FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Gegen ...

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FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Gegen ...
Heft 109 / 2021

GEGEN VERGESSEN
FÜR DEMOKRATIE

                                                             Gegen Vergessen

                                          FÜR DEMOKRATIE
                                          Informationen für Mitglieder, Freunde und Förderer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Schwerpunktthema:
Geschichte vor Ort –
           aus einer jungen Perspektive
weitere Themen:   ■ Interview zum Kinofilm „Je suis Karl“
                  ■ Kolonialgeschichte als
                    erinnerungspolitische Aufgabe

Informationen zur politischen Bildungsarbeit
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EDITORIAL

                Liebe Freundinnen und Freunde von
                Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.!

                Diese Ausgabe der Vereinszeitschrift ist eine besondere. Die fünf                    nommen haben. Unterstützung haben sie zudem von jungen
                studentischen Hilfskräfte der Geschäftsstelle von Gegen Ver-                         Autorinnen und Autoren erhalten, die in Projekten des Vereins
                gessen – Für Demokratie e. V. haben für das vorliegende Heft                         mitwirken oder über die Regionalen Arbeitsgruppen in Kontakt
                gemeinsam die Redaktion übernommen und sind der Frage                                mit Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. stehen. Auch in der
                nachgegangen, wie Geschichte vor Ort heute zeitgemäß ver-                            Rubrik „Aus unserer Arbeit“ können Sie also Beiträge aus einer
                mittelt werden kann. Sie haben darüber diskutiert, welche The-                       jungen Perspektive finden.
                men ihnen und den Menschen in ihrem Umfeld wichtig sind
                und welche Formate sie für geeignet halten, um Jugendliche                           Es lohnt sich für alle Leserinnen und Leser, sich mit den vorlie-
                und junge Erwachsene zu erreichen. Das Redaktionsteam mit                            genden Texten auseinanderzusetzen. Gerade weil die Redakteu-
                Thomas Stein, Alina Schulenkorf, Noël Schepp, Michèle Wag-                           rinnen und Redakteure auch einen kritischen Blick auf die bis-
                nitz und Henri Rösch hat sich auf die Suche nach guten Bei-                          herige Vereinsarbeit werfen und Ansätze identifizieren, die aus
                spielen gemacht, Interviews geführt, Autoren angefragt, selbst                       ihrer Sicht künftig eine größere Rolle spielen sollten.
                geschrieben.
                                                                                                     Abgesehen davon möchte ich es nicht versäumen, Sie an die ge-
                Entstanden sind so zum Beispiel Artikel über Postkolonialismus,                      plante Mitgliederversammlung am 20. November in Münster zu
                über Stereotype in Schulbüchern, Geschichtsvermittlung auf In-                       erinnern. Die entsprechenden Einladungen wurden im Septem-
                stagram und über historische Rundgänge, die mit digitaler Un-                        ber an die Mitglieder verschickt. Wir werden alles daransetzen,
                terstützung eigenständig geplant werden können. Außerdem                             dass die Versammlung tatsächlich in Präsenz stattfinden kann.
                haben Michèle Wagnitz und Alina Schulenkorf den Regisseur                            Ich würde mich sehr freuen, möglichst viele von Ihnen dort per-
                des neuen Kinofilms „Je suis Karl“ interviewt und dabei auch                         sönlich zu treffen.
                kritische Fragen gestellt.
                                                                                                     Mit herzlichen Grüßen
                Allen Redaktionsmitgliedern möchte ich für diese Arbeit herzlich
                danken, vor allem, da sie diese anspruchsvolle Herausforderung                       Ihr Andreas Voßkuhle
                neben ihren eigentlichen Aufgaben in der Geschäftsstelle über-

                 Die Mitgliederversammlung von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. findet am 20. November 2021 in Münster statt. Die Einla-
                 dung und weitere Informationen zu Anmeldung und Ablauf finden Sie auf unserer Homepage unter der Rubrik Verein / Mitglieder.

                IMPRESSUM
                Herausgegeben von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Stauffenbergstraße 13-14, 10785 Berlin
                Telefon (0 30) 26 39 78-3, Telefax (0 30) 26 39 78-40, info@gegen-vergessen.de, www.gegen-vergessen.de
                Bankkonto: Sparkasse KölnBonn · IBAN DE45 3705 0198 0008 5517 07 · BIC COLSDE33XXX

                Titelbild Fotomontage: Alexander Atanassow, Originale: Foto: Atharva Dharmadhikari auf Unsplash; Projekt Badehaus (s.S. 6)

                Redaktion: Thomas Stein, Alina Schulenkorf, Henri Rösch, Michèle Wagnitz, Noël Schepp, Liane Czeremin, Dr. Michael Parak (V.i.S.d.P.)
                Lektorat: Ines Eifler, Görlitz
                Gestaltung: Atanassow-Grafikdesign, Dresden
                Druck: B&W MEDIA-SERVICE Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH
                Die Zeitschrift wird klimaneutral auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt.
                Die Herausgabe dieser Zeitschrift wurde gefördert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
                Namentlich gekennzeichnete Beiträge stellen keine Meinungsäußerung der Redaktion oder des Vereins dar.
                Die Redaktion überlässt die Entscheidung über eine Verwendung gendergerechter Sprache den Autorinnen und Autoren.
                ISSN 2364-0251

            2   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Gegen ...
INHALT
Inhaltsverzeichnis
Die Themen in dieser Ausgabe

SCHWERPUNKTTHEMA
Interview: „Auseinandersetzung mit der Geschichte vor Ort stärkt die Zivilgesellschaft“             4
Kolonialgeschichte und das Afrikanische Viertel                                                     7
Die Arbeiterstadt Solingen: 360-Grad-Rundgang des Max-Leven-Zentrums                                9
Interview: „Schulbücher sind ein Spiegel der Gesellschaft“                                        11
Historisches Lernen im Hochbildformat?                                                            14
„Darum sind wir Jugendbotschafter*innen“                                                          16

WEITERE THEMEN
Interview zum Film „Je suis Karl“: „Nur wenn Leute wütend auf den Film sind,                      19
können Diskurse entstehen.“
Internierungslager und Flucht über die Pyrenäen (1939 – 1941)                                     22

BLOG DEMOKRATIEGESCHICHTEN.DE
Umkämpfte Erinnerung – 100 Jahre politischer Mord in Deutschland                                  26

ANALYSE UND MEINUNG
Kolonialgeschichte als erinnerungspolitische Aufgabe                                              28

AUS UNSERER ARBEIT
Interview: Radeln für Demokratie – Spendensammeln einmal anders                                   30
RAG Böblingen-Herrenberg-Tübingen: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen …“                         32
RAG Münsterland: Das Leiden der Jüngeren                                                          34
RAG Münsterland: „Überdehnen und Verbiegen“                                                       36
RAG Nordhessen-Südniedersachsen: Besuch aus Montevideo:                                           38
Jüdischer Autor reist nach Beiseförth

NAMEN UND NACHRICHTEN
Geschichten verfolgter Juden sichtbar gemacht – Ehrung von Frauke Dettmer                         40
Frühe Konzentrationslager in Sachsen – Filmtour „ZUSTAND UND GELÄNDE“                             41

REZENSIONEN
Ernst-Jürgen Walberg bespricht – eine Sammelrezension:                                            42
Schwieriges Erbe. Linden-Museum und Württemberg im Kolonialismus.
Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter
Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage.
Beute. Eine Anthologie zu Kunstraub und Kulturerbe.
Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe.

IMPRESSUM                                                                                           2
VORSTAND UND BEIRAT                                                                               47

                                            Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021   3
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SCHWERPUNKTTHEMA

                       Interview

                       „Auseinandersetzung mit der Geschichte
                               vor Ort stärkt die Zivilgesellschaft“

                       David Gilles ist Mitarbeiter des Anne Frank Zentrums in Berlin und Projektleiter von „Erinnern vor Ort“. Wir haben mit ihm
                       über den Bedarf von historisch-politischer Bildung im ländlichen Raum gesprochen und ihn gefragt, warum die Auseinan-
                       dersetzung mit Geschichte für Jugendliche (immer) wertvoll ist.

