Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
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DIE ZEIT N° 17 APRIL 2019 Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
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Inhalt »Ich sehe Europa sehr gern zusammenwachsen«, sagt der Schauspieler Klaus Maria Brandauer im großen Interview in diesem Heft. Nur so, glaubt Brandauer, könne es »gut ausgehen« mit uns. Auf den folgenden Seiten stellen wir Menschen vor, die den Glauben an den guten Ausgang praktizieren – indem sie Kunst machen: in Worms, Vicenza, Wien, Memmingen, Salzburg, Venedig und anderswo. Reisen Sie mit! HIER MÜSSEN SIE HIN 4 Neun Kulturorte: Geheimtipps und Lieblingsziele, empfohlen von Redakteurinnen und Redakteuren der ZEIT A L L E S I N D S AU E R 10 Theater I: Theresia Walser schreibt für die Salzburger Festspiele eine böse Komödie VON ROLAND MÜLLER Titelfoto: Apollonia Theresa Bitzan; Fotos (v.o.): Florian Monheim/akg; Lena Giovanazzi für DZ; SB/Interfoto; Alle Illustrationen: Studio Pong für DZ 4 Peter Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle in der Eifel ist ein Kulturort, den man erleben sollte L I E B E U N D R AC H E I N WO R M S Theater II: Klaus Maria Brandauer über seine Rolle bei 12 den Nibelungen-Festspielen VON CHRISTIAN GAMPERT WO D I E A L PE N G LÜ H E N 16 Filmfestspiele: Die unvergleichliche Kinomagie des Städtchens Oberaudorf VON KATJA NICODEMUS R ÄT S E L H A F T E K Ü N S T L E R I N 24 Biennale Venedig: Natascha Süder Happelmann bespielt den deutschen Pavillon VON TOBIAS TIMM ÜBERIRDISCHE SCHÖNHEIT 28 Musik: Das Opernfestival im legendären Teatro Olimpico in 10 Im Gespräch: Theresia Walser, Meisterin der Bühnengroteske Vicenza VON HANNAH SCHMIDT S I E E RT R ÄG T K E I N E L A N G W E I L E 3 2 Performance: Die wagemutige Österreicherin Florentina Holzinger will auf der Bühne vor allem sich selbst unterhalten VON ANDREA HEINZ DIE STIMMKÜNSTLERIN 38 Klassik: Ein Interview mit der großen Sopranistin Simone Kermes VON CHRISTINE LEMKEMATWEY 12 Klaus Maria Brandauer (hier ein Bild aus den Siebzigerjahren) spielt Theater in Worms IMPRESSUM 15 K U LT U R S O M M E R 3
K U LT U RO RT E U N S E R E R E I S E Z I E L E Hamburg 9 6 Berlin 2 8 Dortmund 5 Löbau 1 Wachendorf 7 3 4 Wien Schwarzwald Memmingen Hier sollten Sie unbedingt gewesen sein Auf den Feldern der Eifel, im Stummfilmkino, in einer Buche im Schwarzwald – das Wunderbare ereignet sich an den seltsamsten Kulturorten. Fahren Sie los!
1 B RU D E R K L AU S K A PE L L E 2 FUSSBALLMUSEUM Das WM-Jahr unseres Missvergnü- gens ist Gott sei Dank vorbei – Zeit, sich daran zu erinnern, wie un- erschütterbar vom Versagen in rus- sischen Vorrunden der Fußball die Alltagskultur prägt und bereichert. Der beste Ort dafür ist das Deutsche Fußballmuseum am Dortmunder Hauptbahnhof, die Kathedrale – und ein bisschen auch die Rumpel- kammer – für der Deutschen liebstes Spiel. Wie im Kölner Dom gibt es sogar eine Schatzkammer, in der all die WM- und EM-Trophäen in fei- erlicher Stille vor sich hinglitzern. Aber das Haus bietet mehr als eine Devotionaliensammlung (die Hand- schriften des heiligen Sepp Herber- ger, Mario Götzes Schuh aus dem WM-Finale 2014 mit Original- Rasenspuren). Alle paar Monate wird hier eine Art Fan-Messe ge- lesen, mit den schönsten Stadion- Chorälen zum Mitsingen. Lieder aus der Kurve heißt die Reihe, hervorge- Ein feste Burg ist unser Gott, oder an- ein Glaubenszelt mit tropfenförmigem Wie gemacht scheint das kleine gangen aus einer Initiative des Dort- ders gesagt: ein ganz schön grober Grundriss. Dann wuchs, Schicht um Bauwerk, um die vielen harten Gegen- munder Schauspielhauses. Dort lud Klotz. Steht abweisend herum, fremd Schicht, der äußere Betonmantel em- sätze der Gegenwart für einen Augen- die eigens gegründete Band The und rätselhaft. Ringsumher Wälder, por, angerührt mit dem rötlich gelben blick zu transzendieren. Ein Ort, der Mundorgel Project zum Rudelsingen Felder, sanft geschwungene Hänge am Sand aus der Umgebung und auf alt- auf archaische Weise modern ist, aus der legendären roten Volkslieder- Nordrand der Eifel, und mittendrin, hergebrachte Weise gestampft. Viele weich und kantig zugleich, hell und bibel. Beim Liederabend in der Are- zwölf Meter steil, ein Zeichen der Freunde und Mitstreiter der Bauern dunkel. Wer hier eintritt und sich auf na des Museums animieren die vier Uneinnehmbarkeit. Doch sollte sich halfen mit, und als schließlich, für die dem Bänkchen aus Lindenholz nieder- Musiker das Publikum zu den Klas- Fotos: L. M. Peter/akg; Action Press (r.); Illustration: Studio Pong für DIE ZEIT keiner täuschen: Dieser Gott führt oberste Schicht, auch der Architekt lässt, hält Einkehr bei sich selbst und sikern des Genres, von Ihr seid nur ein Doppelleben. Wer hineinschlüpft Hand angelegt hatte, wurde im unwillkürlich Ausschau nach dem ein Karnevalsverein (nach der Melo- durch die dreieckige Pforte, für den Inneren ein Köhlerfeuer entzündet, Höheren. Denn die Kapelle hat keine die von Yellow Submarine) bis zur zieht sich die Welt zusammen. Ab- das so lange schwelte, bis die Fichten- Fenster und kein Dach, nur ein offe- Regionalligahymne mit dem unsterb- weisende Härte wird bergende Stille. schalung halb verkohlt war und man nes Himmelsauge. Und so zieht es den lichen Reim »Fußballzeit bei uns im Zwanzig Jahre ist es her, dass ein die Stämme leicht herausziehen konn- Blick hinauf, wo die Wolken treiben schönen Wattenscheid«. Volkskultur- Bauer und seine Frau auf die Idee ver- te. Zurück blieb: eine Höhle. Rau und oder gerade mal wieder ein kräftiger pflege zum Herzerwärmen. Wer da fielen, am Feldrain, zwischen Dinkel geschwungen die Wände, an denen Schauer hereinpladdert. Hier unten ist beim finalen You’ll Never Walk und wilden Malven, mit einem Ka- sich die Abdrücke der Baumborke zei- man behütet, nicht aber verschluckt. Alone keine Gänsehaut bekommt, pellchen ihre Dankbarkeit zu bekun- gen. Wer möchte, darf das spirituell Man riecht noch das Feuer, fühlt die ist schon durch einen KI-Roboter den: für ein reiches, behütetes Leben. verstehen: als Hinweis auf die An- Erde, spürt die Elemente – und stellt ersetzt. Sie suchten einen Architekten und wesenheit des Abwesenden. sich für einen Moment vor, wie es CHRISTOF SIEMES fragten nicht irgendwen, sondern den Geweiht ist die Kapelle dem Bru- wäre, so ein Leben als Eremit, dem Schweizer Peter Zumthor, der oft als der Klaus, der als Niklaus von Flüe im Wesentlichen