Brutal. Zynisch. Arrogant 07/20 - DEUTSCHE POLIZEI Juli 2020
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DP 07 DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 Inhalt IN EIGENER SACHE Kommentar Hinterfragt George Floyd. Der Name des verstorbenen 2 Pauschalitäten vermeiden – 24 Kommt die Corona-Katharsis? Afroamerikaners ist innerhalb kürzester Zeit Konstruktiv reflektieren um die Welt gegangen. Er verlor sein Leben, weil ein weißer US-Polizist unverhältnismä- Im Gespräch ßige Gewalt anwendete. Gegen einen Schwar- zen, mal wieder. Die Kritiker der amerikani- Titel 34 „Das Erregungslevel der Gesellschaft schen Polizei sagen, das habe System. Grund- steigt” sätzlich werde gegen Afro-Amerikaner härter 6 Verstörende Menschenbilder vorgegangen, schneller die Waffe gezückt – und geschossen. Die Bilder von Floyds Todes- 14 Täter als Opfer als Täter Innenleben kampf sind erschütternd. Womöglich fallen daher die Proteste gegen diesen offensichtli- 36 70 Jahre GdP chen Rassismus und die überzogene Gewalt Tarif so massiv und teils auch gewalttätig aus. Wie ist vor diesem Hintergrund die Stim- 18 Das Geschwätz von gestern Termin mung in den Reihen unserer Polizeibeschäf- tigten? Wie reagiert eine Polizei, die sich 19 Eine Halbzeitbilanz 20 Mit dem Bike gemeinsam ins Grüne ebensolchen Anschuldigungen und pau- schalen Unterstellungen ausgesetzt sieht? Sie reagiert mit Selbstbewusstsein. Wa- Hilfreich Soziale Medien rum auch nicht. Sie weiß, was sie kann. Sie weiß, wofür sie steht. Sie weiß, dass der Groß- 20 Mitbestimmung in Pandemiezeiten 5 Was das Netz bewegt teil der Bevölkerung ihnen vertraut. Unterdessen ist eine zunehmende aggres- 21 Aktiv mit Nadel und Faden sivere Grundhaltung im täglichen Umgang Nachruf mit dem sogenannten polizeilichen Gegen- 22 Das Fristende für die Steuererklärung über kaum zu leugnen. Selbst geringfügigs- 2019 naht 40 Mitbegründer und einziger te polizeiliche Maßnahmen werden da teils Vorsitzender der Gewerkschaft der barsch hinterfragt. Nicht selten kommen Volkspolizei verstorben noch Personen hinzu, solidarisieren sich mit Hingeschaut dem vermeintlichen Opfer, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, worum es 4 Bunt wie die Gesellschaft Forum überhaupt geht. Und dann gibt es noch Gruppen, die ihren 29 Sportstars im Fokus des Verbrechens 39 Lesermeinung Hass auf die Polizei regelrecht kultivieren. Um diese Menschen geht es im Schwerpunkt- 33 Sicheres Kreuzfahren 40 Impressum thema dieser Ausgabe. Unter dem Deckman- tel vermeintlich politischer Parolen, getrie- 38 Gerechtes Stellenkonzept ben von einem übersteigerten Selbstwertge- fühl und Verachtung für das „System“ wird dann Jagd gemacht – auf die Polizei. Unter dem Strich bleiben Straftäter. Für die Redaktion Michael Zielasko IN DIESER AUSGABE TARIFRUNDE Fußball geht immer, oder? Auch in GdP-Vize René Klemmer und die Bundestarifkommission der Gewerkschaft der Polizei haben in leeren Stadien? Na klar. Und die Fans? diesem Jahr noch einen wichtigen Termin: die Tarifrunde 2020 für die Beschäftigten des öffent- Egal, notfalls drapiert man mit Papp- lichen Dienstes von Bund und Kommunen. Unter den – auch wirtschaftlichen – Eindrücken der figuren das leere Rund. Und sonst? Pandemiezeiten sehen die Gewerkschaften die Verhandlungsrunde als wichtigen Gradmesser für Kamera an, keine Stimmung, aber die die Wertschätzung ihrer Arbeit. Klemmer: „Was hat eigentlich der öffentliche Dienst (öD) in diesen Kohle stimmt. Zeiten gemacht? Er hat funktioniert!“ Also: Kopf einziehen und wegducken: Nein!
