DIE EUROPÄISCHE UNION NACH TRUMP - VON DEN GRENZEN AUSSENPOLITISCHER AMBITIONEN IM NEOLIBERALISMUS - Rosa ...
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A XEL GEHRING DIE EUROPÄISCHE UNION NACH TRUMP VON DEN GRENZEN AUSSENPOLITISCHER AMBITIONEN IM NEOLIBERALISMUS 1
INHALT Die gemeinsame Außenpolitik in der Krise 3 Beginn der europäischen Integration unter US-Hegemonie 7 Vergemeinschaftung der europäischen Außenpolitik nach 1990 11 «Verantwortungsvoll regierte Staaten» als kleinster gemeinsamer Nenner 15 Krise des Integrationsmodus und Scheitern der Europäischen Nachbarschaftspolitik 19 Disziplinierender Neoliberalismus – Achillesferse der EU-Außenpolitik 25 Krise der US-Hegemonie – Krise der europäischen Integration? 29 PESCO – Antwort auf Trump oder Kondensationskeim einer neuen Industriepolitik? 33 Exkurs: Verunsicherung und Hoffnung der deutschen außenpolitischen Eliten 39 Transatlantische Politik in der Welt nach Trump 49 Schluss: Außenpolitik ohne Transformation der Integrationsweise? 53 Literatur 59 Autor 63 IMPRESSUM 64
DIE GEMEINSAME AUSSENPOLITIK IN DER KRISE In den Staatskanzleien und Außenministe- ischer Anleihen zur Unterstützung schwer rien der EU-Mitgliedsstaaten war das Jahr betroffener Mitgliedstaaten verständigen. 2020 nicht nur von der Corona-Pandemie, Dennoch verweisen sowohl die Eskalation sondern auch vom bangen Warten auf den der Pandemie im Kontext kaputtgesparter Wahlausgang in den Vereinigten Staaten Gesundheitssysteme als auch die vorange- geprägt. Die Wahl Joseph Bidens wurde gangene Debatte um gemeinsame Staats- schließlich mit großer Erleichterung auf- anleihen (Eurobonds) auf die tiefe Krise der genommen. Die Hoffnung auf eine Restau- wettbewerbsstaatlichen Integrationswei- ration oder gar Erneuerung der transatlan- se der EU. Einerseits gibt es fundamenta- tischen Beziehungen prägt seit Monaten le Kritik daran, andererseits bemühen sich die außenpolitischen Debatten, sei es im wie in jeder Krise der EU zahlreiche – auch Hinblick auf Russland und China oder mit oppositionelle – Akteure um normativ be- Verweis auf den Klimaschutz. Die Verunsi- gründete Visionen einer Erneuerung Eu- cherung weiter Teile der politischen Eliten ropas. Letztere reichen von einer Neube- über die Rolle Europas in der Welt speist gründung Europas als Bundesstaat bis zur sich aus dem außenpolitischen Kurs der Vorstellung der EU als Akteurin mit eigen- Trump-Administration, die die multilate- ständigen Interessen. Dabei fallen Fragen ralen Elemente der transatlantischen Ord- von großer realpolitischer Bedeutung je- nung beschnitt – mithin die Einheit des doch unter den Tisch: Welche Außenpolitik Westens. Diese Sorgen korrespondieren kann die von der wettbewerbsstaatlichen mit einer inneren Krise der europäischen Integrationsweise getragene EU über- Integration, die sich in der geringen Koordi- haupt formulieren? Setzt eine europäische nation der nationalen Maßnahmen zur Ein- Außenpolitik gar zunächst eine Transfor- dämmung des Corona-Virus und vor allem mation der Integrationsweise voraus? im Streit um die Bewältigung der ökonomi- schen Folgen der Pandemiekrise manifes- Wie im Folgenden zu zeigen ist, bewegt tiert. sich europäische Außenpolitik immer im Kontext des Integrationsprozesses. Die Immerhin konnte sich der Europäische seit Langem andauernde Krise der wett- Rat im Juli 2020 unter dem Namen «Next bewerbsstaatlichen Integrationsweise hat Generation EU» auf ein Programm über in den letzten Jahren die Kapazität der EU, 750 Milliarden Euro gemeinsamer europä- als außenpolitische Akteurin zu agieren, 3
strukturell begrenzt. Der Prozess der Ver- WELCHE AUSSENPOLITIK gemeinschaftung der Außen- und Sicher- KANN DIE VON DER WETT- heitspolitik der EU hat an Fahrt verloren BEWERBSSTAATLICHEN bzw. sich vermehrt auf Fragen des Grenz- INTEGRATIONSWEISE regimes konzentriert (vgl. Oberndorfer GETRAGENE EU FOR- 2019). Tendenzen der weiteren Vergemein- MULIEREN? SETZT EINE schaftung auf diesem Feld finden primär EUROPÄISCHE AUSSEN- nicht in der EU, sondern im Rahmen der POLITIK EINE TRANSFOR- NATO oder im Bereich der Industriepolitik MATION DER INTEGRA- (PESCO) statt (vgl. Serfati 2020). TIONSWEISE VORAUS? Dennoch haben die transatlantischen Spannungen unter der Trump-Adminis- tration noch zugenommen. Allerdings wird nur selten debattiert, inwieweit diese Spannungen eine Krise der äußeren Bedin- gungen der europäischen Integration dar- stellen und welche Probleme sich daraus für die Formulierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ergeben. Wer sich mit der Außenpolitik der EU be- schäftigen oder aus linker Perspektive eine alternative Außenpolitik entwickeln will, muss sich daher nicht nur mit der Verge- meinschaftung der Außen- und Sicher- heitspolitik der EU, sondern gerade auch mit ihrer inneren Krise – der Krise ihrer In- tegrationsweise – sowie mit den sich wan- delnden äußeren Bedingungen ihrer Exis- tenz als Union beschäftigen. Ebendiese sorgen derzeit auch im Denken der außen- politischen Eliten in Deutschland für eine Verunsicherung, die trotz allem mitschwin- genden Pathos ihre reale historische Be- gründung hat. 4
BEGINN DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION UNTER US-HEGEMONIE Die europäische Integration hat sich nach Allerdings wurde die reale Dynamik der dem Ende des Zweiten Weltkriegs trotz neuen Staatenordnung im Zuge des begin- aller Spannungen und Krisen im transat- nenden Kalten Kriegs rasch von der Kon- lantischen Verhältnis weitgehend kom- kurrenz antagonistischer Gesellschafts- plementär zur US-Hegemonie entwickelt. entwürfe überlagert. Innerhalb dieses Grundlegende Züge der angestrebten (glo- globalen Ost-West-Antagonismus er- balen) Nachkriegsordnung, darunter for- gab sich insbesondere in den Zentren des male Dekolonialisierung und Demokrati- transatlantischen Raums der Druck, wich- sierung bei gleichzeitiger Offenhaltung der tige Forderungen der Arbeiterbewegung in Seewege sowie Souveränität der Völker die hegemoniale politische Agenda aufzu- über ihre Regierungsform, haben die USA nehmen (vgl. ebd.: 356 ff.). Ausgerechnet und Großbritannien schon 1941 in Gestalt unter Führung der USA wurden die ersten der Atlantik-Charta vereinbart (vgl. Hobs Nachkriegsjahrzehnte zu einem Zeitalter bawm 1998). Obgleich eine liberale Antwort der Sozialdemokratie. Ihr «Empire by Invi- auf die Herausforderung durch den deut- tation» konstituierte sich als «Embedded schen und italienischen Faschismus, wur- Liberalism»: Er wurde von der Prämisse de sie zum Ausgangspunkt für den Grün- getragen, dass eine liberale Welthandels dungsprozess der Vereinten