verpflichtet. Deutsches Fußballmuseum, Mönch der Moderne beschrieben 15. Jahrhundert von sich reden mach- Dann tritt man hinaus aus Zum- www.fussballmuseum.de wurde, als betonverliebter Mystiker. te, weil er sein Normalleben verließ, thors Einsiedelei, und wie weit ist mit Anfangs brummelte er streng, das ist um fürderhin Gott und ebenso den einem Mal der Horizont, wie hell der so seine Art, doch irgendwann, als die Menschen zu dienen. Ein Eremit und Himmel. Wie schön ist es, in der Bauern schon dachten, es werde wohl ein Schlichter, den man aufsuchte, um Höhle zu sein. Und wie belebend, sie nichts mit ihrem Kirchlein, rückte er politische Streitfälle aufzulösen. Ein zu verlassen. seine Entwürfe heraus. Sehr eigen, Mann, nicht von dieser Welt und HANNO RAUTERBERG sehr wundersam. doch mittendrin – und in dieser intro- Aus 112 Fichtenstämmen ließ vertierten Extrovertiertheit der Zum- Bruder-Klaus-Kapelle, Wachendorf Zumthor eine Art Urhütte aufstellen, thorschen Kapelle sehr ähnlich. www.feldkapelle.de K U LT U R S O M M E R 5
3 K U LT U RO RT E U N S E R E R E I S E Z I E L E T H E AT E R M E M M I N G E N 4 Funken schlagen, folgt einem anderen, übrigens weitgehend ignorierten Ge- setz der Revolution: Gelingen kann sie nur, wenn man beim Vorwärtsstür- men auch das Große im Bestehenden erkennt. Bevor sie nach Memmingen kam, war Kathrin Mädler Dramaturgin und Regisseurin am Staatstheater Nürn- berg und am Theater Münster. In Nürnberg debütierte sie als Regisseu- rin mit Peter Weiss’ dokumentari- schem Theaterstück Die Ermittlung über den Frankfurter Auschwitz-Pro- zess, inszeniert auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. Die Haltung, S C H U B E RT S dass als Bühne nicht nur das Innere H A A R LO C K E eines Theaters taugt, sondern alles, was sich in einen Spielort verwandeln lässt, brachte sie mit ins Allgäu. Am 4. Mai Wie Kleckse kleben die beiden Sie- hat das preisgekrönte Stück Am Boden gel auf dem Papier, als hätte Franz Wenn es derzeit in Deutschland eine großteils im Studio gezeigten Stücke, des amerikanischen Autors George Schubert mit dem Leiermann aus Bühne gibt, die vor Energie fast zu allesamt Versuchsanordnungen aus Brant Premiere: der Monolog einer der Winterreise Blutsbrüderschaft platzen scheint, weil sie sich mit ei- dem Zentrum der Pop- und Medien- jungen Pilotin der U. S. Air Force, die getrunken, mit dem »wunderlichen nem neu durchmischten Ensemble moderne. In der Spielzeit 2017/18 von der Wüste Nevadas aus Drohnen- Alten«, der am Ende dem Winter- fortwährend verwandelt und auspro- war zum Beispiel 4Min 12Sek zu se- einsätze in Afghanistan steuert. Spiel- reisenden beisteht, als Einziger. Zwi- biert und dabei eine ganze Stadt er- hen, ein Stück des britischen Autors ort ist die Lärmschutzhalle des Flug- schen den Siegeln: ein gläsernes fasst, dann diese. Seit drei Jahren zeigt James Fritz. Ausgangspunkt ist das hafens Memmingen. Medaillon, aufgespannt an einer die 43-jährige Intendantin Kathrin Smartphone-Video eines Jugendli- Inzwischen sind die Vorstellungen dünnen Kordel. In diesem Medail- Mädler in Memmingen, wie Gegen- chen, das vielleicht die Vergewalti- fast ausnahmslos ausverkauft, und das lon: eine Locke Franz Peter Seraph wartstheater aussehen kann, das über gung von dessen Ex-Freundin zeigt. Landestheater Schwaben ist wirklich Schuberts, und ob sich das Löck- Programmheftfloskeln hinausweist. Vor Es geht um die Abstumpfung im zu einem Teil der Stadt Memmingen chen nach fast 200 Jahren immer drei Jahren begann sie ihre Amtszeit Zuge digitaler Weltwahrnehmung, geworden – und umgekehrt. Es gibt noch »natürlich« kräuselte oder eher am Landestheater Schwaben mit ei- um destruktive Energien im Netz, eine Lange Nacht der Kultur und zu Staub zerfiele, löste man es aus ner schwebenden, phantasmagorischen um blinde Elternliebe, um Klassen- von Dramaturgen und professioneller seiner Reliquienhaft – wer will das Inszenierung von Henrik Ibsens Peer verhältnisse. Technik begleitete Spielclubs, die in wissen? 1863 wird Schuberts Leich- Gynt. Und schon auf der Premieren- Noch eine Entdeckung der letzten ein Bürgerbühnenwochenende mün- nam auf dem Währinger Ortsfried- party schien sich ein alter Spruch von Spielzeit: Noah Haidles Zwei-Personen- den. Das Theater bespielt die örtliche hof ein erstes Mal enterdigt, man Fidel Castro zu bestätigen: »Revolu- Stück Ada und ihre Töchter über eine Kunsthalle, den Stadtpark, neuerdings nimmt die Maße des Skeletts, tion ist der Kampf zwischen Zukunft abgehalfterte Seriendarstellerin, die in auch eine Freilichtbühne an der Stadt- schneidet besagte Locke ab und lässt und Vergangenheit.« Während näm- einer Mischung aus Wahn, Verdrän- mauer, verwandelt sich im Sommer in ihre Herkunft 1888 – bei der Über- lich die Regisseurin ihre Darsteller mit gung und Selbstbetrug lebt. Permanent einen Biergarten mit aufgeschüttetem führung der Gebeine auf den Wie- einer kleinen Ansprache vorstellte, verwechselt die Schauspielerin Ada Sandstrand und zur Jahreswende in ner Zentralfriedhof – notariell be- zogen ein paar Gäste (gewöhnt an den ihre Fernsehtochter mit ihrer wirk- eine Silvesterparty. Im Mai kommen- urkunden. Urkunde und Medaillon althergebrachten Ablauf des Doppel- lichen Tochter – die ihre Liebe bitter den Jahres wird Memmingen Austra- sind heute in Schuberts Sterbewoh- abonnements: erst Premiere, dann nötig hätte und im Gegenzug ihre gungsort der Bayerischen Theatertage nung in der Kettenbrückengasse im Abendessen) schon mal mit klappern- eigene Scheinwelt erfindet. Mädler sein, mit insgesamt 20 Gastauffüh- Wiener 4. Bezirk zu besichtigen. den Tellern zum warmen Buffet. Dass selbst inszenierte das Stück des ameri- rungen. Gern würde Mädler den Die Locke, das schummrige Gassen- dies heute nicht mehr geschieht, liegt kanischen Autors (Haidle kam auch Theaterplatz dafür wieder zum Strand kabinett, in dem der Komponist daran, dass Mädler und ihr Team (al- zur Premiere) als präzise choreogra- aufschütten lassen. Wobei, das erzählt 1828 starb, syphilitisch und an Ty- len voran die Dramaturgin Anne Ve- fierte Groteske mit sarkastischen sie grinsend, das Wegschaffen des phus, 31 Jahre alt – so viel »reale rena Freybott) das Memminger Publi- Einsprengseln. Setting ist ein ikea- Sandes bis zum letzten Körnchen Gegenwart« bietet eigentlich nur die kum mit fröhlicher Beharrlichkeit er- haftes Bällebad (Bühnenbild: Mareike deutlich aufwendiger gewesen sei als Musik. Die letzten Drehleiertakte