2 DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 DP Polizistinnen und Polizisten sowie bei Un- beteiligten vorsätzlich in Kauf. Die Angreifer rufen „Feuer und Flamme für diesen Staat“ oder „Deutsche Polizisten – Mörder und Faschisten“, zünden Autos an und werfen Steine sowie Molotow-Cock- tails auf die Einsatzkräfte und greifen auch Gewerkschaftshäuser oder deren Fahrzeu- ge an. Sie stehen eindeutig außerhalb unse- rer Gesellschaft und müssen für ihr Handeln hart bestraft werden. Wer diese Gewalttäter in Schutz nimmt, ihrem Handeln Verständ- nis entgegenbringt oder mit ihnen gemein- same Sache macht, steht selbst im Abseits. Eine aufgeklärte, solidarische Gesell- Foto: Screenshot ARD schaft muss sich auf den Weg machen, Ras- sismus konsequent und dauerhaft zu ächten, nicht nur bei großen Demonstrationen nach gravierenden Vorfällen – vielmehr rund um DEBATTE UM POLIZEIGEWALT UND RASSISMUS die Uhr, um Alltagsrassismus auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Kneipen, Pauschalitäten vermeiden – auf der Arbeit, in Vereinen zu bannen. Nur eine sachliche und konstruktive De- Konstruktiv reflektieren batte im Miteinander über vermeintliche Ur- sachen oder mutmaßliche Entwicklungen kann zielführend sein. Es ist daher richtig, die politische Auseinandersetzung über Ras- sismus, Polizeigewalt und das Regierungs- handeln in den USA auch auf unseren Stra- ßen zu thematisieren. Es gibt jedoch keinen Dietmar Schilff Anlass, einen Zusammenhang mit den Vor- Stellvertretender GdP-Bundesvorsitzender fällen in den USA und dem Agieren unserer Kolleginnen und Kollegen herbeizureden. E nde Mai starb der schwarze US-Ame- gung ihre Unterstützung zu signalisieren Umfassend aus- und rikaner George Floyd bei einer Fest- sowie gegen Rassismus und Polizeigewalt fortgebildete Kolleginnen nahme durch Einsatzkräfte in Min- zu demonstrieren. Trotz überwiegend fried- und Kollegen neapolis im US-Bundesstaat Minnesota. Ein licher Kundgebungen kam es am Rande aber Polizist hatte fast neun Minuten in Floyds auch wieder zu teils massiven Angriffen auf Was genau ist gemeint, wenn unserer Poli- Nacken gekniet. Die verzweifelten Signale die Polizei. zei Rassismus struktureller, institutionel- des Festgenommenen, er könne nicht atmen, ler oder latenter Ausprägung vorgeworfen ignorierte der Polizist. Die Todesnachricht wird? Etwa eine vorsätzlich darauf ausge- des Afroamerikaners verbreitete sich rasant Hass auf den Staat richtete Aus- und Fortbildung? Oder dass über Onlineportale und soziale Medien. Die die Polizeiorganisation bei rechten, rassis- Empörung über Polizeigewalt ebenso. Bis Wir verurteilen diese Gewalt scharf. Die Tä- tischen und diskriminierenden Einstellun- nach Europa und Deutschland. ter instrumentalisieren die Versammlungen gen von Beschäftigten nur zusieht? Ist die Auch ich finde die Tat schockierend und für ihren Hass auf den Staat und die Polizei. Polizei „auf dem rechten Auge blind“? Das zudem irritierend, wie US-Präsident Do- Es ist heuchlerisch, die grundsätzlich guten alles weisen wir deutlich zurück. nald Trump die amerikanische Gesellschaft Absichten der Demonstrierenden ad absur- Mit gutem Grund: Wir haben sehr gut durch seine Äußerungen und sein Gehabe dum zu führen. Dabei ist den Feinden un- und umfassend aus- und fortgebildete Kol- spaltet. seres Rechtsstaates völlig egal, wofür oder leginnen und Kollegen auf der Straße, die Corona-bedingte Einschränkungen au- wogegen protestiert wird? Für diese Grup- den Polizeiberuf zudem als Berufung anse- ßer Acht lassend versammelten sich seit An- pierungen scheint es nur darum zu gehen, hen. Die Polizei macht interkulturellen Un- fang Juni bundesweit Zehntausende Men- Einsatzkräfte zu attackieren. Dabei nehmen terricht und Trainings zu diesem Thema. Es schen, um der „Black-Lives-Matter“-Bewe- sie teils lebensgefährliche Verletzungen bei arbeiten zunehmend Kolleginnen und Kol-
