DIE EUROPÄISCHE UNION NACH TRUMP - VON DEN GRENZEN AUSSENPOLITISCHER AMBITIONEN IM NEOLIBERALISMUS - Rosa ...

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A XEL GEHRING

 DIE EUROPÄISCHE
UNION NACH TRUMP
VON DEN GRENZEN AUSSENPOLITISCHER
  AMBITIONEN IM NEOLIBERALISMUS

                                    1
INHALT

Die gemeinsame Außenpolitik in der Krise                         3

Beginn der europäischen Integration unter US-Hegemonie           7

Vergemeinschaftung der europäischen Außen­politik nach 1990     11

«Verantwortungsvoll regierte Staaten» als kleinster
gemeinsamer Nenner                                              15

Krise des Integrationsmodus und Scheitern der Europäischen
Nachbarschaftspolitik                                           19

Disziplinierender Neoliberalismus – Achillesferse
der EU-Außenpolitik                                             25

Krise der US-Hegemonie – Krise der euro­päischen Integration?   29

PESCO – Antwort auf Trump oder Kondensationskeim
einer neuen Industriepolitik?                                   33

Exkurs: Verunsicherung und Hoffnung der deutschen
außenpolitischen Eliten                                         39

Transatlantische Politik in der Welt nach Trump                 49

Schluss: Außenpolitik ohne Transformation
der Integrationsweise?                                          53

Literatur                                                       59

Autor                                                           63
IMPRESSUM 64
DIE GEMEINSAME
AUSSENPOLITIK IN DER KRISE

In den Staatskanzleien und Außenministe-        ischer Anleihen zur Unterstützung schwer
rien der EU-Mitgliedsstaaten war das Jahr       betroffener Mitgliedstaaten verständigen.
2020 nicht nur von der Corona-Pandemie,         Dennoch verweisen sowohl die Eskalation
sondern auch vom bangen Warten auf den          der Pandemie im Kontext kaputtgesparter
Wahlausgang in den Vereinigten Staaten          Gesundheitssysteme als auch die vorange-
geprägt. Die Wahl Joseph Bidens wurde           gangene Debatte um gemeinsame Staats-
schließlich mit großer Erleichterung auf-       anleihen (Eurobonds) auf die tiefe Krise der
genommen. Die Hoffnung auf eine Restau-         wettbewerbsstaatlichen Integrationswei-
ration oder gar Erneuerung der transatlan-      se der EU. Einerseits gibt es fundamenta-
tischen Beziehungen prägt seit Monaten          le Kritik daran, andererseits bemühen sich
die außenpolitischen Debatten, sei es im        wie in jeder Krise der EU zahlreiche – auch
Hinblick auf Russland und China oder mit        oppositionelle – Akteure um normativ be-
Verweis auf den Klimaschutz. Die Verunsi-       gründete Visionen einer Erneuerung Eu-
cherung weiter Teile der politischen Eliten     ropas. Letztere reichen von einer Neube-
über die Rolle Europas in der Welt speist       gründung Europas als Bundesstaat bis zur
sich aus dem außenpolitischen Kurs der          Vorstellung der EU als Akteurin mit eigen-
Trump-Administration, die die multilate-        ständigen Interessen. Dabei fallen Fragen
ralen Elemente der transatlantischen Ord-       von großer realpolitischer Bedeutung je-
nung beschnitt – mithin die Einheit des         doch unter den Tisch: Welche Außenpolitik
Westens. Diese Sorgen korrespondieren           kann die von der wettbewerbsstaatlichen
mit einer inneren Krise der europäischen        Integrationsweise getragene EU über-
Integration, die sich in der geringen Koordi-   haupt formulieren? Setzt eine europäische
nation der nationalen Maßnahmen zur Ein-        Außenpolitik gar zunächst eine Transfor-
dämmung des Corona-Virus und vor allem          mation der Integrationsweise voraus?
im Streit um die Bewältigung der ökonomi-
schen Folgen der Pandemiekrise manifes-         Wie im Folgenden zu zeigen ist, bewegt
tiert.                                          sich europäische Außenpolitik immer im
                                                Kontext des Integrationsprozesses. Die
Immerhin konnte sich der Europäische            seit Langem andauernde Krise der wett-
Rat im Juli 2020 unter dem Namen «Next          bewerbsstaatlichen Integrationsweise hat
Generation EU» auf ein Programm über            in den letzten Jahren die Kapazität der EU,
750 Milliarden Euro gemeinsamer europä-         als außenpolitische Akteurin zu agieren,

                                                                                          3
strukturell begrenzt. Der Prozess der Ver-
     WELCHE AUSSENPOLITIK     gemeinschaftung der Außen- und Sicher-
    KANN DIE VON DER WETT-­   heitspolitik der EU hat an Fahrt verloren
      BEWERBSSTAATLICHEN      bzw. sich vermehrt auf Fragen des Grenz-
        INTEGRATIONSWEISE     regimes konzentriert (vgl. Oberndorfer
         GETRAGENE EU FOR-    2019). Tendenzen der weiteren Vergemein-
      MULIEREN? SETZT EINE    schaftung auf diesem Feld finden primär
      EUROPÄISCHE AUSSEN-     nicht in der EU, sondern im Rahmen der
     POLITIK EINE TRANSFOR-   NATO oder im Bereich der Industriepolitik
       MATION DER INTEGRA-    (PESCO) statt (vgl. Serfati 2020).
       TIONSWEISE VORAUS?
                              Dennoch haben die transatlantischen
                              Spannungen unter der Trump-Adminis-
                              tration noch zugenommen. Allerdings
                              wird nur selten debattiert, inwieweit diese
                              Spannungen eine Krise der äußeren Bedin-
                              gungen der europäischen Integration dar-
                              stellen und welche Probleme sich daraus
                              für die Formulierung der Gemeinsamen
                              Außen- und Sicherheitspolitik ergeben.
                              Wer sich mit der Außenpolitik der EU be-
                              schäftigen oder aus linker Perspektive eine
                              alternative Außenpolitik entwickeln will,
                              muss sich daher nicht nur mit der Verge-
                              meinschaftung der Außen- und Sicher-
                              heitspolitik der EU, sondern gerade auch
                              mit ihrer inneren Krise – der Krise ihrer In-
                              tegrationsweise – sowie mit den sich wan-
                              delnden äußeren Bedingungen ihrer Exis-
                              tenz als Union beschäftigen. Ebendiese
                              sorgen derzeit auch im Denken der außen-
                              politischen Eliten in Deutschland für eine
                              Verunsicherung, die trotz allem mitschwin-
                              genden Pathos ihre reale historische Be-
                              gründung hat.