obert haben. Im Großen Haus und Delaquis Porschka), aus dem Mutter das Hinkarren. etwa aus der Winterreise, in denen so auf der Studiobühne präsentieren sie und Tochter nur mit Kopf und Ober- In Memmingen wird klar: Ein viel Hoffnung liegt wie Depression. ein auf zwei zentralen Säulen ruhen- körper herausragen. Zwei Frauen in Theater kann nicht darauf warten, CHRISTINE LEMKEMAT WEY des, zu verschiedenen Altersgruppen ihren Blasen. dass die Bürger schon kommen wer- sprechendes Programm: Hier der Zu- Die Hauptrollen dieser beiden den. Es tut gut daran, sich zuzubewe- Schubert Sterbewohnung, Wien, griff auf Klassiker – etwa in der gerade deutschen Erstaufführungen spielten gen auf die, von denen es lebt und für www.wienmuseum.at neu ins Programm aufgenommenen Anke Fonferek und Elisabeth Hütter. die es da ist. Im übertragenen wie im Aufführung der Räuber, inszeniert von Und zwar so hyperpräsent und begeis- konkreten Sinn. Und im Idealfall auf der 27-jährigen Regisseurin Julia ternd, dass man am liebsten sofort einen so mitreißende Weise wie Kathrin Prechsl. Und auf der anderen Seite die Fanclub gründen würde. Fonferek Mädler und ihr Ensemble. Vorstellung zeitgenössischer Erstauf- (48) gehörte bereits vor Mädlers An- KATJA NICODEMUS führungen, mit Vorliebe aus dem eng- kunft zum Ensemble, die freischaffende lischsprachigen Raum. »Unauspro- Hütter (33) wurde von ihr engagiert. Landestheater Schwaben in Memmingen, bierte Texte« nennt Mädler diese Dass beide Darstellerinnen nun solche www.landestheater-schwaben.de 6
5 6 7 S OW J E T I S C H E S E H R E N M A L Noch kahl waren die Bäume an diesem Marmorsarkophage. Auf ihnen sind ersten Frühlingstag, und die ganze, Szenen des Krieges nachgebildet: wunderbar monumentale Anlage ließ vom Überfall auf die Sowjetunion H AU S S C H M I N K E sich umso besser überblicken. Der Ort bis zur Zerschlagung des Nazi-Re- B A L Z E R H E R RG OT T traf mich vor einigen Jahren unvorbe- gimes. Die Drastik wird durch den reitet: dieser windstille Heroismus, die dargestellten Heldenmut gemildert – Weite, die Entschiedenheit des Siegers, und vielleicht dient ja das Heroische vor der man ganz klein und ehrfürch- seit je vor allem zum Trost der tig wurde und ein bisschen verlegen. Hinterbliebenen. Goldene Inschriften Ich wusste schon, dass hier in Berlin- sind auf jedem Sarkophag eingra- Treptow das riesige sowjetische Ehren- viert, Sätze von Stalin, die von »gren- mal steht, erbaut in den ersten Nach- zenloser Tapferkeit«, von »Stand- kriegsjahren, aber ich hatte nicht ge- haftigkeit«, der »Kunst zu siegen« der ahnt, dass es noch so unmittelbar Soldaten erzählen, die millionenfach wirkt. Mit ein wenig Fantasie überträgt im Kampf gegen die Deutschen den sich die erhebende, die heitere, die op- Tod fanden. Zur etwas heiklen Am- timistische Stimmung dieses Geländes bivalenz dieses Ortes zählt, dass im noch heute. Man muss sich hier ge- berechtigten Anliegen, der Gefalle- waltige Massen vorstellen, die im nen zu gedenken und den Humanis- sommerlichen Gleichschritt die Anlage mus zu predigen, sich gleichzeitig durchschreiten, am Abend und mit ein Massenmörder ein Denkmal ge- Die Vorstellung, jemand will nach Fackeln natürlich, man hat nur die ver- setzt hat. Wenn ich an Denkmälern vorbeige- Görlitz, Architektur bestaunen, die einzelten Touristen, Punks und Hips- Die Sowjetunion hat erstaunlich he, packt mich der Vergänglichkeits- herrliche sächsische Renaissance – ter auszublenden, die in unserer Zeit großen Wert darauf gelegt, sich sofort rausch. Er speist sich aus der Gewiss- und braust an Löbau vorbei und für gewöhnlich zwischen den Stein- nach ihrem Sieg geschichtspolitisch zu heit, dass ich in 50 Jahren nicht verpasst Haus Schminke! Schreck- sockeln, den riesigen Skulpturen und verewigen – es ist eine der monumen- mehr sein werde (muss). Schillers lich. Dieses Haus ist ein kleines Flammenschalen eher ratlos und wie talsten von all diesen Stätten in Berlin und Goethes Denkmäler werden Wunder der internationalen Moder- aus der Zeit gefallen umherirren. und Ostdeutschland, die gleich nach aber noch da sein – am selben Ort ne, ein Kunstwerk von Hans Scha- Das Ehrenmal ist ganz auf den auf Kriegsende in Angriff genommen wor- und in vielleicht noch größerer Ein- roun, der sich mit Mies van der einer Anhöhe stehenden, wahnwitzig den sind, als habe es nichts Dringende- samkeit. Diese über ihre Zeit hinaus- Rohe, Le Corbusier und Frank großen Soldaten ausgerichtet. In der res zu tun gegeben. In Treptow hat ragenden Gestalten haben etwas zu- Lloyd Wright ein Nase-an-Nase- Rechten hält er ein Schwert, mit dem sie der damals berühmte Bildhauer tiefst Verlorenes. Anders ist es, wenn Rennen um das erstaunlichste er ein Hakenkreuz zerschmettert hat, Jewgeni Wutschetitsch konzipiert, der ich im Schwarzwald, zwischen Wild- Wohnhaus lieferte. Hier: eine Nudel- in seinem linken Arm ein Kind, das in Wolgograd und Kiew noch weitaus gutach und Neukirch, zum Balzer Fotos (v. l.): Eckhart Matthäus; Wien Museum; Eva Gründemann/ddp; Jürgen Ritter/imago; Andreas Keil/ddp fabrikantenvilla. Sieht aus wie ein in sich an ihn schmiegt. Er blickt ins wuchtigere Monumente errichten ließ. Herrgott gehe. Mit diesem Denkmal Sachsen gestrandetes Schiff, das sich himmlische Weite (die Vollendung An diesem seltsamen Ort hat das verbindet mich etwas: die Hinfällig- mit Schwung aus dem Garten er- des Kommunismus war, ist und bleibt untergegangene Sowjet-Imperium un- keit. Der Balzer Herrgott ist eine in hebt und spielerisch Treppenauf- doch etwas nie Errungenes). Man er- beschadet überlebt. Wer hier hinfährt, eine Buche eingewachsene Christus- gänge und Decks gegeneinander reicht über eine Treppe den Sockel der begreift, dass es sich als ewige Macht figur, die seit einem Jahrhundert mit verschiebt, als vertreibe es sich auf Statue. Von hier oben hat der Besu- dachte, und weiß, dass es nur die paar dem Baum kämpft. Zahlreiche Le- elegante Weise die Zeit bis zur cher das gesamte Ensemble vor Au- Jahrzehnte existierte. Weniges be- genden drehen sich um die Frage, nächsten Sintflut. Hans Scharoun gen. Erst hier erschließt sich ihm, dass rührt doch mehr als etwas Stolzes, das woher die Figur stammt und wer sie war aus Bremerhaven gebürtig, er er an einem Trauerort ist. zerbrach. am Baum befestigt hat, von dem sie liebte nautische Elemente. Virtuos In der Ferne knien zwei steinerne ADAM SOBOCZYNSKI halb verschlungen wurde. Zwischen aber baute der Professor aus Breslau Soldaten