Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers

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Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
DIE ZEIT N° 17 APRIL 2019

Die freie Radikale
Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger.
Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
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           Liebe Leserinnen,
           liebe Leser,
           der Frühling hat Einzug erhalten, und
           weckt die Reiselust. Als exklusiver Reise-
           veranstalter der ZEIT stellen wir Ihnen
           heute eine Auswahl der schönsten Reisen

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           aus unserem aktuellen Programm vor.
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           unserer Website nach interessanten Rei-                          Die 45. Ballett-Tage vereinen Klassik und Innovation auf Spitzenniveau. Tanzlegende Manuel Legris bringt Nu-
           sen oder rufen Sie uns an, wir beraten Sie                       rejews Meisterwerk »Don Quixote« für das Hamburger Ballett auf die Bühne, während Het Nationale Ballett
           gerne persönlich. Wohin Ihre Reiselust Sie                       Tanz-Avantgarde »made in the Netherlands« zelebriert. Werfen Sie zudem einen exklusiven Blick hinter die
                                                                            Kulissen des Hamburger Balletts, und entdecken Sie Hamburg aus einer ganz neuen Perspektive!
           auch trägt – wir freuen uns auf Sie!
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           Ihr Team von ZEIT REISEN                                             www.zeitreisen.zeit.de/hamburger-ballett

           Münchner Festspiele                         MUSIKREISE           Gstaad Menuhin Festival                            MUSIKREISE            Ruhrtriennale 2019                           MUSIKREISE
           Zu den Münchner Opernfestspielen werden in der                   Unter dem Thema »Paris – Carrefour Musical« hat                          Das Festival für Musiktheater, Schauspiel, Tanz,
           Bayerischen Staatsoper die besten Produktionen                   Festivalintendant Christoph Müller führende franzö-                      Performance, Konzert und bildende Kunst lädt
           der vergangenen Spielzeit mit den Gesangs-Stars                  sische MusikerInnen sowie bedeutende Orchester                           zeitgenössische Künstler ein, die monumentale In-
           unserer Zeit gegeben: Erleben Sie Anja Harteros,                 eingeladen, um Werke von Ravel, Debussy, Fauré                           dustriearchitektur der Metropole Ruhr zu bespielen.
           Nina Stemme und Jonas Kaufmann in Opern von                      und Bizet aufzuführen. Erleben Sie eine Operngala                        Sie erleben drei Vorstellungen und besuchen die
           Verdi und Puccini, dazu einen Kammermusik-Abend!                 mit Cecilia Bartoli und einen Ausflug nach Bern.                         Ai-Weiwei-Ausstellung der Kunstsammlung NRW.
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               www.zeitreisen.zeit.de/opernsommer                               www.zeitreisen.zeit.de/gstaad                                            www.zeitreisen.zeit.de/ruhrtriennale

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           Český Krumlov                               MUSIKREISE           Grünes
                                                                            Headline
                                                                                   Salzburger Land
                                                                                                 JUBILÄUMSREISE
                                                                                                    KULTURREISE
           An stimmungsvollen Spielorten musizieren zum                     Das
                                                                             Is eatibus
                                                                                  Zusammenspiel
                                                                                         antinve lendanto
                                                                                                       von Architektur
                                                                                                                 mos sandio.
                                                                                                                           undNonsedia
                                                                                                                                 Land-
           Musikfestival Starhornist Radek Baborák und die                  schaft,
                                                                             quas ex von
                                                                                       excerem
                                                                                           Kunst undex ellia
                                                                                                          Natur
                                                                                                              sum,macht
                                                                                                                    officie
                                                                                                                          den
                                                                                                                            nduntionet
                                                                                                                               Charme der od
           Thüringen Philharmonie mit Stefan Kropfitsch. Sie                Mozartstadt
                                                                             modictae non   undprore
                                                                                                  des siminveleste
                                                                                                        Salzburger Landes
                                                                                                                        ipsapicae
                                                                                                                                aus.labores
                                                                                                                                     Kom-
                                                                                                                                                             Jetzt
           erleben »Turandot« im Schlosspark-Freilichttheater               men
                                                                             int. Ipsant
                                                                                   Sie mitommodi
                                                                                            auf einereReise
                                                                                                          nonsenia
                                                                                                                für wahre
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                                                                                                                              qui quament
                                                                                                                                        Sie                bestellen!
           und eine Operngala mit Adriana Kučerová und Ste-                 erleben
                                                                             esequiam diequae
                                                                                           Kultursehenswürdigkeiten
                                                                                                 rerio. Itatiun tenihicil. und natürlich
           panka Pucalkova. Buchen Sie jetzt Ihre Tickets!                  eine   Aufführung
                                                                             Termine:  10.!–!14.5.des  »Jedermann«.
                                                                                                   | 14.!–!18.6.2016      Jetzt
                                                                                                                       Preis: ab buchen!
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                                                                                 040/32!80-455
                                                                                                                                                     In Kooperation mit:
               www.zeitreisen.zeit.de/krumlov                                   www.zeitreisen.zeit.de/salzburgerland
                                                                                www.zeitreisen.zeit.de/link

              www.zeitreisen.zeit.de                                      040/32!80-455
Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
Inhalt
                                                                                                                                                         »Ich sehe Europa sehr gern zusammenwachsen«, sagt der Schauspieler
                                                                                                                                                          Klaus Maria Brandauer im großen Interview in diesem Heft. Nur so,
                                                                                                                                                         glaubt Brandauer, könne es »gut ausgehen« mit uns. Auf den folgenden
                                                                                                                                                        Seiten stellen wir Menschen vor, die den Glauben an den guten Ausgang
                                                                                                                                                            praktizieren – indem sie Kunst machen: in Worms, Vicenza, Wien,
                                                                                                                                                             Memmingen, Salzburg, Venedig und anderswo. Reisen Sie mit!

                                                                                                                                                                                                                             HIER MÜSSEN SIE HIN                                         4
                                                                                                                                                                                                                             Neun Kulturorte: Geheimtipps und Lieblingsziele,
                                                                                                                                                                                                                             empfohlen von Redakteurinnen und Redakteuren der ZEIT

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                                                                                                                                                                                                                             Theater I: Theresia Walser schreibt für die Salzburger
                                                                                                                                                                                                                             Festspiele eine böse Komödie VON ROLAND MÜLLER
Titelfoto: Apollonia Theresa Bitzan; Fotos (v.o.): Florian Monheim/akg; Lena Giovanazzi für DZ; SB/Interfoto; Alle Illustrationen: Studio Pong für DZ

                                                                                                                                                                        4     Peter Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle
                                                                                                                                                                              in der Eifel ist ein Kulturort, den man
                                                                                                                                                                              erleben sollte
                                                                                                                                                                                                                             L I E B E U N D R AC H E I N WO R M S
                                                                                                                                                                                                                             Theater II: Klaus Maria Brandauer über seine Rolle bei
                                                                                                                                                                                                                                                                                       12

                                                                                                                                                                                                                             den Nibelungen-Festspielen VON CHRISTIAN GAMPERT

                                                                                                                                                                                                                             WO D I E A L PE N G LÜ H E N                              16
                                                                                                                                                                                                                             Filmfestspiele: Die unvergleichliche Kinomagie des Städtchens
                                                                                                                                                                                                                             Oberaudorf VON KATJA NICODEMUS

                                                                                                                                                                                                                             R ÄT S E L H A F T E K Ü N S T L E R I N                  24
                                                                                                                                                                                                                             Biennale Venedig: Natascha Süder Happelmann bespielt den
                                                                                                                                                                                                                             deutschen Pavillon VON TOBIAS TIMM

                                                                                                                                                                                                                             ÜBERIRDISCHE SCHÖNHEIT                                    28
                                                                                                                                                                                                                             Musik: Das Opernfestival im legendären Teatro Olimpico in

                                                                                                                                                         10   Im Gespräch: Theresia Walser, Meisterin
                                                                                                                                                              der Bühnengroteske
                                                                                                                                                                                                                             Vicenza VON HANNAH SCHMIDT

                                                                                                                                                                                                                             S I E E RT R ÄG T K E I N E L A N G W E I L E 3 2
                                                                                                                                                                                                                             Performance: Die wagemutige Österreicherin
                                                                                                                                                                                                                             Florentina Holzinger will auf der Bühne vor allem sich
                                                                                                                                                                                                                             selbst unterhalten VON ANDREA HEINZ

                                                                                                                                                                                                                             DIE STIMMKÜNSTLERIN                                       38
                                                                                                                                                                                                                             Klassik: Ein Interview mit der großen Sopranistin
                                                                                                                                                                                                                             Simone Kermes VON CHRISTINE LEMKEMATWEY

                                                                                                                                                                    12        Klaus Maria Brandauer (hier ein Bild aus
                                                                                                                                                                              den Siebzigerjahren) spielt Theater in Worms
                                                                                                                                                                                                                             IMPRESSUM                                                 15

                                                                                                                                                                                                           K U LT U R S O M M E R                                                            3
Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
K U LT U RO RT E U N S E R E R E I S E Z I E L E

                                         Hamburg

                                           9                   6
                                                                 Berlin

                       2                                   8
                     Dortmund                                     5
                                                                Löbau

               1   Wachendorf

                          7                 3                             4
                                                                          Wien
                        Schwarzwald      Memmingen

    Hier sollten Sie
      unbedingt
     gewesen sein
Auf den Feldern der Eifel, im Stummfilmkino, in einer Buche im Schwarzwald –
 das Wunderbare ereignet sich an den seltsamsten Kulturorten. Fahren Sie los!
Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
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                                                                                                                              B RU D E R  K L AU S  K A PE L L E

                                                                                                                                                                                                                           2
                                                                                                                                                                                                                      FUSSBALLMUSEUM

