie und Hansestadt Ham-          der Dauer variiert auch die Fläche: eine U-Bahnstation,
burg 40 Mal neue Gebiete ein, von denen aktuell drei        das Stadionumfeld, die Umgebung der Demonstration
gültig sind. Polizeiliche „Lageerkenntnisse“, und das       oder ein ganzes Wohnviertel. Die als „Gefahrengebie-
heißt vor allem Einschätzungen örtlicher Revierleiter,      te“ definierten Räume unterscheiden sich damit auch
gelten als ausschlaggebend. Gefahrengebiete – in ande-      anhand ihrer städtischen Funktionen: Wohnen, Erholen,
ren Städte auch „gefährliche Orte“ genannt – erlauben       Vergnügen, Verkehr, Einkaufen, politische Artikulation.
der Polizei verdachtsunabhängige Kontrollen der dort            Mit den Begründungen und Funktionen variieren
Anwesenden.                                                 ebenso die Personenkategorien, die – gemäß Ham-
                                                            burger Polizei – als besonders kontrollwürdig bei den
Unterschiedliche Räume, unterschiedliche                    eigentlich verdachtsunabhängigen Kontrollen gelten.
unverdächtig Verdächtige                                    Bei der Begründung „Drogenkriminalität“ stehen
                                                            Personen im Fokus der „verdachtsunabhängigen“
    Betrachtet man die Räume, in denen verdachts-           Kontrolle, die aufgrund ihres Erscheinungsbilds von
unabhängige Kontrollen erlaubt sind, so zeigen sich         den Polizist_innen zur Drogenszene gerechnet werden.
heterogene Konstellationen: Sie variieren nach ihrer        Dies dürften einerseits Verwahrlosungserscheinungen
Funktionalität, nach ihrer Sozialstruktur, nach der Be-     sein, wobei in den Beschreibungen (illegalisierte) Dro-
gründung ihrer Einführung und ihrer Dauer sowie nach        gen- und nicht strafrechtlich relevante „Trinkerszenen“
Personenkategorien, die polizeilich primär im Fokus der     ineinander übergehen. Andererseits legen Erfahrungen
Kontrolle stehen.                                           mit der polizeilichen Kontrolle von Drogenszenen die
    Schaut man auf das Label der Räume – „Gefahr“           Vermutung nahe, dass (dunkle) Hautfarbe ein weiteres
– , so zeigt sich zuallererst, dass die Räume nicht         Kriterium ist. Verdacht wird über Alltagsvorstellungen
grundsätzlich mit – gemessen zumindest an der               und -erfahrungen sowie über rassistisch bedingte Ste-
Polizeilichen Kriminalstatistik – besonders krimina-        reotypen als „racial profiling“ ethnisiert. Bei politischen
litätsbelasteten Gebieten übereinstimmen. Genauer           Veranstaltungen lautet das Kriterium „Personen, die au-
gesagt, nicht alle diesbezüglich auffälligen Orte sind      genscheinlich dem linken Spektrum zuzuordnen sind“.
Gefahrengebiete, bzw. es gibt umgekehrt Orte, die eher      Fußballfans werden bemerkenswerterweise „unabhän-
unterdurchschnittliche Kriminalitätsbelastungsziffern       gig von ihrer Erkennbarkeit“ besonders kontrolliert, und
aufweisen, aber dennoch als Gefahrengebiete ausge-          auch Personen, die irgendeine andere Gruppenzugehö-
wiesen wurden. Auch unabhängig von der polizeilich          rigkeit mutmaßlich zu erkennen geben, werden – etwa
registrierten Kriminalitätsbelastung stimmt das Label,      im Bereich St. Pauli – gezielt kontrolliert. Besonders
das Bedrohungen für alle suggeriert, in der Regel nicht:    weitreichend sind die Definitionen kontrollwürdiger
Drogenhandel ist ein typisches Beispiel für so genannte     Personen in den Gebieten, die mit Diebstählen oder
opferlose Kriminalität, linke Demonstrationen bedrohen      Sachbeschädigungen begründet werden: Dort stehen
keine Anwohner_innen oder Passanten_innen, Kör-             Personen, die z.B. Rucksäcke bei sich tragen, pauschal
perverletzungen ereignen sich in der Regel innerhalb        Gruppen ab drei Personen oder auch generell männli-
spezieller situativer Kontexte, und Vandalismus sowie       che Personen ab 15 Jahren im Fokus der polizeilichen
Diebstähle sind keine Handlungen, die als herausra-         Aufmerksamkeit.