Nationen unter ordnung durch eine nicht liberale Welt Führung der Hauptmächte der Alliierten, finanzordnung getragen werden müsse, den USA, Großbritanniens und der Sowjet um die Autonomie der nationalen Wohl- union. De facto stellen die Vereinten Natio fahrtsstaaten nicht durch unkontrollier- nen damit eine institutionalisierte Fortset- te Finanzströme zu gefährden (vgl. Hellei- zung der antifaschistischen Kriegskoalition ner 1994: 4). Unter der Führung der USA dar. Insofern ihre Gründungscharta die ge- bildeten kapitalistische Hegemonie und meinsame Zusammenarbeit der souverä- hegemoniale Konzession an die Lohnar- nen Nationen in Fragen der internationalen beiten einen Nexus, den institutionell die Sicherheit mit dem Ziel des Friedens in den Bretton-Woods-Institutionen (Internatio- Mittelpunkt rückte, war sie als Rahmen naler Währungsfonds/IWF, Weltbank und für eine multilaterale Friedensordnung ge- der General Agreement on Tarifs and Trade/ dacht; 1948 kam die Allgemeine Erklärung GATT) absicherten. Sie bildeten wichtige der Menschrechte hinzu. Handlungsarenen der US-Hegemonie und 7
waren Kondensationskeime einer multila- Übernahmen nationaler Konzerne, die zur teralen westlichen Ordnung. Den Staaten Bildung transnationaler europäischer Kon- der westlichen Hemisphäre, insbesonde- zerne führten, ließen den Wunsch nach re in Europa, ermöglichte dies, ihre eige- einer verstärkten multinationalen und nen kapitalistisch-korporatistisch-wohl- transnationalen Koordinierung der europä- fahrtsstaatlichen Entwicklungspfade trotz ischen Wirtschaftspolitiken entstehen (vgl. gleichzeitiger Einbettung in die US-Hege- Mandel 1967). Dieser Wille materialisierte monie zu verfolgen und so auch sozialisti- sich in den Römischen Verträgen, die 1957 sche Tendenzen einzudämmen. die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) begründeten. Das Die US-Hegemonie konsti Zusammenwachsen der tuierte sich also bei Wei- DIE POLITÖKONO europäischen Konzerne ba- tem nicht nur auf ihrer über- MISCHE STAATSLOGIK sierte dabei wesentlich auf legenen ökonomischen DRÄNGTE ZUR US-amerikanischen Inves- und militärischen Macht, EUROPÄISCHEN titionen und Kapital (vgl. sondern auf einem Multi INTEG RATION, DIE Poulantzas 1974). Und die lateralismus, der für zahl- SICH KOMPLEMENTÄR europäische Integration in reiche westliche Staaten IN DIE TRANSATLAN- Gestalt der EWG blieb we- zur Bedingungsmöglichkeit TISCHE ORDNUNG sentlich ein Rahmen zur Ko- ihrer eigenen Souveränität FÜGTE. ordinierung der nationalen wurde. Vor allem für die wohlfahrtsstaatlichen Ent- Bundesrepublik Deutsch- wicklungspfade. Diese Ko- land war die Rückgewinnung ihrer ver- ordinierung der Pluralität der «Embedded lorenen Souveränität mithin nur auf den Liberalisms» in Westeuropa stabilisierte Schultern der transatlantischen Ordnung nicht zuletzt die transatlantische Ordnung: denkbar. Das rüstungspolitische Bestre- Die politökonomische Staatslogik drängte ben, das (west-)deutsche Gewaltpoten- hin zur europäischen Integration, die sich zial dauerhaft einzuhegen, führte bereits komplementär in die transatlantische Ord- 1951 zur Vergemeinschaftung der west- nung fügte. europäischen Kohle- und Stahlpolitik in Gestalt der supranationalen Europäischen Die direkt von der Ratio des Kalten Kriegs Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) beherrschte geopolitische Staatslogik ver- und schuf so eine wichtige Vorläuferinstitu- langte auf militärischem Gebiet nach einer tion der europäischen Integration. noch engeren transatlantischen Integra tion, welche eine unmittelbare Bindung der Die ökonomischen Dynamiken sollten einzelnen europäischen Staaten, von denen sich schließlich als die dafür entscheiden- längst nicht alle Mitglieder der EWG waren, den erweisen: Wachsende Handelsver- an die USA sicherstellte. In diesem Kontext flechtungen zwischen den Ökonomien ist das Scheitern früher Entwürfe einer ver- Westeuropas, aber auch die Fusionen und tieften westeuropäischen Zusammenarbeit 8
im Bereich der Sicherheits- und Verteidi- wurden mittels der beginnenden Verlage- gungspolitik wenig überraschend: Westeu- rungen von Produktionsstandorten in die ropas innere Integration basierte auf einer Staaten der (damaligen) kapitalistischen Pluralität von Staaten, deren Souveränität Semiperipherie einerseits die Vorausset- ihrerseits auf den Schultern der transat- zungen für neue Profite westlicher Kon- lantischen Ordnung ruhte, die militärisch zerne und der ökonomischen Erholung der durch die NATO abgesichert wurde. Son- Zentren geschaffen. Andererseits verlager- derwege, wie der französische, bestätig- ten die westlichen Ökonomien – allen voran ten die Regel und lokalisierten sich zudem die US-amerikanische – wichtige Teile ihrer innerhalb der Ordnung. Einer ausgepräg- produktiven Basis und damit ihrer ökonomi- ten Vergemeinschaftung der europäischen schen Macht, insbesondere nach Ostasien. Verteidigungspolitiken waren damit inhä- rente Grenzen gesetzt und das Projekt einer Trotz der Niederlage in Vietnam sollte sich gemeinsamen westeuropäischen Armee ausgerechnet auf dem politischen und mi- war gar unrealistisch. Es wäre bestenfalls litärischen Feld die US-Hegemonie als weit bedingt komplementär zum sich konstitu- robuster als im Bereich des Ökonomischen ierenden Modus der europäischen Integra erweisen: Die Durchsetzung der neolibera- tion gewesen, der sich auf den Schultern len Entwicklungsparadigmen in Gestalt des der transatlantischen Ordnung artikulier- Washington Consensus war in letzter Ins- te. Auch deshalb (und nicht nur wegen des tanz durch Zwang abgesichert, der zum Ein- Vetos der französischen Nationalversamm- satz kam, wenn lokal Blockaden des Neo- lung) scheiterte der Pleven-Plan einer Euro- liberalisierungsprozesses auftraten. Die päischen Verteidigungsgemeinschaft und wachsende militärische Überlegenheit der eröffnete so den Weg zum deutschen NA- NATO wurde in der Spätphase des Kalten TO-Beitritt im Jahr 1955. Kriegs zum ökonomischen Problem der re- alsozialistischen Staaten, das deren innere Von einer Krise der US-Hegemonie ist erst- Widersprüche unlösbar verschärfte. Einzig mals Ende der 1960er Jahre die Rede. Diese China hatte sich dem erfolgreich entzogen, fällt nicht nur zusammen mit militärischen denn seine Konflikte mit der UdSSR hatten Niederlagen, wie in Vietnam, und mit ei- ein Arrangement mit den USA ermöglicht – ner relativen Abnahme des US-Anteils am so konnte ein Rüstungswettlauf vermieden globalen Bruttosozialprodukt, sondern ist und Zeit für innere Reformen gewonnen das Ergebnis von qualitativen Umstruktu- werden. In der Folge gelang es China, sich rierungen in der Organisation der Produk- komplementär in die globale kapitalistische tion, den Liefer- und Wertschöpfungsket- Ordnung zu integrieren und zugleich seine ten und nicht zuletzt dem Kräftegleichwicht ökonomischen Steuerungskapazitäten zu der Klassen geschuldet, die zu Verlagerun- nutzen, um seine Position in der globalen Ar- gen des Produktionsprozesses aus den ka- beitsteilung Schritt für Schritt zu verbessern. pitalistischen Zentren heraus zwangen. In Erst in den 2000er Jahren wurde aus der anderen Worten: Um die Krise zu lösen, Komplementarität zunehmend Konkurrenz. 9