                                                                                                                       Foto: Mandy Klötzer
                       Seit wann gibt es das Projekt                                                                                         Die Themen Demokratie- und vor
                       und was gab den Anstoß dazu?                                                                                          allem Kolonialgeschichte kommen
                       David Gilles: Das Projekt gibt es seit De-                                                                            in eurem Projekt hingegen nicht vor.
                       zember 2020. Das Anne Frank Zentrum                                                                                   Warum?
                       hat in der Vergangenheit bereits drei ähn-                                                                            Die inhaltliche Kompetenz des Anne
                       liche Projekte organisiert und daher viel                                                                             Frank Zentrums liegt natürlich beim Na-
                       Erfahrung in der Begleitung von lokalen                                                                               tionalsozialismus und insbesondere bei
                       Jugendgeschichtsprojekten im ländlichen                                                                               der Geschichte des Holocausts. Metho-
                       Raum. Von den Teilnehmenden dieser                                                                                    den der historischen Forschung und der
                       Projekte kam der Wunsch nach einer grö-                                                                               didaktischen Vermittlung lassen sich aber,
                       ßeren Vernetzung und Stärkung. Nun ist                                                                                wie gesagt, recht leicht auf andere The-
                       der Rahmen mit deutlich mehr Initiativen                                                                              menfelder übertragen.
                       und einem deutschlandweiten Anspruch
                       sehr viel größer gefasst als bisher. Ziel ist                                                                         Für die Zukunft können wir uns gut vor-
                       es, ein aktives und lebendiges Netzwerk                                                                               stellen, den thematischen Rahmen aus-
                       von lokalen Jugendgeschichtsprojekten im                                                                              zuweiten. Eine Möglichkeit wäre, dass
                       ländlichen Raum aufzubauen.                                                                                           wir uns auf die Geschichte des 20. Jahr-
                                                                                                                                             hunderts konzentrieren und den Schwer-
                       Wie wollt ihr dieses Ziel erreichen?                                                                                  punkt auf die Themen „Verfolgung“ und
                       Unsere Aufgabe ist eine Transferaufga-                                                                                „Widerstand“ setzen, wobei der Schwer-
                       be: herauszufinden, wer was gut kann,                                                                                 punkt bei NS-Geschichte bleiben soll.
                       und zu vernetzen. Dafür haben wir eine           David Gilles                                                         Hier könnte es für Jugendliche darum
                       Online-Plattform entwickelt, in der sich                                                                              gehen, mittels Biografien von Verfolgten
                       die Projekte finden und austauschen kön-         Gleichsetzung der „beiden deutschen                                  oder Widerständigen – auch im Kontext
                       nen. Außerdem bauen wir gerade eine              Diktaturen“ sehen. Wenn es aber um Me-                               der Weimarer Republik oder des Koloni-
                       digitale Deutschlandkarte der lokalen Ge-        thoden der Forschung und Vermittlung                                 alismus – eine kritische Auseinanderset-
                       schichtsprojekte auf, um übersichtlich zu        geht, ist auf praktischer Ebene vieles ähn-                          zung zu führen: Was können wir aus die-
                       machen, wer wo an was arbeitet.                  lich. Bei der Arbeit mit Zeitzeug*innen                              sen Biografien lernen?
                                                                        oder der Frage, wie man Interviews führt,
                       Daneben bieten wir für die Projekte insge-       ist es egal, welche Geschichte das betrifft.                         Was kannst du über die Entstehung
                       samt vier Fortbildungen und fortlaufende                                                                              von Geschichtsprojekten im
                       Beratungsleistungen an. Am Ende des              Zudem hat sich gezeigt, dass es sehr tol-                            ländlichen Raum berichten?
                       Projektjahres wollen wir noch ein großes         le Initiativen gibt, die zu DDR-Geschichte                           Am Anfang stehen häufig Auseinan-
                       Vernetzungstreffen veranstalten, wenn            arbeiten, aber deutlich geringere struktu-                           dersetzungen um die Gedenkkultur. Die
                       das Pandemiegeschehen das zulässt.               relle Unterstützung erhalten als zum Bei-                            Denkmäler des Ersten und Zweiten Welt-
                                                                        spiel Projekte zur NS-Geschichte. Es gibt                            kriegs bilden noch heute einen Großteil
                       Haben Sie sich gegenüber den                     viel weniger Förderangebote zu diesem                                der sichtbaren Erinnerungskultur im länd-
                       alten Projekten auch inhaltlich                  Thema, auch weil sich insgesamt we-                                  lichen Raum. Manche Leute reiben sich
                       neu ausgerichtet?                                niger Institutionen mit DDR-Geschichte                               am Narrativ dieser Darstellungen und su-
                       Ja. Es geht nicht mehr nur um NS-Ge-             beschäftigen. Wir haben im vergangenen                               chen nach alternativen Zugängen.
                       schichte, sondern auch um DDR-Ge-                Jahr ein Fachforum zu Erinnerungsprojek-
                       schichte. Wir haben diese Entscheidung           ten im ländlichen Raum organisiert, bei                              Auch die Spurensuche im ländlichen Raum
                       im Vorfeld kontrovers diskutiert, weil wir       dem die Initiativen ihren riesigen Bedarf                            gibt Anstöße: Manche entdecken, dass ihr
                       eine akute Gefahr in der scheinbaren             an Austausch deutlich formuliert haben.                              Dorf in der Nähe eines ehemaligen Außen-

                   4   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Gegen ...
SCHWERPUNKTTHEMA
Quelle: Anne Frank Zentrum https://www.annefrank.de/bildungsarbeit/projekte/erinnern-vor-ort/

                                                                                                                                                                                                         lagers eines Konzentrationslagers liegt,
                                                                                                                                                                                                         was im lokalen Gedächtnis bisher nicht
                                                                                                                                                                                                         präsent ist. Wenn sie ein Erinnerungspro-
                                                                                                                                                                                                         jekt starten wollen, wird der Austausch
                                                                                                                                                                                                         mit anderen, die schon ähnliche Prozesse
                                                                                                                                                                                                         durchgemacht haben, sehr wichtig und
                                                                                                                                                                                                         hilfreich. Hier setzen wir mit dem Projekt
                                                                                                                                                                                                         „Erinnern vor Ort“ an. Im Projektverbund
                                                                                                                                                                                                         befinden sich zum Beispiel auch profes-
                                                                                                                                                                                                         sionelle Gedenkstätten und Bildungsein-
                                                                                                                                                                                                         richtungen, die mit ihrer jahrzehntelangen
                                                                                                                                                                                                         Erfahrung unheimlich wichtig für kleine
                                                                                                                                                                                                         Erinnerungsprojekte sein können, die sich
                                                                                                                                                                                                         noch am Anfang befinden.

                                                                                                                                                                                                         Der Bedarf von Geschichts- und
                                                                                                                                                                                                         Erinnerungsprojekten an Vernetzung
                                                                                                                                                                                                         und Unterstützung ist auf dem Land
                                                                                                                                                                                                         also größer als in der Stadt?
                                                                                                                                                                                                         Auf jeden Fall. Während in den Städten,
                                                                                                                                                                                                         vor allem hier in Berlin, große Geschichts-
                                                                                                                                                                                                         museen, Erinnerungsorte und Bildungsin-
                                                                                                                                                                                                         stitutionen angesiedelt sind, gibt es da-
                                                                                                                                                                                                         von im ländlichen Raum nur sehr wenige.
                                                                                                                                                                                                         Ohne diese Strukturen finden kleine Pro-
                                                                                                                                                                                                         jekte im ländlichen Raum, die oft nur von
                                                                                                                                                                                                         Einzelpersonen oder kleinen Gruppen ge-
                                                                                                Eine Karte bietet Übersicht und Informationen zu den Projekten von „Erinnern vor Ort“.                   stemmt werden, nur schwer Verbündete. »

                                                                                                 Best Practice: Spannende Geschichtsprojekte vor Ort
                                                                                                 Ein Projekt auf beiden Seiten der Neiße                                          Zurzeit wird ein internationales, besonders deutsch-polnisches,
                                                                                                                                                                                  Bildungsangebot für Jugendliche und junge Erwachsene zum
                                                                                                                                                                                  Thema Stalag VIII A und lokale Geschichte (von 1939 bis heute)
                                                                                                                                                                                  für die Gedenk- und Begegnungsstätte Europäisches Zentrum
                                                                                                                                                                                  Erinnerung, Bildung, Kultur entwickelt. Besonders wichtig ist es
                                                                                                                                                                                  für uns, ein angebotsreiches Bildungsprogramm zu schaffen.

                                                                                                                                                                                  In dessen Rahmen soll nicht nur die Thematik des Kriegsgefan-
                                                                                                                                                                                  genenlagers Stalag VIII A und der NS-Zeit, sondern auch die
                                                                                                                                                                                  Geschichte der beiden Städte Görlitz und Zgorzelec nach 1945
                                                                                                                                                                                  sowie das jüdische Leben in Görlitz behandelt werden. Unser
                                                                                                                                                                                  Ziel ist es, möglichst viele Schüler*innen sowie außerschulische
                                                                                                                                                                                  Vertreter*innen aus der Regi-
                                                                                                                                                                                  on mit der Thematik und mit
                                                                                                 Der Meetingpoint Music Messiaen e. V. hat es sich zur Aufgabe                    dem Ort bekannt zu machen.
                                                                                                 gemacht, die Geschichte der Schicksale der Gefangenen des ehe-                   Wir wollen das Bewusstsein
                                                                                                 maligen Kriegsgefangenenlagers Stalag VIII A auf beiden Seiten                   über das historische Erbe der
                                                                                                 der Neiße (Görlitz / Zgorzelec) gemeinsam mit der polnischen                     Region bei den Jugendlichen
                                                                                                 Stiftung Erinnerung, Bildung, Kultur ins öffentliche Bewusstsein                 und jungen Erwachsenen
                                                                                                 zu heben. Vor allem soll die Geschichte des Nationalsozialismus,                 verankern und die grenzüber-
                                                                                                 der Shoah und des Zweiten Weltkriegs jungen Menschen na-                         schreitende Zusammenarbeit
                                                                                                 hegebracht werden. Die gemeinschaftliche Betreibung mit der                      sowie den Aufbau von mehr
                                                                                                 polnischen Stiftung Pamięć, Edukacja, Kultura der deutsch-pol-                   Toleranz stärken. Dabei han-
                                                                                                 nischen Gedenkstätte und die Erforschung und Vermittlung der                     deln wir über die Grenzen und
                                                                                                 Geschichte des Ortes durch moderne Formate der kulturellen                       Schulsysteme hinaus.
                                                                                                 und historisch-politischen Bildung mit internationaler Ausrich-                                                  Autorin: Marta Wyspiańska,
                                                                                                                                                                                                                  Gedenkstätten- und Bildungsreferentin
                                                                                                 tung und einem Fokus auf junge Menschen bilden den Kern der
                                                                                                 Arbeit des Meetingpoint Music Messiaen e. V.                                     Link zum Projekt: ■ www.meetingpoint-music-messiaen.net

                                                                                                                                                                                            Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021   5
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Gegen ...
SCHWERPUNKTTHEMA