4
BEGINN DER EUROPÄISCHEN
INTEGRATION UNTER
US-HEGEMONIE

Die europäische Integration hat sich nach      Allerdings wurde die reale Dynamik der
dem Ende des Zweiten Weltkriegs trotz          neuen Staatenordnung im Zuge des begin-
aller Spannungen und Krisen im transat-        nenden Kalten Kriegs rasch von der Kon-
lantischen Verhältnis weitgehend kom-          kurrenz antagonistischer Gesellschafts-
plementär zur US-Hegemonie entwickelt.         entwürfe überlagert. Innerhalb dieses
Grundlegende Züge der angestrebten (glo-       globalen Ost-West-Antagonismus er-
balen) Nachkriegsordnung, darunter for-        gab sich insbesondere in den Zentren des
male Dekolonialisierung und Demokrati-         trans­atlantischen Raums der Druck, wich-
sierung bei gleichzeitiger Offenhaltung der    tige Forderungen der Arbeiterbewegung in
Seewege sowie Souveränität der Völker          die hegemoniale politische Agenda aufzu-
über ihre Regierungsform, haben die USA        nehmen (vgl. ebd.: 356 ff.). Ausgerechnet
und Großbritannien schon 1941 in Gestalt       unter Führung der USA wurden die ersten
der Atlantik-Charta vereinbart (vgl. Hobs­     Nachkriegsjahrzehnte zu einem Zeitalter
bawm 1998). Obgleich eine liberale Antwort     der Sozialdemokratie. Ihr «Empire by Invi-
auf die Herausforderung durch den deut-        tation» konstituierte sich als «Embedded
schen und italienischen Faschismus, wur-       Liberalism»: Er wurde von der Prämisse
de sie zum Ausgangspunkt für den Grün-         getragen, dass eine liberale Welthandels­
dungsprozess der Vereinten Nationen unter      ordnung durch eine nicht liberale Welt­
Führung der Hauptmächte der Alliierten,        finanzordnung getragen werden müsse,
den USA, Großbritanniens und der Sowjet­       um die Autonomie der nationalen Wohl-
union. De facto stellen die Vereinten Natio­   fahrtsstaaten nicht durch unkontrollier-
nen damit eine institutionalisierte Fortset-   te Finanzströme zu gefährden (vgl. Hellei-
zung der antifaschistischen Kriegskoalition    ner 1994: 4). Unter der Führung der USA
dar. Insofern ihre Gründungscharta die ge-     bildeten kapitalistische Hegemonie und
meinsame Zusammenarbeit der souverä-           hegemoniale Konzession an die Lohnar-
nen Nationen in Fragen der internationalen     beiten einen Nexus, den institutionell die
Sicherheit mit dem Ziel des Friedens in den    Bretton-Woods-Institutionen (Internatio-
Mittelpunkt rückte, war sie als Rahmen         naler Währungsfonds/IWF, Weltbank und
für eine multilaterale Friedensordnung ge-     der General Agreement on Tarifs and Trade/
dacht; 1948 kam die Allgemeine Erklärung       GATT) absicherten. Sie bildeten wichtige
der Menschrechte hinzu.                        Handlungsarenen der US-Hegemonie und

                                                                                       7
waren Kondensationskeime einer multila-       Übernahmen nationaler Konzerne, die zur
teralen westlichen Ordnung. Den Staaten       Bildung transnationaler europäischer Kon-
der westlichen Hemisphäre, insbesonde-        zerne führten, ließen den Wunsch nach
re in Europa, ermöglichte dies, ihre eige-    einer verstärkten multinationalen und
nen kapitalistisch-korporatistisch-wohl-      transnationalen Koordinierung der europä-
fahrtsstaatlichen Entwicklungspfade trotz     ischen Wirtschaftspolitiken entstehen (vgl.
gleichzeitiger Einbettung in die US-Hege-     Mandel 1967). Dieser Wille materialisierte
monie zu verfolgen und so auch sozialisti-    sich in den Römischen Verträgen, die 1957
sche Tendenzen einzudämmen.                   die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
                                                              (EWG) begründeten. Das
Die US-Hegemonie konsti­                                      Zusammenwachsen der
tuierte sich also bei Wei-          DIE POLITÖKONO­           europäischen Konzerne ba-
tem nicht nur auf ihrer über- MISCHE STAATSLOGIK sierte dabei wesentlich auf
legenen ökonomischen                  DRÄNGTE ZUR             US-amerikanischen Inves-
und militärischen Macht,             EUROPÄISCHEN             titionen und Kapital (vgl.
sondern auf einem Multi­           INTE­G RATION, DIE         Poulantzas 1974). Und die
lateralismus, der für zahl- SICH KOMPLEMENTÄR europäische Integra­tion in
reiche westliche Staaten         IN DIE TRANSATLAN-           Gestalt der EWG blieb we-
zur Bedingungsmöglichkeit          TISCHE ORDNUNG             sentlich ein Rahmen zur Ko-
ihrer eigenen Souverä­nität               FÜGTE.              ordinierung der nationalen
wurde. Vor allem für die                                      wohlfahrtsstaatlichen Ent-
Bundesrepublik Deutsch-                                       wicklungspfade. Diese Ko-
land war die Rückgewinnung ihrer ver- ordinierung der Pluralität der «Embedded
lorenen Souveränität mithin nur auf den Liberalisms» in Westeuropa stabilisierte
Schultern der transatlantischen Ordnung nicht zuletzt die transatlantische Ordnung:
denkbar. Das rüstungspolitische Bestre- Die politökonomische Staatslogik drängte
ben, das (west-)deutsche Gewaltpoten- hin zur europäischen Integration, die sich
zial dauerhaft einzuhegen, führte bereits komplementär in die transatlantische Ord-
1951 zur Vergemeinschaftung der west- nung fügte.
europäischen Kohle- und Stahlpolitik in
Gestalt der supranationalen Europäischen Die direkt von der Ratio des Kalten Kriegs
­Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) beherrschte geopolitische Staatslogik ver-
 und schuf so eine wichtige Vorläuferinstitu- langte auf militärischem Gebiet nach einer
 tion der europäischen Integration.           noch engeren transatlantischen Integra­
                                              tion, welche eine unmittelbare Bindung der
 Die ökonomischen Dynamiken sollten einzelnen europäischen Staaten, von denen
 sich schließlich als die dafür entscheiden- längst nicht alle Mitglieder der EWG waren,
 den erweisen: Wachsende Handelsver- an die USA sicherstellte. In diesem Kontext
 flechtungen zwischen den Ökonomien ist das Scheitern früher Entwürfe einer ver-
 Westeuropas, aber auch die Fusionen und tieften westeuropäischen Zusammenarbeit

8
im Bereich der Sicherheits- und Verteidi-      wurden mittels der beginnenden Verlage-
gungspolitik wenig überraschend: Westeu-       rungen von Produktionsstandorten in die
ropas innere Integration basierte auf einer    Staaten der (damaligen) kapitalistischen
Pluralität von Staaten, deren Souveränität     Semiperipherie einerseits die Vorausset-
ihrerseits auf den Schultern der transat-      zungen für neue Profite westlicher Kon-
lantischen Ordnung ruhte, die militärisch      zerne und der ökonomischen Erholung der
durch die NATO abgesichert wurde. Son-         Zentren geschaffen. Andererseits verlager-
derwege, wie der französische, bestätig-       ten die westlichen Ökonomien – allen voran
ten die Regel und lokalisierten sich zudem     die US-amerikanische – wichtige Teile ihrer
innerhalb der Ordnung. Einer ausgepräg-        produktiven Basis und damit ihrer ökonomi-
ten Vergemeinschaftung der europäischen        schen Macht, insbesondere nach Ostasien.
Verteidigungspolitiken waren damit inhä-
rente Grenzen gesetzt und das Projekt einer    Trotz der Niederlage in Vietnam sollte sich
gemeinsamen westeuropäischen Armee             ausgerechnet auf dem politischen und mi-
war gar unrealistisch. Es wäre bestenfalls     litärischen Feld die US-Hegemonie als weit
bedingt komplementär zum sich konstitu-        robuster als im Bereich des Ökonomischen
ierenden Modus der europäischen Integra­       erweisen: Die Durchsetzung der neolibera-
tion gewesen, der sich auf den Schultern       len Entwicklungsparadigmen in Gestalt des
der transatlantischen Ordnung artikulier-      Washington Consensus war in letzter Ins-
te. Auch deshalb (und nicht nur wegen des      tanz durch Zwang abgesichert, der zum Ein-
Vetos der französischen Nationalversamm-       satz kam, wenn lokal Blockaden des Neo-
lung) scheiterte der Pleven-Plan einer Euro-   liberalisierungsprozesses auftraten. Die
päischen Verteidigungsgemeinschaft und         wachsende militärische Überlegenheit der
eröffnete so den Weg zum deutschen NA-         NATO wurde in der Spätphase des Kalten
TO-Beitritt im Jahr 1955.                      Kriegs zum ökonomischen Problem der re-
                                               alsozialistischen Staaten, das deren innere
Von einer Krise der US-Hegemonie ist erst-     Widersprüche unlösbar verschärfte. Einzig
mals Ende der 1960er Jahre die Rede. Diese     China hatte sich dem erfolgreich entzogen,
fällt nicht nur zusammen mit militärischen     denn seine Konflikte mit der UdSSR hatten
Niederlagen, wie in Vietnam, und mit ei-       ein Arrangement mit den USA ermöglicht –
ner relativen Abnahme des US-Anteils am        so konnte ein Rüstungswettlauf vermieden
globalen Bruttosozialprodukt, sondern ist      und Zeit für innere Reformen gewonnen
das Ergebnis von qualitativen Umstruktu-       werden. In der Folge gelang es China, sich
rierungen in der Organisation der Produk-      komplementär in die globale kapitalistische
tion, den Liefer- und Wertschöpfungsket-       Ordnung zu integrieren und zugleich seine
ten und nicht zuletzt dem Kräftegleichwicht    ökonomischen Steuerungskapazitäten zu
der Klassen geschuldet, die zu Verlagerun-     nutzen, um seine Position in der globalen Ar-
gen des Produktionsprozesses aus den ka-       beitsteilung Schritt für Schritt zu verbessern.
pitalistischen Zentren heraus zwangen. In      Erst in den 2000er Jahren wurde aus der
anderen Worten: Um die Krise zu lösen,         Komplementarität zunehmend Konkurrenz.