VERGEMEINSCHAFTUNG DER EUROPÄISCHEN AUSSEN POLITIK NACH 1990 Der Zusammenbruch der realsozialisti- beralisierung gekoppelt – der Vertrag von schen Staatenwelt war folglich weniger Maastricht (1992) stärkte in diesem Sinne das Ergebnis ungebrochener ökonomi- die Rolle der EU-Kommission und stellte scher Stärke des Westens, sondern der in- die Weichen hin zur Wirtschafts- und Wäh- neren Widersprüche und ökonomischen rungsunion. Letztere war ein w ichtiges Schwächen jener Staaten, die durch die Element bei der Verankerung des diszipli verschärfte geopolitische Konkurrenz po- nierenden Neoliberalismus. Mit diesem tenziert wurden (vgl. Hobsbawm 1998: Konzept hatte Stephen Gill (2000) nicht et- 572 ff.). Der Siegeszug des neoliberalen Pa- wa jene Entwicklungen gemeint, die heute radigmas hatte seit den späten 1970er Jah- unter Begriffen wie «Autoritarismus» oder ren die soziale Kohäsion auch innerhalb der «autoritärer Populismus» als Herausforde- kapitalistischen Zentren belastet, war zu- rungen für liberale Demokratien diskutiert gleich aber auch die Bedingung eines neu- werden. Vielmehr ging es um Entwicklun- en Schubs der politischen und ökonomi- gen, die sich im Inneren liberaler Demokra- schen Integration Westeuropas gewesen: tien vollzogen – gerade bei einem breiten Indem sich die Europäische Gemeinschaft Spektrum an politischen Kräften, das ge- selbst zum Motor der Neoliberalisierung meinhin nicht als Bedrohung, sondern als machte, konnte sie in den 1980er Jahren tragendes Element liberaler Demokratien ihre Integrationskrise überwinden. Ihre in- angesehen wurde, ja noch wird. Was also tergouvernementalen und supranationa- ist das Disziplinierende am disziplinieren- len Entscheidungsmechanismen waren den Neoliberalismus? Disziplinierender den Interessen der führenden Klassen ih- Neoliberalismus betreibt die systemati- rer strategischen Selektivität nach (zum sche Entkoppelung der politisch-demokra- Konzept: Jessop 1990) zugänglicher als tischen Entscheidungsprozesse von der denen der unteren. Dies beförderte Ten- Gestaltung der Wirtschaftspolitik. Wichti- denzen der negativen Integration, die vor ge Entscheidungen liegen nun nicht mehr allem auf weitere Marktöffnungen und De- in den Händen von gewählten Regierun- regulierungen drängt, nicht aber positiv gen, sondern nicht rechenschaftspflich- auf sozialer Integration basierte. Auch die tigen Gremien, etwa unabhängigen Zen- Schritte hin zu einer Supranationalisierung tralbanken und Regulierungsbehörden. waren eng an eine Vertiefung der Neoli- Dies ging einher mit der gezielt forcierten 11
Verlagerung von bisher nationalstaatli- balen Hegemonie wurde – trotz ihres Siegs cher Macht in supranationale Gremien und in der Systemkonkurrenz – komplexer. Eine Entscheidungsprozesse, die nur geringer Stärkung der EU als geschlossen agieren- parlamentarischer Kontrolle unterlagen. de Akteurin war damit auch im Interesse Derweil durchlief die EU eine Reihe von der USA und wurde im Prinzip wohlwol- Erweiterungsrunden. Die Verbindung von lend betrachtet, aber ausschließlich kom- neoliberalisierter Integrationsweise und plementär zur eigenen Führungsrolle. Im Demokratisierungsagenda bildete dabei Kosovo-Krieg mehrten sich auf beiden Sei- den Kern der EU-Erweiterungspolitiken. ten des Atlantiks die Stimmen, die lautstark Politische Emanzipationsversprechen, die eine größere europäische Geschlossenheit einen wichtigen Teil in der hegemoniepo- einforderten. Der Luftkrieg der NATO ge- litischen Begründung sowohl des Integra- gen Jugoslawien (1999) fand – deklariert tions- als auch des Erweiterungsprojekts als humanitäre Intervention – unter Umge- der EU ausmachen, konnten so hinsicht- hung der UN statt und blieb weitestgehend lich ihrer ökonomischen Dimension wirk- auf US-Kapazitäten angewiesen. Dies setz- sam domestiziert werden. Nicht zuletzt die te eine neue Dynamik der sicherheitspoliti- Spaltung der politischen Linken über die schen Vergemeinschaftung der EU in Gang, Frage ihrer Haltung zur EU resultiert we- die zuweilen auch als Tendenz der Militari- sentlich daraus. sierung kritisiert wurde: Der EU-Gipfel von Helsinki beschloss, bis zum Jahr 2003 eine Mit dem Vertrag von Maastricht wur- 50.000 bis 60.000 Soldaten starke EU-Ein- de auch die Gemeinsame Außen- und Si- greiftruppe einzurichten. Und der EU-Ver- cherheitspolitik als zweite offizielle Säu- trag von Nizza kodifizierte Ende 2000 eine le der Europäischen Integration verankert. neue politisch-militärische Kooperations- Dass überhaupt eine dezidiert europäische und Entscheidungsstruktur, welche die Außenpolitik denkbar wurde und auf die Westeuropäische Union (WEU) in die Eu- Agenda rückte, war in erster Linie dem En- ropäische Sicherheits- und Verteidigungs- de der Ost-West-Konfrontation geschuldet, politik (ESVP) und diese wiederrum in die denn solange diese bestand, hatte Europa Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo- schlicht das (militärische) Machtpotenzial litik (GASP) überführte und auf EU-Ebene gefehlt, um eine eigenständige Position eine Reihe militärischer Gremien und Stä- zu formulieren. Die Staaten Westeuropas be schuf (vgl. Bieling 2010: 198). Mit dem waren souverän gewesen – aber nur auf 2004 beschlossenen «Headline Goal» ver- den Schultern der transatlantischen Ord- pflichteten sich die Mitgliedsstaaten, vier nung. Nach 1990 existierte das militärische rasch verlegbare EU-Battlegroups aufzu- Machtgefälle innerhalb der transatlanti- stellen, die je 1.500 Soldaten für Kampf- schen Ordnung fort, allerdings setzte sich handlungen höchster Intensität umfassten. weltpolitisch die Tendenz des Niedergangs der relativen ökonomischen Dominanz der Diese Integrationsschritte änderten je- USA fort. Die Aufrechterhaltung ihrer glo- doch nichts Grundsätzliches an den natio 12