mit gesenkten Köpfen, den Weltkriegen, heißt es, seien fluide, atmende Innenräume. In links und rechts der großen Achse, Sowjetisches Ehrenmal noch die Lenden des Christus frei diesem Erdgeschoss tobten einst vier die auf sie zuführen, erblickt man im Treptower Park, Berlin gewesen, nach dem Krieg war sein Kinder durch einen großen pulsie- Rumpf bis zur Brust überwallt. renden Raum, der Küche und Ess- Heute sieht man noch seinen zur zimmer und Wohnbereich umfasste Seite geneigten Kopf und die Hals- und von allen Seiten Licht aus dem grube, der Rest der Gestalt ist um- Garten empfing, der seinerseits Grü- schlossen, wobei das Holz, welches ße in den Wintergarten schickte, wo das Gesicht hält, wie ein Kragen Pflanzen aus dem Boden sprossen. oder ein gewaltiges Geschlechtsteil Im ersten Stock winzige Rückzugs- erscheint. Das Kunstwerk könnte in räume. Stylishes Linoleum, zarte einigen Jahrzehnten völlig ver- Farben. Ab jetzt können Bewunde- schwunden sein. Man steht davor rer diesen restaurierten Klassiker und denkt, womöglich sei im Inne- wieder besichtigen, darin Feste fei- ren aller Dinge Gottes Gesicht zu ern, ja sogar dort nächtigen. sehen und nur hier, im tiefen SUSANNE MAYER Schwarzwald, habe er vorerst darauf verzichtet, es zu bedecken. Haus Schminke, Löbau PETER KÜMMEL www.stiftung-hausschminke.eu Zum Balzer Herrgott führt ein Fußweg, der am Wanderparkplatz bei 78148 Gütenbach beginnt K U LT U R S O M M E R 7
K U LT U RO RT E U N S E R E R E I S E Z I E L E Das Kinopublikum ist verunsichert, restauriert wieder zur Verfügung, be- neue Technologien machen der alten spielt von Anna Vavilkina, der ein- Aufführungsform Konkurrenz. Eine zigen Kino-Organistin Deutschlands Nachricht von heute? Nein, diese mit Festanstellung. Die (fast immer Klage ist über neunzig Jahre alt. Da- ausverkauften) Aufführungen sind von mals, in den späten Zwanzigerjahren faszinierender Intensität, denn dem des vergangenen Jahrhunderts, be- Dirigenten Marcelo Falcão und seinen gann der Siegeszug des Tonfilms, der Musikern gelingt etwas Wunderbares: den Stummfilm abzulösen drohte. Sie schaffen eine magische Zone zwi- Kein Mensch, so schien es, brauchte schen Film und Publikum. Die Live- künftig noch ein Lichtspieltheater mit Musik ist keine akustische Illustration, Live-Orchester und Hauskomponist. sie untermalt nicht bloß das stumme Heute sind es die Streamingdienste, Sprechen. Nein, die Musik ist das Le- die das Kino bedrohen und ihm das bendige; sie vitalisiert die gefrorene Publikum abspenstig machen. Wie die Gestik der Bilder, sie durchdringt den Zukunft des Kinos aussieht, wenn stummen »Text« der Expression und Filme sofort und überall verfügbar macht ihn gegenwärtig. Die Auffüh- sind? Keiner kann’s sagen. rung der Stummfilme bekommt da- Das Berliner Kino Babylon scheint durch etwas Theaterhaftes, als sei sie 8 zu wissen, wie man in diesen Zeiten Kino und Bühne zugleich. überleben kann – mit Stummfilmkon- Neu im Programm ist Paul Czin- zerten. Vor Kurzem hat das Traditions- ners Fräulein Else, ein Stummfilm kino am Rosa-Luxemburg-Platz ein nach der Novelle von Arthur Schnitz- eigenes Orchester gegründet und ant- ler, mit dem am 11. April 1929 das wortet auf die digitale Revolution von Babylon eröffnet wurde. Für dieses heute mit den ästhetischen Mitteln Werk existiert keine eigene Komposi- von gestern. Unter künstlerischer Lei- tion; Hans Brandner und Marcelo tung des Komponisten und Pianisten Falcão haben den Film auf Grundlage Hans Brandner zeigt das Babylon die von Hans Erdmanns Handbuch der klassischen Meisterwerke, Panzerkreu- Film-Musik im Stil der Zeit neu ver- zer Potemkin, Nosferatu, Rosita, Metro- tont. Wie soll man das nennen? Es ist polis oder auch Berlin – Die Sinfonie der weder Remix noch Rekonstruktion, es Großstadt, alle mit Originalmusik. Der ist Neues aus Altem – es ist Kunst. Ort dafür ist ideal. Das Babylon ist THOMAS ASSHEUER einer der letzten erhaltenen Stumm- STUMMFILMKINO filmpaläste Europas, und demnächst Babylon-Kino, Berlin-Mitte, steht auch die prächtige Orgel frisch www.babylon-orchester-berlin.de ANZEIGE
9 Fotos: Roberta Bianchini (l.); Günter Schneider/akg; Illustration: Studio Pong für DIE ZEIT S T. K AT H A R I N E N Licht, Wasser, Wort und Musik, das men. Die Kirche wurde ein aufgeklärt sind die Wirkstoffe jener Schönheit in heller Ort, was auch an der Orgel liegt, Rot, die am Hamburger Zollkanal, im die schon der durchreisende Johann Sand der Elbmarsch steht und selbst Sebastian Bach gern über Stunden bei steigender Flut nicht umfällt, was spielte und die endlich restauriert wer- an sich schon erstaunen kann: St. Ka- den konnte, gut 70 Jahre nachdem die tharinen, eine der fünf Hamburger Bomben sie 1943 zerstört haben. So Hauptkirchen. Es heißt, ihr Turm- ist Katharinen wieder zu einem Klang- schaft aus dem 13. Jahrhundert sei das körper geworden, in dem auch die älteste Bauwerk der Stadt, das aufrecht Stille hell klingt. Aus Licht ist die Kir- steht, in Hamburg ist halt viel Histo- che, weil ihre Pfeiler, strahlend weiß, risches umgefallen, und weniges war im ebenso frisch geweißten Mittel- wirklich alt. St. Katharinen aber, die schiff auf eine Höhe von 29 Meter Wucht aus Backstein, ursprünglich hochstreben. Mag sein, dass die etwa Kirche der Seeleute, steht wind- und gleichaltrige Kathedrale von Chartres wasserfest gegenüber der Speicher- in ihrer Mitte noch fast sieben Meter stadt, wo früher einmal Elbinseln höher strebt. Aber steht sie am Wasser? Grimm, Cremon, Wandrahm oder ELISABETH VON THADDEN Kehrwieder hießen – Wortklang- inseln. Nun tragen die Straßen, die Hauptkirche St. Katharinen, Hamburg St. Katharinen umgeben, diese Na- www.katharinen-hamburg.de NACH DEN LETZTEN TAGEN. EIN SPÄTABEND CHRISTOPH MARTHALER AB 21. AUG 2019 AUDIMAX, RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM ALL THE GOOD JAN LAUWERS, NEEDCOMPANY AB 22. AUG 2019 MASCHINENHALLE ZWECKEL, GLADBECK EVOLUTION GYÖRGY LIGETI, KORNÉL MUNDRUCZÓ AB 05. SEPT 2019 JAHRHUNDERTHALLE BOCHUM NEW CREATION BRUNO BELTRÃO BRUNO BELTRÃO, GRUPO DE RUA AB 06. SEPT 2019 GEBLÄSEHALLE, LANDSCHAFTSPARK DUISBURG-NORD Das ganze Programm 2019 unter ruhrtriennale.de 21. Aug – Gesellschafter und öffentliche Förderer 29. Sept #RT19
Nervöse Akustik Man könnte Theresia Walser die deutsche Meisterin der Bühnengroteske nennen. Derzeit schreibt sie für die Salzburger Festspiele eine Gesellschaftskomödie: »Die Empörten«. Eine Begegnung mit der Dramatikerin VON ROL AND MÜLLER 10 D I E Z E I T