                                                                                            9
VERGEMEINSCHAFTUNG
DER EUROPÄISCHEN AUSSEN­
POLITIK NACH 1990

Der Zusammenbruch der realsozialisti-          beralisierung gekoppelt – der Vertrag von
schen Staatenwelt war folglich weniger         Maastricht (1992) stärkte in diesem ­Sinne
das Ergebnis ungebrochener ökonomi-            die Rolle der EU-Kommission und stellte
scher Stärke des Westens, sondern der in-      die Weichen hin zur Wirtschafts- und Wäh-
neren Widersprüche und ökonomischen            rungsunion. Letztere war ein ­w ichtiges
Schwächen jener Staaten, die durch die         Element bei der Verankerung des diszi­pli­
verschärfte geopolitische Konkurrenz po-       nierenden Neoliberalismus. Mit diesem
tenziert wurden (vgl. Hobsbawm 1998:           Konzept hatte Stephen Gill (2000) nicht et-
572 ff.). Der Siegeszug des neoliberalen Pa-   wa jene Entwicklungen gemeint, die heute
radigmas hatte seit den späten 1970er Jah-     unter Begriffen wie «Autoritarismus» oder
ren die soziale Kohäsion auch innerhalb der    «autoritärer Populismus» als Herausforde-
kapitalistischen Zentren belastet, war zu-     rungen für liberale Demokratien diskutiert
gleich aber auch die Bedingung eines neu-      werden. Vielmehr ging es um Entwicklun-
en Schubs der politischen und ökonomi-         gen, die sich im Inneren liberaler Demokra-
schen Integration Westeuropas gewesen:         tien vollzogen – gerade bei einem breiten
Indem sich die Europäische Gemeinschaft        Spektrum an politischen Kräften, das ge-
selbst zum Motor der Neoliberalisierung        meinhin nicht als Bedrohung, sondern als
machte, konnte sie in den 1980er Jahren        tragendes Element liberaler Demokratien
ihre Integrationskrise überwinden. Ihre in-    angesehen wurde, ja noch wird. Was also
tergouvernementalen und supranationa-          ist das Disziplinierende am disziplinieren-
len Entscheidungsmechanismen waren             den Neoliberalismus? Disziplinierender
den Interessen der führenden Klassen ih-       Neoliberalismus betreibt die systemati-
rer strategischen Selektivität nach (zum       sche Entkoppelung der politisch-demokra-
Konzept: Jessop 1990) zugänglicher als         tischen Entscheidungsprozesse von der
denen der unteren. Dies beförderte Ten-        Gestaltung der Wirtschaftspolitik. Wichti-
denzen der negativen Integration, die vor      ge Entscheidungen liegen nun nicht mehr
allem auf weitere Marktöffnungen und De-       in den Händen von gewählten Regierun-
regulierungen drängt, nicht aber positiv       gen, sondern nicht rechenschaftspflich-
auf sozialer Integration basierte. Auch die    tigen Gremien, etwa unabhängigen Zen-
Schritte hin zu einer Supranationalisierung    tralbanken und Regulierungsbehörden.
waren eng an eine Vertiefung der Neoli-        Dies ging einher mit der gezielt forcierten

                                                                                       11
Verlagerung von bisher nationalstaatli-       balen Hegemonie wurde – trotz ihres Siegs
cher Macht in supranationale Gremien und      in der Systemkonkurrenz – komplexer. Eine
Entscheidungsprozesse, die nur geringer       Stärkung der EU als geschlossen agieren-
parlamentarischer Kontrolle unterlagen.       de Akteurin war damit auch im Interesse
Derweil durchlief die EU eine Reihe von       der USA und wurde im Prinzip wohlwol-
Erweiterungsrunden. Die Verbindung von        lend betrachtet, aber ausschließlich kom-
neoliberalisierter Integrationsweise und      plementär zur eigenen Führungsrolle. Im
Demokratisierungsagenda bildete dabei         Kosovo-Krieg mehrten sich auf beiden Sei-
den Kern der EU-Erweiterungspolitiken.        ten des Atlantiks die Stimmen, die lautstark
Politische Emanzipationsversprechen, die      eine größere europäische Geschlossenheit
einen wichtigen Teil in der hegemoniepo-      einforderten. Der Luftkrieg der NATO ge-
litischen Begründung sowohl des Integra-      gen Jugoslawien (1999) fand – deklariert
tions- als auch des Erweiterungsprojekts      als humanitäre Intervention – unter Umge-
der EU ausmachen, konnten so hinsicht-        hung der UN statt und blieb weitestgehend
lich ihrer ökonomischen Dimension wirk-       auf US-Kapazitäten angewiesen. Dies setz-
sam domestiziert werden. Nicht zuletzt die    te eine neue Dynamik der sicherheitspoliti-
Spaltung der politischen Linken über die      schen Vergemeinschaftung der EU in Gang,
Frage ihrer Haltung zur EU resultiert we-     die zuweilen auch als Tendenz der Militari-
sentlich daraus.                              sierung kritisiert wurde: Der EU-Gipfel von
                                              Helsinki beschloss, bis zum Jahr 2003 eine
Mit dem Vertrag von Maastricht wur-           50.000 bis 60.000 Soldaten starke EU-Ein-
de auch die Gemeinsame Außen- und Si-         greiftruppe einzurichten. Und der EU-Ver-
cherheitspolitik als zweite offizielle Säu-   trag von Nizza kodifizierte Ende 2000 eine
le der Europäischen Integration verankert.    neue politisch-militärische Kooperations-
Dass überhaupt eine dezidiert europäische     und Entscheidungsstruktur, welche die
Außenpolitik denkbar wurde und auf die        Westeuropäische Union (WEU) in die Eu-
Agenda rückte, war in erster Linie dem En-    ropäische Sicherheits- und Verteidigungs-
de der Ost-West-Konfrontation geschuldet,     politik (ESVP) und diese wiederrum in die
denn solange diese bestand, hatte Europa      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo-
schlicht das (militärische) Machtpoten­zial   litik (GASP) überführte und auf EU-Ebene
gefehlt, um eine eigenständige Position       eine Reihe militärischer Gremien und Stä-
zu formulieren. Die Staaten Westeuropas       be schuf (vgl. Bieling 2010: 198). Mit dem
waren souverän gewesen – aber nur auf         2004 beschlossenen «Headline Goal» ver-
den Schultern der transatlantischen Ord-      pflichteten sich die Mitgliedsstaaten, vier
nung. Nach 1990 existierte das militärische   rasch verlegbare EU-Battlegroups aufzu-
Machtgefälle innerhalb der transatlanti-      stellen, die je 1.500 Soldaten für Kampf-
schen Ordnung fort, allerdings setzte sich    handlungen höchster Intensität umfassten.
weltpolitisch die Tendenz des Niedergangs
der relativen ökonomischen Dominanz der       Diese Integrationsschritte änderten je-
USA fort. Die Aufrechterhaltung ihrer glo-    doch nichts Grundsätzliches an den natio­