nalstaatlich divergierenden Interessen: Die gemeinsame Außenpolitik. Die EU war in unterschiedlichen Haltungen der Regie- mehrere außenpolitische Lager gespalten: rungen in der transatlantischen Frage, die Frankreich erhoffte sich von einer stärker spezifischen Interessen ehemaliger Ko- vergemeinschafteten Außenpolitik eine lonialstaaten, die unterschiedlichen Re- größere Autonomie der EU. Am klarsten krutierungssysteme sowie die insgesamt für eine Verortung der EU innerhalb der nationalstaatlich geprägten sicherheitspo- transatlantischen Ordnung und für eine litischen Kulturen und zahlreiche andere mit den USA abgestimmte, komplemen- Widersprüche verlangsamten die Vertie- täre Außenpolitik trat Großbritannien ein; fung der sicherheitspolitischen Integration die mittelosteuropäischen und baltischen und gaben ihr einen überaus starken Kom- Staaten sahen vor allem in der NATO und promisscharakter: Obwohl die Außen- und der transatlantischen Integration ihre Sou- Sicherheitspolitik seit dem Vertrag von veränitätsgarantie gegenüber Russland. Maastricht die zweite Säule der EU dar- Ihr EU-Beitritt wurde von den USA und stellte und allein schon dadurch eine ten- Großbritannien vorrangig aus geopoliti- denzielle Abkehr von der EU als Zivilmacht schen und von Deutschland primär aus bedeutete, die immer weiter institutiona- ökonomischen Motiven empathisch unter- lisiert worden war, blieben die Strukturen stützt. Deutschland sah sich zudem in ei- der außen- und sicherheitspolitischen Ent- ner außenpolitischen Mittlerposition zwi- scheidungsfindung inter- und transgou- schen den Lagern – womit es indirekt einen vernemental. Dies schränkte den militä- Führungsanspruch in der EU formulierte. rischen Nutzen der neuen Strukturen und Letztlich behinderten die seit dem Amts- der von ihnen befehligten Kampfverbände antritt der Bush-Administration zugespitz- ein, denn sie waren und sind nicht so rasch ten transatlantischen Spannungen und die einsetzbar wie nationale Streitkräfte. Auch unterschiedlichen Wahrnehmungen der die deutsche Praxis des Parlamentsvor- nationalen Regierungen davon sowohl ei- behalts bei Auslandseinsätzen stellte und ne anhaltende dynamische Vertiefung der stellt ein nicht zu unterschätzendes Hin- sicherheitspolitischen EU-Integration als dernis für eine konsequente Militarisierung auch die Formulierung einer gemeinsamen der EU dar. Eben deshalb steht sie jedoch Position in internationalen Organisationen: in der Kritik und es gibt Vorschläge, sie mit «Sofern kein transatlantischer Konsens Vorratsbeschlüssen zu umschiffen (vgl. existiert, gelingt es in internationalen Orga- Krause 2020). nisationen wie der NATO oder UNO oft je- doch nicht, eine gemeinsame EU-Position Auch Jahre nach der Verabschiedung der zu entwickeln und durchzusetzen.» (Bie- GASP und deren institutioneller Weiter- ling 2010: 222) entwicklung existierte kein Konsens über den Grad und den spezifischen Charakter einer europäischen außenpolitischen Po- sition und damit nur sehr beschränkt eine 13
«VERANTWORTUNGSVOLL REGIERTE STAATEN» ALS KLEINSTER GEMEINSAMER NENNER Nach dem Antritt der neokonservativen politik war: Die Europäische Sicherheits- Bush-Administration im Jahr 2001 er- strategie (ESS) von 2003 fokussierte sich schien den Friedensbewegungen weltweit geografisch auf den Mittelmeerraum, den die US-Politik der Umgehung etablierter Balkan, den Nahen Osten und den Süd- multilateraler Institutionen, wie den UN, kaukasus und betonte Multilateralismus und die Politik des Regime Change als die sowie präventives Krisen- und Konfliktma- politische Herausforderung schlechthin. nagement mitsamt den zivilen Komponen- Damals wurden dagegen überall breite ten europäischer Sicherheitspolitik (vgl. gesellschaftliche Proteste organisiert. Die Europäischer Rat 2003). So postulierte die Grundlagen solcher Außenpolitik waren ESS die bereits seit den Balkankriegen der zwar älteren Ursprungs, doch von den USA 1990er Jahre bestehende Praxis nunmehr 2002 in der global ausgerichteten Nationa- ganz offen: namentlich die aktive Flankie- len Sicherheitsstrategie (NSS) ausbuchsta- rung von US-Einsätzen und die Entlastung biert worden (vgl. The White House 2002). von US-Truppen auf Schauplätzen niede- Die grundlegenden EU-internen Differen- rer Kampfintensität. Zudem fand sich auch zen über die transatlantische Ordnung nah- hier im Grundsatz der erweiterte Sicher- men infolge der Irakpolitik der Bush-Admi- heitsbegriff der NSS. nistration an Schärfe zu. Frankreich und Deutschland legten im UN-Sicherheits- Damit und mit ihrer offensiv-proaktiven – rat ein Veto gegen die Irak-Invasion ein, auch geopolitisch – motivierten Ausrich- Großbritannien nahm als Teil einer «Koali- tung markierte die ESS einen Paradigmen- tion der Willigen», die offiziell auch mittel wechsel, durch den sich die EU von ihrem osteuropäische Beitrittsstaaten umfasste, Selbstbild der Zivilmacht verabschiedete. aktiv daran teil. Die in dieser Form ausge- Sie wandte sich nun der Entwicklung und führte US-Invasion war auch für den trans Anwendung eigener militärischer Kapazi- atlantischen Multilateralismus eine Her- täten zu, allerdings nach wie vor in einem ausforderung, doch lassen die genannten weitgehend komplementären Verhält- Divergenzen leicht übersehen, dass der nis zur damaligen US-Politik (vgl. Bieling kleinste gemeinsame Nenner der euro- 2010: 208 f.). So fand sich auch eine für päischen Außenpolitik im Wesentlichen neokonservative Außenpolitik typische komplementär zur damaligen US-Außen- Verschränkung von liberalem Universalis- 15
mus und geopolitischem Kalkül: «Selbst im Zeitalter der Globalisierung spielen die geografischen Aspekte noch immer ei- ne wichtige Rolle. […] Wir müssen darauf hinarbeiten, dass östlich der Europäischen Union und an den Mittelmeergrenzen ein Ring verantwortungsvoll regierter Staa- ten entsteht, mit denen wir enge, auf Zu- sammenarbeit gegründete Beziehungen pflegen können.» (Europäischer Rat 2003: 7 f.) Gleichwohl gab es eine realpolitische Einschätzung des eigenen politischen Ge- wichts im weltpolitischen Kontext: Man strebte daher im Rahmen der ESS strate- gische Partnerschaften mit den größeren Staaten an – also den Umgang auf Au- genhöhe mit solchen Staaten, auf deren gesellschaftspolitische Entwicklung und ökonomisch-regulative Paradigmen die EU ohnehin wenig Einfluss hatte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die großen außenpolitischen Integrations schübe der EU aus einer Zeit datieren, da das neoliberale Paradigma der europäi schen Integration weit weniger hinterfragt wurde als heute. Bei allen Differenzen zwi- DIE GROSSEN schen den nationalen Regierungen mate AUSSENPOLITI- rialisierte sich in den Konzepten und In- SCHEN INTEGRA halten der europäischen Außenpolitik TIONSSCHÜBE zumindest ein kleinster gemeinsamer Nen- DER EU DATIEREN ner: die Übertragung des Modus der diszi- AUS EINER ZEIT, plinierend-neoliberalen Integrationsweise DA DAS NEOLIBE- der EU in benachbarte Regionen und Staa- RALE PARADIGMA ten mithilfe der Europäischen Nachbar- DER EUROPÄISCHEN schaftspolitik (ENP). Und er bedeutete eine INTEGRATION weitere Abkehr von der Selbstidentifikation WENIGER HINTER- als Zivilmacht durch die Definition als regio- FRAGT WURDE nal handelnde Akteurin, die gleichwohl ihre ALS HEUTE. begrenzte weltpolitische Kapazität kannte. 16