                       » Gibt es noch andere Gründe, warum               nen Anknüpfungspunkte finden, wird es       daktisch sehr versiert sind. Daneben gibt
                        ihr euch auf den ländlichen Raum                 spannend. Dafür braucht es auch keine       es Leute aus Archiven, die viel Geschichts-
                        konzentriert?                                    unmittelbaren biografischen Verknüpfun-     und Forschungswissen mitbringen, aber
                        Es gibt in den ländlichen Räumen so vie-         gen zur Geschichte. Alle Jugendlichen       sich fragen, wie sie junge Menschen zur
                        le tolle und engagierte Menschen, die            stellen sich ähnliche Alltagsfragen. Über   Teilnahme motivieren können. Diese Leu-
                        sich für ein demokratisches Miteinander          Themen wie Ausgrenzung aufgrund von         te zusammenzubringen und voneinander
                        einsetzen. Diese zu unterstützen ist uns         Herkunft, Aussehen oder Zugehörigkeit       profitieren zu lassen, ist ein riesiger Ge-
                        besonders wichtig. Das Engagement für            kann man mit allen jungen Menschen ins      winn. ■
                        Erinnerung und die Auseinandersetzung            Gespräch kommen, ob in der Stadt oder
                        mit der Geschichte vor Ort stärkt immer          auf dem Land, ob mit oder ohne Migrati-     Die Fragen stellte Henri Rösch.
                        die Zivilgesellschaft und die demokrati-         onsgeschichte.                              Er studiert Public History in Berlin und
                        schen Strukturen in der Gegenwart.                                                           war bis Juli 2021 studentischer Mitar-
                                                                         Und wie gut ist euer Projekt                beiter in der Geschäftsstelle von Ge-
                        Was nehmen Jugendliche                           nachgefragt?                                gen Vergessen – Für Demokratie e. V.
                        aus der Auseinandersetzung                       Sehr gut. Wir haben über 60 Bewerbun-
                        mit Geschichte mit?                              gen bekommen, von denen wir nur 40
                        Für sie ist Geschichte immer dann inte-          aufnehmen konnten. Die Menschen sind
                        ressant, wenn sie eine Verbindung zwi-           unheimlich motiviert und haben große
                        schen ihrem Leben und der Geschichte             Lust auf den Austausch. Schön ist auch,
                        sehen. Wenn sie merken, dass sie aus             dass ganz unterschiedliche Expertise zu-
                        der Auseinandersetzung etwas für sich            sammenkommt: Es gibt Teilnehmende,           Link zum Projekt:
                        selbst herausholen können und ihre eige-         die aus der Sozialarbeit kommen und di-      ■ www.annefrank.de/erinnern

                         Best Practice: Spannende Geschichtsprojekte vor Ort
                         Der „Erinnerungsort Badehaus“ – ein Ort des Betrachtens und Recherchierens

                                                                                               durch Zeitzeugeninterviews, Filmprojektionen, Kunstinstallati-
                                                                                               onen, Fotocollagen und Biografien der ehemaligen Bewohner.
                                                                                               Im Buch „LebensBilder“ werden 34 Porträts jüdischer DPs vor-
                                                                                               gestellt.

                                                                                               Wichtig ist den Verantwortlichen, Jugendliche zu erreichen
                                                                                               und diese besondere „Geschichte vor Ort“ erleb- und erfahr-
                                                                                               bar zu machen. So zeigt der Dokumentarfilm „Von Zeit und
                                                                                               Hoffnung“ der jungen „Badehäusler“ Interviews von sechs
                                                                                               Zeitzeug*innen und deren Enkeln. Neben Führungsangebo-
                                                                                               ten zu verschiedenen Themen ermöglicht ein Audioguide für
                                                                                               Erwachsene und Jugendliche – konzipiert von Studierenden
                                                                                               der Ludwig-Maximilians-Universität München – ein selbststän-
                                                                                               diges Erkunden der Dauerausstellung. Mittels einer App der
                                                                                               Schüler*innen des Gymna-
                                                                                               siums Geretsried, die dafür
                                                                                                                                                                    Foto: Justine Bittner

                         In dem Ort Föhrenwald / Waldram wechseln sich innerhalb von           mit zwei Geschichtspreisen
                         20 Jahren drei historische Zeitschichten ab. Ab 1940 errichteten      ausgezeichnet wurden, kön-
                         die Nationalsozialisten im Wolfratshauser Forst eine Muster-          nen Jugendliche ab 14 Jah-
                         siedlung für die Arbeiter der benachbarten Rüstungsfabriken.          ren fiktive Figuren der jewei-
                         Gegen Kriegsende führte hier der KZ-Todesmarsch vorbei. Im            ligen Zeitschicht durch den
                         Oktober 1945 wurde Föhrenwald für zwölf Jahre zu einem La-            Ort begleiten. Diese Erinne-
                         ger für jüdische Displaced Persons (DP), die den Holocaust über-      rungsarbeit fordert die Be-
                         lebt hatten. 1956 / 57 siedelten sich katholische kinderreiche        sucher*innen dazu auf, sich
                         Heimatvertriebene an; der Ort wurde in Waldram umbenannt.             aktiv zu beteiligen!

                         Der „Erinnerungsort Badehaus“ bietet dem Besucher die Mög-
                         lichkeit, diesen Spuren der Migrationsgeschichte zu folgen. In
                         dem innovativen und informativ-modernen Museum präsen-                                              Autorin: Eva Greif, Schulbeauftragte
                         tieren zahlreiche Dokumente, Fotos und Exponate die histo-                                          des Erinnerungsortes Badehaus
                         rischen Zeitschichten. Ergänzt und vertieft wird der Einblick
                         in Leben und Alltag von 1939 bis etwa 1960 unter anderem              Link zum Projekt: ■ https://erinnerungsort-badehaus.de

                   6    Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Gegen ...
SCHWERPUNKTTHEMA
                          Noël Schepp

                          Kolonialgeschichte und das Afrikanische Viertel
                          Ein Multimedia-Rundgang durch Berlin-Wedding

                          Die studentischen Mitarbeitenden der                  tischen Strukturen in der Bundesrepub-         Der Weg führt uns weiter auf einem ru-
                          Berliner Geschäftsstelle von Gegen Ver-               lik, von afrodeutscher Kultur. All dies hat    higen Pfad mitten durch eine gepflegte
                          gessen – Für Demokratie e.V. trafen sich              einen Bezug zu diesem Ort, den wir uns         Kleingartenanlage. Sie trägt den Namen
                          im August zur Erkundung der postkolo-                 mithilfe einer Internetseite, die Audio-       „Dauer-Kleingartenverein Togo“ und führt
                          nialen Geschichte des Afrikanischen Vier-             und illustrierte Textbeiträge bereithält,      zum Nachtigalplatz, benannt nach Gus-
                          tels in Berlin-Wedding. Wir nutzten dafür             auf eigene Faust erschließen wollen.           tav Nachtigal. Dieser gilt als Begründer
                          eine über das Internet nutzbare Multime-                                                             der deutschen Kolonien in Afrika und war
                          dia-Karte (siehe Link auf Seite 8). In die-           Im ersten Audiobeitrag, nur ein paar Me-       dort ab 1884 als Reichskommissar für
                          sem Erfahrungsbericht halten wir unsere               ter weiter in der Otawistraße, erklärt der     „Deutsch-Westafrika“ (Kamerun, Togo) ad-
                          Eindrücke über die digitale Vermittlung               Projektkoordinator Yonas Endrias, dass das     ministrativ für die Besetzung von Flächen
                          der Geschichte vor Ort fest:                          Afrikanische Viertel zu einem Lern- und Er-    zuständig.
                                                                                innerungsort des deutschen Kolonialismus
                          Ortstermin in Berlin-Wedding, der Treff-              sowie des Unabhängigkeitsbestrebens af-        Die durch diese Kreuzung laufende Pe-
                          punkt ist an der U-Bahnstation „Rehber-               rikanischer Staaten werden soll. Das Vier-     tersallee wurde ebenfalls nach einer füh-
                          ge“ im Afrikanischen Viertel. An einem                tel wurde im späten deutschen Kaiserreich      renden kolonialen Figur benannt, wie wir
                          schwülwarmen Nachmittag – die Regen-                  erbaut, seine Straßen und Plätze benannte      im Audiobeitrag erfahren: Carl Peters war
                          wolken haben sich gerade verzogen –                   man nach bestimmten Menschen und Or-           1885 der Begründer der Kolonie „Deutsch-
                          fällt uns nach dem Treppensteigen am                  ten: Sie sollten an den imperialen Willen      Ostafrika“ (im heutigen Tansania, Burundi
                          U-Bahn-Ausgang in der Otawistraße eine                der europäischen Großmächte erinnern,          und Ruanda). Peters, auch als „Hängepe-
                          große Informationstafel ins Auge, welche              „den Platz an der Sonne“ zu ergattern.         ters“ oder in Tansania als „blutige Hand“
                          die komplexe Geschichte des Viertels the-             Mit einiger Neugier, dieses große Flächen-     bezeichnet, misshandelte Menschen be-
                          matisiert. Es ist die Rede vom deutschen              denkmal zu erkunden, machen wir uns            vorzugt mit seiner Nilpferdpeitsche, wur-
                          Kolonialismus, von fortwährenden rassis-              auf zur nächsten Station.                      de wegen zahlreicher Verbrechen erst aus
                                                                                                                               dem Amt als Staatsdiener entlassen und
                          Mit Forderung bemalter Schachtdeckel im Afrikanischen Viertel.
                                                                                                                               anschließend von den Nationalsozialisten
Foto: Alina Schulenkorf

                                                                                                                               rehabilitiert. In den 1980er Jahren be-
                                                                                                                               schloss man jedoch, die nach ihm benann-
                                                                                                                               te Allee umzuwidmen. Da man sich nicht
                                                                                                                               darauf einigen konnte, Personen aus der
                                                                                                                               afrikanischen Widerstandsbewegung als
                                                                                                                               neue Namensgeber zu wählen, wurde die
                                                                                                                               Petersallee kurzerhand per Zusatzschild
                                                                                                                               dem ehemaligen Berliner Stadtverordne-
                                                                                                                               ten Hans Peters gewidmet.