12
nalstaatlich divergierenden Interessen: Die     gemeinsame Außenpolitik. Die EU war in
unterschiedlichen Haltungen der Regie-          mehrere außenpolitische Lager gespalten:
rungen in der transatlantischen Frage, die      Frankreich erhoffte sich von einer stärker
spezifischen Interessen ehemaliger Ko-          vergemeinschafteten Außenpolitik eine
lonialstaaten, die unterschiedlichen Re-        größere Autonomie der EU. Am klarsten
krutierungssysteme sowie die insgesamt          für eine Verortung der EU innerhalb der
nationalstaatlich geprägten sicherheitspo-      transatlantischen Ordnung und für eine
litischen Kulturen und zahlreiche andere        mit den USA abgestimmte, komplemen-
Widersprüche verlangsamten die Vertie-          täre Außenpolitik trat Großbritannien ein;
fung der sicherheitspolitischen Integration     die mittelosteuropäischen und baltischen
und gaben ihr einen überaus starken Kom-        Staaten sahen vor allem in der NATO und
promisscharakter: Obwohl die Außen- und         der transatlantischen Integration ihre Sou-
Sicherheitspolitik seit dem Vertrag von         veränitätsgarantie gegenüber Russland.
Maastricht die zweite Säule der EU dar-         Ihr EU-Beitritt wurde von den USA und
stellte und allein schon dadurch eine ten-      Großbritannien vorrangig aus geopoliti-
denzielle Abkehr von der EU als Zivilmacht      schen und von Deutschland primär aus
bedeutete, die immer weiter institutiona-       ökonomischen Motiven empathisch unter-
lisiert worden war, blieben die Strukturen      stützt. Deutschland sah sich zudem in ei-
der außen- und sicherheitspolitischen Ent-      ner außenpolitischen Mittlerposition zwi-
scheidungsfindung inter- und transgou-          schen den Lagern – womit es indirekt einen
vernemental. Dies schränkte den militä-         Führungsanspruch in der EU formulierte.
rischen Nutzen der neuen Strukturen und         Letztlich behinderten die seit dem Amts-
der von ihnen befehligten Kampfverbände         antritt der Bush-Administration zugespitz-
ein, denn sie waren und sind nicht so rasch     ten transatlantischen Spannungen und die
einsetzbar wie nationale Streitkräfte. Auch     unterschiedlichen Wahrnehmungen der
die deutsche Praxis des Parlamentsvor-          nationalen Regierungen davon sowohl ei-
behalts bei Auslandseinsätzen stellte und       ne anhaltende dynamische Vertiefung der
stellt ein nicht zu unterschätzendes Hin-       sicherheitspolitischen EU-Integration als
dernis für eine konsequente Militarisierung     auch die Formulierung einer gemeinsamen
der EU dar. Eben deshalb steht sie jedoch       Position in internationalen Organisationen:
in der Kritik und es gibt Vorschläge, sie mit   «Sofern kein transatlantischer Konsens
Vorratsbeschlüssen zu umschiffen (vgl.          existiert, gelingt es in internationalen Orga-
Krause 2020).                                   nisationen wie der NATO oder UNO oft je-
                                                doch nicht, eine gemeinsame EU-Position
Auch Jahre nach der Verabschiedung der          zu entwickeln und durchzusetzen.» (Bie-
GASP und deren institutioneller Weiter-         ling 2010: 222)
entwicklung existierte kein Konsens über
den Grad und den spezifischen Charakter
einer europäischen außenpolitischen Po-
sition und damit nur sehr beschränkt eine

                                                                                           13
«VERANTWORTUNGSVOLL
REGIERTE STAATEN» ALS KLEINSTER
GEMEINSAMER NENNER

Nach dem Antritt der neokonservativen            politik war: Die Europäische Sicherheits-
Bush-Administration im Jahr 2001 er-             strategie (ESS) von 2003 fokussierte sich
schien den Friedensbewegungen weltweit           geografisch auf den Mittelmeerraum, den
die US-Politik der Umgehung etablierter          Balkan, den Nahen Osten und den Süd-
multilateraler Institutionen, wie den UN,        kaukasus und betonte Multilateralismus
und die Politik des Regime Change als die        sowie präventives Krisen- und Konfliktma-
politische Herausforderung schlechthin.          nagement mitsamt den zivilen Komponen-
Damals wurden dagegen überall breite             ten europäischer Sicherheitspolitik (vgl.
gesellschaftliche Proteste organisiert. Die      Europäischer Rat 2003). So postulierte die
Grundlagen solcher Außenpolitik waren            ESS die bereits seit den Balkankriegen der
zwar älteren Ursprungs, doch von den USA         1990er Jahre bestehende Praxis nunmehr
2002 in der global ausgerichteten Nationa-       ganz offen: namentlich die aktive Flankie-
len Sicherheitsstrategie (NSS) ausbuchsta-       rung von US-Einsätzen und die Entlastung
biert worden (vgl. The White House 2002).        von US-Truppen auf Schauplätzen niede-
Die grundlegenden EU-internen Differen-          rer Kampfintensität. Zudem fand sich auch
zen über die transatlantische Ordnung nah-       hier im Grundsatz der erweiterte Sicher-
men infolge der Irakpolitik der Bush-Admi-       heitsbegriff der NSS.
nistration an Schärfe zu. Frankreich und
Deutschland legten im UN-Sicherheits-            Damit und mit ihrer offensiv-proaktiven –
rat ein Veto gegen die Irak-Invasion ein,        auch geopolitisch – motivierten Ausrich-
Großbritannien nahm als Teil einer «Koali-       tung markierte die ESS einen Paradigmen-
tion der Willigen», die offiziell auch mittel­   wechsel, durch den sich die EU von ihrem
osteuropäische Beitrittsstaaten umfasste,        Selbstbild der Zivilmacht verabschiedete.
aktiv daran teil. Die in dieser Form ausge-      Sie wandte sich nun der Entwicklung und
führte US-Invasion war auch für den trans­       Anwendung eigener militärischer Kapazi-
atlantischen Multilateralismus eine Her-         täten zu, allerdings nach wie vor in einem
ausforderung, doch lassen die genannten          weitgehend komplementären Verhält-
Divergenzen leicht übersehen, dass der           nis zur damaligen US-Politik (vgl. Bieling
kleinste gemeinsame Nenner der euro-             2010: 208 f.). So fand sich auch eine für
päischen Außenpolitik im Wesentlichen            neokonservative Außenpolitik typische
komplementär zur damaligen US-Außen-             Verschränkung von liberalem Universalis-

                                                                                        15
mus und geopolitischem Kalkül: «Selbst
im Zeitalter der Globalisierung spielen die
geografischen Aspekte noch immer ei-
ne wichtige Rolle. […] Wir müssen darauf
hinarbeiten, dass östlich der Europäischen
Union und an den Mittelmeergrenzen ein
Ring verantwortungsvoll regierter Staa-
ten entsteht, mit denen wir enge, auf Zu-
sammenarbeit gegründete Beziehungen
pflegen können.» (Europäischer Rat 2003:
7 f.) Gleichwohl gab es eine realpolitische
Einschätzung des eigenen politischen Ge-
wichts im weltpolitischen Kontext: Man
strebte daher im Rahmen der ESS strate-
gische Partnerschaften mit den größeren
Staaten an – also den Umgang auf Au-
genhöhe mit solchen Staaten, auf deren
gesellschaftspolitische Entwicklung und
ökonomisch-regulative Paradigmen die EU
ohnehin wenig Einfluss hatte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
die großen außenpolitischen Integrations­
schübe der EU aus einer Zeit datieren, da
das neoliberale Paradigma der europäi­
schen Integration weit weniger ­hinterfragt
wurde als heute. Bei allen Differenzen zwi-      DIE GROSSEN
schen den nationalen Regierungen mate­           AUSSENPOLITI-
rialisierte sich in den Konzepten und In-        SCHEN INTEGRA­
halten der europäischen Außenpolitik             TIONSSCHÜBE
zumindest ein kleinster gemeinsamer Nen-         DER EU DATIEREN
ner: die Übertragung des Modus der diszi-        AUS EINER ZEIT,
plinierend-neoliberalen Integrationsweise        DA DAS NEO­LIBE-
der EU in benachbarte Regionen und Staa-         RALE PARADIGMA
ten mithilfe der Europäischen Nachbar-           DER EUROPÄISCHEN
schaftspolitik (ENP). Und er bedeutete eine      INTEGRATION
weitere Abkehr von der Selbstidentifikation      WENIGER HINTER-
als Zivilmacht durch die Definition als regio-   FRAGT WURDE
nal handelnde Akteurin, die gleichwohl ihre      ALS HEUTE.
begrenzte weltpolitische Kapazität kannte.