KRISE DES INTEGRATIONSMODUS UND SCHEITERN DER EUROPÄISCHEN NACHBARSCHAFTSPOLITIK Spätestens mit der globalen Wirtschaftskri- einzige Option, um weiterhin die eigenen se ab 2007 ist der Prozess der neoliberalen Kreditbeziehungen zu den Zentren der EU Globalisierung infolge der weltweit diver- aufrechterhalten zu können, die im Fal- gierenden nationalen Strategien der Kri- le eines Austritts aus dem Euro gefährdet senbearbeitung ins Stocken geraten (Bie- gewesen wären. Während insgesamt das ling 2010: 232). Dies heißt aber nicht, dass disziplinierend neoliberale Paradigma pri- Neoliberalismus als Paradigma an sich nun- mär auf Kosten der breiten Bevölkerungs- mehr schnell und entschlossen abgewi- schichten durchgesetzt wurde, mussten ckelt wurde. Vielmehr wurde gerade in der zwangsläufig also auch die herrschenden EU das Krisenmanagement primär in den Blöcke der führenden EU-Staaten und Dienst der Konsolidierung des angeschla- die mit ihnen assoziierten Eliten der inne- genen Neoliberalismus gestellt (vgl. Becker/ ren Peripherien erhebliche Nachteile er- Jäger 2009; Bieling 2011). Die ökonomisch zwungenermaßen in Kauf nehmen: Hohe stärksten Staaten der EU versuchten unter Anpassungskosten, über Jahre hinweg Führung Deutschlands1 und abgestimmt verringerte Wachstumsraten, forcierte Ver- mit den Interessen der führenden transna- nachlässigung bestehender Infrastruktu- tionalen europäischen Konzerne, über den ren und negative Auswirkungen auf den Mechanismus der EU-weiten austeritäts- sozialen und politischen Zusammenhalt in politischen Krisenbearbeitung (vgl. Becker/ diesen Staaten und der EU insgesamt stell- Jäger 2012) das Paradigma des disziplinie- ten eine hegemoniepolitische Herausfor- renden Neoliberalismus auch in der inneren derung dar. Nicht nur durch die intensive Peripherie der EU verstärkt zu verankern. Auslastung der institutionellen Kapazitäten Dabei stießen sie in unterschiedlichem Ma- infolge des Krisenmanagements, sondern ße auf Widerstände, in ihrer zugespitztesten die genuin politische Krisenbearbeitung Form wurde die Frage anhand der Staats- verschuldung Griechenlands ausgetragen. 1 In Deutschland war dieses Unterfangen begleitet von Debat- ten, inwieweit den supranationalen Institutionen der EU – allen Für die führenden Kapitalfraktionen in den voran die Europäische Kommission und die Europäische Zent- ralbank – hinsichtlich ihres Durchsetzungsvermögens zu trauen kriselnden mediterranen Staaten war Aus- sei. Damit lastete auf der Bundesregierung ein immenser Druck, teritätspolitik aufgrund ihrer deflationä- in der Austeritätspolitik Führung zu zeigen. Selbst Institutionen wie IWF und Weltbank traten damals für eine moderatere Aus- ren Effekte nicht die erste Wahl, aber die teritätspolitik ein. 19
sowie vor allem die tiefe innere Krise der dernisierung und Erweiterung der lokalen EU reduzierten ihre Fähigkeit, ein attrak- Produktivkräfte angeregt, sondern klien- tives politisches Modell anzubieten. Poli- telistische Wachstumsmodelle hervorge- tische Attraktivität, die wichtigste außen- bracht, die die sozialen Widersprüche ver- politische Ressource, die sie als Union hat, schärften (vgl. Daher 2018). Die positive war und ist in ihrer Wirkmacht deutlich ge- Beziehung zwischen ökonomischer und schwächt. politischer Liberalisierung existierte als ideologische Grundannahme der ENP, aber In den mediterranen Nachbarstaaten der nicht in der sozialen und politischen Reali- EU scheiterte die Europäische Nachbar- tät. Der Staat als Rahmen der produktiven schaftspolitik vollends. Zum einen war Welt (Gramsci) musste die in der Bevölke- die unter dem Schlagwort «Good Govern rung ungeliebten Transformationsprozesse ance» nahegelegte konsequente Einfüh- autoritär absichern. Daher konnte er diese rung des disziplinierend neoliberalen Pa- Prozesse nicht synchron mit einer Agenda radigmas von Beginn an wenig realistisch, der Demokratisierung verbinden. Wo zag- denn die autoritär regierten Staaten stan- hafte Versuche betrieben wurden, wur- den sozioökonomisch unter einem im- den sie rasch wieder eingestellt. Die sich mensen popularen Rechtfertigungsdruck. gegenseitig verstärkenden Widersprüche Ohnehin spielte die ENP angesichts weit aus schwindender ökonomischer Hand- mächtigerer Neoliberalisierungshebel lungssouveränität, schlechter Neolibera- (Handelsregime, IWF, Weltbank etc.) eine lisierungsperformance und politischem sekundäre Rolle. Zum anderen hatte be- Autoritarismus mündeten zu Beginn der reits der erreichte Grad der neoliberalen letzten Dekade in jene Kette von Aufstän- Transformation kein dynamisches ökono- den, die als Arabellionen bekannt wurden misches Wachstum auf Basis einer Mo- (vgl. Tuğal 2017). 20
DIE POSITIVE BEZIEHUNG ZWISCHEN ÖKONOMISCHER UND POLITISCHER LIBERALISIERUNG EXISTIERTE NICHT IN DER REALITÄT. Einen wichtigen Sonderfall stellte die Tür- EU-Projekts zu vertiefen. Allerdings wan- kei dar. Das Bestreben, die EU zu einer stär- delten sich in der zweiten Hälfte der 2000er ker außenpolitischen agierenden Akteu- Jahre die äußeren Bedingungen des rin aufzubauen, hatte seit Ende der 1990er EU-Projekts: Die innere Krise der EU ver- Jahre zu einer erneuten Dynamisierung des langsamte die Vergemeinschaftungspro- Beitrittsprozesses geführt (vgl. Gehring zesse der europäischen Außen- und Sicher- 2010).2 Während Frankreich und Deutsch- heitspolitik und auch die nachlassenden land sich von einem Beitritt der Türkei und Spannungen gegenüber der neokonserva- ihrem geopolitischen Potenzial eine Stär- tiven Bush-Administration in den USA lie- kung der außenpolitischen Eigenständig- ßen Mitte der 2000er Jahre das Interesse keit der EU erhofften, setzte Großbritanni- an einem Beitritt der Türkei erlöschen. en darauf, durch die Integration der damals noch stark transatlantisch ausgerichteten Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Staa- Türkei ebenjenes Lager innerhalb der EU zu ten in der Nachbarschaft der EU wies die stärken. Auch die USA unterstützten nach- Türkei jedoch ein dynamisches Neolibe- drücklich den Beitritt im Interesse, die EU ralisierungsprojekt auf, das sich in hohen würde sich so zu einer stärkeren, aber kom- Wachstumsraten, steigendem Konsum plementären geopolitischen Akteurin ent- und einer rasch voranschreitenden kapi- wickeln. Der herrschende Block in der Tür- talistischen Rationalisierung aller Lebens- kei erhoffte sich vom EU-Beitrittsprojekt, eine transnationale Verankerung des ei- genen Neoliberalisierungsprojekts mittels 2 Eigentlich war das Jahrzehnte währende türkische Beitrittsbe- gehren mit der 1995 vereinbarten sehr weitreichenden EU-Tür- der Synthese aus disziplinierendem Neoli- kei-Zollunion (aus Sicht der EU-Staaten) de facto eingefroren worden. Erst die zunehmende Selbstidentifikation der EU als re- beralismus und schrittweiser formaler De- gional- und geopolitische Akteurin hatte den Raum geschaffen, mokratisierung hegemonial in Gestalt des über die Zollunion hinauszugehen; vgl. Gehring 2010. 21