gend „gefährlich“ gelten.                                       Dauer, Fläche, Funktionen, Begründungen und
    Damit ist bereits auf die Begründungen für die Imple-   Personenkategorien sind nun wiederum mit der Sozial-
mentation eines „Gefahrengebiets“ hingewiesen: Die          struktur der Gebiete in Zusammenhang zu bringen. In
häufigste Begründung in den vergangenen Jahren lautet        „Gefahrengebieten“ wie Billstedt, Mümmelmannsberg
„Drogenkriminalität“, gefolgt von (politisch links ori-     oder Wilhelmsburg sind es männliche Personen und
entierten) Demonstrationen. Deutlich seltener sind Fuß-     Gruppen, die primär kontrolliert werden und damit
ballspiele, Diebstahlsdelikte und Sachbeschädigungen        pauschal vor allem junge, männliche Personen, die
oder Körperverletzungen die Begründungen. Dement-           überproportional oft aus sozial unterprivilegierten
sprechend variiert die Dauer der „Gefahrengebiete“ von      Haushalten kommen und einen so genannten Mi-

                                                                                                                   11
grationshintergrund aufweisen – denn die Quartiere         Räumliche Legitimation und
zeichnen sich durch eine entsprechende Bevölkerungs-       polizeiliche Definitionsmacht
struktur aus. Im Fokus stehen die Bewohner_innen
eines Quartiers selbst. Im Bereich Reeperbahn sind es          Gefahrengebiete reihen sich damit in den allgemei-
„auffällig ausgelassene“, alkoholisierte Personen oder     nen Trend der Raumorientierung von sozialer Kontrolle
erneut Gruppen ab drei Personen. Eine Konsequenz sol-      ein, wie er nicht nur für deutsche Städte, sondern inter-
cher Kontrollpraktiken ist es, dass in den betroffenen     national beschrieben wird. Kontrolle in Städten zielt zu-
Räumen jährlich zehntausende Personen in der Regel         nehmend indirekt auf Handlungen und Personenkatego-
ohne für diese nachvollziehbaren Anlass von der Polizei    rien. D.h. die Legitimation entsprechender Maßnahmen
kontrolliert werden und solche Kontrollen gegebenen-       erfolgt über die Konstruktion von Räumen: Nicht „dem
falls zu einer üblichen und diskriminierenden Erfahrung    linken Spektrum zuzurechnen“ oder „Mitführen von
werden.                                                    Taschen/Rucksäcken“ an sich legitimiert überall den
    Bei „Gefahrengebieten“ in wohlhabenderen oder          polizeilichen Zugriff, auch nicht die Kategorie „männ-
„durchschnittlichen“ Quartieren – bereits die Flä-         lich 15-25 Jahre“ oder „Gruppe ab drei Personen“,
chen unterscheiden sich deutlich – wie dem Eilbeker        sondern der Ort des Geschehens, dem eine Kongruenz
Bürgerpark oder dem U-Bahnhof Volksdorf ist es             mit besonderen Handlungen unterstellt wird. Obwohl
naheliegend, dass gerade Quartiersfremde besondere         gleichwohl tausende Personen kontrolliert werden und
Aufmerksamkeit genießen und dass auch ortsspezifi-          hunderttausende alleine aufgrund ihrer Anwesenheit
sche Sensibilitäten bestehen, denn Hinweise darauf,        vor Ort potentiell davon betroffen sind, ist nur durch
dass Prügeleien bei Discotheken oder Drogenhandel          den Bezug zu einem vermeintlich gefährlichen Raum die
dort ganz besonders große Ausmaße haben, gibt es           politische Legitimation durchsetzbar. Würden die Polizei
nicht. Empfindlichkeiten scheinen dort größer zu sein.      und Innenbehörde grundsätzlich und überall Männer,
(Im Eilbeker Bürgerpark galt der dortige Handel mit        Rucksackträger_innen oder Personengruppen als
illegalen Substanzen ohnehin als Folge repressiver         kontrollwürdig definieren, wäre der mediale Aufschrei
Verdrängungspolitiken im Stadtteil St. Georg: Drogen-      gewiss. Ein Grundpfeiler von Rechtsstaatlichkeit wird
handel wird dadurch nicht reduziert, sondern verlagert.)   gleichwohl auch so – wie etwa auch durch Videoüber-
Auch beim „Gefahrengebiet Jungfernstieg“ sind die          wachung und Vorratsdatenspeicherung – unterminiert:
absoluten Zahlen sowie die Belastungsziffern – also die    die Unschuldsvermutung gilt (bestenfalls) nur noch im
Relation der absoluten Zahlen zu den dort präsenten        Strafprozess, nicht jedoch im Polizeirecht.