16
KRISE DES INTEGRATIONSMODUS
UND SCHEITERN DER EUROPÄISCHEN
NACHBARSCHAFTSPOLITIK

Spätestens mit der globalen Wirtschaftskri-    einzige Option, um weiterhin die eigenen
se ab 2007 ist der Prozess der neoliberalen    Kreditbeziehungen zu den Zentren der EU
Globalisierung infolge der weltweit diver-     aufrechterhalten zu können, die im Fal-
gierenden nationalen Strategien der Kri-       le eines Austritts aus dem Euro gefährdet
senbearbeitung ins Stocken geraten (Bie-       gewesen wären. Während insgesamt das
ling 2010: 232). Dies heißt aber nicht, dass   disziplinierend neoliberale Paradigma pri-
Neoliberalismus als Paradigma an sich nun-     mär auf Kosten der breiten Bevölkerungs-
mehr schnell und entschlossen abgewi-          schichten durchgesetzt wurde, mussten
ckelt wurde. Vielmehr wurde gerade in der      zwangsläufig also auch die herrschenden
EU das Krisenmanagement primär in den          Blöcke der führenden EU-Staaten und
Dienst der Konsolidierung des angeschla-       die mit ihnen assoziierten Eliten der inne-
genen Neoliberalismus gestellt (vgl. Becker/   ren Peripherien erhebliche Nachteile er-
Jäger 2009; Bieling 2011). Die ökonomisch      zwungenermaßen in Kauf nehmen: Hohe
stärksten Staaten der EU versuchten unter      Anpassungskosten, über Jahre hinweg
Führung Deutschlands1 und abgestimmt           verringerte Wachstumsraten, forcierte Ver-
mit den Interessen der führenden transna-      nachlässigung bestehender Infrastruktu-
tionalen europäischen Konzerne, über den       ren und negative Auswirkungen auf den
Mechanismus der EU-weiten austeritäts-         sozialen und politischen Zusammenhalt in
politischen Krisenbearbeitung (vgl. Becker/    diesen Staaten und der EU insgesamt stell-
Jäger 2012) das Paradigma des disziplinie-     ten eine hegemoniepolitische Herausfor-
renden Neoliberalismus auch in der inneren     derung dar. Nicht nur durch die intensive
Peripherie der EU verstärkt zu verankern.      Auslastung der institutionellen Kapazitäten
Dabei stießen sie in unterschiedlichem Ma-     infolge des Krisenmanagements, sondern
ße auf Widerstände, in ihrer zugespitztesten   die genuin politische Krisenbearbeitung
Form wurde die Frage anhand der Staats-
verschuldung Griechenlands ausgetragen.
                                               1 In Deutschland war dieses Unterfangen begleitet von Debat-
                                               ten, inwieweit den supranationalen Institutionen der EU – allen
Für die führenden Kapitalfraktionen in den     voran die Europäische Kommission und die Europäische Zent-
                                               ralbank – hinsichtlich ihres Durchsetzungsvermögens zu trauen
kriselnden mediterranen Staaten war Aus-       sei. Damit lastete auf der Bundesregierung ein immenser Druck,
teritätspolitik aufgrund ihrer deflationä-     in der Austeritätspolitik Führung zu zeigen. Selbst Institutionen
                                               wie IWF und Weltbank traten damals für eine moderatere Aus-
ren Effekte nicht die erste Wahl, aber die     teritätspolitik ein.

                                                                                                            19
sowie vor allem die tiefe innere Krise der     dernisierung und Erweiterung der lokalen
EU reduzierten ihre Fähigkeit, ein attrak-     Produktivkräfte angeregt, sondern klien-
tives politisches Modell anzubieten. Poli-     telistische Wachstumsmodelle hervorge-
tische Attraktivität, die wichtigste außen-    bracht, die die sozialen Widersprüche ver-
politische Ressource, die sie als Union hat,   schärften (vgl. Daher 2018). Die positive
war und ist in ihrer Wirkmacht deutlich ge-    Beziehung zwischen ökonomischer und
schwächt.                                      politischer Liberalisierung existierte als
                                               ideologische Grundannahme der ENP, aber
In den mediterranen Nachbarstaaten der         nicht in der sozialen und politischen Reali-
EU scheiterte die Europäische Nachbar-         tät. Der Staat als Rahmen der produktiven
schaftspolitik vollends. Zum einen war         Welt (­Gramsci) musste die in der Bevölke-
die unter dem Schlagwort «Good Govern­         rung ungeliebten Transformationsprozesse
ance» nahegelegte konsequente Einfüh-          autoritär absichern. Daher konnte er diese
rung des disziplinierend neoliberalen Pa-      Prozesse nicht synchron mit einer Agenda
radigmas von Beginn an wenig realistisch,      der Demokratisierung verbinden. Wo zag-
denn die autoritär regierten Staaten stan-     hafte Versuche betrieben wurden, wur-
den sozioökonomisch unter einem im-            den sie rasch wieder eingestellt. Die sich
mensen popularen Rechtfertigungsdruck.         gegenseitig verstärkenden Widersprüche
Ohnehin spielte die ENP angesichts weit        aus schwindender ökonomischer Hand-
mächtigerer Neoliberalisierungshebel           lungssouveränität, schlechter Neolibera-
(Handelsregime, IWF, Weltbank etc.) eine       lisierungsperformance und politischem
sekundäre Rolle. Zum anderen hatte be-         Autoritarismus mündeten zu Beginn der
reits der erreichte Grad der neoliberalen      letzten Dekade in jene Kette von Aufstän-
Transformation kein dynamisches ökono-         den, die als Arabellionen bekannt wurden
misches Wachstum auf Basis einer Mo-           (vgl. Tuğal 2017).

20
DIE POSITIVE
                                                                      BEZIEHUNG
                                                                      ZWISCHEN
                                                                      ÖKONOMISCHER
                                                                      UND POLITISCHER
                                                                      LIBERALISIERUNG
                                                                      EXISTIERTE
                                                                      NICHT IN DER
                                                                      REALITÄT.

Einen wichtigen Sonderfall stellte die Tür-     EU-Projekts zu vertiefen. Allerdings wan-
kei dar. Das Bestreben, die EU zu einer stär-   delten sich in der zweiten Hälfte der 2000er
ker außenpolitischen agierenden Akteu-          Jahre die äußeren Bedingungen des
rin aufzubauen, hatte seit Ende der 1990er      EU-Projekts: Die innere Krise der EU ver-
Jahre zu einer erneuten Dynamisierung des       langsamte die Vergemeinschaftungspro-
Beitrittsprozesses geführt (vgl. Gehring        zesse der europäischen Außen- und Sicher-
2010).2 Während Frankreich und Deutsch-         heitspolitik und auch die nachlassenden
land sich von einem Beitritt der Türkei und     Spannungen gegenüber der neokonserva-
ihrem geopolitischen Potenzial eine Stär-       tiven Bush-Administration in den USA lie-
kung der außenpolitischen Eigenständig-         ßen Mitte der 2000er Jahre das Interesse
keit der EU erhofften, setzte Großbritanni-     an einem Beitritt der Türkei erlöschen.
en darauf, durch die Integration der damals
noch stark transatlantisch ausgerichteten       Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Staa-
Türkei ebenjenes Lager innerhalb der EU zu      ten in der Nachbarschaft der EU wies die
stärken. Auch die USA unterstützten nach-       Türkei jedoch ein dynamisches Neolibe-
drücklich den Beitritt im Interesse, die EU     ralisierungsprojekt auf, das sich in hohen
würde sich so zu einer stärkeren, aber kom-     Wachstumsraten, steigendem Konsum
plementären geopolitischen Akteurin ent-        und einer rasch voranschreitenden kapi-
wickeln. Der herrschende Block in der Tür-      talistischen Rationalisierung aller Lebens-
kei erhoffte sich vom EU-Beitrittsprojekt,
eine transnationale Verankerung des ei-
genen Neoliberalisierungsprojekts mittels       2 Eigentlich war das Jahrzehnte währende türkische Beitrittsbe-
                                                gehren mit der 1995 vereinbarten sehr weitreichenden EU-Tür-
der Synthese aus disziplinierendem Neoli-       kei-Zollunion (aus Sicht der EU-Staaten) de facto eingefroren
                                                worden. Erst die zunehmende Selbstidentifikation der EU als re-
beralismus und schrittweiser formaler De-       gional- und geopolitische Akteurin hatte den Raum geschaffen,
mokratisierung hegemonial in Gestalt des        über die Zollunion hinauszugehen; vgl. Gehring 2010.