bereiche materialisierte. Die daraus resul- lang andauernden Hegemoniekrise ihres tierenden sozialen Widersprüche sowie herrschenden Blocks hat sich in der Türkei der politische Charakter des türkischen ein autoritär-populistisches Regime her- Transformationsprozesses unter Ägide der ausgebildet, das als solches aber von einer AKP wurden in den zahlreichen offiziellen zunehmenden Fragilität gekennzeichnet ist Berichten und in den europäischen Eliten- (vgl. Gehring 2020b). Der Versuch der tür- diskursen geradezu programmatisch über- kischen Außenpolitik seit 2011, gestaltend sehen. Dies galt nicht nur für die alltagskul- in die Umbrüche im arabisch-mediterranen turelle autoritär-islamistische Bearbeitung Raum einzugreifen, hat zur Verwicklung in der Widersprüche des Neoliberalisierungs- zahlreiche regionale Kriege (zum Beispiel projekts und die autoritäre Transformation in Libyen und Syrien) geführt bzw. diese der Staatsapparate. Auch die Tendenz, in- befördert. folge der globalen Krise den bestehenden disziplinierenden Neoliberalismus in der Auch die Staaten der EU überschätzten in Türkei durch einen ökonomisch expansi- diesen Kriegen ihre Handlungsmöglichkei- ven und politisch charismatisch-rechtspo- ten und unterschätzten zugleich deren fa- pulistischen zu ersetzen, wurde konzeptio- tale Folgen: wenn sie etwa, wie in Libyen, nell nicht eingeordnet. Deshalb konnte die selbst militärisch agierten oder gezielt Bür- EU die Widersprüche ihrer eigenen Erwei- gerkriegsparteien unterstützten, deren so- terungspolitiken nicht begreifen und auch zialen Ursprung und politische Agenda sie nicht verstehen, welche Projekte sich von zuweilen gar nicht hinreichend kannten. rechts dagegen erhoben. Erst als sich 2013 In Syrien muss von einem internationalen unter dem Namen Gezi eine breite popu- Stellvertreterkrieg gesprochen werden, der lare Revolte dagegen erhob (vgl. Gehring fast globale Dimensionen angenommen 2019), kam es zu einer Wende in der he- hat (vgl. Gehring 2020a). Die Bewältigung gemonialen Wahrnehmung der Türkei. Bis dieser Krisen entzieht sich längst den eta dahin waren, trotz einzelner Konflikte, die blierten Instrumenten der EU. So ist das so- Grundlinien der türkischen Politik noch genannte EU-Türkei-Abkommen außerhalb mehrheitlich begrüßt worden. Dies galt der bestehenden Vertragswerke mit der EU auch für ihre zuweilen als «neoosmanisch» angesiedelt, die Beitrittskandidatin Türkei beschriebene Außenpolitik: Eine mit der nimmt hier in der Verhinderung von Migra- EU verbundene Türkei, die sich auf ihr his- tion nach Europa die Rolle eines gewöhn- torisches Erbe «zurückbesann» und als lichen Drittstaats ein. Wenngleich sich «kulturell authentische» Kraft in der Region westliche Akteure – allen voran die EU – zu wirken schien, galt als Bereicherung graduell aus diesem Krieg zurückgezogen der eigenen außenpolitischen Wirkungs- haben, war die EU von der jüngsten tür- macht. kisch-russischen Eskalationsdynamik im Kampf um das nordwestsyrische Idlib mit- Von derlei orientalistischen Projektionen telbar betroffen. Die Türkei hatte im März ist heute wenig geblieben. Im Verlauf der 2020 kurzfristig die Grenze zu Syrien ge- 22
öffnet, um eine stärkere europäische Un- ökonomischen Integration der Ukraine. In- terstützung zu erpressen. Dennoch hielten folge der ausgeprägten Orientierung der sich die EU-Staaten und die USA aus der stark industrialisierten Ostukraine auf die türkisch-russischen Konfrontation weitge- postsowjetischen Märkte stand nicht nur hend heraus, allerdings wurden der Türkei identitär, sondern auch ökonomisch eini- höhere Finanzhilfen zur Umsetzung des ges auf dem Spiel. Dieses ökonomische EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens zugesi- Konfliktpotenzial hat die EU bei der Kon- chert (vgl. Gehring 2020b). zeption des Abkommens nicht hinreichend erkannt, weil eigene Interessen überbetont Außenpolitische Erfolge schien die EU wurden (vgl. Plank 2015). nach 2010 vor allem in Osteuropa zu er- zielen. Die Verhandlungen über ein Asso- ziierungsabkommen mit der Ukraine (vgl. Europäische Union 2014) machten Fort- schritte. Ähnlich wie in anderen Staaten Osteuropas war auch dieses Abkommen geprägt vom Logos der europäischen Inte- gration seit den Verträgen von Maastricht: disziplinierender Neoliberalismus in Ver- bindung mit der Stärkung liberaldemo- kratischer Institutionen. Das Assoziie- rungsabkommen war keine bewusste geopolitische Provokation Russlands sei- DIE STAATEN DER EU tens der EU. Vielmehr unterschätzten die ÜBERSCHÄTZEN IN DIESEN EU-Akteure die unmittelbar geopolitische KRIEGEN, WIE ETWA IN LIBYEN, Bedeutung der Assoziation der Ukraine IHRE HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN und ihre Wahrnehmung durch Russland. UND UNTERSCHÄTZTEN ZUGLEICH Das galt noch mehr für die zahlreichen in- DEREN FATALE FOLGEN. nenpolitischen Konfliktlinien der Ukrai- ne entlang der außen- und geopolitischen Konfliktachse. Entsprechend unvorbereitet war die EU auf die Eskalation in der Ukrai- ne: Aussetzung des Abkommens durch die Regierung Janukowytsch, Sturz der Regie- rung durch die Proteste auf dem Maidan, die darauffolgende russische Annexion der Krim und die Unterstützung der sezes- sionistischen Bestrebungen im Osten der Ukraine. Letztere resultierten nicht zuletzt aus großen Unterschieden in der regional- 23