T H E AT E R S A L Z B U RG E R F E S T S P I E L E Die Uraufführung findet im August bei Wenn man so will, ist davon nur der Vorbereitung der Trauerfeier beschäf- mal nichts bleibt als ein Häufchen den Salzburger Festspielen statt, die Ur- tote Bruder übrig geblieben. tigt ist, ist alles getränkt von Aufruhr. Staub, sorgt für permanente unter- Lesung aber schon jetzt: Mit der ersten, ZEIT: Wie ist denn nun die Konflikt- Die Gegenkandidatin, eine Rechts- schwellige Unruhe. fertig ausgearbeiteten Szene ihres Stücks lage des Stücks? populistin, weiß natürlich die Gunst ZEIT: Und auf welchem Boden wächst »Die Empörten« kommt Theresia Walser Walser: Weil die Bürgermeisterin kurz der Stunde zu nutzen. Empörung? zum Treffen ins Freiburger Theatercafé vor den Wahlen steht und um ihre Kar- ZEIT: Und wie heißt Ihre Alice Walser: Zurzeit findet in Berlin eine und schlägt vor, sie an Ort und Stelle riere fürchtet, versteckt sie die Leiche Weidel? Debatte darüber statt, ob man Immo- vorzutragen – Walser ist gelernte ihres Halbbruders Moritz. Walser: Ich will keine Alice Weidel auf bilienkonzerne enteignen soll. Auch Schauspielerin, ihr Talent erweist sich als ZEIT: Warum das? der Bühne. Die Kontrahentin meiner wenn man nicht einfach jemanden unverwüstlich. Übers Manuskript Walser: Tags zuvor ist ein Pizzabote in Bürgermeisterin heißt Elsa Lerchen- enteignen kann, leuchtet ein, wie man gebeugt, führt die 51-Jährige nun ein die Fußgängerzone gerast und hat ei- berg. Es war gar nicht einfach, für diese zu solchen Forderungen kommt. Ich Minidrama auf. Die Szene dreht sich nen Muslim getötet. Bislang weiß nie- Figur eine Sprache zu finden, aus dem habe in Freiburg erlebt, wie die Stadt um die Geschwister Corinna und Anton, mand, wer der Täter ist. Von ihm übrig schlichten Grund, dass die Über- Sozialwohnungen abgestoßen hat. Dort die sich in den »Empörten« zischende geblieben ist nicht viel. Die Bürger- bietungsrhetorik der Rechten schon seit haben Leute gewohnt, die wenig Geld Widerworte liefern, weil sie sich über den meisterin hat jedoch am Tattoo des Tä- einer Weile keine Grenzen mehr kennt. hatten, diese nicht sehr schönen Umgang mit dem Tod ihres Halbbruders ters erkannt, dass es sich um ihren Würde ich auf der Bühne einfach noch Häuser aber über Jahre hinweg in ein Moritz uneins sind. Von ihrem Vater, Halbbruder handelt, und die Leiche einen draufsetzen, hätte man es mit ra- schieres Idyll verwandelt haben. Ich dem Schriftsteller Martin Walser, hat nachts aus der Anatomie geschafft. dikalen Phrasen zu tun. Ich musste habe gesehen, wie schnöselige Makler- Theresia Walser die Gebärdensprache – Man weiß nicht, ob es Mord war oder dieser Figur eine andere Facette geben: typen in Edelkarossen angefahren ka- und vielleicht auch den erstaunten Blick erweiterter Selbstmord oder was auch Elsa Lerchenberg hat eine extreme Be- men, ekelhafte Sätze gegen das alterna- auf die Gesellschaft, deren Wesen eine immer. Die Stimmung in der Stadt ist wegung von links nach rechts gemacht. tive Gesocks und gegen Ausländer von nervöse Dauerempörung ist. ohnehin schon aufgeheizt. Die Bürger- Was ja gar nicht so selten der Fall ist, sich gaben und diese Häuser in meisterin bekommt seit einiger Zeit dafür gibt es eine Menge Beispiele. Windeseile in Luxuswohnungen ver- DIE ZEIT: Frau Walser, nach Ihrer Pakete mit Scheiße, auch ein Eich- ZEIT: Von den Empörten zur Empö- wandelten. Diese Makler hatten etwas Lesung weiß ich, dass Corinna die Bür- hörnchen war dabei, das man an ein rung, die kein Privileg von Pegida ist ... von einer kapitalistischen Sekte, an- germeisterin von Irberstheim ist, die Kreuz genagelt hat. Die rechtspopulis- Walser: Um Empörung kommt kein gefangen beim geschniegelten Haar- sich Hoffnungen auf ein Ministerin- tische Herausforderin der Bürgermeis- Mensch herum. Inzwischen haben wir schnitt bis zum Kommunionsanzug. nenamt macht. Weil ihr Halbbruder terin hat in der gegenwärtigen Lage bei diesem Wort zwar das Gebrüll der ZEIT: Ihr Vater, Martin Walser, war Moritz möglicherweise einen Terror- leichtes Spiel. Der Druck der Straße Pegida-Marschierer im Ohr, doch ohne oft in heftige »Empörungsräusche« ver- anschlag gegen einen Muslim verübt wächst. In Kürze findet im Rathaussaal Empörung hätte es keine Errungen- strickt, in denen er des Nationalismus, hat, bei dem er selbst ums Leben kam, Chauvinismus und Antisemitismus lässt sie Moritz’ Leiche verschwinden. U R AU F F Ü H RU N G geziehen wurde. Reden Sie in der Fa- Genauer: Sie versteckt ihn mit der wi- milie über das Phänomen Empörung? derwilligen Hilfe ihres Bruders Anton »Die Empörten« von Theresia Walser kommt am Walser: Ich verstehe Ihren Wunsch, in der Rathaustruhe. Sie fürchtet so 18. August bei den Salzburger Festspielen heraus. Regie führt dass Sie ins Empörungsthema auch sehr um ihre Karriere, dass sie völlig Burkhard Kosminski. Es spielen Silke Bodenbender, noch meinen Vater mit hineinpacken irrsinnig handelt. Das klingt nach André Jung, Caroline Peters, Sven Prietz und Anke Schubert wollen, allerdings bin ich nicht das öf- schwarzem Humor. fentliche Korrektiv meines Vaters und Theresia Walser: Mit einer versteckten auch nicht seine Gouvernante. Leiche auf der Bühne öffnet man na- ZEIT: Sie haben mir den Anfang der türlich einen Spalt weit die Tür zum die Trauerfeier für die Opfer statt, die schaften wie Menschrechte, Frauen- Empörten wunderbar vorgelesen. Ja Schwank. Aber meine Stücke tendieren Bürgermeisterin muss eine Rede hal- rechte et cetera gegeben. Ohne Empö- mehr noch: lesend aufgeführt. Warum meistens zur Groteske. Die Groteske ist ten. Um die Truhe, in der die Leiche rung keine Demokratie, kein Klima- üben Sie den Beruf der Schauspielerin, schreckensgeladener als die Komödie. liegt, versammelt sich eine Gesellschaft, schutz, kein #MeToo. den Sie in den Neunzigerjahren gelernt Ursprünglich hatte ich mit der Figur die in jeder Hinsicht miteinander ZEIT: Gehört Empörungsbereitschaft haben, nicht mehr aus? der Bürgermeisterin eine Art weibli- verstrickt ist. Inzwischen heißt das zur Grundausstattung des Menschen? Walser: Ich habe nie zu den Schau- chen Kreon im Sinn, also jenen Herr- Stück Die Empörten und nicht mehr Walser: Die Frage ist immer: Geht es spielerinnen gehört, die aus ihrem scher von Theben, der Antigone ver- »Kreons Schwester«, wie der ursprüng- im weitesten Sinn um Selbsterregung Lampenfieber das Beste machen konn- bietet, ihren Bruder zu bestatten, weil liche Arbeitstitel