                                                                                                           21
bereiche materialisierte. Die daraus resul-      lang andauernden Hegemoniekrise ihres
tierenden sozialen Widersprüche sowie            herrschenden Blocks hat sich in der Türkei
der politische Charakter des türkischen          ein autoritär-populistisches Regime her-
Transformationsprozesses unter Ägide der         ausgebildet, das als solches aber von einer
AKP wurden in den zahlreichen offiziellen        zunehmenden Fragilität gekennzeichnet ist
Berichten und in den europäischen Eliten-        (vgl. Gehring 2020b). Der Versuch der tür-
diskursen geradezu programmatisch über-          kischen Außenpolitik seit 2011, gestaltend
sehen. Dies galt nicht nur für die alltagskul-   in die Umbrüche im arabisch-mediterranen
turelle autoritär-islamistische Bearbeitung      Raum einzugreifen, hat zur Verwicklung in
der Widersprüche des Neoliberalisierungs-        zahlreiche regionale Kriege (zum Beispiel
projekts und die autoritäre Transformation       in Libyen und Syrien) geführt bzw. diese
der Staatsapparate. Auch die Tendenz, in-        befördert.
folge der globalen Krise den bestehenden
disziplinierenden Neoliberalismus in der         Auch die Staaten der EU überschätzten in
Türkei durch einen ökonomisch expansi-           diesen Kriegen ihre Handlungsmöglichkei-
ven und politisch charismatisch-rechtspo-        ten und unterschätzten zugleich deren fa-
pulistischen zu ersetzen, wurde konzeptio-       tale Folgen: wenn sie etwa, wie in Libyen,
nell nicht eingeordnet. Deshalb konnte die       selbst militärisch agierten oder gezielt Bür-
EU die Widersprüche ihrer eigenen Erwei-         gerkriegsparteien unterstützten, deren so-
terungspolitiken nicht begreifen und auch        zialen Ursprung und politische Agenda sie
nicht verstehen, welche Projekte sich von        zuweilen gar nicht hinreichend kannten.
rechts dagegen erhoben. Erst als sich 2013       In Syrien muss von einem internationalen
unter dem Namen Gezi eine breite popu-           Stellvertreterkrieg gesprochen werden, der
lare Revolte dagegen erhob (vgl. Gehring         fast globale Dimensionen angenommen
2019), kam es zu einer Wende in der he-          hat (vgl. Gehring 2020a). Die Bewältigung
gemonialen Wahrnehmung der Türkei. Bis           dieser Krisen entzieht sich längst den eta­
dahin waren, trotz einzelner Konflikte, die      blierten Instrumenten der EU. So ist das so-
Grundlinien der türkischen Politik noch          genannte EU-Türkei-Abkommen außerhalb
mehrheitlich begrüßt worden. Dies galt           der bestehenden Vertragswerke mit der EU
auch für ihre zuweilen als «neoosmanisch»        angesiedelt, die Beitrittskandidatin Türkei
beschriebene Außenpolitik: Eine mit der          nimmt hier in der Verhinderung von Migra-
EU verbundene Türkei, die sich auf ihr his-      tion nach Europa die Rolle eines gewöhn-
torisches Erbe «zurückbesann» und als            lichen Drittstaats ein. Wenngleich sich
«kulturell authentische» Kraft in der Re­gion    westliche Akteure – allen voran die EU –
zu wirken schien, galt als Bereicherung          graduell aus diesem Krieg zurückgezogen
der eigenen außenpolitischen Wirkungs-           haben, war die EU von der jüngsten tür-
macht.                                           kisch-russischen Eskalationsdynamik im
                                                 Kampf um das nordwestsyrische Idlib mit-
Von derlei orientalistischen Projektionen        telbar betroffen. Die Türkei hatte im März
ist heute wenig geblieben. Im Verlauf der        2020 kurzfristig die Grenze zu Syrien ge-

22
öffnet, um eine stärkere europäische Un-       ökonomischen Integration der Ukraine. In-
terstützung zu erpressen. Dennoch hielten      folge der ausgeprägten Orientierung der
sich die EU-Staaten und die USA aus der        stark industrialisierten Ostukraine auf die
türkisch-russischen Konfrontation weitge-      postsowjetischen Märkte stand nicht nur
hend heraus, allerdings wurden der Türkei      identitär, sondern auch ökonomisch eini-
höhere Finanzhilfen zur Umsetzung des          ges auf dem Spiel. Dieses ökonomische
EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens zugesi-         Konfliktpotenzial hat die EU bei der Kon-
chert (vgl. Gehring 2020b).                    zeption des Abkommens nicht hinreichend
                                               erkannt, weil eigene Interessen überbetont
Außenpolitische Erfolge schien die EU          wurden (vgl. Plank 2015).
nach 2010 vor allem in Osteuropa zu er-
zielen. Die Verhandlungen über ein Asso-
ziierungsabkommen mit der Ukraine (vgl.
Europäische Union 2014) machten Fort-
schritte. Ähnlich wie in anderen Staaten
Osteuropas war auch dieses Abkommen
geprägt vom Logos der europäischen Inte-
gration seit den Verträgen von Maastricht:
disziplinierender Neoliberalismus in Ver-
bindung mit der Stärkung liberaldemo-
kratischer Institutionen. Das Assoziie-
rungsabkommen war keine bewusste
geopolitische Provokation Russlands sei-             DIE STAATEN DER EU
tens der EU. Vielmehr unterschätzten die           ÜBERSCHÄTZEN IN DIESEN
EU-Akteure die unmittelbar geopolitische         KRIEGEN, WIE ETWA IN LIBYEN,
Bedeutung der Assoziation der Ukraine          IHRE HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN
und ihre Wahrnehmung durch Russland.           UND UNTERSCHÄTZTEN ZUGLEICH
Das galt noch mehr für die zahlreichen in-          DEREN FATALE FOLGEN.
nenpolitischen Konfliktlinien der Ukrai-
ne entlang der außen- und geopolitischen
Konfliktachse. Entsprechend unvorbereitet
war die EU auf die Eskalation in der Ukrai-
ne: Aussetzung des Abkommens durch die
Regierung Janukowytsch, Sturz der Regie-
rung durch die Proteste auf dem Maidan,
die darauffolgende russische Annexion
der Krim und die Unterstützung der sezes-
sionistischen Bestrebungen im Osten der
Ukraine. Letztere resultierten nicht zuletzt
aus großen Unterschieden in der regional-