                                                                                                                                                                                                                     Das WM-Jahr unseres Missvergnü-
                                                                                                                                                                                                                     gens ist Gott sei Dank vorbei – Zeit,
                                                                                                                                                                                                                     sich daran zu erinnern, wie un-
                                                                                                                                                                                                                     erschütterbar vom Versagen in rus-
                                                                                                                                                                                                                     sischen Vorrunden der Fußball die
                                                                                                                                                                                                                     Alltagskultur prägt und bereichert.
                                                                                                                                                                                                                     Der beste Ort dafür ist das Deutsche
                                                                                                                                                                                                                     Fußballmuseum am Dortmunder
                                                                                                                                                                                                                     Hauptbahnhof, die Kathedrale – und
                                                                                                                                                                                                                     ein bisschen auch die Rumpel-
                                                                                                                                                                                                                     kammer – für der Deutschen liebstes
                                                                                                                                                                                                                     Spiel. Wie im Kölner Dom gibt es
                                                                                                                                                                                                                     sogar eine Schatzkammer, in der all
                                                                                                                                                                                                                     die WM- und EM-Trophäen in fei-
                                                                                                                                                                                                                     erlicher Stille vor sich hinglitzern.
                                                                                                                                                                                                                     Aber das Haus bietet mehr als eine
                                                                                                                                                                                                                     Devotionaliensammlung (die Hand-
                                                                                                                                                                                                                     schriften des heiligen Sepp Herber-
                                                                                                                                                                                                                     ger, Mario Götzes Schuh aus dem
                                                                                                                                                                                                                     WM-Finale 2014 mit Original-
                                                                                                                                                                                                                     Rasenspuren). Alle paar Monate
                                                                                                                                                                                                                     wird hier eine Art Fan-Messe ge-
                                                                                                                                                                                                                     lesen, mit den schönsten Stadion-
                                                                                                                                                                                                                     Chorälen zum Mitsingen. Lieder aus
                                                                                                                                                                                                                     der Kurve heißt die Reihe, hervorge-
                                                                                    Ein feste Burg ist unser Gott, oder an-     ein Glaubenszelt mit tropfenförmigem           Wie gemacht scheint das kleine        gangen aus einer Initiative des Dort-
                                                                                    ders gesagt: ein ganz schön grober          Grundriss. Dann wuchs, Schicht um          Bauwerk, um die vielen harten Gegen-      munder Schauspielhauses. Dort lud
                                                                                    Klotz. Steht abweisend herum, fremd         Schicht, der äußere Betonmantel em-        sätze der Gegenwart für einen Augen-      die eigens gegründete Band The
                                                                                    und rätselhaft. Ringsumher Wälder,          por, angerührt mit dem rötlich gelben      blick zu transzendieren. Ein Ort, der     Mundorgel Project zum Rudelsingen
                                                                                    Felder, sanft geschwungene Hänge am         Sand aus der Umgebung und auf alt-         auf archaische Weise modern ist,          aus der legendären roten Volkslieder-
                                                                                    Nordrand der Eifel, und mittendrin,         hergebrachte Weise gestampft. Viele        weich und kantig zugleich, hell und       bibel. Beim Liederabend in der Are-
                                                                                    zwölf Meter steil, ein Zeichen der          Freunde und Mitstreiter der Bauern         dunkel. Wer hier eintritt und sich auf    na des Museums animieren die vier
                                                                                    Uneinnehmbarkeit. Doch sollte sich          halfen mit, und als schließlich, für die   dem Bänkchen aus Lindenholz nieder-       Musiker das Publikum zu den Klas-
Fotos: L. M. Peter/akg; Action Press (r.); Illustration: Studio Pong für DIE ZEIT

                                                                                    keiner täuschen: Dieser Gott führt          oberste Schicht, auch der Architekt        lässt, hält Einkehr bei sich selbst und   sikern des Genres, von Ihr seid nur
                                                                                    ein Doppelleben. Wer hineinschlüpft         Hand angelegt hatte, wurde im              unwillkürlich Ausschau nach dem           ein Karnevalsverein (nach der Melo-
                                                                                    durch die dreieckige Pforte, für den        Inneren ein Köhlerfeuer entzündet,         Höheren. Denn die Kapelle hat keine       die von Yellow Submarine) bis zur
                                                                                    zieht sich die Welt zusammen. Ab-           das so lange schwelte, bis die Fichten-    Fenster und kein Dach, nur ein offe-      Regionalligahymne mit dem unsterb-
                                                                                    weisende Härte wird bergende Stille.        schalung halb verkohlt war und man         nes Himmelsauge. Und so zieht es den      lichen Reim »Fußballzeit bei uns im
                                                                                        Zwanzig Jahre ist es her, dass ein      die Stämme leicht herausziehen konn-       Blick hinauf, wo die Wolken treiben       schönen Wattenscheid«. Volkskultur-
                                                                                    Bauer und seine Frau auf die Idee ver-      te. Zurück blieb: eine Höhle. Rau und      oder gerade mal wieder ein kräftiger      pflege zum Herzerwärmen. Wer da
                                                                                    fielen, am Feldrain, zwischen Dinkel        geschwungen die Wände, an denen            Schauer hereinpladdert. Hier unten ist    beim finalen You’ll Never Walk
                                                                                    und wilden Malven, mit einem Ka-            sich die Abdrücke der Baumborke zei-       man behütet, nicht aber verschluckt.      Alone keine Gänsehaut bekommt,
                                                                                    pellchen ihre Dankbarkeit zu bekun-         gen. Wer möchte, darf das spirituell       Man riecht noch das Feuer, fühlt die      ist schon durch einen KI-Roboter
                                                                                    den: für ein reiches, behütetes Leben.      verstehen: als Hinweis auf die An-         Erde, spürt die Elemente – und stellt     ersetzt.
                                                                                    Sie suchten einen Architekten und           wesenheit des Abwesenden.                  sich für einen Moment vor, wie es                CHRISTOF SIEMES
                                                                                    fragten nicht irgendwen, sondern den            Geweiht ist die Kapelle dem Bru-       wäre, so ein Leben als Eremit, dem
                                                                                    Schweizer Peter Zumthor, der oft als        der Klaus, der als Niklaus von Flüe im     Wesentlichen verpflichtet.                     Deutsches Fußballmuseum,
                                                                                    Mönch der Moderne beschrieben               15. Jahrhundert von sich reden mach-           Dann tritt man hinaus aus Zum-              www.fussballmuseum.de
                                                                                    wurde, als betonverliebter Mystiker.        te, weil er sein Normalleben verließ,      thors Einsiedelei, und wie weit ist mit
                                                                                    Anfangs brummelte er streng, das ist        um fürderhin Gott und ebenso den           einem Mal der Horizont, wie hell der
                                                                                    so seine Art, doch irgendwann, als die      Menschen zu dienen. Ein Eremit und         Himmel. Wie schön ist es, in der
                                                                                    Bauern schon dachten, es werde wohl         ein Schlichter, den man aufsuchte, um      Höhle zu sein. Und wie belebend, sie
                                                                                    nichts mit ihrem Kirchlein, rückte er       politische Streitfälle aufzulösen. Ein     zu verlassen.
                                                                                    seine Entwürfe heraus. Sehr eigen,          Mann, nicht von dieser Welt und                  HANNO RAUTERBERG
                                                                                    sehr wundersam.                             doch mittendrin – und in dieser intro-
                                                                                        Aus 112 Fichtenstämmen ließ             vertierten Extrovertiertheit der Zum-         Bruder-Klaus-Kapelle, Wachendorf
                                                                                    Zumthor eine Art Urhütte aufstellen,        thorschen Kapelle sehr ähnlich.                      www.feldkapelle.de

                                                                                                                                                       K U LT U R S O M M E R                                                                                5
Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
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                                                            K U LT U RO RT E U N S E R E R E I S E Z I E L E