gelautet hat. oder um eine Sache, für die es sich zu ten. Aus lauter Panik, auf der Bühne er die Stadt angegriffen hat. In den ZEIT: Die Empörten ist besser. kämpfen lohnt. Man kann beides zwar nicht natürlich zu wirken, habe ich an- meisten Aufführungen wird Kreon als Walser: Allerdings klingen bei der meist nicht fein säuberlich trennen, gefangen, meine Rollentexte in Sub- kalter Machtpolitiker dargestellt, der Bürgermeisterin immer noch Sätze aber es macht einen Unterschied, ob texte zu übersetzen. Ich habe noch Rol- keine Gnade kennt. dieses weiblichen Kreon an. Einmal ich vor allem einen Entladungsrausch lenbücher von früher, in denen neben ZEIT: Und Sie fordern jetzt mehr als sagt sie zu ihrem Bruder Anton, der erleben will oder ob ich mich tatsäch- meinem Rollentext haufenweise Sub- zwei Jahrtausende später Gerechtigkeit eine Szenekneipe führt: »Ich kann lich für etwas engagiere. Manchen text steht. Ich habe also mit zwei für Kreon? nicht die Moral wie eine Monstranz Leuten geht es derzeitig ja mehr um schriftlich fixierten Texten gearbeitet: Walser: Ich wollte zumindest jene Am- vor mir herumtragen, das können bloß Zerstörung als darum, etwas zu ver- mit einem zum Fühlen und einem zum bivalenz herausstellen, mit der er zu- Leute wie du, ohne jede Konsequenz.« ändern und aufzubauen. Gegenwärtig Sprechen. Können Sie sich diesen Irr- rechtkommen muss, und zeigen, wie Um »Kreons Schwester« hinter mir zu heizen populistische Stimmungs-DJs sinn vorstellen? schwer es ist, in der Geschichte immer lassen, musste ich vom Erhabenheits- den mobilen Stammtisch an. Das Em- ZEIT: Haben Sie deshalb mit dem nur das Arschloch gewesen zu sein. Ich Gebirge des Sophokles herabsteigen. pörungsklima ist enorm. Selbst die Schreiben angefangen? wollte diese Figur rehabilitieren. Bei dem Titel Die Empörten kommen Mächtigen empören sich ständig, wie Walser: Ich habe angefangen, mir Rol- Schließlich ist Kreon der wahrhaft einem heutzutage natürlich unwillkür- man nicht nur an Trump sieht. Barack len zu schreiben, die mir als Schau- Foto: Lena Giovanazzi für DIE ZEIT Zerrissene in dieser Tragödie, während lich Bilder in den Sinn. Obama hat vor einem halben Jahr ge- spielerin gefehlt haben. Ich wollte Antigone keine tragische Figur ist. Sie ZEIT: Was für Bilder sind das in Ihrer sagt: »Ich weiß gar nicht, warum diese nicht ständig das hysterische, heulende darf ihre Gefühle uneingeschränkt Komödie? Leute so wütend sind, sie sind doch an Opfer spielen oder als rätselhafte, un- ausleben, etwas anderes interessiert sie Walser: Das Gesellschaftsklima, in der Macht!« Wir alle verfügen über erreichbare Sehnsuchtsboje auf der auch nicht. Und diese Gefühle sind dem dieses Stück spielt, ist von Anfang genug Stoff, um aus der Haut zu fah- Bühne herumstehen. Ich wollte nicht vollkommen eindeutig. Kreon darf an überreizt. Als atmosphärisches ren. Schließlich rumoren in jedem mehr diese Frauenrollen, die Männern sich einen solchen Gefühlsaufruhr Grundrauschen hört man im Rathaus- von uns Bodenlosigkeiten, angefangen Anlässe bieten, ins existenzielle Tru- nicht leisten, sonst würde das Ge- saal fast ständig das Empörungsgegröle von Existenzängsten, die sich nicht deln zu kommen, womit sie Lacher meinwesen zusammenbrechen. Aber von der Straße, mal mehr, mal weniger. nur aufs Materielle beziehen. Allein vom Publikum ernten. Es ist nicht ein- das Stück hat sich während der Arbeit In diesen Rathausmauern herrscht eine die Tatsache, dass das Leben recht zusehen, warum Männer immer die vom Antigone-Kreon-Konflikt gelöst. nervöse Akustik. Während man mit der schnell vorbeigeht und von uns ein- besseren Pointen haben sollen. K U LT U R S O M M E R 11
F E S T I VA L N I B E LU N G E N I N WO R M S Klaus Maria Brandauer in den Achtzigerjahren ... »Wir müssen im Reden bleiben!« Klaus Maria Brandauer spielt bei den Nibelungen-Festspielen den Hagen. Ein Gespräch über Rache, Hass und Hoffnung VON CHRISTIAN GAMPERT Klaus Maria Brandauer, 75, ist einer Klaus Maria Brandauer: Ich hab Die nehmen. Die Konstruktion ist: Ein der großen Schauspielstars deutscher Welt im Rücken von Thomas Melle ge- Kind sieht die Welt und wird ermordet, Sprache. Zu internationalem Ruhm sehen, die Theaterfassung mit Joachim nämlich Kriemhilds Sohn Ortlieb, und kam er mit den Filmen »Mephisto« Meyerhoff am Burgtheater. Und das schaut dann zurück auf das Leben sei- und »Jenseits von Afrika« und als Böse- hat mich sehr beeindruckt. Ein paar ner Verwandten. wicht im James-Bond-Film »Sag niemals Wochen später kam die Anfrage, ob ich ZEIT: Melle beginnt mit dem Gemet- nie«. Im Sommer wird er bei den mich mit Thomas Melle treffen möch- zel an Etzels Hof und erzählt dann in Nibelungen-Festspielen in Worms in te, der gerade ein Nibelungen-Stück für Rückblenden. Er fragt: Was ist Schick- Thomas Melles Stück »Überwältigung« Worms schreibt. Da hab ich gesagt: sal, und wo könnten sich die Figuren den Hagen von Tronje spielen. Wir Man kann ja drüber reden ... auch ganz anders verhalten ...? treffen Brandauer in Worms. Er ZEIT: Was verbindet Sie mit Thomas Brandauer: Melle möchte klarmachen: entschuldigt sich, er sei wegen der vielen Melle? Spüren Sie eine Gemeinsamkeit? Es gibt immer auch Alternativen, und Arbeit übermüdet und »nicht gut drauf«, Das Rasende, Rastlose, Verrückte, das dann würde die ganze Nibelungensage aber das stimmt natürlich gar nicht. seinen Roman Die Welt im Rücken aus- vielleicht einen anderen Verlauf nehmen. zeichnet, müsste Ihnen aus vielen Rol- ZEIT: Steckt da der sehr deutsche DIE ZEIT: Herr Brandauer, Sie ma- len bekannt vorkommen. Wunsch dahinter, die Geschichte um- chen Sommertheater – aber diesmal Brandauer: Melle versucht eine neue zuschreiben? nicht in Salzburg, wo Sie den Jeder- Sicht auf den Nibelungen-Stoff. Er Brandauer: Ja. Das geht natürlich mann gespielt haben, sondern in zeigt, dass Menschen in ihrem Leben nicht. Aber es ist eine Möglichkeit, Worms. Wie kam es dazu? verschiedene Erscheinungsformen an- über Geschichte nachzudenken. 12 D I E Z E I T