                                                                                                                               Umkämpfte Straßennamen

                                                                                                                               Das Afrikanische Viertel ist ein Ort der
                                                                                                                               Gegensätze: Diese nach „Männern der
                                                                                                                               Kolonialisierung“ benannten Straßenna-
                                                                                                                               men sind politisch momentan höchst um-
                                                                                                                               kämpft. Anwohnende und konservative
                                                                                                                               Parteien fordern die Beibehaltung oder
                                                                                                                               die bereits beschriebene Umwidmung
                                                                                                                               von Straßennamen; Aktivist:innen sind
                                                                                                                               vehement dagegen und fordern die Um-
                                                                                                                               benennung zum Beispiel nach antikoloni- »

                                                                                                                  Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021   7
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Gegen ...
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                                                                                                                                                                                                                                                      Foto: Alina Schulenkorf
                                                   » alen Widerständler:innen und Vorbildern
                                                                                           aus der Schwarzen Community. Und ob-
                                                                                           wohl die Bezirksverordnetenversammlung
                                                                                           Berlin-Mitte die Umbenennungen bereits
                                                                                           2017 beschlossen hat, sind dort wegen
                                                                                           anhängiger Klagen immer noch die alten
                                                                                           Bezeichnungen zu sehen, wenn sie nicht
                                                                                           gerade von Aktivist:innen mit Farbe über-
                                                                                           malt worden sind.

                                                                                           Weiter führt uns die Route durch ehema-
                                                                                           lige Sozialbauten in schlichter Zwischen-
                                                                                           kriegsarchitektur zur Swakopmunder
                                                                                           Straße, benannt nach einer Küstenstadt
                                                                                           in Namibia, wie ein Textbeitrag verrät.
                                                                                           Diese galt als wichtigster Hafen der ehe-                Übermalte Straßenschilder in Berlin-Wedding
                                                                                           maligen Kolonie „Deutsch-Südwestaf-
                                                                                           rika“. Hier wurde nach einem Aufstand                    trag über einen Briefwechsel zwischen               gen zu den immer noch aktuellen Tren-
                                                                                           der lokalen Bevölkerung gegen die                        dem Nama-Vertreter Hendrik Witboi und               nungswelten der deutschen postkolonia-
                                                                                           deutsche Fremdherrschaft im Jahr 1904                    dem Kolonialgouverneur von Deutsch-                 len Gesellschaft geschlagen.
                                                                                           eines der ersten „Konzentrationslager“                   Südwestafrika, Theodor Leutwein, aus
                                                                                           errichtet. In den folgenden vier Jahren                  dem Jahre 1894. Darin droht der deutsche            Lernen im Gehen
                                                                                           töteten die deutschen Kolonisatoren im                   Kolonialvertreter unverhohlen dem mit
                                                                                           Vernichtungskrieg gegen die Bevölke-                     dem Mute der Verzweiflung schreiben-                Die Zeit vergeht während des Rundgangs
                                                                                           rungsgruppen der Herero und Nama circa                   den Nama-Vertreter mit der militärischen            regelrecht im Flug. Wir sind bereits ob
                                                                                           80 Prozent der Herero und 50 Prozent der                 Niederschlagung jedes Akts der Selbstbe-            des Lesens und Lauschens der vielen Fak-
                                                                                           Nama. Der Genozid gilt als der erste des                 hauptung.                                           ten und des Verarbeitens verschiedener
                                                                                           20. Jahrhunderts.                                                                                            historischer (Selbst-) Zeugnisse nach der
                                                                                                                                                    Als letzte Station hören wir uns in der             Hälfte der 20 Stationen am Ende unserer
                                                                                           Die gegensätzlichen Eindrücke begleiten                  Togostraße eine Vertonung des Gedichts              Aufnahmefähigkeit. Nach zweieinhalb
                                                                                           uns den ganzen Weg entlang: Während                      „blues in schwarz weiß“ der afrodeut                Stunden ziehen wir am frühen Abend
                                                                                           wir durch beschaulich-grüne Wohngegen-                   schen Dichterin May Ayim aus dem Jahr               daher ein durchweg positives Fazit: Die-
                                                                                           den laufen, lauschen wir einem Audiobei-                 1995 an. Hier wird eindrücklich der Bo-             se von der eigenständigen Erkundung
                                                                                                                                                                                                        der Geschichte vor Ort geprägte Art des
                                                                                           Stele im Afrikanischen Viertel (südl. Tafelseite) an der Ottawistraße Ecke Müllerstraße in Berlin-Wedding.
                                                                                                                                                                                                        Stadtrundgangs ist grundsätzlich sehr zu
                                                                                                                                                                                                        empfehlen. Zudem ist das Lernen im Ge-
                       Miriam Guterland 2013 / Wikimedia, Creative Commons, CC BY-SA 3.0

                                                                                                                                                                                                        hen für viele sicherlich eine willkommene
                                                                                                                                                                                                        Abwechslung zu Veranstaltungen in In-
                                                                                                                                                                                                        nenräumen. Zwar muss dabei die techni-
                                                                                                                                                                                                        sche Komponente mit mobilem Endgerät,
                                                                                                                                                                                                        Kopfhörern und Datenvolumen bedacht
                                                                                                                                                                                                        werden, dann steht Geschichtsinteres-
                                                                                                                                                                                                        sierten jedoch nichts mehr im Wege. Dass
                                                                                                                                                                                                        keine konkrete Route vorgegeben wurde
                                                                                                                                                                                                        (wie bei vielen anderen Alternativen), ge-
                                                                                                                                                                                                        fiel uns besonders, da wir uns somit einen
                                                                                                                                                                                                        eigenen Weg und thematische Schwer-
                                                                                                                                                                                                        punkte suchen konnten. Der Rundgang
                                                                                                                                                                                                        bietet somit die Möglichkeit, sich niedrig-
                                                                                                                                                                                                        schwellig und ungezwungen über die be-
                                                                                                                                                                                                        wegte Vergangenheit und Gegenwart des
                                                                                                                                                                                                        Afrikanischen Viertels zu informieren. ■

                                                                                           Noël Schepp ist studentischer Mitarbeiter in der Geschäftsstelle von Gegen Ver-
                                                                                           gessen – Für Demokratie e.V. und studiert im Master „Gender, Intersektionalität
                                                                                           und Politik“ an der Freien Universität Berlin. Lesen Sie zum Thema koloniales Erbe
                                                                                           auch den Meinungsbeitrag von Noël Schepp (Seite 28) und die Sammelrezension                                   Zur Multimedia-Karte:
                                                                                           von Ernst-Jürgen Walberg (Seite 42).                                                                          ■ http://www.3plusx.de/leo-site/

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FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Gegen ...
SCHWERPUNKTTHEMA
Corinna Koselleck

Die Arbeiterstadt Solingen:
360-Grad-Rundgang des Max-Leven-Zentrums
Ich bin aus allen Wolken gefallen, als ich mir die Ausstellung des Max-Leven-Zentrums in Solingen angesehen habe:
Denn direkt aus den Wolken geht es in dem digitalen Rundgang zur ersten Station in die Birkerstraße. Der 360-Grad-
Rundgang durch die „Arbeiterstadt Solingen“ ist Anfang Dezember 2020 online gegangen – als erste Ausstellung des
Max-Leven-Zentrums. Solingen als sozialdemokratische Hochburg vor dem Ersten Weltkrieg und kommunistische in der
Weimarer Zeit sowie Heimat vieler durch die Nationalsozialisten verfolgter Oppositioneller bietet zahlreiche Geschich-
ten, von denen ich in der Ausstellung einen Teil entdecken konnte.

                                                                                                                                                         Screenshot: Excit3D GmbH
Nach dem Fall wurde ich anhand der zen-
tralen Gebäude der Arbeiterbewegung di-
rekt auf einen Rundgang durch die Stadt
Solingen mitgenommen. Begleitet durch
Stimmen von Schülern und Schülerinnen
des Humboldtgymnasiums Solingen stand
ich direkt vor dem Gebäude des Spar- und
Bauvereins Solingen und des Sozialdemo-
kratischen Vereins. Oder eher vor dessen
Umrissen. Denn einige Häuser, die in der
roten Stadt eine Rolle gespielt haben, exis-
tieren schon nicht mehr. Aber auch das
hat in die Erstellung dieses Rundganges
hineingespielt, denn er dient unter an-
derem zur Erhaltung von Gebäuden, die
einst Funktionen in der Arbeiterbewegung
hatten, Redaktionen beherbergten oder
unter den Nationalsozialisten Treffpunkt
politisch Verfolgter waren. Es wird ein gro-   360-Grad-Rundgang des Max-Leven-Zentrums. Zu sehen ist die ehemalige Wohnung der Familie von Max Leven.
ßes Sparkassengebäude entstehen, das           Der Kaufmann und Kulturkritiker wurde in der Reichspogromnacht 1939 in seiner Wohnung erschossen.
ab 2023 auch dem Max-Leven-Zentrum
Räumlichkeiten geben wird, damit die           geszeitung über Politik, Kunst und Kultur,           Die kombinierte Struktur aus 360-Grad-
Stadt, die noch 1929 einen kommunis-           wurde virtuell rekonstruiert.                        Technik, Bildern, Texten, Stimmen und der
tischen Bürgermeister wählte, eine Bil-                                                             Rekonstruktion der Redaktion machen
dungs- und Gedenkstätte bekommt.               Wer war Max Leven?                                   das Kennenlernen der Solinger Arbeiter-
                                                                                                    stadt deutlich aufregender, als wenn man
Anhand einiger historischer Gebäude            Aber wer war eigentlich Max Leven, nach              sich nur eine Website durchlesen würde.
und der Umrisse von weiteren konnte ich        dem die Gedenkstätte benannt ist? Max
im Rundgang einen Einblick in die bunte        Levy, genannt Leven, war ein jüdischer               Daniela Tobias ist Vorsitzende des aus
Hochburg der Kommunisten, Sozialisten          Einwohner der Stadt Solingen, der für die            dem Arbeitskreis „Verfolgung und Wi-
und Sozialdemokraten erhalten, in der          „Bergische Arbeiterstimme“ Rezensionen               derstand in Solingen 1933 – 1945“ her-
die verschiedenen Lager auch miteinan-         schrieb. Er war verheiratet und hatte drei           vorgegangenen Vereins „Max-Leven-Zen-
der konkurrierten. An jeder Station wird       Kinder. In der Pogromnacht 1938 wurde                trum Solingen e. V.“. Sie freut sich: „Die
etwas erzählt, außerdem kann man sich          er von NSDAP-Mitgliedern erschossen.                 unkomplizierte Zusammenarbeit mit der
kleine Beschreibungen durchlesen und           Neben seiner Tätigkeit als Kulturkritiker            Firma Excit3D hat uns sehr geholfen, das
historische Ansichten des Ortes anschau-       war der gelernte Kaufmann für verschie-              Projekt so schnell zu entwickeln.“ Darü-
en. Wer noch mehr lesen will, findet in der    dene Unternehmen tätig, um seinen Le-                ber hinaus berichtet sie über den Prozess
Ausstellung auch ausführlichere Texte des      bensunterhalt zu verdienen. Die jüdische             des Entstehens: „Etwas länger hat die
Max-Leven-Zentrums. Besonders schön ist        Gemeinde verließ er 1919 aufgrund sei-               inhaltliche Recherche gebraucht. Obwohl
eine Station am Ende: Die Redaktion der        ner religionskritischen, kommunistischen             wir auf verschiedene Veröffentlichungen
„Bergischen Arbeiterstimme“, das „Organ        Haltung, trat ihr aber wieder bei, als 1933          aufbauen konnten, haben mein Kolle-
für das arbeitende Volk Solingen“, eine Ta-    die Judenverfolgung begann.                          ge Armin Schulte und ich gemerkt, dass »