                         T H E AT E R M E M M I N G E N

                                                                                                                                         4
                                                                                           Funken schlagen, folgt einem anderen,
                                                                                           übrigens weitgehend ignorierten Ge-
                                                                                           setz der Revolution: Gelingen kann sie
                                                                                           nur, wenn man beim Vorwärtsstür-
                                                                                           men auch das Große im Bestehenden
                                                                                           erkennt.
                                                                                               Bevor sie nach Memmingen kam,
                                                                                           war Kathrin Mädler Dramaturgin und
                                                                                           Regisseurin am Staatstheater Nürn-
                                                                                           berg und am Theater Münster. In
                                                                                           Nürnberg debütierte sie als Regisseu-
                                                                                           rin mit Peter Weiss’ dokumentari-
                                                                                           schem Theaterstück Die Ermittlung
                                                                                           über den Frankfurter Auschwitz-Pro-
                                                                                           zess, inszeniert auf dem ehemaligen
                                                                                           Reichsparteitagsgelände. Die Haltung,
                                                                                                                                             S C H U B E RT S
                                                                                           dass als Bühne nicht nur das Innere               H A A R LO C K E
                                                                                           eines Theaters taugt, sondern alles, was
                                                                                           sich in einen Spielort verwandeln lässt,
                                                                                           brachte sie mit ins Allgäu. Am 4. Mai      Wie Kleckse kleben die beiden Sie-
                                                                                           hat das preisgekrönte Stück Am Boden       gel auf dem Papier, als hätte Franz
    Wenn es derzeit in Deutschland eine         großteils im Studio gezeigten Stücke,      des amerikanischen Autors George           Schubert mit dem Leiermann aus
    Bühne gibt, die vor Energie fast zu         allesamt Versuchsanordnungen aus           Brant Premiere: der Monolog einer          der Winterreise Blutsbrüderschaft
    platzen scheint, weil sie sich mit ei-      dem Zentrum der Pop- und Medien-           jungen Pilotin der U. S. Air Force, die    getrunken, mit dem »wunderlichen
    nem neu durchmischten Ensemble              moderne. In der Spielzeit 2017/18          von der Wüste Nevadas aus Drohnen-         Alten«, der am Ende dem Winter-
    fortwährend verwandelt und auspro-          war zum Beispiel 4Min 12Sek zu se-         einsätze in Afghanistan steuert. Spiel-    reisenden beisteht, als Einziger. Zwi-
    biert und dabei eine ganze Stadt er-        hen, ein Stück des britischen Autors       ort ist die Lärmschutzhalle des Flug-      schen den Siegeln: ein gläsernes
    fasst, dann diese. Seit drei Jahren zeigt   James Fritz. Ausgangspunkt ist das         hafens Memmingen.                          Medaillon, aufgespannt an einer
    die 43-jährige Intendantin Kathrin          Smartphone-Video eines Jugendli-               Inzwischen sind die Vorstellungen      dünnen Kordel. In diesem Medail-
    Mädler in Memmingen, wie Gegen-             chen, das vielleicht die Vergewalti-       fast ausnahmslos ausverkauft, und das      lon: eine Locke Franz Peter Seraph
    wartstheater aussehen kann, das über        gung von dessen Ex-Freundin zeigt.         Landestheater Schwaben ist wirklich        Schuberts, und ob sich das Löck-
    Programmheftfloskeln hinausweist. Vor       Es geht um die Abstumpfung im              zu einem Teil der Stadt Memmingen          chen nach fast 200 Jahren immer
    drei Jahren begann sie ihre Amtszeit        Zuge digitaler Weltwahrnehmung,            geworden – und umgekehrt. Es gibt          noch »natürlich« kräuselte oder eher
    am Landestheater Schwaben mit ei-           um destruktive Energien im Netz,           eine Lange Nacht der Kultur und            zu Staub zerfiele, löste man es aus
    ner schwebenden, phantasmagorischen         um blinde Elternliebe, um Klassen-         von Dramaturgen und professioneller        seiner Reliquienhaft – wer will das
    Inszenierung von Henrik Ibsens Peer         verhältnisse.                              Technik begleitete Spielclubs, die in      wissen? 1863 wird Schuberts Leich-
    Gynt. Und schon auf der Premieren-              Noch eine Entdeckung der letzten       ein Bürgerbühnenwochenende mün-            nam auf dem Währinger Ortsfried-
    party schien sich ein alter Spruch von      Spielzeit: Noah Haidles Zwei-Personen-     den. Das Theater bespielt die örtliche     hof ein erstes Mal enterdigt, man
    Fidel Castro zu bestätigen: »Revolu-        Stück Ada und ihre Töchter über eine       Kunsthalle, den Stadtpark, neuerdings      nimmt die Maße des Skeletts,
    tion ist der Kampf zwischen Zukunft         abgehalfterte Seriendarstellerin, die in   auch eine Freilichtbühne an der Stadt-     schneidet besagte Locke ab und lässt
    und Vergangenheit.« Während näm-            einer Mischung aus Wahn, Verdrän-          mauer, verwandelt sich im Sommer in        ihre Herkunft 1888 – bei der Über-
    lich die Regisseurin ihre Darsteller mit    gung und Selbstbetrug lebt. Permanent      einen Biergarten mit aufgeschüttetem       führung der Gebeine auf den Wie-
    einer kleinen Ansprache vorstellte,         verwechselt die Schauspielerin Ada         Sandstrand und zur Jahreswende in          ner Zentralfriedhof – notariell be-
    zogen ein paar Gäste (gewöhnt an den        ihre Fernsehtochter mit ihrer wirk-        eine Silvesterparty. Im Mai kommen-        urkunden. Urkunde und Medaillon
    althergebrachten Ablauf des Doppel-         lichen Tochter – die ihre Liebe bitter     den Jahres wird Memmingen Austra-          sind heute in Schuberts Sterbewoh-
    abonnements: erst Premiere, dann            nötig hätte und im Gegenzug ihre           gungsort der Bayerischen Theatertage       nung in der Kettenbrückengasse im
    Abendessen) schon mal mit klappern-         eigene Scheinwelt erfindet. Mädler         sein, mit insgesamt 20 Gastauffüh-         Wiener 4. Bezirk zu besichtigen.
    den Tellern zum warmen Buffet. Dass         selbst inszenierte das Stück des ameri-    rungen. Gern würde Mädler den              Die Locke, das schummrige Gassen-
    dies heute nicht mehr geschieht, liegt      kanischen Autors (Haidle kam auch          Theaterplatz dafür wieder zum Strand       kabinett, in dem der Komponist
    daran, dass Mädler und ihr Team (al-        zur Premiere) als präzise choreogra-       aufschütten lassen. Wobei, das erzählt     1828 starb, syphilitisch und an Ty-
    len voran die Dramaturgin Anne Ve-          fierte Groteske mit sarkastischen          sie grinsend, das Wegschaffen des          phus, 31 Jahre alt – so viel »reale
    rena Freybott) das Memminger Publi-         Einsprengseln. Setting ist ein ikea-       Sandes bis zum letzten Körnchen            Gegenwart« bietet eigentlich nur die
    kum mit fröhlicher Beharrlichkeit er-       haftes Bällebad (Bühnenbild: Mareike       deutlich aufwendiger gewesen sei als       Musik. Die letzten Drehleiertakte
    obert haben. Im Großen Haus und             Delaquis Porschka), aus dem Mutter         das Hinkarren.                             etwa aus der Winterreise, in denen so
    auf der Studiobühne präsentieren sie        und Tochter nur mit Kopf und Ober-             In Memmingen wird klar: Ein            viel Hoffnung liegt wie Depression.
    ein auf zwei zentralen Säulen ruhen-        körper herausragen. Zwei Frauen in         Theater kann nicht darauf warten,           CHRISTINE LEMKEMAT WEY
    des, zu verschiedenen Altersgruppen         ihren Blasen.                              dass die Bürger schon kommen wer-
    sprechendes Programm: Hier der Zu-              Die Hauptrollen dieser beiden          den. Es tut gut daran, sich zuzubewe-         Schubert Sterbewohnung, Wien,
    griff auf Klassiker – etwa in der gerade    deutschen Erstaufführungen spielten        gen auf die, von denen es lebt und für             www.wienmuseum.at
    neu ins Programm aufgenommenen              Anke Fonferek und Elisabeth Hütter.        die es da ist. Im übertragenen wie im
    Aufführung der Räuber, inszeniert von       Und zwar so hyperpräsent und begeis-       konkreten Sinn. Und im Idealfall auf
    der 27-jährigen Regisseurin Julia           ternd, dass man am liebsten sofort einen   so mitreißende Weise wie Kathrin
    Prechsl. Und auf der anderen Seite die      Fanclub gründen würde. Fonferek            Mädler und ihr Ensemble.
    Vorstellung zeitgenössischer Erstauf-       (48) gehörte bereits vor Mädlers An-                KATJA NICODEMUS
    führungen, mit Vorliebe aus dem eng-        kunft zum Ensemble, die freischaffende
    lischsprachigen Raum. »Unauspro-            Hütter (33) wurde von ihr engagiert.       Landestheater Schwaben in Memmingen,
    bierte Texte« nennt Mädler diese            Dass beide Darstellerinnen nun solche          www.landestheater-schwaben.de

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Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
5 6 7                                            S OW J E T I S C H E S E H R E N M A L

                                                                                                                                                   Noch kahl waren die Bäume an diesem        Marmorsarkophage. Auf ihnen sind
                                                                                                                                                   ersten Frühlingstag, und die ganze,        Szenen des Krieges nachgebildet:
                                                                                                                                                   wunderbar monumentale Anlage ließ          vom Überfall auf die Sowjetunion
                                                                                                            H AU S S C H M I N K E                 sich umso besser überblicken. Der Ort      bis zur Zerschlagung des Nazi-Re-          B A L Z E R H E R RG OT T
                                                                                                                                                   traf mich vor einigen Jahren unvorbe-      gimes. Die Drastik wird durch den
                                                                                                                                                   reitet: dieser windstille Heroismus, die   dargestellten Heldenmut gemildert –
                                                                                                                                                   Weite, die Entschiedenheit des Siegers,    und vielleicht dient ja das Heroische
                                                                                                                                                   vor der man ganz klein und ehrfürch-       seit je vor allem zum Trost der
                                                                                                                                                   tig wurde und ein bisschen verlegen.       Hinterbliebenen. Goldene Inschriften
                                                                                                                                                   Ich wusste schon, dass hier in Berlin-     sind auf jedem Sarkophag eingra-
                                                                                                                                                   Treptow das riesige sowjetische Ehren-     viert, Sätze von Stalin, die von »gren-
                                                                                                                                                   mal steht, erbaut in den ersten Nach-      zenloser Tapferkeit«, von »Stand-
                                                                                                                                                   kriegsjahren, aber ich hatte nicht ge-     haftigkeit«, der »Kunst zu siegen« der
                                                                                                                                                   ahnt, dass es noch so unmittelbar          Soldaten erzählen, die millionenfach
                                                                                                                                                   wirkt. Mit ein wenig Fantasie überträgt    im Kampf gegen die Deutschen den
                                                                                                                                                   sich die erhebende, die heitere, die op-   Tod fanden. Zur etwas heiklen Am-
                                                                                                                                                   timistische Stimmung dieses Geländes       bivalenz dieses Ortes zählt, dass im
                                                                                                                                                   noch heute. Man muss sich hier ge-         berechtigten Anliegen, der Gefalle-
                                                                                                                                                   waltige Massen vorstellen, die im          nen zu gedenken und den Humanis-
                                                                                                                                                   sommerlichen Gleichschritt die Anlage      mus zu predigen, sich gleichzeitig
                                                                                                                                                   durchschreiten, am Abend und mit           ein Massenmörder ein Denkmal ge-
                                                                                                          Die Vorstellung, jemand will nach        Fackeln natürlich, man hat nur die ver-    setzt hat.                                 Wenn ich an Denkmälern vorbeige-
                                                                                                          Görlitz, Architektur bestaunen, die      einzelten Touristen, Punks und Hips-           Die Sowjetunion hat erstaunlich        he, packt mich der Vergänglichkeits-
                                                                                                          herrliche sächsische Renaissance –       ter auszublenden, die in unserer Zeit      großen Wert darauf gelegt, sich sofort     rausch. Er speist sich aus der Gewiss-
                                                                                                          und braust an Löbau vorbei und           für gewöhnlich zwischen den Stein-         nach ihrem Sieg geschichtspolitisch zu     heit, dass ich in 50 Jahren nicht
                                                                                                          verpasst Haus Schminke! Schreck-         sockeln, den riesigen Skulpturen und       verewigen – es ist eine der monumen-       mehr sein werde (muss). Schillers
                                                                                                          lich. Dieses Haus ist ein kleines        Flammenschalen eher ratlos und wie         talsten von all diesen Stätten in Berlin   und Goethes Denkmäler werden
                                                                                                          Wunder der internationalen Moder-        aus der Zeit gefallen umherirren.          und Ostdeutschland, die gleich nach        aber noch da sein – am selben Ort
                                                                                                          ne, ein Kunstwerk von Hans Scha-             Das Ehrenmal ist ganz auf den auf      Kriegsende in Angriff genommen wor-        und in vielleicht noch größerer Ein-
                                                                                                          roun, der sich mit Mies van der          einer Anhöhe stehenden, wahnwitzig         den sind, als habe es nichts Dringende-    samkeit. Diese über ihre Zeit hinaus-
                                                                                                          Rohe, Le Corbusier und Frank             großen Soldaten ausgerichtet. In der       res zu tun gegeben. In Treptow hat         ragenden Gestalten haben etwas zu-
                                                                                                          Lloyd Wright ein Nase-an-Nase-           Rechten hält er ein Schwert, mit dem       sie der damals berühmte Bildhauer          tiefst Verlorenes. Anders ist es, wenn
                                                                                                          Rennen um das erstaunlichste             er ein Hakenkreuz zerschmettert hat,       Jewgeni Wutschetitsch konzipiert, der      ich im Schwarzwald, zwischen Wild-
                                                                                                          Wohnhaus lieferte. Hier: eine Nudel-     in seinem linken Arm ein Kind, das         in Wolgograd und Kiew noch weitaus         gutach und Neukirch, zum Balzer
Fotos (v. l.): Eckhart Matthäus; Wien Museum; Eva Gründemann/ddp; Jürgen Ritter/imago; Andreas Keil/ddp