... und vor wenigen Tagen in Worms ZEIT: Sie spielen den Hagen von Tron- sie zumindest aufregend, aber das funk- samtes Unheil wird von uns selbst an- je – einen kühlen Strategen, aber auch tioniert nicht. gerichtet. Auch wenn wir mit den eine hasserfüllte Figur. Welche Rolle ZEIT: Sie überraschen mich! Hagen, besten Absichten antreten, es entglei- kann der in einer solchen Konzeption der einsame Wolf ... tet uns früher oder später. Kriemhild haben? Er ist die treibende Kraft. Brandauer: Ja, auch – aber eben nicht macht ja auch eine große Entwicklung Brandauer: Auf der einen Seite ist er nur. Ich finde es immer spannend, einer durch, sie ist nicht von Anfang an die sehr gerne der Diener seines Königs. Figur am Anfang eine solche Kompo- Rachegöttin. Deshalb finde ich ja die Das ist für ihn die Voraussetzung für nente mitzugeben, die man dann wie- Verbindung von Hagen zu ihr so alles. Er steht – nibelungentreu – zu der über Bord werfen kann. Das kann interessant. seinem schwachen Gunter. Er versucht auch noch viel absurder sein. Ich brau- ZEIT: Rache ist ein starkes Motiv heu- das Machbare zu schaffen, er analysiert, che solche Möglichkeitsräume, aus de- tiger Politik. Bei Trump, im Nahen und er handelt, nicht ohne Rücksicht nen ich mich bedienen kann. Osten, bei Putin, Erdoğan ... zu nehmen, aber wenn ihm etwas un- ZEIT: Aber Hagen ist doch ein Scharf- Brandauer: Ja, das ist so, und die Reso- ausweichlich erscheint, stellt er sich macher – politisch, nicht erotisch. Ein- nanz darauf ist enorm. Das nimmt nicht dagegen. Er ist Realpolitiker. gebunden in Loyalitäten. Von Heiner einen zu großen Raum ein, glaube ich ZEIT: Fällt Ihnen eine Figur aus der Müller gibt es, in Germania Tod in Ber- inzwischen. Denn alles, was nicht in Politik ein, die ihm da ähnlich wäre? lin, einen schönen Dialog dazu. Einer diese Richtung geht, das kommt zu Brandauer: Sicher, aber ich sag’s lieber sagt: Ich weiß immer noch nicht, wa- wenig vor. Besonnenheit und Reflexion nicht. Nein, im Ernst: So eins zu eins rum wir uns hier mit den Hunnen he- haben gerade keine Konjunktur. Das läuft das nicht. Es geht ja im Theater rumschlagen. Antwort: Bist du ein kann ich nur feststellen und beklagen, immer darum, einen kompletten Hunne, dass du zum Kämpfen einen ich habe auch kein Rezept dagegen. Fotos: United Archives/Prisma (Ausschnitt; l.); [M] Star-Media/Imago Menschen zu zeigen, mit seinen Licht- Grund brauchst? Außer vielleicht die Nibelungen in diese und Schattenseiten und nicht nur ein Brandauer: Heiner Müller wusste Richtung zu denken, das ist ja die vor- Abziehbild. Gerade was hinter einer aber auch, dass das Politische und das dringlichste Aufgabe von Theater: die öffentlichen Person steht, macht diese Erotische gar nicht so fern vonein- Welt reflektieren! ja auf der Bühne erst interessant, der ander liegen! Er kannte die Welt, und ZEIT: Wann haben Sie denn in sich Moment, wenn die Kamera ausgestellt er kannte die Menschen und war des- den Wunsch gespürt, Schauspieler zu wird. halb überzeugt davon, dass es mit uns werden und sich auf der Bühne durch- ZEIT: Das Stück von Thomas Melle nicht mehr aufwärtsgeht, sondern nur zusetzen? Ihr Beginn am Landestheater heißt Überwältigung. Wer wird wovon noch vorwärts, und selbst das ist in- Tübingen war nicht unbedingt erfolg- überwältigt? zwischen nicht mehr sicher. Unser ge- versprechend ... Brandauer: Wir werden alle ständig Brandauer: Ja, Tübingen. Achalmstra- überwältigt, von Gefühlen, die einfach ße 18. Da hab ich als junger Kerle ein so über uns kommen. Die Frage ist, wie Reihenhaus gemietet von einem Ober- sehr man diesen Impulsen nachgibt. Ü B E RWÄ LT I G U N G regierungsrat. Der hat mich im Theater Wenn man alle unterdrückt, verleugnet gesehen. Shakespeare, Maß für Maß. man sich selbst, und wenn man allen Das Stück von Thomas Melle läuft in Vorher wurde Julius Caesar inszeniert, Raum gibt, wird man irgendwann zum Worms vom 12. bis zum 28. Juli. und ich war der Lustknabe Lucius und Tier. Auf der Klaviatur spielen wir alle, Außer Klaus Maria Brandauer spielen hatte drei, vier Sätze. Und war jeden mal besser, mal schlechter. Und da setzt unter anderen Inga Busch, Kathleen Tag auf der Probe. Manchmal bin ich ja auch das Theater an. Hagen fühlt Morgeneyer und Alexander Simon auch an die Uni gegangen, zu Schade- sich von Kriemhild angezogen, findet waldt. Frisch aus Altaussee, vom Land 13
kommend. Vorher ein bisschen Schau- tät zum Bösen hatte er mit dem Ha- habt! Und das ist beim Hagen über- spielschule in Stuttgart. Da bin ich aber gen gemein. haupt nicht der Fall, der ist seinem abgegangen. Na ja, meine Freundin Brandauer: Ich empfinde den Höfgen Gunter treu, der holt dem die Kas- bekam ein Kind, ich musste was arbei- bis heute nicht per se als böse, genauso tanien aus dem Feuer. Aber, da haben ten. Und ich hab dann den Lustknaben wenig wie den Hagen. Der fühlt eine Sie recht, er versucht auch nicht, das nicht spielen müssen, weil der Inten- Verpflichtung gegenüber seinem Kö- Massaker zu verhindern. Er geht da dant sagte, der kann das nicht ... nig, die natürlich zu weit geht. Und hin. Aber er gewinnt dabei gar nichts. ZEIT: Sie konnten den Lustknaben auch das muss man sagen: Er ist nicht ZEIT: Er hat eine Todessehnsucht. nicht? der einzige Mörder bei den Nibelun- Brandauer: Ja, das kann gut sein! Brandauer: Nicht ich! Ich konnte den gen. Die ganze Familie besteht ja aus Aber er möchte das, was er tut, eigent- Lustknaben schon, der Regisseur Mord und Totschlag. Die Kriemhild lich nicht machen. So lese ich den konnte es nicht. Sagte der Intendant. wird ja auch erst mit ihren Rache- Text von Melle. Dass man immer Dabei war das ein berühmter Mann, gelüsten intelligenter ... noch mal anfangen kann – und dann der mit Max Reinhardt gearbeitet ZEIT: Und auf der Bühne ist das Böse doch das Böse macht. Leider ist er hatte. Dann hat der Intendant Herte- meist effektvoller als das Beschwören nicht in der Lage, etwas zum Besseren »Seit ich einigermaßen erwachsen bin, kann ich mit Nationalitäten wenig anfangen. Ich sehe Europa sehr gern zusammenwachsen« rich Maß für Maß inszeniert, ich hab einer besseren Welt. Eine bessere Welt zu wenden. Oder er gibt auf, obwohl den Liebhaber Claudio gespielt. Das fordern – das machen die Schüler, die er es gerne erreichen würde ... war ganz gut, dann hab ich meine jeden Freitag demonstrieren. ZEIT: Sie sind in Österreich auf dem erste Kritik gekriegt, von einem ge- Brandauer: Im Vergleich zu den Land aufgewachsen. Sie haben aber wissen Christoph Müller: »Bemer- Schülerdemos ist das Theater Folklore. auch Teile Ihrer Kindheit in Deutsch- kenswert ist die schöne Dringlichkeit, Wenn sich eine Generation in ganz land verbracht. Ihr Vater war Deut- mit der Klaus Maria Brandauer sei- Europa aufmacht und zu Recht eine scher, Ihre Mutter Österreicherin. Als nem schwer geprüften Liebhaber Antwort auf die entscheidende Zu- was fühlen Sie sich? Claudio Überzeugungskraft zu geben kunftsfrage unseres Planeten einfordert, Brandauer: Seit ich einigermaßen er- bemüht ist ...