                                                                                      Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021                                   9
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Gegen ...
ie                                                                                                                      Gesellschaft in Vielfalt
   SCHWERPUNKTTHEMA

                                                                Gesellschaft in Vielfalt

                                                                                                                                                                                                                                                             Screenshot: Excit3D GmbH
                                                                                           s c h ic h te ist überall!
                                                                                        ge
                                                                              Demokratie                                                                                         , an welche d
                                                                                                                                                                                                         emo-
                                                                                                                                                             h t d ie   F ra g e
                                                                                                                                        Im Fokus ste                                           nregungen
                                                                                            ra ti e g e sc   h  ic hte vor Ort.
                                                                                                                                                      n n e n. E s w   e rden Ideen, A
                                                                            r Demok                                                 hließen kö                                         er lokalen
                                                    Workshop zu                                          ir vor Ort ansc                                           Grundlage d
                           INHALT Ein                                   und Tra       d  itio  n  e n w
                                                                                                                            schichte ve        rm   itte lt. A u f
                                                 rinnerungen                                        emokratiege                                                   en werden.
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                                                                                                                             D  e m   o k ra  tie angestoß
                                                  te zur     lo                                      r d!ie heuti       g  e
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                                              g e   skcö hn  ic
                                                             n e nh Dt  e
                                                                       is k                                                                             o d ische und pra
              DemoSkpruatie
                                        n su  ch  e                                                                                        +   m   eth
                                    re                                                                             ichte vor Ort e dem                   o- be vor Ort
                                                                      n g   fü  r D e m   okratiegesch ge, ao                   nkwraetilcehund Teilha                                                                                     A
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                                                                                            sest      t
                                                                                                  ehhic  d  ie   Foran  D  e m
                                                                                                        hte v haben. Die RäumeAn                         envon Fotos INund                                     en
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                             Z Redaktion                          Arbeiterstimme“
                                                                      rt  . Im  g Fdoeinu
                                                                                      kr  G   sc
                                                                                          Solingen   ausgesehen
                                                                                                                                    n ,      re
                                                                                                                                           wurdeng u  n g
                                                                                                                                                     anhand              HAanderen
                                                                                                                                                                              LT
                                                                                                                                                                               E R   4
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                                                                                                                                                                                       Archivalien

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                                                                                                                                                                       DAU               ie  zeigen sich
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                                                                                                                                      olo    a  le                                   d a
                                                                                                                                                                                                                   antisemitis
                                                                                                                                                                                                                                   che E
 rksho  p    » noch einige Wissenslücken wir v   o  r O   rt  a
                                                             zu n  sc
                                                                 füllen     wa-         Die
                                                                                         Pte  erste
                                                                                                a  b    0 . K
                                                                                                      „normale“
                                                                                                      1
                                                                                            E lt. Auf Gru       la ss
                                                                                                                   n d  la  ge   d e
                                                                                                                         Ausstellung        des   Max-
                                                                                                                                                      N Z A  H L
                                                                                                                                                              der  1 – 2
                                                                                                                                                                    Präsenzausstellung    g
                                                                                                                                                                   Die Fortbiln und die Meth
                                                                                                                                                                                            o  g is c
                                                                                                                                                                                                  überh  e die
                                                                                                                                                                                                           n  Had
                                                                                                                                                                                                                oWebsite
                                                                                                                                                                                                                   nednlungsstr
                   T ra d itio  n  e  n                        o  p   Z IE  L  Gv R
                                                                                  e UPit
                                                                                   rm                                     E F E R  E N  T  *I NNECo-                            ff e d
erungen und                                                 eschichte L mind. 6 –omßaex.n 2w5erd                       R en.                                            fgegri         ung unters                                  a tegi
                ren,   die   bisher
                               FhODReM
                                         wenig  Work   egsh
                                                   Aufmerksamkeit
                                         mAoTkratihaben.“
                                                                               in
                                                                             Hratie rona
                                                                                        Leven-Zentrums
                                                                                               e  st
                                                                                                                   musste      leider   wegen
                                                                                                                                            ichtehier
                                                                                                                                          hauch       können A
                                                                                                                                                              des   Zentrums
                                                                                                                                                                   auntisemitis
                                                                                                                                                                                   anmelden.
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             S  der
                u c h e  n a c
                      Forschung          erfahren     R  *I  N  N E  N  Zo Ak           a n  g   digital     stattfinden.
                                                                                                                    e r L  o k a lg e
                                                                                                                                 Aber sc                                             m   u  s                               n d Ih r Koll
ur lokalen                     üTbEeILrNdEieHhMeEutige Dem             E IS     K o n    rete Asich
                                                                                      khatte             kte d
                                                                                                    spedas        Zentrum        eine h  e
                                                                                                                                         Alternative          Corona       zwingt    uns     zu
                                                                                                                                                                                               im pädago
                                                                                                                                                                                                  Behelfslösungen,gischen RaINHA
                    ion  e  n                               HIN
                                              DERERAnknüpfungs-     W                                                             sc
                                                                                                                 n. d prakti lebendiger zu aber                                                                                   um. L
 nnen Diskuss   Bislang hatte   BESich   ONwenige
                                                                      u  frta u+sgm      thte
                                                                                         ch
                                                                                    erieüberlegt,  wceh
                                                                                              odt is    rdeeunAusstellung
                                                                                                        die
                                                                                                                                                                  ZIEgenau
                                                                                                                                                                        LE Sdas   ensib istilisder Rundgang des unte
                                                                                                                                                                                                ie
                                                        p
                                                  shicohte s  d vaora
                                                                    r O                                                                                                                            ru  n g                             rsc
                                    etiseW        h
                                              rkZusammenhalt
                                          geosc                                                   haberNichtvor auf  Ort einmal,e e.V.,sondern
                                                                                                                                                                 Antisemitis
                                                                                                                                          Berlin je- Max-Leven-Zentrums                         Solingenfünicht.r AntisEr emitnis
                punkte ozu
                 r D  e m     k
 lisierung füKonflikten inheinem
                                 dLeben,
                                ra
                                                                   okranwie
                                                                            und
                                                                            ti e  u n d gestalten:
                                                                                          T  e il           D  e m   o k ra  ti
                                                                                                  – Fü wurde ein weiterer Teil der
                                                                                                                                                                                   m  u sA  bne itJiusgeeEinblick
                                                                                                                                                                                                           mdliicthiesund
                                                                                                                                                                                                                                icmh tuasls+
                             e  sc      ic h te so    n DemMilieu
                                                 voengen         G  e g e     Vergeden  ssenSamstag           IN   H  A L  T       – 7  Z  e it st u n den bietet einen faszinierenden                     n           nmu   P s
                                                                                                                                                                                                                               ot
                 g der     G                            N
                                                  TIO Zeit. Deshalb im Mai 2021                                     AUER 4WieAusstellung zeigen sich istFOauch                                                                    e
ur Erkundunder Arbeiterschaft     INSTITUdieser
                                                                                  c h e„… FachkräfteWD
                                                                                                               fertiggestellten
                                                                                                                 e
                                                                                                                                                                     RMAals
                                                                                                                                                             aGenerationen
                                                                                                                                                               n  ti              ortbildung für kommendeDa nzial
                                                                                                                                                                            T FBewahrung
                                                                ä d  a g o  g  is                                   lc h e  p  ä dagogisch                     T E   s e m
                                                                                                                                                                    ILNEHis it                        Z  IE L  G RUPPE         b e
                war es spannend fürKmich,           sse; p mir   den    Rund-                  und    laut    zu
                                                                                                           1D–2     sagen:     Nein!“      veröffent-                          Mche Ein
                                                                                                                                                                                   wichtig.                                        is
                          PE ab 10. la
                                                                                                                                                                                                 ■
      p  Z IE L G  RUPanzuschauen.
                gang                             Allerdings   F  E  R E N
                                                                    birgt   T  *
                                                                             ein        ENZund
                                                                                 INNlicht        AHLgab        ie FEinblicke
                                                                                                               so     o  rt b il
                                                                                                                              e  n
                                                                                                                                 d  u
                                                                                                                                   in n
                                                                                                                                      died  d  ie  Meenth
                                                                                                                                            Strategi-    Hoad nednlungsstr ER*INNsEteNllZuAnHgLenmbei Jruungpgäsdagpoige
ksh o                                                   R   E                                                        egri   ff     ung unters                                   a  tegien gib                        in d      e ne
             A Hvirtueller     . 6 – max. 25 auch die eMög-
                  L mindStadtrundgang                                     sc  hichte            nnen A
                                                                                        en,köFormen
                                                                                                              ufgBedingungen
                                                                                                           aund
                                                                                                              ntisemitis                   des Solin-  tütztIN SieSTuITnU    T                        t es? Was is. 10 – mdrafliaxch.h2r
* IN N E N Z                                            r  L o  k a lg                                                           m   u                                     d   IO
                                                                                                                                                                              Ih r NK     B                            Z  t in k
                                                                                                                                                                                                                         IELE onkre
                lichkeit,
                      n k re te Azu
                             sich         ekte de wie ich :einmal ger Widerstandes.
                                      spverlaufen,                                                                     Aktuell kann    s im man  päsich
                                                                                                                                                     dagogisch                       ollegiliu  dum  ngbsestäi dtteer A
          E IS  K  o                                                                                             e                                                     e n                                              n
                                                                                                                                                                                                                      kein
                                                                                                                                                                                                                      E n twe FranWka, Fr
R HINW                                                          ch  an                                    ni  ck                                                            Raum.                                         te icklu
                                                        Si e si                                     W  un
                feststellen musste.  wtteerd
                                  t Bi      wenende. n            r Demokratie
                                                                                        V. I Ru
                                                                                     e. für     th
                                                                                                         ZIE
                                                                                              Themenführungen)30L26 E3 97 83jeden Sonntag in                n+                                                                        nghrv
                           sgerichte                                                                                Sensibilisie
                                                                                                DEMOKRATIE IST WICHTIG. PUN
                                                         sen – Fü                             l.: +49 (0
ps darauf au                             Gegen Verges
                                                            aß e 13-14 I 10.,
                                                                              785 Berlin I Te
                                                                              B e rl in              A
                                                                                                    ergenti
                                                                                                         ss en
                                                                                                            se .de
                                                                                                                m
                                                                                                                                 rung für An       stru
                                                                                                                                                         ktur mp
                                                                                                                                             tisemVergessen
                                                                                                                                                                   E
                           Corinna Koselleck
                                                  nb
                                                   e
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                                                     m
                                                       gs
                                          Stauffe studiert
                                                        o
                                                          tr
                                                           k ra       e.V
                                                                 tierges sen.de I ww
                                                               Rechtswissenschaft      w.geg en
                                                                                            an
                                                                                                  -v
                                                                                                 der               itismusBochum
                                                                                                       Ruhr-Universität    b ei     und     Gegen itismus +    e n
                                      n –  Fü r D             n-ve                                                              J
                                                                                                                              Entwicklun
                                                                                                                                  ugen d
                                                                                                                                                 FÜR DEMOKRATIE
                   erg         e ss e          ni cke@  ge ge
                                                                                                 hen                                    lic       g von Han
N Gegen Vwar vorher Freiwillige im FSJ Kultur an der Villa ten Hompel
                                          w un                                                                                                  F
                                                                      in Münster.
                                                                FORMAT F                                                                          O  R MAT dlung
                                                                            ortbildung                                                        T
                                                                TEILNEHM                ZIELGRUP                                                E ILNE Works
                                                                                                                                                  Informationen für Mitglieder, Freunde und Förderer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