                                                                                                          fabrikantenvilla. Sieht aus wie ein in   sich an ihn schmiegt. Er blickt ins        wuchtigere Monumente errichten ließ.       Herrgott gehe. Mit diesem Denkmal
                                                                                                          Sachsen gestrandetes Schiff, das sich    himmlische Weite (die Vollendung               An diesem seltsamen Ort hat das        verbindet mich etwas: die Hinfällig-
                                                                                                          mit Schwung aus dem Garten er-           des Kommunismus war, ist und bleibt        untergegangene Sowjet-Imperium un-         keit. Der Balzer Herrgott ist eine in
                                                                                                          hebt und spielerisch Treppenauf-         doch etwas nie Errungenes). Man er-        beschadet überlebt. Wer hier hinfährt,     eine Buche eingewachsene Christus-
                                                                                                          gänge und Decks gegeneinander            reicht über eine Treppe den Sockel der     begreift, dass es sich als ewige Macht     figur, die seit einem Jahrhundert mit
                                                                                                          verschiebt, als vertreibe es sich auf    Statue. Von hier oben hat der Besu-        dachte, und weiß, dass es nur die paar     dem Baum kämpft. Zahlreiche Le-
                                                                                                          elegante Weise die Zeit bis zur          cher das gesamte Ensemble vor Au-          Jahrzehnte existierte. Weniges be-         genden drehen sich um die Frage,
                                                                                                          nächsten Sintflut. Hans Scharoun         gen. Erst hier erschließt sich ihm, dass   rührt doch mehr als etwas Stolzes, das     woher die Figur stammt und wer sie
                                                                                                          war aus Bremerhaven gebürtig, er         er an einem Trauerort ist.                 zerbrach.                                  am Baum befestigt hat, von dem sie
                                                                                                          liebte nautische Elemente. Virtuos           In der Ferne knien zwei steinerne            ADAM SOBOCZYNSKI                     halb verschlungen wurde. Zwischen
                                                                                                          aber baute der Professor aus Breslau     Soldaten mit gesenkten Köpfen,                                                        den Weltkriegen, heißt es, seien
                                                                                                          fluide, atmende Innenräume. In           links und rechts der großen Achse,                 Sowjetisches Ehrenmal              noch die Lenden des Christus frei
                                                                                                          diesem Erdgeschoss tobten einst vier     die auf sie zuführen, erblickt man                im Treptower Park, Berlin           gewesen, nach dem Krieg war sein
                                                                                                          Kinder durch einen großen pulsie-                                                                                              Rumpf bis zur Brust überwallt.
                                                                                                          renden Raum, der Küche und Ess-                                                                                                Heute sieht man noch seinen zur
                                                                                                          zimmer und Wohnbereich umfasste                                                                                                Seite geneigten Kopf und die Hals-
                                                                                                          und von allen Seiten Licht aus dem                                                                                             grube, der Rest der Gestalt ist um-
                                                                                                          Garten empfing, der seinerseits Grü-                                                                                           schlossen, wobei das Holz, welches
                                                                                                          ße in den Wintergarten schickte, wo                                                                                            das Gesicht hält, wie ein Kragen
                                                                                                          Pflanzen aus dem Boden sprossen.                                                                                               oder ein gewaltiges Geschlechtsteil
                                                                                                          Im ersten Stock winzige Rückzugs-                                                                                              erscheint. Das Kunstwerk könnte in
                                                                                                          räume. Stylishes Linoleum, zarte                                                                                               einigen Jahrzehnten völlig ver-
                                                                                                          Farben. Ab jetzt können Bewunde-                                                                                               schwunden sein. Man steht davor
                                                                                                          rer diesen restaurierten Klassiker                                                                                             und denkt, womöglich sei im Inne-
                                                                                                          wieder besichtigen, darin Feste fei-                                                                                           ren aller Dinge Gottes Gesicht zu
                                                                                                          ern, ja sogar dort nächtigen.                                                                                                  sehen und nur hier, im tiefen
                                                                                                                  SUSANNE MAYER                                                                                                          Schwarzwald, habe er vorerst darauf
                                                                                                                                                                                                                                         verzichtet, es zu bedecken.
                                                                                                                Haus Schminke, Löbau                                                                                                              PETER KÜMMEL
                                                                                                              www.stiftung-hausschminke.eu
                                                                                                                                                                                                                                               Zum Balzer Herrgott führt
                                                                                                                                                                                                                                          ein Fußweg, der am Wanderparkplatz
                                                                                                                                                                                                                                              bei 78148 Gütenbach beginnt

                                                                                                                                                                       K U LT U R S O M M E R                                                                                     7
Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
K U LT U RO RT E U N S E R E R E I S E Z I E L E

                                               Das Kinopublikum ist verunsichert,          restauriert wieder zur Verfügung, be-
                                               neue Technologien machen der alten          spielt von Anna Vavilkina, der ein-
                                               Aufführungsform Konkurrenz. Eine            zigen Kino-Organistin Deutschlands
                                               Nachricht von heute? Nein, diese            mit Festanstellung. Die (fast immer
                                               Klage ist über neunzig Jahre alt. Da-       ausverkauften) Aufführungen sind von
                                               mals, in den späten Zwanzigerjahren         faszinierender Intensität, denn dem
                                               des vergangenen Jahrhunderts, be-           Dirigenten Marcelo Falcão und seinen
                                               gann der Siegeszug des Tonfilms, der        Musikern gelingt etwas Wunderbares:
                                               den Stummfilm abzulösen drohte.             Sie schaffen eine magische Zone zwi-
                                               Kein Mensch, so schien es, brauchte         schen Film und Publikum. Die Live-
                                               künftig noch ein Lichtspieltheater mit      Musik ist keine akustische Illustration,
                                               Live-Orchester und Hauskomponist.           sie untermalt nicht bloß das stumme
                                               Heute sind es die Streamingdienste,         Sprechen. Nein, die Musik ist das Le-
                                               die das Kino bedrohen und ihm das           bendige; sie vitalisiert die gefrorene
                                               Publikum abspenstig machen. Wie die         Gestik der Bilder, sie durchdringt den
                                               Zukunft des Kinos aussieht, wenn            stummen »Text« der Expression und
                                               Filme sofort und überall verfügbar          macht ihn gegenwärtig. Die Auffüh-
                                               sind? Keiner kann’s sagen.                  rung der Stummfilme bekommt da-
                                                   Das Berliner Kino Babylon scheint       durch etwas Theaterhaftes, als sei sie

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                                               zu wissen, wie man in diesen Zeiten         Kino und Bühne zugleich.
                                               überleben kann – mit Stummfilmkon-              Neu im Programm ist Paul Czin-
                                               zerten. Vor Kurzem hat das Traditions-      ners Fräulein Else, ein Stummfilm
                                               kino am Rosa-Luxemburg-Platz ein            nach der Novelle von Arthur Schnitz-
                                               eigenes Orchester gegründet und ant-        ler, mit dem am 11. April 1929 das
                                               wortet auf die digitale Revolution von      Babylon eröffnet wurde. Für dieses
                                               heute mit den ästhetischen Mitteln          Werk existiert keine eigene Komposi-
                                               von gestern. Unter künstlerischer Lei-      tion; Hans Brandner und Marcelo
                                               tung des Komponisten und Pianisten          Falcão haben den Film auf Grundlage
                                               Hans Brandner zeigt das Babylon die         von Hans Erdmanns Handbuch der
                                               klassischen Meisterwerke, Panzerkreu-       Film-Musik im Stil der Zeit neu ver-
                                               zer Potemkin, Nosferatu, Rosita, Metro-     tont. Wie soll man das nennen? Es ist
                                               polis oder auch Berlin – Die Sinfonie der   weder Remix noch Rekonstruktion, es
                                               Großstadt, alle mit Originalmusik. Der      ist Neues aus Altem – es ist Kunst.
                                               Ort dafür ist ideal. Das Babylon ist               THOMAS ASSHEUER
                                               einer der letzten erhaltenen Stumm-
          STUMMFILMKINO                        filmpaläste Europas, und demnächst               Babylon-Kino, Berlin-Mitte,
                                               steht auch die prächtige Orgel frisch           www.babylon-orchester-berlin.de

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Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
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Fotos: Roberta Bianchini (l.); Günter Schneider/akg; Illustration: Studio Pong für DIE ZEIT