DISZIPLINIERENDER NEOLIBERA- LISMUS – ACHILLESFERSE DER EU-AUSSENPOLITIK Die Unterschätzung der geopolitischen Verpflichtung und realpolitische Notwen- und friedenspolitischen Implikationen der digkeit können hier die Synthese einer Übertragung des eigenen Integrationsmo- kritischen Vernunftethik eingehen. Doch dus auf die gesellschaftlichen Kontexte dazu bedarf es intellektueller und institu- benachbarter Staaten wurde fallübergrei- tioneller Kapazitäten, um wahrzunehmen, fend zur Achillesferse der europäischen welche innergesellschaftlichen Spannun- Außenpolitik. Denn ihre Grundannah- gen aus der von außen induzierten Über- men basieren wesentlich auf der Vorstel- nahme spezifischer neoliberaler Para- lung, dass sich das neoliberale Paradigma digmen resultieren können und in welch durchgesetzt habe bzw. auf dem Weg der vielfältigen Wegen der Eskalation sie mün- Durchsetzung befinde, aber der Regulie- den können. rung durch den disziplinierenden Neoli- beralismus bedürfe. Andere Formen von Regulierungsformen variieren in Raum und gesellschaftlicher Regulierung wurden Zeit und sind bedingt durch die lokalen Ak- tendenziell als anachronistisch oder als kumulationsregime und sozialen Kräfte- nepotistische Anomalien innerhalb der konstellationen. Unter den Bedingungen Weltordnung wahrgenommen, wenn zum immer stärker finanzialisierter lokaler Ak- Beispiel Korruptionsbekämpfung an Agen- kumulationsregime wuchs jedoch deren den der Neoliberalisierung gekoppelt war. Abhängigkeit von einer möglichst tiefen Aufgrund der ausgeprägten Dominanz dis- Einbindung in globale Zahlungsströme. ziplinierend-neoliberaler Konzepte und ih- Unter diesen Umständen wurde diszipli- rer starken normativen Aufladung («Good nierender Neoliberalismus für zahlreiche Governance» etc.) fehlten in führenden lokale Akteure attraktiv, da sie im globa- Segmenten der europäischen Staatszivil- gesellschaftsblöcke3 die intellektuell-kon- zeptionellen Kapazitäten, den Bias der ei- 3 Mit dem Begriff «integraler Staat» führt Antonio Gramsci die häufig getrennt voneinander verhandelten Begriffe von Staat genen Politik aus Sicht der «Anderen» und Zivilgesellschaft in Form eines gegenseitigen Bedingungs- wahrzunehmen. Letzteres ist aber für die verhältnisses zusammen. Gesellschaftliche Hegemonie konstitu- iert sich in der umkämpften Zivilgesellschaft und ist zugleich die Formulierung einer umsichtigen und zi- Voraussetzung für die effektive Ausübung der Staatsmacht; die führenden Eliten formieren sich sowohl in der Zivilgesellschaft vilen Außenpolitik von entscheidender als auch im Staat, diese organische Verbindung bezeichne ich Bedeutung. Emanzipatorisch-normative hier als Staatszivilgesellschaftsblock. 25
Jahren die Erfahrung gemacht, dass ihre Mitgliedschaft im Gemeinsamen Binnen- markt zusammen mit wettbewerbsstärke- ren Ökonomien und der Neoliberalisierung in Gestalt des Vertrags von Maastricht, samt seiner Folgeverträge, Tendenzen der Deindustrialisierung begünstigte und zu hohen Leistungsbilanzdefiziten führte (vgl. Becker/Jäger 2012). Innerhalb der diszipli WÄHREND DER DISZIPLINIE- nierend-neoliberalen Integrationsweise RENDE NEOLIBERALISMUS der EU fehlen aber (auch wegen der we- DIE FRAGE DER ÖKONOMIE nig entwickelten EU-weiten wohlfahrts- AUTORITÄR VERHANDELT, staatlichen Koordinierung) wichtige Trans- ÖFFNET ER DEN RAUM FÜR DIE fermechanismen, um Defizite zwischen AUTORITÄR-POPULISTISCHE den Staaten, die unterschiedliche Produk- BEARBEITUNG DIESES tivitätslevels aufweisen, auszugleichen. WIDERSPRUCHS. Zudem existiert zwar ein gemeinsamer Währungsraum, aber keine gemeinsame Staatsfinanzierung. Ohne diese Faktoren wäre die ökonomische Krise in Griechen- land und anderen mediterranen Staaten der EU infolge der globalen Krise von 2007 so nicht möglich gewesen. Zudem hat die enge Verbindung von for- maler Demokratisierung und disziplinie- rendem Neoliberalismus den Handlungs- spielraum der progressiven Kräfte stark len Finanzkapitalismus homogene, das eingeschränkt: Während in Staaten mit seit heißt berechenbare Umstände für Inves- Langem etablierter und institutionell abge- titionen schaffen. Grundlegende Elemen- sicherter liberaldemokratischer Praxis dis- te des disziplinierenden Neoliberalismus ziplinierender Neoliberalismus eindeutig werden daher auf der für Elitenakteure zur Entdemokratisierung tendiert, ergibt besonders zugänglichen transnationalen sich in jenen mittelosteuropäischen Staa- und supranationalen Ebene ausgehan- ten, in denen der Übergang zu formaler delt. Doch nicht jedes Paradigma wirkt in Demokratisierung historisch synchron zur gleicher Weise auf jede lokale Ökonomie, Neoliberalisierung stattfindet, ein äußerst dies gilt auch für den disziplinierenden ambivalentes Bild. Mit der Einführung libe- Neoliberalismus. Gerade die mediterranen raler Demokratie geht dort notgedrungen EU-Staaten haben in den zurückliegenden die Akzeptanz eines transnational veran- 26
kerten Wirtschaftsregimes einher, auf das Bias getragenen (Nachbarschafts-)Politi- subalterne Kräfte kaum noch Einfluss neh- ken der EU deren hegemoniales Potenzial men können. geschwächt, und das, nachdem die füh- renden EU-Eliten es einige Jahre zuvor Dies ermöglicht es autoritär-populisti- überhaupt erst entdeckt hatten. schen Kräften, die sich selbst wesentlich auf eine charismatische populare Legiti- Die Fähigkeit, ein «Empire by Invitation» zu mation stützen, die im Grundsatz weiter- konstituieren, bildete die Voraussetzung hin neoliberale Wirtschaftspolitik popu- für die Hegemonie der USA in der Nach- listisch zu repolitisieren und Alternativen kriegszeit in weiten Teilen der transatlanti- von rechts zum disziplinierenden Neolibe- schen Welt. Sie erlaubte innerhalb des he- ralismus zu platzieren, indem sie die dis- gemonialen Systems breite Varianzen der ziplinierend neoliberale Wirtschaftspolitik lokalen kapitalistischen wohlfahrtsstaat- lockern. Die tragenden Institutionen des lichen Arrangements. Darüberhinausge- disziplinierenden Neoliberalismus (unab- hend hat die europäische Integration seit hängige Zentralbanken, technokratische Maastricht versucht, die Warenproduk Regulierungsagenturen etc.) werden dafür tion und -zirkulation durch Intensivierung aber nicht nur gezielt geschwächt, sondern des Wettbewerbs untereinander regula- ihre Schwächung ist Teil eines weit umfas- tiv zu vereinheitlichen – ohne gleichzeitig senderen Angriffs auf bürgerliche Rechts- die soziale Integration der EU zu vertiefen. normen insgesamt. Beispiele dafür finden Es blieb bei einer Pluralität der nationalen sich innerhalb wie außerhalb der EU: et- Wettbewerbsstaaten, die sich in ihrer kon- wa Ungarn unter Viktor Orbán (vgl. Becker kreten Form überhaupt erst durch den spe- 2020) oder die Türkei unter Recep Tayyip zifischen Integrationsmodus der EU kon- Erdoğan. stituierten. In anderen Worten: Die durch den Integrationsmodus beförderte Form Während der disziplinierende Neolibera- konkurrenzgetriebener Pluralität setzte zu- lismus die Frage der Ökonomie autoritär gleich der weiteren politischen Vertiefung verhandelt, sich dabei aber auf eine liberal- der EU eine inhärente Grenze. Nicht nur demokratische Rechtfertigungserzählung aufgrund der Krise der EU, sondern auch stützt, öffnet er zugleich den Raum für die aus diesem Modus der europäischen In- autoritär-populistische Bearbeitung die- tegration heraus konnte sich daher keine ses Widerspruchs und für den Übergang einheitlich koordinierte Außen- und Sicher- zu mannigfaltigen Formen von politischem heitspolitik der EU entwickeln, obwohl da- Autoritarismus. Darüber hinaus ist eine zu in den 2000er Jahren einige Institutio- von einem disziplinierend-n eoliberalen nen geschaffen worden waren (s.o.). Bias getragene europäische Integration auch für nicht autoritäre Kräfte keineswegs zwingend ein attraktives Angebot. Somit haben die vom disziplinierend-neoliberalen 27