Menschenmassen – im Vergleich zu anderen Gebieten              Diese Verräumlichung von Kontrolle ist damit in eine
gering, und die Vermutung, Konsumförderung durch die       allgemeine Präventionsorientierung, d.h. eine Vorfeld-
Verdrängung des, den „feel-good-factor“ vermeintlich       verlagerung polizeilicher Aktivitäten, einzuordnen, wo-
störenden, Drogenhandels sei ein Motiv bei der Einrich-    bei die Definitionsmacht der Polizei doppelt zunimmt:
tung gewesen, liegt zumindest nahe. Die Definition von      Auch wenn mit Blick auf die Räume, Anlässe und die
Gefahrengebieten scheint mit ortsspezifischen Sensibi-      zeitliche Verteilung von „Gefahrengebieten“ ebenso
litäten und Kontrollinteressen zu variieren.               politische Prämissen relevant zu sein scheinen, so ist
    Folgen der Konstruktion von Gefahrengebieten           die Polizei zum einen maßgeblich an der Definition von
und der polizeilichen Handlungen sind außer den            „Gefahrengebieten“ beteiligt. Ihre „Lageerkenntnisse“
massenhaften Kontrollen und Identitätsfeststellungen       werden zur Legitimation herangezogen. Zum anderen
Ingewahrsamnahmen und zigtausende Aufenthaltsver-          verweist das Instrument der verdachtsunabhängigen
bote. D.h. für Zeitspannen von Stunden bis (allerdings     Kontrollen darauf, dass es eben nicht nur die Anzei-
selten) Monaten dürfen polizeilich Verdächtigte (nicht     gebereitschaft der Bürger und Bürgerinnen und damit
strafrechtlich Verurteilte!) Straßenzüge oder ganze        veränderte Sensibilitäten der Bevölkerung sind, mit der
Quartiere nicht betreten, ohne mit weiteren Sanktio-       die registrierte Kriminalität variiert, sondern die Polizei
nen rechnen zu müssen. Diese Verräumlichung von            maßgeblich selbst als Akteur beteiligt ist. Polizeiliches
Kontrolle hat eine mittlerweile lange Tradition: Mitte     Handeln und Gefahrengebiete werden dabei zur Self-
der 1990er Jahre, als die Kommunen Fußgängerzonen          Fulfilling-Prophecy: Die „Gefährlichkeit“ bestätigt sich
und Bahnhöfe als Visitenkarten für ihre Standortpolitik    durch die Kontrolle, und Belastungsziffern steigen
entdeckten, sprach die Hamburger Polizei allein im         gerade durch die Definition von Gefahrengebieten und
Stadtteil St. Georg jährlich um die 80.000 Platzverwei-    die daran anschließenden Kontrollhandlungen. Der
se aus. Blickt man auf die Situation in allen deutschen    Soziologe Heinrich Popitz schrieb 1968 in „Die Präven-
Städten und berücksichtigt man zudem Hausverbote in        tivwirkung des Nichtwissens“, Dunkelziffern könne man
eigentumsrechtlich privatisierten Räumen wie Einkaufs-     sich kaufen, etwa durch den Kauf einer Villa: In Quar-
passagen oder Bahnhöfen, so gehen Verweisungen aus         tieren mit schlechten Wohnverhältnissen spielt sich
Räumen jährlich in die Millionen.                          mehr Leben auf der Straße ab und damit auch mehr
                                                           kriminalisierbare Handlungen, die durch polizeiliche
                                                           Interventionen „entdeckt“ werden. Drogendelikte etwa

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