                                                                                       23
DISZIPLINIERENDER NEOLIBERA-
LISMUS – ACHILLESFERSE DER
EU-AUSSENPOLITIK

Die Unterschätzung der geopolitischen         Verpflichtung und realpolitische Notwen-
und friedenspolitischen Implikationen der     digkeit können hier die Synthese einer
Übertragung des eigenen Integrationsmo-       kritischen Vernunftethik eingehen. Doch
dus auf die gesellschaftlichen Kontexte       dazu bedarf es intellektueller und institu-
benachbarter Staaten wurde fallübergrei-      tioneller Kapazitäten, um wahrzunehmen,
fend zur Achillesferse der europäischen       welche innergesellschaftlichen Spannun-
Außenpolitik. Denn ihre Grundannah-           gen aus der von außen induzierten Über-
men basieren wesentlich auf der Vorstel-      nahme spezifischer neoliberaler Para-
lung, dass sich das neoliberale Paradigma     digmen resultieren können und in welch
durchgesetzt habe bzw. auf dem Weg der        vielfältigen Wegen der Eskalation sie mün-
Durchsetzung befinde, aber der Regulie-       den können.
rung durch den disziplinierenden Neoli-
beralismus bedürfe. Andere Formen von         Regulierungsformen variieren in Raum und
gesellschaftlicher Regulierung wurden         Zeit und sind bedingt durch die lokalen Ak-
tendenziell als anachronistisch oder als      kumulationsregime und sozialen Kräfte-
nepotistische Anomalien innerhalb der         konstellationen. Unter den Bedingungen
Weltordnung wahrgenommen, wenn zum            immer stärker finanzialisierter lokaler Ak-
Beispiel Korruptionsbekämpfung an Agen-       kumulationsregime wuchs jedoch deren
den der Neoliberalisierung gekoppelt war.     Abhängigkeit von einer möglichst tiefen
Aufgrund der ausgeprägten Dominanz dis-       Einbindung in globale Zahlungsströme.
ziplinierend-neoliberaler Konzepte und ih-    Unter diesen Umständen wurde diszipli-
rer starken normativen Aufladung («Good       nierender Neoliberalismus für zahlreiche
Governance» etc.) fehlten in führenden        lokale Akteure attraktiv, da sie im globa-
Segmenten der europäischen Staatszivil-
gesellschaftsblöcke3 die intellektuell-kon-
zeptionellen Kapazitäten, den Bias der ei-    3 Mit dem Begriff «integraler Staat» führt Antonio Gramsci die
                                              häufig getrennt voneinander verhandelten Begriffe von Staat
genen Politik aus Sicht der «Anderen»         und Zivilgesellschaft in Form eines gegenseitigen Bedingungs-
wahrzunehmen. Letzteres ist aber für die      verhältnisses zusammen. Gesellschaftliche Hegemonie konstitu-
                                              iert sich in der umkämpften Zivilgesellschaft und ist zugleich die
Formulierung einer umsichtigen und zi-        Voraussetzung für die effektive Ausübung der Staatsmacht; die
                                              führenden Eliten formieren sich sowohl in der Zivilgesellschaft
vilen Außenpolitik von entscheidender         als auch im Staat, diese organische Verbindung bezeichne ich
Bedeutung. Emanzipatorisch-normative          hier als Staatszivilgesellschaftsblock.

                                                                                                            25
Jahren die Erfahrung gemacht, dass ihre
                                            Mitgliedschaft im Gemeinsamen Binnen-
                                            markt zusammen mit wettbewerbsstärke-
                                            ren Ökonomien und der Neoliberalisierung
                                            in Gestalt des Vertrags von Maastricht,
                                            samt seiner Folgeverträge, Tendenzen der
                                            Deindustrialisierung begünstigte und zu
                                            hohen Leistungsbilanzdefiziten führte (vgl.
                                            Becker/Jäger 2012). Innerhalb der diszipli­
       WÄHREND DER DISZIPLINIE-             nierend-neoliberalen Integrationsweise
        RENDE NEOLIBERALISMUS               der EU fehlen aber (auch wegen der we-
        DIE FRAGE DER ÖKONOMIE              nig entwickelten EU-weiten wohlfahrts-
         AUTORITÄR VERHANDELT,              staatlichen Koordinierung) wichtige Trans-
     ÖFFNET ER DEN RAUM FÜR DIE             fermechanismen, um Defizite zwischen
       AUTORITÄR-POPULISTISCHE              den Staaten, die unterschiedliche Produk-
             BEARBEITUNG DIESES             tivitätslevels aufweisen, auszugleichen.
                 WIDERSPRUCHS.              Zudem existiert zwar ein gemeinsamer
                                            Währungsraum, aber keine gemeinsame
                                            Staatsfinanzierung. Ohne diese Faktoren
                                            wäre die ökonomische Krise in Griechen-
                                            land und anderen mediterranen Staaten
                                            der EU infolge der globalen Krise von 2007
                                            so nicht möglich gewesen.

                                            Zudem hat die enge Verbindung von for-
                                            maler Demokratisierung und disziplinie-
                                            rendem Neoliberalismus den Handlungs-
                                            spielraum der progressiven Kräfte stark
len Finanzkapitalismus homogene, das        eingeschränkt: Während in Staaten mit seit
heißt berechenbare Umstände für Inves-      Langem etablierter und institutionell abge-
titionen schaffen. Grundlegende Elemen-     sicherter liberaldemokratischer Praxis dis-
te des disziplinierenden Neoliberalismus    ziplinierender Neoliberalismus eindeutig
werden daher auf der für Elitenakteure      zur Entdemokratisierung tendiert, ergibt
besonders zugänglichen transnationalen      sich in jenen mittelosteuropäischen Staa-
und supranationalen Ebene ausgehan-         ten, in denen der Übergang zu formaler
delt. Doch nicht jedes Paradigma wirkt in   Demokratisierung historisch synchron zur
gleicher Weise auf jede lokale Ökonomie,    Neoliberalisierung stattfindet, ein äußerst
dies gilt auch für den disziplinierenden    ambivalentes Bild. Mit der Einführung libe-
Neoliberalismus. Gerade die mediterranen    raler Demokratie geht dort notgedrungen
EU-Staaten haben in den zurückliegenden     die Akzeptanz eines transnational veran-

26
kerten Wirtschaftsregimes einher, auf das       Bias getragenen (Nachbarschafts-)Politi-
subalterne Kräfte kaum noch Einfluss neh-       ken der EU deren hegemoniales Potenzial
men können.                                     geschwächt, und das, nachdem die füh-
                                                renden EU-Eliten es einige Jahre zuvor
Dies ermöglicht es autoritär-populisti-         überhaupt erst entdeckt hatten.
schen Kräften, die sich selbst wesentlich
auf eine charismatische populare Legiti-        Die Fähigkeit, ein «Empire by Invitation» zu
mation stützen, die im Grundsatz weiter-        konstituieren, bildete die Voraussetzung
hin neoliberale Wirtschaftspolitik popu-        für die Hegemonie der USA in der Nach-
listisch zu repolitisieren und Alternativen     kriegszeit in weiten Teilen der transatlanti-
von rechts zum disziplinierenden Neolibe-       schen Welt. Sie erlaubte innerhalb des he-
ralismus zu platzieren, indem sie die dis-      gemonialen Systems breite Varianzen der
ziplinierend neoliberale Wirtschaftspolitik     lokalen kapitalistischen wohlfahrtsstaat-
lockern. Die tragenden Institutionen des        lichen Arrangements. Darüberhinausge-
disziplinierenden Neoliberalismus (unab-        hend hat die europäische Integration seit
hängige Zentralbanken, technokratische          Maastricht versucht, die Warenproduk­
Regulierungsagenturen etc.) werden dafür        tion und -zirkulation durch Intensivierung
aber nicht nur gezielt geschwächt, sondern      des Wettbewerbs untereinander regula-
ihre Schwächung ist Teil eines weit umfas-      tiv zu vereinheitlichen – ohne gleichzeitig
senderen Angriffs auf bürgerliche Rechts-       die soziale Integration der EU zu vertiefen.
normen insgesamt. Beispiele dafür finden        Es blieb bei einer Pluralität der nationalen
sich innerhalb wie außerhalb der EU: et-        Wettbewerbsstaaten, die sich in ihrer kon-
wa Ungarn unter Viktor Orbán (vgl. Becker       kreten Form überhaupt erst durch den spe-
2020) oder die Türkei unter Recep Tayyip        zifischen Integrationsmodus der EU kon-
Erdoğan.                                        stituierten. In anderen Worten: Die durch
                                                den Integrationsmodus beförderte Form
Während der disziplinierende Neolibera-         konkurrenzgetriebener Pluralität setzte zu-
lismus die Frage der Ökonomie autoritär         gleich der weiteren politischen Vertiefung
verhandelt, sich dabei aber auf eine liberal-   der EU eine inhärente Grenze. Nicht nur
demokratische Rechtfertigungserzählung          aufgrund der Krise der EU, sondern auch
stützt, öffnet er zugleich den Raum für die     aus diesem Modus der europäischen In-
autoritär-populistische Bearbeitung die-        tegration heraus konnte sich daher keine
ses Widerspruchs und für den Übergang           einheitlich koordinierte Außen- und Sicher-
zu mannigfaltigen Formen von politischem        heitspolitik der EU entwickeln, obwohl da-
Autoritarismus. Darüber hinaus ist eine         zu in den 2000er Jahren einige Institutio-
von einem disziplinierend-­n eoliberalen        nen geschaffen worden waren (s.o.).
­­Bias getragene europäische Integration
auch für nicht autoritäre Kräfte keineswegs
zwingend ein attraktives Angebot. Somit
haben die vom disziplinierend-­neoliberalen