« dann hat das eine vollkommen andere wachsen bin, kann ich mit Nationalitä- ZEIT: Sie können es immer noch Dimension als unsere paar Hundert ten wenig anfangen. Ich sehe Europa auswendig. Theateraufführungen am Freitagabend, sehr gern zusammenwachsen. Ich den- Brandauer: Ja, am Anfang war es am so gut die alle auch im Einzelnen sein ke, dass das die einzige Möglichkeit ist, Theater ziemlich mühelos für mich. Ich mögen. Ich bin sehr für beides, aber ich dass es gut ausgehen kann. Das hat sehr hatte keine festen Vorstellungen vom mag das nicht zusammendenken oder früh angefangen. Ich bin in Altaussee Berufsleben. Ich bin dann nach Salz- gar gegeneinander ausspielen! Theater aufgewachsen, das war herrlich, Dach- burg gekommen und hatte ziemlich viel wird die Welt nie retten, das war ja stein, Berge, Schnee. Da fühl ich mich Glück ... auch beim Höfgen nicht die Frage, bei wohl. Ich hab aber sehr früh bemerkt, ZEIT: Wir müssen natürlich über ihm ging es darum, dass er sich selbst dass andere Leute auch eine Heimat Mephisto reden. Sie haben 1981 in rettet. Er musste straucheln – weil er haben, aber vertrieben wurden. Heimat dem Film von István Szabó den ein Schauspieler war und in dieser Zeit ist keine Selbstverständlichkeit. Die Hendrik Höfgen gespielt, einen Karriere machen wollte. Steiermark, ja. Dass das in Österreich Schauspieler-Aufsteiger, der an Gus- ZEIT: Gustaf Gründgens war ein welt- liegt – da bin ich auch nicht beleidigt. taf Gründgens angelehnt war und bei gewandter, alerter Mensch. Schön ist, dass das in Europa liegt. den Nazis als Intendant Karriere Brandauer: Das stimmt. Und stimmt ZEIT: Mit Europa sieht es ja nicht so macht. Den Nihilismus, diese Affini- auch wieder nicht. Angst hat er ge- gut aus im Moment. 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F E S T I VA L N I B E LU N G E N I N WO R M S Brandauer: Nein, es sieht gar nicht gut Wir müssen im Reden bleiben, auch ZEIT: Die Wormser Aufführung findet aus. Es sieht schrecklich aus, und gele- wenn wir unterschiedlicher Meinung ja vor dem Dom statt, und Sie haben gentlich habe ich ganz körperlich das sind! schon angedeutet: Sie sind religiös. Gefühl, als würde mir das wehtun! Und ZEIT: In Deutschland müsste dann die Brandauer: Ja. Ich bin katholisch auf- das tut es vielleicht auch. AfD mit der Linken reden und um- gewachsen. Ich kann es nicht gut erklä- ZEIT: Der Brexit? gekehrt. ren. Ich kann nur sagen, dass es mir et- Brandauer: Ja, natürlich der Brexit, Brandauer: Die verständigen sich na- was bedeutet. Und es ist nicht nur der aber ganz Europa driftet nach rechts. türlich nicht. Und doch hat man Zauber der Kultur, in eine Kirche zu ge- ZEIT: Vielleicht ist das kulturelle Eu- manchmal das Gefühl, das müsste ge- hen, zu singen, Kirchenmusik. Nein, es ropa ja etwas anderes als das politische hen, das könnte ein Weg sein. gibt mir ein Gefühl der Heimat. Ich Europa. ZEIT: Dann müssten auch die Hunnen fühle mich, komisch, wenn ich das sage, Brandauer: Ja, das ist so, und zwar seit und die Burgunden sich verständigen ich fühle mich wie in einer Familie, in längerer Zeit schon wieder. können. der weiß Gott genug schlimme Dinge ZEIT: Was wäre denn zu tun? Brandauer: Ja, gute Frage! Das hängt passieren, trotzdem fühle ich mich be- Brandauer: Wir müssen den Leuten einfach mit den Menschen zusammen, schützt. Die Geschichte von Jesus, das sagen, was in zehn Jahren sein wird, mit Gesichtern und mehr oder wenig freut mich. Ich weiß nicht, ob ich für wenn wir nicht jetzt diese Herausforde- schlechten Absichten. Die stehen ja den Glauben kämpfen würde. Ich hoffe, rung annehmen. Und annehmen heißt: nicht plötzlich auf und bekämpfen ich könnte standhaft sein, wenn die ganz ehrlich darüber sprechen. Und einander. Sondern das ist eine viel Drohung kommt: Gleich wirst du vom einige Länder in Europa reden nicht ältere Geschichte, die Geschichte der Hradschin runtergeschmissen, weil du ehrlich darüber. Da wird als Erstes ge- Nibelungen. Wir müssen diese Ge- katholischer Statthalter bist. sagt: zumachen. Und das ist unmöglich. schichte auf die Bühne bringen, weil ZEIT: Hat Thomas Melle eine poli- Eigentlich müssten wir jeden Tag auf wir wissen, dass wir in Gefahr sind, tische Absicht mit seinem Stück? die Straße gehen und nicht nur Greta wie diese Figuren zu werden. Ich habe Brandauer: Die Nibelungen wurden Thunberg! Melle so gelesen, dass es immer oft gespielt als Faschistentruppe. Bei ZEIT: Wir? Alternativen gibt. Ob die dann ver- Melle geht es aber darum, zu zeigen, wo Brandauer: Ja natürlich, wir! Ich geh ja wirklicht werden, ist eine andere der Weg hingehen könnte. Ob das auch ... Frage. Vier, fünf Leute machen alles überhaupt möglich ist. Da braucht man ZEIT: Sie gehen freitags mit den kaputt. Warum? Weil sie Menschen keine zweite Ebene. Schwarz – weiß: Schülern demonstrieren? sind. Das stimmt heute nicht und hat damals Brandauer: Ich bin in Österreich ZEIT: Weil sie gekränkt sind. Wer geht bei den Nibelungen nicht gestimmt. einige Male auf den großen Donners- zuerst die Domtreppe hoch? Wer Mit solch einfachen Gegensätzen kom- tagsdemos gewesen – gegen die Re- kommt zuerst die große Showtreppe men wir doch überhaupt nicht weiter. gierung, gegen die Migrationspolitik. herunter? Die Welt ist kompliziert, aber das darf Aber ich sage auch immer wieder: Brandauer: Furchtbar. uns nicht entmutigen! IMPRESSUM Chefredakteur: Giovanni di Lorenzo Layout: Anne Franke 20095 Hamburg, Telefon: 040/32 80-0, Bastian (verantwortlich), Oliver Nagel Matthias Weidling (Verlagsleitung Stellvertretende Chefredakteure: Bildredaktion: Jutta Schein Fax: 040/32 71 11 Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei Vermarktung), Nathalie Senden (stellv.) Moritz Müller-Wirth, Sabine Rückert, (kommissarisch verantw.), Navina Reus E-Mail: DieZeit@zeit.de GmbH, Kurhessenstr. 4–6, Tabloid-Sonderpreisliste 2019 Bernd Ulrich Dokumentation: Mirjam Zimmer © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & 64546 Mörfelden-Walldorf; Anzeigenstruktur: Ulf Askamp Chef vom Dienst: Iris Mainka (verantwortlich) Co. KG, Hamburg Axel Springer Offsetdruckerei Ahrens- Leserbriefe: Zeitverlag Gerd Bucerius (verantwortlich), Mark Spörrle Korrektorat: Thomas Worthmann Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser burg GmbH & Co. KG, Kornkamp 11, GmbH & Co. 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