KRISE DER US-HEGEMONIE – KRISE DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION? Wie eingangs dargestellt, ging die hege- nommenen Multilateralismus entwickeln. moniale Rolle der USA in der Nachkriegs- Hegemoniepolitische Zugeständnisse, die zeit einher mit umfangreichen hegemo- einst gemacht wurden, um eine multilate- nialen Konzessionen, die den Rahmen für rale Ordnung unter US-Führung zu errich- einen Multilateralismus unter Führung und ten, sind in der Folge des relativen Abstiegs im Interesse der USA schufen. Das Projekt der USA heute nicht mehr tragbar – so die der europäischen Integration war darin ein- unausgesprochene Annahme der trump- gebettet. Ein möglicher Niedergang der schen Außenpolitik des «America First». US-Hegemonie, die spezifischen Formen, Dies bedeutete jedoch keineswegs einen damit umzugehen, oder die Versuche, ihn Verzicht auf hegemoniale Führung, son- abzuwenden, betreffen damit unmittelbar dern war der Versuch, die dafür nötigen jenes äußere Feld, auf dem sich die euro- Elemente von Zwang und Konsens neu zu päische Integration entfaltet. gewichten. Im Kern wurde der stärker auf transatlantischen Multilateralismus set- Mit der trumpschen Außen- und Wirt- zende Ansatz der Obama-Administration schaftspolitik erhöhte sich der Druck auf von der Trump-Regierung durch einen neu- die Praxen und Strukturen einer multilate- en, stärker unilateralen Ansatz ersetzt. Da- ralen Handels- und Wirtschaftspolitik. Dies mit ist ein steigender Druck auf bestehende bedeutet nicht, dass die USA eine Abkehr multilaterale Strukturen innerhalb der vom Freihandel anstrebten, es ging ih- transatlantischen Ordnung einhergegan- nen vielmehr um eine Neujustierung des gen, da der unilaterale Ansatz tendenziell Freihandels (vgl. Solty 2016) zu Konditio- bilaterale Verhandlungsformate bevorzugt nen, die der Leistungsfähigkeit und dem hat. spezifischen Wettbewerbsfähigkeitsprofil ihrer Ökonomie besser entsprechen. Denn Bewusst oder unbewusst haben die USA in komplexen, hochgradig institutionali- mit dieser Form der Rückgewinnung von sierten multilateralen Verhandlungsforma- Führungsfähigkeit einen wichtigen sys- ten können sie ihre Rolle als größte öko- temischen Pfeiler der europäischen Inte- nomische und politische Macht der Welt gration frontal angegriffen: Die EU und weniger zur Geltung bringen als in bilatera- ihre Vorgängerinnen konstituierten sich len. Im Grunde wollten sie Alternativen zu komplementär in den Räumen, die die auf einem nunmehr als kostenintensiv wahrge- Multilateralismus basierende US-Hegemo- 29
nie geschaffen hatte.4 Der Angriff auf die- ter Trump nicht auf isolationistischem Kurs, sen Multilateralismus und seine Institutio sondern nach wie vor als Führungsmacht nen verband sich dabei mit der bereits seit der westlichen Welt. Ihren Angriff auf die über zehn Jahren andauernden Krise der multilateralen Formen der Reguliyerung neoliberalen Integrationsweise der EU. der Welthandelsordnung verstanden sie Denn auf kaum einem Gebiet ist die euro- durchaus als angemessene Maßnahme im päische Integration nach innen so tief wie Interesse der westlichen Welt. im Bereich der Wirtschafts- und Handels- politik – nirgendwo sonst haben ihre Mit- Fassen wir die Krisentendenzen zusam- gliedsstaaten so viele Kompetenzen an die men: Was nach 1945 den transatlantisch- supranationalen EU-Institutionen übertra- westeuropäischen Raum konstituierte, gen wie dort. Und daher agiert die EU auf war nicht nur geopolitisch durch den Aus- diesem Feld außenpolitisch am geschlos- gang des Zweiten Weltkriegs und die fort- sensten und hat hier global das größte Ge- währende Konfrontation während des Kal- wicht. Eine Krise der Welthandelsordnung ten Kriegs begründet. Unter dem Dach der wirkt unmittelbar auf sie zurück. US-Hegemonie und ihren multilateralen Institutionen verfolgten die verschiedenen Die trumpsche Form der Hegemoniepolitik Staaten des transatlantischen Raums ih- war dabei in sich höchst widersprüchlich: re nationalen fordistisch-wohlfahrtsstaat- Insofern die USA unter Präsident Trump lichen Entwicklungspfade. Mit der Krise zugleich von den meisten Staaten der EU des Fordismus und der Krise des Goldstan- einen höheren militärischen Beitrag zur dards brach in den 1970er Jahren zwar das NATO einforderten, ist es bemerkenswert, Bretton-Woods-System zusammen, des- dass politökonomische und geopolitische sen Institutionen wurden aber zu den Trä- Erwägungen kaum miteinander verknüpft gerinnen der neuen neoliberalen Ordnung. wurden: Wenn die USA einen höheren Rüs- Mehr noch: Sie trieben sie aktiv voran und tungsbeitrag der EU-Staaten haben woll- globalisierten sie in Gestalt des Washing- ten, so hätten sie eigentlich angesichts ton Consensus. In der gegenwärtigen Krise der Tiefe der Krise der europäischen Inte des Neoliberalismus lässt sich zumindest gration ihren wirtschafts- und handelspoli- die Frage stellen, inwieweit das trumpsche tischen Kurs stärker mit der EU abstimmen Bestreben, Führungsfähigkeit wiederzuge- müssen, um die ökonomische Grundlage winnen, die institutionellen Strukturen der intensivierter rüstungspolitischer Anstren- gegenwärtigen multilateralen neoliberalen gungen in Europa nicht zu gefährden. Aller- Ordnung zur Disposition stellte, im Glau- dings ist zu bedenken, dass die US-ameri- ben, den Neoliberalismus jener Ordnung kanische Forderung nach einem größeren europäischen Beitrag zu den NATO-Aus- gaben nicht einhergeht mit einem Wunsch nach einer größeren geopolitischen Auto- 4 Auch die neokonservative Bush-Administration hatte den Mul- tilateralismus der Welthandelsordnung trotz einzelner Konflikte nomie der EU. Die USA sahen sich auch un- nicht grundsätzlich infrage gestellt. 30
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