                                                                            ER*INNEN         Bitte weP E    p  äd  a g gische F                           HME           h
                                                                                       ZAHLGeg
                                                                               Bildungsangebote       ndfür
                                                                                              meninVedrg
                                                                                                         en Sie   sichoaGesellschaft
                                                                                                               eine                   a  c h     in   Vielfalt   R * I
                     www.gegen-vergessen.de                                                           . 1es0se–n m       n :               INkräfte                    NN
                                                               INSTITUT
                                                                          ION Bild          Stauffenb            – Fü     24okrRatEieFe.ER STITUDTAUER 7 Ze
                                                                                                                    arxD.em
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                                                                                                                                            I RN T*WINunN  ION
                                                                                     ungsstä                                                             nicEkeNZAHL
                                                                                            wutt                   13-14 I 1078                uth
                                                                                               nneicke@ge                                                            Al
                                                                                                    AnnegeFra                   5 Berlin I Te
ie sich an:                                                                                                                                                  0 263 97 83te
                                           ni cke                                                              n-vner                           l.: +49 (0)3
                    tie e. V. I Ru th W un                                                                          k, Fra.dnekIfu
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                                        DEMOKRATIE IST WICHTIG. PUNKT!
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              1078   5 Berlin I Tel.:    en.de                                                                                      B                                                                                                      itte
raße 13-14 I                egen-vergess                                                                                                                                                                                                        wen
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                                                                                                                                                                                                                                             en     den
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                                                                                                                                                                                                                                            ffen      sen         n:
                                                                                                                                                                                                                                       wun       be       –F
                                                                                                                                                                                                                                           nick rgstraß ür Dem
                                                                                                                                                                                                                                                e@g       e          o
                                                                                                                                                                                                                                                    egen 13-14 I krat
                                                                                    te wenden   Bit                                                                                                                                                     -ver       1078
                                                                                                                                                                                                                                                            gess        5B
                                                                       Bildungsangebote
                                                                                 Gegen    fürSieeine
                                                                                                 sich aGesellschaft
                                                                                                       n:           in Vielfalt                                                                                                                                  en.d
                                                                                                                                                                                                                                                                      eIw
                                                                                                      Vergessen
                                                                                               Stauffenb         – Für Dem
                                                                                                         ergstraße          okratie e.
                                                                                                                   13-14 I 107         V. I Ruth W
                                                                                               wunnicke                        85 Berlin I          unnicke
                                                                                                        @gegen-v                            Tel.: +49 (0
                                                                                                                   ergessen.d                            )30 263 97
                                                                                                                              e I www.g                             83
                                                                                                                                          egen-verg
                                                                                                                                                       essen.de

                                                                                                                           www.gegen-vergessen.de

                      10   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021
SCHWERPUNKTTHEMA
            Interview

            „Schulbücher sind ein Spiegel der Gesellschaft“
            Riem Spielhaus ist Professorin für Islamwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen und leitet die Abteilung „Wissen
            im Umbruch“ des Georg-Eckert-Instituts (GEI). Steffen Sammler ist promovierter Historiker und forscht in der Abteilung „Wissen im
            Umbruch“ zur Geschichte der internationalen Schulbuchgespräche. Im Interview geben sie uns Auskunft über ihre Forschungen.
Foto: GEI

                                                                                                                                                           Foto: GEI
                                                          schulbücher im Mittelpunkt, später ka-
                                                          men Geografie, politische Bildung und
                                                          Werteerziehung/Religion hinzu. Die In-
                                                          haltsanalyse wurde erweitert und wird
                                                          heute mit dem Anspruch betrieben, parti-
                                                          zipativ zu arbeiten. Ein Beispiel dafür sind
                                                          das deutsch-polnische Geschichtsbuch
                                                          „Europa – unsere Geschichte“ und das
                                                          europaweite Projekt zur Analyse der Dar-
                                                          stellung von Roma in Schulbüchern und
                                                          Lehrplänen aus 22 Staaten. Dabei konn-
                                                          ten die unterschiedlichen Wahrnehmun-
                                                          gen nur gemeinsam mit Forschenden der
                                                          Roma-Communities in die Betrachtung
                                                          einbezogen werden.