                                                                                          27
KRISE DER US-HEGEMONIE –
KRISE DER EURO­PÄISCHEN
INTEGRATION?

Wie eingangs dargestellt, ging die hege-       nommenen Multilateralismus entwickeln.
moniale Rolle der USA in der Nachkriegs-       Hegemoniepolitische Zugeständnisse, die
zeit einher mit umfangreichen hegemo-          einst gemacht wurden, um eine multilate-
nialen Konzessionen, die den Rahmen für        rale Ordnung unter US-Führung zu errich-
einen Multilateralismus unter Führung und      ten, sind in der Folge des relativen Abstiegs
im Interesse der USA schufen. Das Projekt      der USA heute nicht mehr tragbar – so die
der europäischen Integration war darin ein-    unausgesprochene Annahme der trump-
gebettet. Ein möglicher Niedergang der         schen Außenpolitik des «America First».
US-Hegemonie, die spezifischen Formen,         Dies bedeutete jedoch keineswegs einen
damit umzugehen, oder die Versuche, ihn        Verzicht auf hegemoniale Führung, son-
abzuwenden, betreffen damit unmittelbar        dern war der Versuch, die dafür nötigen
jenes äußere Feld, auf dem sich die euro-      Elemente von Zwang und Konsens neu zu
päische Integration entfaltet.                 gewichten. Im Kern wurde der stärker auf
                                               transatlantischen Multilateralismus set-
Mit der trumpschen Außen- und Wirt-            zende Ansatz der Obama-Administration
schaftspolitik erhöhte sich der Druck auf      von der Trump-Regierung durch einen neu-
die Praxen und Strukturen einer multilate-     en, stärker unilateralen Ansatz ersetzt. Da-
ralen Handels- und Wirtschaftspolitik. Dies    mit ist ein steigender Druck auf bestehende
bedeutet nicht, dass die USA eine Abkehr       multilaterale Strukturen innerhalb der
vom Freihandel anstrebten, es ging ih-         trans­atlantischen Ordnung einhergegan-
nen vielmehr um eine Neujustierung des         gen, da der unilaterale Ansatz tendenziell
Freihandels (vgl. Solty 2016) zu Konditio-     bilaterale Verhandlungsformate bevorzugt
nen, die der Leistungsfähigkeit und dem        hat.
spezifischen Wettbewerbsfähigkeitsprofil
ihrer Ökonomie besser entsprechen. Denn        Bewusst oder unbewusst haben die USA
in komplexen, hochgradig institutionali-       mit dieser Form der Rückgewinnung von
sierten multilateralen Verhandlungsforma-      Führungsfähigkeit einen wichtigen sys-
ten können sie ihre Rolle als größte öko-      temischen Pfeiler der europäischen Inte-
nomische und politische Macht der Welt         gration frontal angegriffen: Die EU und
weniger zur Geltung bringen als in bilatera-   ihre Vorgängerinnen konstituierten sich
len. Im Grunde wollten sie Alternativen zu     komplementär in den Räumen, die die auf
einem nunmehr als kostenintensiv wahrge-       Multilateralismus basierende US-Hegemo-

                                                                                         29
nie geschaffen hatte.4 Der Angriff auf die-   ter Trump nicht auf isolationistischem Kurs,
sen Multilateralismus und seine Institutio­   sondern nach wie vor als Führungsmacht
nen verband sich dabei mit der bereits seit   der westlichen Welt. Ihren Angriff auf die
über zehn Jahren andauernden Krise der        multilateralen Formen der Reguliyerung
neoliberalen Integrationsweise der EU.        der Welthandelsordnung verstanden sie
Denn auf kaum einem Gebiet ist die euro-      durchaus als angemessene Maßnahme im
päische Integration nach innen so tief wie    Interesse der westlichen Welt.
im Bereich der Wirtschafts- und Handels-
politik – nirgendwo sonst haben ihre Mit-     Fassen wir die Krisentendenzen zusam-
gliedsstaaten so viele Kompetenzen an die     men: Was nach 1945 den transatlantisch-­
supranationalen EU-Institutionen übertra-     westeuropäischen Raum konstituierte,
gen wie dort. Und daher agiert die EU auf     war nicht nur geopolitisch durch den Aus-
diesem Feld außenpolitisch am geschlos-       gang des Zweiten Weltkriegs und die fort-
sensten und hat hier global das größte Ge-    währende Konfrontation während des Kal-
wicht. Eine Krise der Welthandelsordnung      ten Kriegs begründet. Unter dem Dach der
wirkt unmittelbar auf sie zurück.             US-Hegemonie und ihren multilateralen
                                              Institutionen verfolgten die verschiedenen
Die trumpsche Form der Hegemoniepolitik       Staaten des transatlantischen Raums ih-
war dabei in sich höchst widersprüchlich:     re nationalen fordistisch-wohlfahrtsstaat-
Insofern die USA unter Präsident Trump        lichen Entwicklungspfade. Mit der Krise
zugleich von den meisten Staaten der EU       des Fordismus und der Krise des Goldstan-
einen höheren militärischen Beitrag zur       dards brach in den 1970er Jahren zwar das
NATO einforderten, ist es bemerkenswert,      Bretton-Woods-System zusammen, des-
dass politökonomische und geopolitische       sen Institutionen wurden aber zu den Trä-
Erwägungen kaum miteinander verknüpft         gerinnen der neuen neoliberalen Ordnung.
wurden: Wenn die USA einen höheren Rüs-       Mehr noch: Sie trieben sie aktiv voran und
tungsbeitrag der EU-Staaten haben woll-       globalisierten sie in Gestalt des Washing-
ten, so hätten sie eigentlich angesichts      ton Consensus. In der gegenwärtigen Krise
der Tiefe der Krise der europäischen Inte­    des Neoliberalismus lässt sich zumindest
gration ihren wirtschafts- und handelspoli-   die Frage stellen, inwieweit das trumpsche
tischen Kurs stärker mit der EU abstimmen     Bestreben, Führungsfähigkeit wiederzuge-
müssen, um die ökonomische Grundlage          winnen, die institutionellen Strukturen der
intensivierter rüstungspolitischer Anstren-   gegenwärtigen multilateralen neoliberalen
gungen in Europa nicht zu gefährden. Aller-   Ordnung zur Disposition stellte, im Glau-
dings ist zu bedenken, dass die US-ameri-     ben, den Neoliberalismus jener Ordnung
kanische Forderung nach einem größeren
europäischen Beitrag zu den NATO-Aus-
gaben nicht einhergeht mit einem Wunsch
nach einer größeren geopolitischen Auto-      4 Auch die neokonservative Bush-Administration hatte den Mul-
                                              tilateralismus der Welthandelsordnung trotz einzelner Konflikte
nomie der EU. Die USA sahen sich auch un-     nicht grundsätzlich infrage gestellt.

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