                                                                                                                                     S T. K AT H A R I N E N

                                                                                                              Licht, Wasser, Wort und Musik, das        men. Die Kirche wurde ein aufgeklärt
                                                                                                              sind die Wirkstoffe jener Schönheit in    heller Ort, was auch an der Orgel liegt,
                                                                                                              Rot, die am Hamburger Zollkanal, im       die schon der durchreisende Johann
                                                                                                              Sand der Elbmarsch steht und selbst       Sebastian Bach gern über Stunden
                                                                                                              bei steigender Flut nicht umfällt, was    spielte und die endlich restauriert wer-
                                                                                                              an sich schon erstaunen kann: St. Ka-     den konnte, gut 70 Jahre nachdem die
                                                                                                              tharinen, eine der fünf Hamburger         Bomben sie 1943 zerstört haben. So
                                                                                                              Hauptkirchen. Es heißt, ihr Turm-         ist Katharinen wieder zu einem Klang-
                                                                                                              schaft aus dem 13. Jahrhundert sei das    körper geworden, in dem auch die
                                                                                                              älteste Bauwerk der Stadt, das aufrecht   Stille hell klingt. Aus Licht ist die Kir-
                                                                                                              steht, in Hamburg ist halt viel Histo-    che, weil ihre Pfeiler, strahlend weiß,
                                                                                                              risches umgefallen, und weniges war       im ebenso frisch geweißten Mittel-
                                                                                                              wirklich alt. St. Katharinen aber, die    schiff auf eine Höhe von 29 Meter
                                                                                                              Wucht aus Backstein, ursprünglich         hochstreben. Mag sein, dass die etwa
                                                                                                              Kirche der Seeleute, steht wind- und      gleichaltrige Kathedrale von Chartres
                                                                                                              wasserfest gegenüber der Speicher-        in ihrer Mitte noch fast sieben Meter
                                                                                                              stadt, wo früher einmal Elbinseln         höher strebt. Aber steht sie am Wasser?
                                                                                                              Grimm, Cremon, Wandrahm oder                  ELISABETH VON THADDEN
                                                                                                              Kehrwieder hießen – Wortklang-
                                                                                                              inseln. Nun tragen die Straßen, die         Hauptkirche St. Katharinen, Hamburg
                                                                                                              St. Katharinen umgeben, diese Na-              www.katharinen-hamburg.de

                                                                                                                                                   NACH DEN LETZTEN TAGEN.
                                                                                                                                                   EIN SPÄTABEND
                                                                                                                                                   CHRISTOPH MARTHALER
                                                                                                                                                   AB 21. AUG 2019
                                                                                                                                                   AUDIMAX, RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM

                                                                                                                                                   ALL THE GOOD
                                                                                                                                                   JAN LAUWERS, NEEDCOMPANY
                                                                                                                                                   AB 22. AUG 2019
                                                                                                                                                   MASCHINENHALLE ZWECKEL, GLADBECK

                                                                                                                                                   EVOLUTION
                                                                                                                                                   GYÖRGY LIGETI,
                                                                                                                                                   KORNÉL MUNDRUCZÓ
                                                                                                                                                   AB 05. SEPT 2019
                                                                                                                                                   JAHRHUNDERTHALLE BOCHUM

                                                                                                                                                   NEW CREATION BRUNO BELTRÃO
                                                                                                                                                   BRUNO BELTRÃO, GRUPO DE RUA
                                                                                                                                                   AB 06. SEPT 2019
                                                                                                                                                   GEBLÄSEHALLE, LANDSCHAFTSPARK
                                                                                                                                                   DUISBURG-NORD

                                                                                                                                                   Das ganze Programm 2019 unter
                                                                                                                                                   ruhrtriennale.de

                                                                                              21. Aug –                                            Gesellschafter und öffentliche Förderer

                                                                                              29. Sept    #RT19
Die freie Radikale Eine Begegnung mit der Extremkünstlerin Florentina Holzinger. Und die besten Festivals, Premieren, Kulturorte dieses Sommers
Nervöse Akustik
     Man könnte Theresia Walser die deutsche Meisterin der Bühnengroteske nennen.
       Derzeit schreibt sie für die Salzburger Festspiele eine Gesellschaftskomödie:
      »Die Empörten«. Eine Begegnung mit der Dramatikerin VON ROL AND MÜLLER

10                                       D I E   Z E I T
T H E AT E R S A L Z B U RG E R F E S T S P I E L E

                                     Die Uraufführung findet im August bei         Wenn man so will, ist davon nur der         Vorbereitung der Trauerfeier beschäf-        mal nichts bleibt als ein Häufchen
                                     den Salzburger Festspielen statt, die Ur-     tote Bruder übrig geblieben.                tigt ist, ist alles getränkt von Aufruhr.    Staub, sorgt für permanente unter-
                                     Lesung aber schon jetzt: Mit der ersten,      ZEIT: Wie ist denn nun die Konflikt-        Die Gegenkandidatin, eine Rechts-            schwellige Unruhe.
                                     fertig ausgearbeiteten Szene ihres Stücks     lage des Stücks?                            populistin, weiß natürlich die Gunst         ZEIT: Und auf welchem Boden wächst
                                     »Die Empörten« kommt Theresia Walser          Walser: Weil die Bürgermeisterin kurz       der Stunde zu nutzen.                        Empörung?
                                     zum Treffen ins Freiburger Theatercafé        vor den Wahlen steht und um ihre Kar-       ZEIT: Und wie heißt Ihre Alice               Walser: Zurzeit findet in Berlin eine
                                     und schlägt vor, sie an Ort und Stelle        riere fürchtet, versteckt sie die Leiche    Weidel?                                      Debatte darüber statt, ob man Immo-
                                     vorzutragen – Walser ist gelernte             ihres Halbbruders Moritz.                   Walser: Ich will keine Alice Weidel auf      bilienkonzerne enteignen soll. Auch
                                     Schauspielerin, ihr Talent erweist sich als   ZEIT: Warum das?                            der Bühne. Die Kontrahentin meiner           wenn man nicht einfach jemanden
                                     unverwüstlich. Übers Manuskript               Walser: Tags zuvor ist ein Pizzabote in     Bürgermeisterin heißt Elsa Lerchen-          enteignen kann, leuchtet ein, wie man
                                     gebeugt, führt die 51-Jährige nun ein         die Fußgängerzone gerast und hat ei-        berg. Es war gar nicht einfach, für diese    zu solchen Forderungen kommt. Ich
                                     Minidrama auf. Die Szene dreht sich           nen Muslim getötet. Bislang weiß nie-       Figur eine Sprache zu finden, aus dem        habe in Freiburg erlebt, wie die Stadt
                                     um die Geschwister Corinna und Anton,         mand, wer der Täter ist. Von ihm übrig      schlichten Grund, dass die Über-             Sozialwohnungen abgestoßen hat. Dort
                                     die sich in den »Empörten« zischende          geblieben ist nicht viel. Die Bürger-       bietungsrhetorik der Rechten schon seit      haben Leute gewohnt, die wenig Geld
                                     Widerworte liefern, weil sie sich über den    meisterin hat jedoch am Tattoo des Tä-      einer Weile keine Grenzen mehr kennt.        hatten, diese nicht sehr schönen
                                     Umgang mit dem Tod ihres Halbbruders          ters erkannt, dass es sich um ihren         Würde ich auf der Bühne einfach noch         Häuser aber über Jahre hinweg in ein
                                     Moritz uneins sind. Von ihrem Vater,          Halbbruder handelt, und die Leiche          einen draufsetzen, hätte man es mit ra-      schieres Idyll verwandelt haben. Ich
                                     dem Schriftsteller Martin Walser, hat         nachts aus der Anatomie geschafft.          dikalen Phrasen zu tun. Ich musste           habe gesehen, wie schnöselige Makler-
                                     Theresia Walser die Gebärdensprache –         Man weiß nicht, ob es Mord war oder         dieser Figur eine andere Facette geben:      typen in Edelkarossen angefahren ka-
                                     und vielleicht auch den erstaunten Blick      erweiterter Selbstmord oder was auch        Elsa Lerchenberg hat eine extreme Be-        men, ekelhafte Sätze gegen das alterna-
                                     auf die Gesellschaft, deren Wesen eine        immer. Die Stimmung in der Stadt ist        wegung von links nach rechts gemacht.        tive Gesocks und gegen Ausländer von
                                     nervöse Dauerempörung ist.                    ohnehin schon aufgeheizt. Die Bürger-       Was ja gar nicht so selten der Fall ist,     sich gaben und diese Häuser in
                                                                                   meisterin bekommt seit einiger Zeit         dafür gibt es eine Menge Beispiele.          Windeseile in Luxuswohnungen ver-
                                     DIE ZEIT: Frau Walser, nach Ihrer             Pakete mit Scheiße, auch ein Eich-          ZEIT: Von den Empörten zur Empö-             wandelten. Diese Makler hatten etwas
                                     Lesung weiß ich, dass Corinna die Bür-        hörnchen war dabei, das man an ein          rung, die kein Privileg von Pegida ist ...   von einer kapitalistischen Sekte, an-
                                     germeisterin von Irberstheim ist, die         Kreuz genagelt hat. Die rechtspopulis-      Walser: Um Empörung kommt kein               gefangen beim geschniegelten Haar-
                                     sich Hoffnungen auf ein Ministerin-           tische Herausforderin der Bürgermeis-       Mensch herum. Inzwischen haben wir           schnitt bis zum Kommunionsanzug.
                                     nenamt macht. Weil ihr Halbbruder             terin hat in der gegenwärtigen Lage         bei diesem Wort zwar das Gebrüll der         ZEIT: Ihr Vater, Martin Walser, war
                                     Moritz möglicherweise einen Terror-           leichtes Spiel. Der Druck der Straße        Pegida-Marschierer im Ohr, doch ohne         oft in heftige »Empörungsräusche« ver-
                                     anschlag gegen einen Muslim verübt            wächst. In Kürze findet im Rathaussaal      Empörung hätte es keine Errungen-            strickt, in denen er des Nationalismus,
                                     hat, bei dem er selbst ums Leben kam,                                                                                                  Chauvinismus und Antisemitismus
                                     lässt sie Moritz’ Leiche verschwinden.                                   U R AU F F Ü H RU N G                                         geziehen wurde. Reden Sie in der Fa-
                                     Genauer: Sie versteckt ihn mit der wi-                                                                                                 milie über das Phänomen Empörung?
                                     derwilligen Hilfe ihres Bruders Anton                        »Die Empörten« von Theresia Walser kommt am                               Walser: Ich verstehe Ihren Wunsch,
                                     in der Rathaustruhe. Sie fürchtet so                    18. August bei den Salzburger Festspielen heraus. Regie führt                  dass Sie ins Empörungsthema auch
                                     sehr um ihre Karriere, dass sie völlig                      Burkhard Kosminski. Es spielen Silke Bodenbender,                          noch meinen Vater mit hineinpacken
                                     irrsinnig handelt. Das klingt nach                      André Jung, Caroline Peters, Sven Prietz und Anke Schubert                     wollen, allerdings bin ich nicht das öf-
                                     schwarzem Humor.                                                                                                                       fentliche Korrektiv meines Vaters und
                                     Theresia Walser: Mit einer versteckten                                                                                                 auch nicht seine Gouvernante.
                                     Leiche auf der Bühne öffnet man na-                                                                                                    ZEIT: Sie haben mir den Anfang der
                                     türlich einen Spalt weit die Tür zum          die Trauerfeier für die Opfer statt, die    schaften wie Menschrechte, Frauen-           Empörten wunderbar vorgelesen. Ja
                                     Schwank. Aber meine Stücke tendieren          Bürgermeisterin muss eine Rede hal-         rechte et cetera gegeben. Ohne Empö-         mehr noch: lesend aufgeführt. Warum
                                     meistens zur Groteske. Die Groteske ist       ten. Um die Truhe, in der die Leiche        rung keine Demokratie, kein Klima-           üben Sie den Beruf der Schauspielerin,
                                     schreckensgeladener als die Komödie.          liegt, versammelt sich eine Gesellschaft,   schutz, kein #MeToo.                         den Sie in den Neunzigerjahren gelernt
                                     Ursprünglich hatte ich mit der Figur          die in jeder Hinsicht miteinander           ZEIT: Gehört Empörungsbereitschaft           haben, nicht mehr aus?
                                     der Bürgermeisterin eine Art weibli-          verstrickt ist. Inzwischen heißt das        zur Grundausstattung des Menschen?           Walser: Ich habe nie zu den Schau-
                                     chen Kreon im Sinn, also jenen Herr-          Stück Die Empörten und nicht mehr           Walser: Die Frage ist immer: Geht es         spielerinnen gehört, die aus ihrem
                                     scher von Theben, der Antigone ver-           »Kreons Schwester«, wie der ursprüng-       im weitesten Sinn um Selbsterregung          Lampenfieber das Beste machen konn-
                                     bietet, ihren Bruder zu bestatten, weil       liche Arbeitstitel gelautet hat.            oder um eine Sache, für die es sich zu       ten. Aus lauter Panik, auf der Bühne
                                     er die Stadt angegriffen hat. In den          ZEIT: Die Empörten ist besser.              kämpfen lohnt. Man kann beides zwar          nicht natürlich zu wirken, habe ich an-
                                     meisten Aufführungen wird Kreon als           Walser: Allerdings klingen bei der          meist nicht fein säuberlich trennen,         gefangen, meine Rollentexte in Sub-
                                     kalter Machtpolitiker dargestellt, der        Bürgermeisterin immer noch Sätze            aber es macht einen Unterschied, ob          texte zu übersetzen. Ich habe noch Rol-
                                     keine Gnade kennt.                            dieses weiblichen Kreon an. Einmal          ich vor allem einen Entladungsrausch         lenbücher von früher, in denen neben
                                     ZEIT: Und Sie fordern jetzt mehr als          sagt sie zu ihrem Bruder Anton, der         erleben will oder ob ich mich tatsäch-       meinem Rollentext haufenweise Sub-
                                     zwei Jahrtausende später Gerechtigkeit        eine Szenekneipe führt: »Ich kann           lich für etwas engagiere. Manchen            text steht. Ich habe also mit zwei
                                     für Kreon?                                    nicht die Moral wie eine Monstranz          Leuten geht es derzeitig ja mehr um          schriftlich fixierten Texten gearbeitet:
                                     Walser: Ich wollte zumindest jene Am-         vor mir herumtragen, das können bloß        Zerstörung als darum, etwas zu ver-          mit einem zum Fühlen und einem zum
                                     bivalenz herausstellen, mit der er zu-        Leute wie du, ohne jede Konsequenz.«        ändern und aufzubauen. Gegenwärtig           Sprechen. Können Sie sich diesen Irr-
                                     rechtkommen muss, und zeigen, wie             Um »Kreons Schwester« hinter mir zu         heizen populistische Stimmungs-DJs           sinn vorstellen?
                                     schwer es ist, in der Geschichte immer        lassen, musste ich vom Erhabenheits-        den mobilen Stammtisch an. Das Em-           ZEIT: Haben Sie deshalb mit dem
                                     nur das Arschloch gewesen zu sein. Ich        Gebirge des Sophokles herabsteigen.         pörungsklima ist enorm. Selbst die           Schreiben angefangen?
                                     wollte diese Figur rehabilitieren.            Bei dem Titel Die Empörten kommen           Mächtigen empören sich ständig, wie          Walser: Ich habe angefangen, mir Rol-
                                     Schließlich ist Kreon der wahrhaft            einem heutzutage natürlich unwillkür-       man nicht nur an Trump sieht. Barack         len zu schreiben, die mir als Schau-
Foto: Lena Giovanazzi für DIE ZEIT