                                                          Viele junge Menschen kommen
                                                          in erster Linie im Unterricht mit
                                                          Geschichte in Berührung. Was bietet
                                                          die Untersuchung von Schulbüchern?
                                                          Riem Spielhaus: Schulbücher sind Mani-
            Steffen Sammler                               festationen der Geschichtsschreibung –          Riem Spielhaus
                                                          und zwar von einer sehr massenwirksa-
            Herr Sammler, Sie untersuchen die             men. Ein gutes Geschichtsbuch kann an           derer wichtiger Punkt ist, dass auch die
            Geschichte des GEI. Welche Aufga-             die Generationen wirklich hautnah heran-        zugrundeliegenden Weltanschauungen,
            ben hat das Institut? Haben sie sich          kommen und Millionen von Schüler:innen          Denkmuster und Ideologien behandelt
            seit der Gründung geändert?                   erreichen. Deshalb sind Geschichtsbücher        werden. Das lässt sich an der Behandlung
            Steffen Sammler: Das GEI wurde 1975           auch so interessant für die Forschung. Wir      des Nationalsozialismus verdeutlichen.
            als eigenständiges Forschungsinstitut mit     untersuchen Bildungsmedien nicht nur im         Themen wie der Holocaust können heute
            der Aufgabenstellung gegründet, durch         Hinblick auf ihre didaktische Wirksamkeit,      in guten Schulbüchern auch in ihrem pro-
            anwendungsbezogene Forschung zur              sondern als Reflexion gesellschaftlicher        zesshaften Charakter der systematischen
            Erarbeitung von Schulbüchern für eine         Diskurse. Schulbücher sind daher so etwas       Ausgrenzung, Entrechtung, Enteignung
            friedens- und kooperationsfähige Ge-          wie ein Spiegel der Gesellschaft.               und Vernichtung behandelt werden. Das
            sellschaft der Zukunft beizutragen. Da-                                                       war nicht immer so. Die Aufgabe, die
            für sollten Schulbücher auf Feindbilder       Schauen wir in diesen Spiegel.                  genannten Phänomene nicht nur als Ein-
            und Stereotype hin analysiert werden. Es      Was zeichnet Geschichtsbücher in                zelphänomene zu behandeln, bleibt eine
            standen also Inhaltsanalysen im Mittel-       der Behandlung von Nationalsozia-               Herausforderung. Wie kann man sehr un-
            punkt der Arbeit. Dieser Auftrag wurde        lismus, Kolonialismus und DDR-                  terschiedliche Diktaturen behandeln so-
            um Forschungen zu Aneignung und Pro-          Geschichte aus? Haben sie sich                  wie deren Opfergruppen und Widerstand
            duktion der Schulbuchinhalte erweitert.       gewandelt? Was kommt zu kurz?                   würdigen? Und das in einem Lehrplan, in
            Darüber hinaus hat sich das GEI sowohl        Steffen Sammler: Geändert hat sich das          dem zwar der Stoff, aber nicht die Stun-
            institutionell, durch die Mitgliedschaft in   Selbstverständnis, dass Geschichte aus          denzahl zunimmt?
            der Leibniz-Gemeinschaft seit 2011, als       Quellen (multiperspektivisch) rekonstruiert
            auch methodisch stark verändert. Es ist       wird. Es werden nicht länger einfache, sta-     Riem Spielhaus: Aus Sicht von Ostdeut-
            in vielfacher Hinsicht diverser geworden,     tische „Wahrheiten“ vermittelt und stur         schen mag die DDR-Geschichte immer
            was Geschlecht, Herkunft und den diszip-      auswendig gelernt, sondern es wird deut-        noch zu kurz kommen. Ich würde mir
            linären Hintergrund seiner Forscher:innen     lich gemacht, dass Geschichte einen Re-         wünschen, dass sie als Querschnitts-
            angeht. Zunächst standen Geschichts-          konstruktionsprozess beinhaltet. Ein an-        thema aufgegriffen und nicht nur als »

                                                                                             Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021         11
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                    Screeshot:zwischentöne.info

                                                  Die Website zwischentöne.info bietet zahlreiche Unterrichtsmodule zum Download an.

                                     »Vorgeschichte der Wiedervereinigung be-                          Es scheint also noch Leerstellen zu          Was leisten diese Konzepte? Wie
                                                  handelt wird. Da geht Potenzial verloren.            geben. In Ihrem Projekt „Geschichten         versuchen Sie auf die gemeinsam
                                                  Die Kolonialgeschichte ist in den vergange-          in Bewegung“ bieten Sie digitale             identifizierten Leerstellen in
                                                  nen Jahren verstärkt in den Blickpunkt der           Materialien „für Vielfalt im Klassen-        Schulbüchern einzugehen?
                                                  Schulbuchforschung geraten. Lars Müller              zimmer“ an. Wie kam das Projekt              Riem Spielhaus: Wir versuchen Antwor-
                                                  hat beispielsweise afrikabezogenes Schul-            zustande?                                    ten auf die formulierten Bedarfe zu ge-
                                                  buchwissen der Jahre 1945 bis 1995 im                Riem Spielhaus: Das Projekt hat seinen       ben. Wobei Antworten vielleicht das
                                                  Ost-West-Vergleich untersucht und Patrick            Ursprung in der Debatte, die nach dem        falsche Wort ist. Die Konzepte regen zur
                                                  Mielke hat beobachtet, inwiefern koloni-             Sommer 2015 angestoßen wurde. Da-            Reflexion des gesellschaftlichen Wandels
                                                  alrassistische Imaginationen im aktuellen            mals war die Frage: Inwiefern wandelt        an. Das Einstiegsmodul „Geschichte(n)
                                                  Geschichtsunterricht eine Rolle spielen. Hier        sich unsere Gesellschaft im Kontext von      der deutschen Migrationsgesellschaft“
                                                  ist herausgekommen, dass sich sowohl                 Migration? Und inwieweit betrifft dieser     eröffnet das Thema Einwanderung, er-
                                                  bezüglich der Bilder und Vorstellungen               Wandel das Sprechen über Geschichte?         möglicht einen Zugang zu aktuellen und
                                                  „Afrikas“ als auch in der Darstellung von            Wir fragten in diesem Projekt danach,        vergangenen Kontroversen und fördert
                                                  Kolonialismus allmählich etwas verändert.            welche Herausforderungen und Bedar-          die eigene Positionierung. Den beim
                                                                                                       fe die Praktiker:innen sehen. Welche         Thema Kolonialherrschaft identifizier-
                                                  Reichen diese Veränderungen aus, um                  Veränderungen stellen sie fest? Welche       ten Leerstellen widmet sich das Modul
                                                  die Gesellschaft adäquat abzubilden?                 Impulse kommen aus non-formalen Ge-          „Postkolonial Erinnern“. Den Blick der
                                                  Riem Spielhaus: Es zeigt sich, dass Kolo-            schichtsinitiativen und von Menschen,        Schüler:innen auf den Ersten Weltkrieg
                                                  nialismus im Kontext von Imperialismus               die sich in unterschiedlichen Kontexten      um eine globale Perspektive zu erwei-
                                                  behandelt und auch Rassismus als Struk-              historischen Lernens wie Schule, Muse-       tern, hilft das Modul „Dschihad made
                                                  turelement und Legitimationsmuster von               en und Gedenkstätten verankert fühlen?       in Germany“. Wie hat die deutsche Re-
                                                  Kolonialismus in seiner Funktion themati-            Uns ging es dann darum, gemeinsam mit        gierung versucht, muslimische Kriegsge-
                                                  siert wird. Das ist übrigens einer der we-           Praktiker:innen didaktische Ansätze und      fangene für die Strategie des „Heiligen
                                                  nigen Orte innerhalb von Schulbüchern,               Materialien zu entwickeln. Die Koopera-      Kriegs“ gegen die gegnerischen Kolo-
                                                  wo Rassismus überhaupt Thema ist! Ko-                tionspartner des Projekts an der FU Berlin   nialmächte zu aktivieren? – Die erste
                                                  lonialismus wird aber nach wie vor selten            und der Universitäten in Hildesheim und      Form deutscher Islampolitik, wenn man
                                                  eigenständig, sondern als Vorgeschichte              Paderborn haben dafür bundesweit Lehr-       so möchte. Das Modul „Schuld und Ver-
                                                  des Ersten Weltkriegs und Teilaspekt der             kräfte, Akteure aus Museen und Gedenk-       antwortung“ bezieht sich auf vielfältige
                                                  Außenpolitik des Kaiserreichs behandelt.             stätten, Bildungs- und Geschichtsinitiati-   Debatten zum Thema Holocaust in der
                                                  Schulbücher bemühen sich hier dann                   ven und Bildungsmedienverlage befragt.       postmigrantischen Gesellschaft. Fragen
                                                  zwar, auf koloniale Sprache zu verzich-              Dann wurden in drei Praxiswerkstätten        nach Schuld und Verantwortung werden
                                                  ten, aber das gelingt nicht durchgängig.             Fragen formuliert sowie Ergebnisse und       somit in einer neuen Weise aufgeworfen.
                                                  Die Schulbuchforschung hat nun die Auf-              Impulse diskutiert. So entstanden unter      Zur Vor- und Nachbereitung von Gedenk-
                                                  gabe, zu untersuchen, inwiefern Diskurse             anderem die fünf mittlerweile auf zwi-       stättenbesuchen eignet sich unser Modul
                                                  und rassistische Stereotypen in Schulbü-             schentöne.info veröffentlichten Konzepte     „Bedeutung und Wirkung von NS-Ge-
                                                  chern reproduziert werden.                           für den Unterricht.                          denkstätten“. Wir haben noch einige Er-

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weiterungen im Hinterkopf, die Lehrkräf-      terrichtsstunde dauert 45 Minuten. Die         würde mir wünschen, mit unseren Ma-
te dabei unterstützen sollen, vielfältigere   Aufmerksamkeit ist begrenzt.                   terialien gerade die jüngeren Jahrgän-
Migrationsgeschichten für den Unterricht                                                     ge, Haupt- und Realschüler:innen, viel
zugänglich zu machen. Zum Beispiel die        Dass in Schulbüchern Diversität wich-          besser zu adressieren. Das ist eine echte
Geschichte chilenischer oder vietnamesi-      tig ist, leuchtet ein. Apropos: Wer            Kunst! Hier sind wir immer für Anregun-
scher Geflüchteter sowie mosambikani-         schreibt eigentlich Schulbücher?               gen und Ideen aus der Praxis dankbar –
scher Arbeitsmigrant:innen in der DDR         Riem Spielhaus: Wir haben festgestellt,        gerne auch von Ihren Mitgliedern. ■
und der Bundesrepublik. Diese Migrati-        dass die Schulbuchverlage immer noch
onsgeschichten sind kaum bekannt, ver-        wenige Personen mit Migrationshinter-                Die Fragen stellte Thomas Stein.
deutlichen aber, dass Migration kein rein     grund beschäftigen. Das erkennen auch
westdeutsches Phänomen ist und immer          die Verlage selbst und sagen, dass sie mehr
schon ein Teil dieser Gesellschaft war.       Diversität anstreben. Allerdings zeigt sich
                                              auch unter Lehrenden und in der Studie-        Nützliche Links:
Es geht also darum, mehr migranti-            rendenschaft für Lehramtsstudiengänge,         ■ http://www.gei.de/home.html
sche Perspektiven aufzugreifen und            also dem Rekrutierungspool der Verlage,        ■ http://www.gei.de/abteilungen/wissen-
zu repräsentieren?                            ein deutlich geringerer Anteil an Men-           im-umbruch.html
Riem Spielhaus: Aus meiner Sicht ist es       schen mit Migrationserfahrung oder -hin-       ■ https://www.zwischentoene.info/
nicht das Wichtigste, ein paar mehr mi-       tergrund als in der Gesamtgesellschaft.          themen.html
grantische Perspektiven zu geben. Viel-       Es ist also weder bei Lehrenden noch           ■ https://geschichten-in-bewegung.
mehr geht es darum zu reflektieren, was       unter Schulbuchautor:innen mittelfristig         hosting.uni-hildesheim.de
Geschichtsunterricht und historisches         eine automatische Angleichung abseh-           ■ https://docupedia.de/zg/Schulbuecher
Lernen in der pluralen Gesellschaft hei-      bar. Deshalb bedarf es neben der aktiven
ßen kann und soll. Wichtig ist es, unter-     Suche nach vielfältigen Autor:innen ide-
schiedliche Blickwinkel und Perspektiven      enreicher Formen der Schulbuchgestal-
anzusprechen und einzubeziehen – und          tung. Möglich wäre es, vermehrt externe
so den Umgang mit konkurrierenden             Expert:innen mit Migrationshintergrund,
Narrativen der Vergangenheit thema-           zum Beispiel aus Geschichtsinitiativen, als
tisch aufzugreifen. Allein schon, um auf      Gutachter:innen zu beteiligen. Ein weite-
die Diversität der Schüler:innenschaft,       rer Weg sind Fortbildungen und Work-
deren Bedürfnisse und Neugier einzu-          shops für Bildungsmacher:innen. Unserer
gehen. Unabhängig von der Zusammen-           Erfahrung nach sind Verlage hier generell
setzung der Schüler:innenschaft muss          sehr offen für Diskussionen, Reflexion
Rassismus in der deutschen Geschichte         und Impulse.
behandelt werden. Das ist weitgehend
eine große Leerstelle, die stärker aufbe-     Am Schluss noch einmal zurück zu
reitet gehört! Außerdem sollte deutsche       „Zwischentöne“: Wer nutzt die Mo-
Geschichte über Deutschland hinweg            dule in der Praxis? Und wie fällt das
thematisiert werden. Als Beispiel sei die     erste Feedback aus?
Geschichte der Sinti:zze und Rom:nja          Riem Spielhaus: Die Materialien auf der
im Nationalsozialismus und darüber hi-        digitalen Lehr- und Lernplattform sind
naus genannt, die die Kontinuitäten           nicht nur für den Geschichtsunterricht,
rassistischen Gedankenguts gegenüber          sondern auch für den Politik-, Religions-
einer konstruierten Gruppe sehr gut           und Ethikunterricht gedacht. Das Spekt-         Das Georg-Eckert-Institut – Leibniz-
verdeutlicht. Es geht hier auch nicht         rum ist generell groß und nicht nur auf die     Institut für internationale Schulbuch-
um Einwanderungsgeschichte! Sinti:zze         innerschulische Verwendung begrenzt.            forschung (GEI) ist eine außeruniver-
und Rom:nja sind seit rund 500 Jahren         Unser Ziel ist es, dass Menschen in allen       sitäre wissenschaftliche Einrichtung zur
in Europa ansässig. Stattdessen geht es       erdenklichen Kontexten Impulse aus un-          Erforschung schulischer Bildungsme-
um Diversität und deren Normalität, die       seren Materialien mitnehmen. Was das            dien. Mit derzeit rund 180.000 Print-
zu Deutschland vor dem Nationalsozia-         Feedback angeht: Im Rahmen von Schu-            und Onlinemedien verfügt es über die
lismus gehörte und vernichtet wurde.          lungen und Fortbildungen für Lehrkräfte         weltweit größte Schulbuchsammlung
Hier gäbe es viele persönliche, Empathie      bekommen wir regelmäßig Rückmel-                für die Fächer Geschichte, Geografie,
ermöglichende Geschichten zu erzäh-           dungen. Wir stellen dann auch mal das           Sozialkunde / Politik und Werteerzie-
len. Dafür braucht es allerdings auch         Material wie im Unterricht vor. Hier zeigt      hung / Religion. Das GEI berät Bildungs-
Lehrkräfte, die Initiative zeigen und an-     sich, dass es für uns eine Herausforde-         politik und -praxis und koordiniert in
gesichts dichter Lehrpläne Platz im Un-       rung ist, sehr komplexe Sachverhalte            internationalen Schulbuchangelegen-
terricht schaffen. Hier zeigt sich die He-    für alle gut verständlich zu erklären. Ich      heiten.
rausforderung, die übrigens sowohl für
Schulbücher als auch für digitale Mate-       Thomas Stein ist studentischer Mitarbeiter in der Geschäftsstelle von Gegen Verges-
rialien gleichermaßen besteht: Eine Un-       sen – Für Demokratie e.V. und studiert Geschichtswissenschaften in Berlin.

                                                                                Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021   13
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                        Dario Treiber

                        Historisches Lernen im Hochbildformat?
                        Instagram als Ort der Begegnung mit der Geschichte des Nationalsozialismus

                        Die Geschichte des Nationalsozialismus

                                                                                                                                                                             Quelle: Instagram, @eva.stories
                        begegnet uns in den unterschiedlichsten
                        Räumen: im Geschichtsunterricht, in Mu-
                        seen und Gedenkstätten, im Fernsehen
                        und vermehrt in den sozialen Medien.
                        Eine der neuesten Formen der histori-
                        schen Begegnung im digitalen Raum
                        lässt sich auf Instagram beobachten. Im
                        Mai 2019 wurde hier mit @eva.stories
                        erstmals ein Format veröffentlicht, das
                        suggeriert, dass eine historische Person,
                        in diesem Fall das jüdische Mädchen Éva
                        Heyman, über ein Smartphone verfügt
                        habe, um ihren Alltag und ihre Verfol-
                        gung bis hin zu ihrer Deportation zu do-
                        kumentieren und zu veröffentlichen. Die
                        historische Person Éva Heymann wurde
                        im Juni 1944 aus dem besetzten Ungarn
                        nach Auschwitz deportiert und ermordet.
                        Die Instagram-Storys basieren auf dem
                        Tagebuch „Das rote Fahrrad“, das nach
                        ihrem Tod von ihrer Mutter veröffentlicht        Die Videos von @eva.stories haben teilweise mehrere Millionen Aufrufe.
                        wurde und dessen Echtheit umstritten ist.

                        Auf dieser Quellengrundlage haben der            bei @eva.stories der Fall ist, häufig selbst          Die Kritik ist facettenreich und kann an
                        Unternehmer Mati Kochavi und seine               und führt Monologe vor der Kamera, in                 dieser Stelle nur in Teilen skizziert wer-
                        Tochter Maya Kochavi das Projekt um-             der sie ihre Gedanken und Emotionen                   den: Die behandelte Thematik werde
                        gesetzt. In einem Beitrag der Frankfurter        artikuliert. Fiktionale und historische Be-           durch das Medium Instagram banalisiert
                        Allgemeinen Zeitung vom 2. Mai 2019              gebenheiten werden in den Darstellun-                 und der Rahmen, in dem dies stattfindet,
                        mit dem Titel „Was, wenn ein Mädchen             gen kombiniert. Damit wurde eine neue                 sei unangemessen. Zudem werde nicht
                        im Holocaust Instagram gehabt hätte“,            Form der Begegnung mit der Geschichte                 kenntlich gemacht, auf welchen Quel-
                        wird der Initiator auf die Frage nach der        des Nationalsozialismus und des Holo-                 len die Darstellungen beruhen und an
                        Intention so zitiert: „Im digitalen Zeitalter,   causts eingeführt, die heftige Kontrover-             welchen Stellen die Inszenierung von der
                        in dem die Aufmerksamkeitsspanne kurz            sen ausgelöst hat. Beide Formate haben                Quellengrundlage abweicht.
                        und das Bedürfnis nach Nervenkitzel hoch         innerhalb kürzester Zeit eine immense
                        ist, ist es extrem wichtig, neue Modelle         Reichweite entwickelt und stark polari-               Die fiktionalen Bestandteile der Darstel-
                        der Zeugenaussagen und Erinnerung zu             siert. Beim Lesen der Kommentare auf In-              lungen sind nicht eindeutig gekennzeich-
                        finden – auch angesichts der sinkenden           stagram lassen sich die darin ausgemach-              net. Die Emotionalität, die in den Kom-
                        Zahl von Holocaust-Überlebenden.“                ten Vorteile in etwa so zusammenfassen:               mentaren häufig als nachahmenswertes
                                                                         Durch das Medium Instagram werde ein                  Spezifikum des Projekts charakterisiert
                        Im April dieses Jahres folgte mit @ich-          niedrigschwelliges Angebot geschaffen,                wird, stellt aus geschichtsdidaktischer
                        binsophiescholl ein Projekt von SWR              das ansprechend gestaltet sei und somit               Perspektive nicht nur eine Chance, son-
                        und BR mit dem gleichen Schema: Eine             die Beschäftigung mit dem historischen                dern eine Herausforderung dar. Denn
                        historische Person, hier Sophie Scholl,          Gegenstand gerade für Jugendliche anre-               Emotionen können, auch durch eine
                        wird auf Instagram inszeniert und die            ge. Außerdem stelle es eine emotionale                Darstellung, die eine Unmittelbarkeit
                        letzten Monate ihres Lebens werden von           Nähe zu historischen Personen dar, die                zur historischen Person ermöglicht, nie-
                        Schauspieler*innen nachgestellt (siehe           ebenfalls lernfördernd wirke und ein Hin-             mals nachempfunden werden. Für das
                        Zeitschrift 108). Dabei filmt sich die Dar-      einversetzen in eine historische Situation            Verständnis vergangener Lebenswelten
                        stellerin der Sophie Scholl, wie dies auch       sowie deren Verstehen ermögliche.                     ist nicht die Identifikation mit einer his-

                   14   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 109 / September 2021
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