                                     Zerrissene in dieser Tragödie, während        lich Bilder in den Sinn.                    Obama hat vor einem halben Jahr ge-          spielerin gefehlt haben. Ich wollte
                                     Antigone keine tragische Figur ist. Sie       ZEIT: Was für Bilder sind das in Ihrer      sagt: »Ich weiß gar nicht, warum diese       nicht ständig das hysterische, heulende
                                     darf ihre Gefühle uneingeschränkt             Komödie?                                    Leute so wütend sind, sie sind doch an       Opfer spielen oder als rätselhafte, un-
                                     ausleben, etwas anderes interessiert sie      Walser: Das Gesellschaftsklima, in          der Macht!« Wir alle verfügen über           erreichbare Sehnsuchtsboje auf der
                                     auch nicht. Und diese Gefühle sind            dem dieses Stück spielt, ist von Anfang     genug Stoff, um aus der Haut zu fah-         Bühne herumstehen. Ich wollte nicht
                                     vollkommen eindeutig. Kreon darf              an überreizt. Als atmosphärisches           ren. Schließlich rumoren in jedem            mehr diese Frauenrollen, die Männern
                                     sich einen solchen Gefühlsaufruhr             Grundrauschen hört man im Rathaus-          von uns Bodenlosigkeiten, angefangen         Anlässe bieten, ins existenzielle Tru-
                                     nicht leisten, sonst würde das Ge-            saal fast ständig das Empörungsgegröle      von Existenzängsten, die sich nicht          deln zu kommen, womit sie Lacher
                                     meinwesen zusammenbrechen. Aber               von der Straße, mal mehr, mal weniger.      nur aufs Materielle beziehen. Allein         vom Publikum ernten. Es ist nicht ein-
                                     das Stück hat sich während der Arbeit         In diesen Rathausmauern herrscht eine       die Tatsache, dass das Leben recht           zusehen, warum Männer immer die
                                     vom Antigone-Kreon-Konflikt gelöst.           nervöse Akustik. Während man mit der        schnell vorbeigeht und von uns ein-          besseren Pointen haben sollen.

                                                                                                         K U LT U R S O M M E R                                                                                        11
F E S T I VA L N I B E LU N G E N I N WO R M S

                                          Klaus Maria Brandauer in den Achtzigerjahren ...

            »Wir müssen im
            Reden bleiben!«
     Klaus Maria Brandauer spielt bei den Nibelungen-Festspielen den Hagen.
      Ein Gespräch über Rache, Hass und Hoffnung VON CHRISTIAN GAMPERT

      Klaus Maria Brandauer, 75, ist einer         Klaus Maria Brandauer: Ich hab Die        nehmen. Die Konstruktion ist: Ein
      der großen Schauspielstars deutscher         Welt im Rücken von Thomas Melle ge-       Kind sieht die Welt und wird ermordet,
      Sprache. Zu internationalem Ruhm             sehen, die Theaterfassung mit Joachim     nämlich Kriemhilds Sohn Ortlieb, und
      kam er mit den Filmen »Mephisto«             Meyerhoff am Burgtheater. Und das         schaut dann zurück auf das Leben sei-
      und »Jenseits von Afrika« und als Böse-      hat mich sehr beeindruckt. Ein paar       ner Verwandten.
      wicht im James-Bond-Film »Sag niemals        Wochen später kam die Anfrage, ob ich     ZEIT: Melle beginnt mit dem Gemet-
      nie«. Im Sommer wird er bei den              mich mit Thomas Melle treffen möch-       zel an Etzels Hof und erzählt dann in
      Nibelungen-Festspielen in Worms in           te, der gerade ein Nibelungen-Stück für   Rückblenden. Er fragt: Was ist Schick-
      Thomas Melles Stück »Überwältigung«          Worms schreibt. Da hab ich gesagt:        sal, und wo könnten sich die Figuren
      den Hagen von Tronje spielen. Wir            Man kann ja drüber reden ...              auch ganz anders verhalten ...?
      treffen Brandauer in Worms. Er               ZEIT: Was verbindet Sie mit Thomas        Brandauer: Melle möchte klarmachen:
      entschuldigt sich, er sei wegen der vielen   Melle? Spüren Sie eine Gemeinsamkeit?     Es gibt immer auch Alternativen, und
      Arbeit übermüdet und »nicht gut drauf«,      Das Rasende, Rastlose, Verrückte, das     dann würde die ganze Nibelungensage
      aber das stimmt natürlich gar nicht.         seinen Roman Die Welt im Rücken aus-      vielleicht einen anderen Verlauf nehmen.
                                                   zeichnet, müsste Ihnen aus vielen Rol-    ZEIT: Steckt da der sehr deutsche
      DIE ZEIT: Herr Brandauer, Sie ma-            len bekannt vorkommen.                    Wunsch dahinter, die Geschichte um-
      chen Sommertheater – aber diesmal            Brandauer: Melle versucht eine neue       zuschreiben?
      nicht in Salzburg, wo Sie den Jeder-         Sicht auf den Nibelungen-Stoff. Er        Brandauer: Ja. Das geht natürlich
      mann gespielt haben, sondern in              zeigt, dass Menschen in ihrem Leben       nicht. Aber es ist eine Möglichkeit,
      Worms. Wie kam es dazu?                      verschiedene Erscheinungsformen an-       über Geschichte nachzudenken.

12                                                         D I E      Z E I T
... und vor wenigen Tagen in Worms

                                                                       ZEIT: Sie spielen den Hagen von Tron-       sie zumindest aufregend, aber das funk-    samtes Unheil wird von uns selbst an-
                                                                       je – einen kühlen Strategen, aber auch      tioniert nicht.                            gerichtet. Auch wenn wir mit den
                                                                       eine hasserfüllte Figur. Welche Rolle       ZEIT: Sie überraschen mich! Hagen,         besten Absichten antreten, es entglei-
                                                                       kann der in einer solchen Konzeption        der einsame Wolf ...                       tet uns früher oder später. Kriemhild
                                                                       haben? Er ist die treibende Kraft.          Brandauer: Ja, auch – aber eben nicht      macht ja auch eine große Entwicklung
                                                                       Brandauer: Auf der einen Seite ist er       nur. Ich finde es immer spannend, einer    durch, sie ist nicht von Anfang an die
                                                                       sehr gerne der Diener seines Königs.        Figur am Anfang eine solche Kompo-         Rachegöttin. Deshalb finde ich ja die
                                                                       Das ist für ihn die Voraussetzung für       nente mitzugeben, die man dann wie-        Verbindung von Hagen zu ihr so
                                                                       alles. Er steht – nibelungentreu – zu       der über Bord werfen kann. Das kann        interessant.
                                                                       seinem schwachen Gunter. Er versucht        auch noch viel absurder sein. Ich brau-    ZEIT: Rache ist ein starkes Motiv heu-
                                                                       das Machbare zu schaffen, er analysiert,    che solche Möglichkeitsräume, aus de-      tiger Politik. Bei Trump, im Nahen
                                                                       und er handelt, nicht ohne Rücksicht        nen ich mich bedienen kann.                Osten, bei Putin, Erdoğan ...
                                                                       zu nehmen, aber wenn ihm etwas un-          ZEIT: Aber Hagen ist doch ein Scharf-      Brandauer: Ja, das ist so, und die Reso-
                                                                       ausweichlich erscheint, stellt er sich      macher – politisch, nicht erotisch. Ein-   nanz darauf ist enorm. Das nimmt
                                                                       nicht dagegen. Er ist Realpolitiker.        gebunden in Loyalitäten. Von Heiner        einen zu großen Raum ein, glaube ich
                                                                       ZEIT: Fällt Ihnen eine Figur aus der        Müller gibt es, in Germania Tod in Ber-    inzwischen. Denn alles, was nicht in
                                                                       Politik ein, die ihm da ähnlich wäre?       lin, einen schönen Dialog dazu. Einer      diese Richtung geht, das kommt zu
                                                                       Brandauer: Sicher, aber ich sag’s lieber    sagt: Ich weiß immer noch nicht, wa-       wenig vor. Besonnenheit und Reflexion
                                                                       nicht. Nein, im Ernst: So eins zu eins      rum wir uns hier mit den Hunnen he-        haben gerade keine Konjunktur. Das
                                                                       läuft das nicht. Es geht ja im Theater      rumschlagen. Antwort: Bist du ein          kann ich nur feststellen und beklagen,
                                                                       immer darum, einen kompletten               Hunne, dass du zum Kämpfen einen           ich habe auch kein Rezept dagegen.
Fotos: United Archives/Prisma (Ausschnitt; l.); [M] Star-Media/Imago

                                                                       Menschen zu zeigen, mit seinen Licht-       Grund brauchst?                            Außer vielleicht die Nibelungen in diese
                                                                       und Schattenseiten und nicht nur ein        Brandauer: Heiner Müller wusste            Richtung zu denken, das ist ja die vor-
                                                                       Abziehbild. Gerade was hinter einer         aber auch, dass das Politische und das     dringlichste Aufgabe von Theater: die
                                                                       öffentlichen Person steht, macht diese      Erotische gar nicht so fern vonein-        Welt reflektieren!
                                                                       ja auf der Bühne erst interessant, der      ander liegen! Er kannte die Welt, und      ZEIT: Wann haben Sie denn in sich
                                                                       Moment, wenn die Kamera ausgestellt         er kannte die Menschen und war des-        den Wunsch gespürt, Schauspieler zu
                                                                       wird.                                       halb überzeugt davon, dass es mit uns      werden und sich auf der Bühne durch-
                                                                       ZEIT: Das Stück von Thomas Melle            nicht mehr aufwärtsgeht, sondern nur       zusetzen? Ihr Beginn am Landestheater
                                                                       heißt Überwältigung. Wer wird wovon         noch vorwärts, und selbst das ist in-      Tübingen war nicht unbedingt erfolg-
                                                                       überwältigt?                                zwischen nicht mehr sicher. Unser ge-      versprechend ...
                                                                       Brandauer: Wir werden alle ständig                                                     Brandauer: Ja, Tübingen. Achalmstra-
                                                                       überwältigt, von Gefühlen, die einfach                                                 ße 18. Da hab ich als junger Kerle ein
                                                                       so über uns kommen. Die Frage ist, wie                                                 Reihenhaus gemietet von einem Ober-
                                                                       sehr man diesen Impulsen nachgibt.              Ü B E RWÄ LT I G U N G               regierungsrat. Der hat mich im Theater
                                                                       Wenn man alle unterdrückt, verleugnet                                                  gesehen. Shakespeare, Maß für Maß.
                                                                       man sich selbst, und wenn man allen          Das Stück von Thomas Melle läuft in       Vorher wurde Julius Caesar inszeniert,
                                                                       Raum gibt, wird man irgendwann zum            Worms vom 12. bis zum 28. Juli.          und ich war der Lustknabe Lucius und
                                                                       Tier. Auf der Klaviatur spielen wir alle,    Außer Klaus Maria Brandauer spielen       hatte drei, vier Sätze. Und war jeden
                                                                       mal besser, mal schlechter. Und da setzt     unter anderen Inga Busch, Kathleen        Tag auf der Probe. Manchmal bin ich
                                                                       ja auch das Theater an. Hagen fühlt           Morgeneyer und Alexander Simon           auch an die Uni gegangen, zu Schade-
                                                                       sich von Kriemhild angezogen, findet                                                   waldt. Frisch aus Altaussee, vom Land

                                                                                                                                                                                                         13
kommend. Vorher ein bisschen Schau-                    tät zum Bösen hatte er mit dem Ha-                      habt! Und das ist beim Hagen über-
                                    spielschule in Stuttgart. Da bin ich aber              gen gemein.                                             haupt nicht der Fall, der ist seinem
                                    abgegangen. Na ja, meine Freundin                      Brandauer: Ich empfinde den Höfgen                      Gunter treu, der holt dem die Kas-
                                    bekam ein Kind, ich musste was arbei-                  bis heute nicht per se als böse, genauso                tanien aus dem Feuer. Aber, da haben
                                    ten. Und ich hab dann den Lustknaben                   wenig wie den Hagen. Der fühlt eine                     Sie recht, er versucht auch nicht, das
                                    nicht spielen müssen, weil der Inten-                  Verpflichtung gegenüber seinem Kö-                      Massaker zu verhindern. Er geht da
                                    dant sagte, der kann das nicht ...                     nig, die natürlich zu weit geht. Und                    hin. Aber er gewinnt dabei gar nichts.
                                    ZEIT: Sie konnten den Lustknaben                       auch das muss man sagen: Er ist nicht                   ZEIT: Er hat eine Todessehnsucht.
                                    nicht?                                                 der einzige Mörder bei den Nibelun-                     Brandauer: Ja, das kann gut sein!
                                    Brandauer: Nicht ich! Ich konnte den                   gen. Die ganze Familie besteht ja aus                   Aber er möchte das, was er tut, eigent-
                                    Lustknaben schon, der Regisseur                        Mord und Totschlag. Die Kriemhild                       lich nicht machen. So lese ich den
                                    konnte es nicht. Sagte der Intendant.                  wird ja auch erst mit ihren Rache-                      Text von Melle. Dass man immer
                                    Dabei war das ein berühmter Mann,                      gelüsten intelligenter ...                              noch mal anfangen kann – und dann
                                    der mit Max Reinhardt gearbeitet                       ZEIT: Und auf der Bühne ist das Böse                    doch das Böse macht. Leider ist er
                                    hatte. Dann hat der Intendant Herte-                   meist effektvoller als das Beschwören                   nicht in der Lage, etwas zum Besseren

                 »Seit ich einigermaßen erwachsen bin, kann ich mit Nationalitäten
                  wenig anfangen. Ich sehe Europa sehr gern zusammenwachsen«
                                    rich Maß für Maß inszeniert, ich hab                   einer besseren Welt. Eine bessere Welt                  zu wenden. Oder er gibt auf, obwohl
                                    den Liebhaber Claudio gespielt. Das                    fordern – das machen die Schüler, die                   er es gerne erreichen würde ...
                                    war ganz gut, dann hab ich meine                       jeden Freitag demonstrieren.                            ZEIT: Sie sind in Österreich auf dem
                                    erste Kritik gekriegt, von einem ge-                   Brandauer: Im Vergleich zu den                          Land aufgewachsen. Sie haben aber
                                    wissen Christoph Müller: »Bemer-                       Schülerdemos ist das Theater Folklore.                  auch Teile Ihrer Kindheit in Deutsch-
                                    kenswert ist die schöne Dringlichkeit,                 Wenn sich eine Generation in ganz                       land verbracht. Ihr Vater war Deut-
                                    mit der Klaus Maria Brandauer sei-                     Europa aufmacht und zu Recht eine                       scher, Ihre Mutter Österreicherin. Als
                                    nem schwer geprüften Liebhaber                         Antwort auf die entscheidende Zu-                       was fühlen Sie sich?
                                    Claudio Überzeugungskraft zu geben                     kunftsfrage unseres Planeten einfordert,                Brandauer: Seit ich einigermaßen er-
                                    bemüht ist ...«                                        dann hat das eine vollkommen andere                     wachsen bin, kann ich mit Nationalitä-
                                    ZEIT: Sie können es immer noch                         Dimension als unsere paar Hundert                       ten wenig anfangen. Ich sehe Europa
                                    auswendig.                                             Theateraufführungen am Freitagabend,                    sehr gern zusammenwachsen. Ich den-
                                    Brandauer: Ja, am Anfang war es am                     so gut die alle auch im Einzelnen sein                  ke, dass das die einzige Möglichkeit ist,
                                    Theater ziemlich mühelos für mich. Ich                 mögen. Ich bin sehr für beides, aber ich                dass es gut ausgehen kann. Das hat sehr
                                    hatte keine festen Vorstellungen vom                   mag das nicht zusammendenken oder                       früh angefangen. Ich bin in Altaussee
                                    Berufsleben. Ich bin dann nach Salz-                   gar gegeneinander ausspielen! Theater                   aufgewachsen, das war herrlich, Dach-
                                    burg gekommen und hatte ziemlich viel                  wird die Welt nie retten, das war ja                    stein, Berge, Schnee. Da fühl ich mich
                                    Glück ...                                              auch beim Höfgen nicht die Frage, bei                   wohl. Ich hab aber sehr früh bemerkt,
                                    ZEIT: Wir müssen natürlich über                        ihm ging es darum, dass er sich selbst                  dass andere Leute auch eine Heimat
                                    Mephisto reden. Sie haben 1981 in                      rettet. Er musste straucheln – weil er                  haben, aber vertrieben wurden. Heimat
                                    dem Film von István Szabó den                          ein Schauspieler war und in dieser Zeit                 ist keine Selbstverständlichkeit. Die
                                    Hendrik Höfgen gespielt, einen                         Karriere machen wollte.                                 Steiermark, ja. Dass das in Österreich
                                    Schauspieler-Aufsteiger, der an Gus-                   ZEIT: Gustaf Gründgens war ein welt-                    liegt – da bin ich auch nicht beleidigt.
                                    taf Gründgens angelehnt war und bei                    gewandter, alerter Mensch.                              Schön ist, dass das in Europa liegt.
                                    den Nazis als Intendant Karriere                       Brandauer: Das stimmt. Und stimmt                       ZEIT: Mit Europa sieht es ja nicht so
                                    macht. Den Nihilismus, diese Affini-                   auch wieder nicht. Angst hat er ge-                     gut aus im Moment.

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F E S T I VA L N I B E LU N G E N I N WO R M S

                            Brandauer: Nein, es sieht gar nicht gut           Wir müssen im Reden bleiben, auch                 ZEIT: Die Wormser Aufführung findet
                            aus. Es sieht schrecklich aus, und gele-          wenn wir unterschiedlicher Meinung                ja vor dem Dom statt, und Sie haben
                            gentlich habe ich ganz körperlich das             sind!                                             schon angedeutet: Sie sind religiös.
                            Gefühl, als würde mir das wehtun! Und             ZEIT: In Deutschland müsste dann die              Brandauer: Ja. Ich bin katholisch auf-
                            das tut es vielleicht auch.                       AfD mit der Linken reden und um-                  gewachsen. Ich kann es nicht gut erklä-
                            ZEIT: Der Brexit?                                 gekehrt.                                          ren. Ich kann nur sagen, dass es mir et-
                            Brandauer: Ja, natürlich der Brexit,              Brandauer: Die verständigen sich na-              was bedeutet. Und es ist nicht nur der
                            aber ganz Europa driftet nach rechts.             türlich nicht. Und doch hat man                   Zauber der Kultur, in eine Kirche zu ge-
                            ZEIT: Vielleicht ist das kulturelle Eu-           manchmal das Gefühl, das müsste ge-               hen, zu singen, Kirchenmusik. Nein, es
                            ropa ja etwas anderes als das politische          hen, das könnte ein Weg sein.                     gibt mir ein Gefühl der Heimat. Ich
                            Europa.                                           ZEIT: Dann müssten auch die Hunnen                fühle mich, komisch, wenn ich das sage,
                            Brandauer: Ja, das ist so, und zwar seit          und die Burgunden sich verständigen               ich fühle mich wie in einer Familie, in
                            längerer Zeit schon wieder.                       können.                                           der weiß Gott genug schlimme Dinge
                            ZEIT: Was wäre denn zu tun?                       Brandauer: Ja, gute Frage! Das hängt              passieren, trotzdem fühle ich mich be-
                            Brandauer: Wir müssen den Leuten                  einfach mit den Menschen zusammen,                schützt. Die Geschichte von Jesus, das
                            sagen, was in zehn Jahren sein wird,              mit Gesichtern und mehr oder wenig                freut mich. Ich weiß nicht, ob ich für
                            wenn wir nicht jetzt diese Herausforde-           schlechten Absichten. Die stehen ja               den Glauben kämpfen würde. Ich hoffe,
                            rung annehmen. Und annehmen heißt:                nicht plötzlich auf und bekämpfen                 ich könnte standhaft sein, wenn die
                            ganz ehrlich darüber sprechen. Und                einander. Sondern das ist eine viel               Drohung kommt: Gleich wirst du vom
                            einige Länder in Europa reden nicht               ältere Geschichte, die Geschichte der             Hradschin runtergeschmissen, weil du
                            ehrlich darüber. Da wird als Erstes ge-           Nibelungen. Wir müssen diese Ge-                  katholischer Statthalter bist.
                            sagt: zumachen. Und das ist unmöglich.            schichte auf die Bühne bringen, weil              ZEIT: Hat Thomas Melle eine poli-
                            Eigentlich müssten wir jeden Tag auf              wir wissen, dass wir in Gefahr sind,              tische Absicht mit seinem Stück?
                            die Straße gehen und nicht nur Greta              wie diese Figuren zu werden. Ich habe             Brandauer: Die Nibelungen wurden
                            Thunberg!                                         Melle so gelesen, dass es immer                   oft gespielt als Faschistentruppe. Bei
                            ZEIT: Wir?                                        Alternativen gibt. Ob die dann ver-               Melle geht es aber darum, zu zeigen, wo
                            Brandauer: Ja natürlich, wir! Ich geh ja          wirklicht werden, ist eine andere                 der Weg hingehen könnte. Ob das
                            auch ...                                          Frage. Vier, fünf Leute machen alles              überhaupt möglich ist. Da braucht man
                            ZEIT: Sie gehen freitags mit den                  kaputt. Warum? Weil sie Menschen                  keine zweite Ebene. Schwarz – weiß:
                            Schülern demonstrieren?                           sind.                                             Das stimmt heute nicht und hat damals
                            Brandauer: Ich bin in Österreich                  ZEIT: Weil sie gekränkt sind. Wer geht            bei den Nibelungen nicht gestimmt.
                            einige Male auf den großen Donners-               zuerst die Domtreppe hoch? Wer                    Mit solch einfachen Gegensätzen kom-
                            tagsdemos gewesen – gegen die Re-                 kommt zuerst die große Showtreppe                 men wir doch überhaupt nicht weiter.
                            gierung, gegen die Migrationspolitik.             herunter?                                         Die Welt ist kompliziert, aber das darf
                            Aber ich sage auch immer wieder:                  Brandauer: Furchtbar.                             uns nicht entmutigen!

                                                                                         IMPRESSUM
   Chefredakteur: Giovanni di Lorenzo      Layout: Anne Franke                     20095 Hamburg, Telefon: 040/32 80-0,   Bastian (verantwortlich), Oliver Nagel   Matthias Weidling (Verlagsleitung
   Stellvertretende Chefredakteure:        Bildredaktion: Jutta Schein             Fax: 040/32 71 11                      Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei   Vermarktung), Nathalie Senden (stellv.)
   Moritz Müller-Wirth, Sabine Rückert,    (kommissarisch verantw.), Navina Reus   E-Mail: DieZeit@zeit.de                GmbH, Kurhessenstr. 4–6,                 Tabloid-Sonderpreisliste 2019
   Bernd Ulrich                            Dokumentation: Mirjam Zimmer            © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH &      64546 Mörfelden-Walldorf;                Anzeigenstruktur: Ulf Askamp
   Chef vom Dienst: Iris Mainka            (verantwortlich)                        Co. KG, Hamburg                        Axel Springer Offsetdruckerei Ahrens-
                                                                                                                                                                   Leserbriefe: Zeitverlag Gerd Bucerius
   (verantwortlich), Mark Spörrle          Korrektorat: Thomas Worthmann           Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser      burg GmbH & Co. KG, Kornkamp 11,
                                                                                                                                                                   GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg
   Redaktion: Dr. Adam Soboczynski         (verantwortlich)                        Marketing und Vertrieb:                22926 Ahrensburg
   (verantwortlich), Peter Kümmel,         Schlussredaktion: Imke Kromer           Nils von der Kall                      Für unverlangt eingesandte               E-Mail: leserbriefe@zeit.de,
   Katja Nicodemus                         Verlag und Redaktion: Zeitverlag        Unternehmenskommunikation und          Manuskripte übernimmt der Verlag         Fax: 040/32 80-404; Artikelabfrage
   Redaktionsassistenz: Ildikó Felbinger   Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,            Veranstaltungen: Silvie Rundel         keine Haftung.                           aus dem Archiv: E-Mail: archiv@zeit.de,
   Art Direktion: Haika Hinze (verantw.)   Buceriusstraße, Eingang Speersort 1,    Herstellung/Schlussgrafik: Torsten     Anzeigen: DIE ZEIT,                      Fax: 040/32 80-404

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