DP DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 3 legen mit einer Migrationsgeschichte in der Aus- und Fortbildung fortlaufend an. Die ihren in der Öffentlichkeit massiv disku- Polizei. Und alle haben einen Eid auf unse- Studiengänge werden im Übrigen von un- tierten Standpunkt weder zurück noch ent- re Verfassung abgelegt. Das sind Menschen, abhängiger Seite begutachtet und bewertet schuldigte sie sich bei der Polizei. Esken äu- die ein solides Demokratiebewusstsein ent- und erst nach einem hochschulrechtlichen ßerte, dass aus ihrer Sicht ihre Einlassung wickelt und die Prinzipien des Rechtsstaates Verfahren akkreditiert. Das macht die Poli- nicht ausreichend dargestellt wurde. Sie hät- verinnerlicht haben. zei nicht selbst, sondern verschiedene Ex- te sich viel differenzierter geäußert. Die Po- Genauso schaffen wir es, eine bürger- perten unterschiedlichster Richtungen. litikerin betonte, dass sie nicht die Absicht nahe Polizei zu sein, die seit Jahren in der Wir als die mit Abstand größte Interes- gehabt hätte, sich gegen die Polizei zu po- Vertrauensskala bei den Bürgerinnen und senvertretung der Polizeibeschäftigten sind sitionieren. Deren Arbeit bezeichnete sie in Bürgern ganz oben steht. Unsere Polizei ist es, die seit 70 Jahren positive Veränderun- Gänze als hervorragend. Dennoch müsse in der Gesellschaft fest verankert, ihre Be- gen in der Polizei einfordern und mitge- man sich mit Fällen von Diskriminierung, schäftigten sind Teil der Gesellschaft! stalten. Diejenigen, die der GdP vorwerfen, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus oder dass wir jegliche Kritik zurückweisen oder rechten Netzwerken in der Polizei weiterhin uns mit den bestehenden Problemen nicht intensiv befassen. Ihr täte es jedoch sehr Kritiker stellen Polizei in die befassen, verweise ich auf die Beschlüs- leid, dass sich Polizeibeschäftigte durch ihre rassistische Ecke se des GdP-Bundeskongresses 2018 in Ber- Äußerungen verletzt gefühlt haben. lin. Dann sollte auch den letzten Verdachts- Eskens‘ Auffassung spiegelt keineswegs Niemand sollte aber verschweigen, dass es schöpfern klar sein, dass die GdP vielmehr die Meinung der gesamten SPD wider. Na- Fälle gibt, in denen Polizeibeschäftigte un- eine intensive Auseinandersetzung mit Pro- hezu alle innenpolitischen Politikerinnen verhältnismäßig handeln oder sich so äu- blemen sucht als sie zu vermeiden. Und das und Politiker – auch parteiübergreifend ßern. Leider. Die Haltung der GdP ist in sol- ist gut so! alle Innenminister und -senatoren – haben, chen Fällen klar: Nach einem geordneten wie die GdP, ihre Position zurückgewiesen Verfahren erfolgen Konsequenzen, wenn und sich vor die Polizei gestellt. Es macht nötig juristische, und das geschieht auch. Offener Meinungsaustausch jedoch einen Unterschied, wenn Esken als Doch der Polizei und ihren Beschäftigten mit Esken SPD-Bundesvorsitzende solcherlei Auffas- eine rassistische Grundhaltung vorzuhal- sungen öffentlich „heraushaut“ – wie schon ten, ist abwegig, trägt populistische Züge Mit einer der Stimmen, die die Diskussion Anfang des Jahres nach den Ausschreitun- und wird den über 300.000 Polizeibeschäf- entfacht haben, konnte ich mich in meiner gen in der Silvesternacht in Leipzig-Conne- tigten und ihrer schwierigen Arbeit nicht ge- Funktion als stellvertretender GdP-Bundes- witz. Zuvor muss sie jemand „einfangen“ recht. Solche Vorwürfe sind verletzend und vorsitzender zeitnah auseinandersetzen. und sie beraten. zeigen letztlich, dass diese Ruferinnen und Nachdem ich der SPD-Bundesvorsitzenden Übrigens stellen auch Mitglieder anderer Rufer von dem, was die Polizei ist, von ih- Saskia Esken in einem Brief im Namen der Parteien die Polizei pauschal in die Ecke – ren Menschen, ihrer Arbeit, ihrer Denke, ih- GdP dargestellt hatte, dass sie mit ihren Äu- teils sehr populistisch. Geht es vermeintlich ren Ängsten und ihren Gefühle viel zu we- ßerungen über einen latenten Rassismus in um „Stimmenfang“? Dies jedoch vor dem nig wissen. Oder: Sie stellen die Polizei in den Reihen der Polizei weit über das Ziel hi- Hintergrund, das in Umfragen regelmäßig die rassistische Ecke, um sie bewusst zu dis- naus geschossen sei, wurde ich von ihr so- 80 Prozent der Befragten ihrer Polizei ver- kreditieren. wie dem niedersächsischen Innenminister trauen. Auf welche Vertrauenswerte kommt Manche und mancher meint, dass eine Boris Pistorius eingeladen, Mitte Juni bei eigentlich die Politik? unabhängige Kontrollinstanz „die Lösung“ einem Besuch der Polizeiakademie Nieder- Die GdP jedenfalls bietet weiterhin jeder für die Polizei sei. Aber für welches Problem sachsen in Nienburg dabei zu sein. Ich nutz- demokratischen Partei und ihren Politike- denn genau? Zudem ist in unserer bewähr- te das Treffen mit Esken zu einem offenen rinnen und Politikern offene und engagierte ten Gewaltenteilung kein Platz für eine vom Meinungsaustausch. Gespräche über Themenkomplexe wie Ras- Grundgesetz nicht gedeckte Schattenjustiz. Trotz der Zeitbegrenzung erhielt die Poli- sismus, Diskriminierung, Antisemitismus, Und auch der Ruf nach sogenannten Poli- tikerin zuvor einen – wenn auch sehr klei- Geschichtsklitterung, Ausländerfeindlich- zeibeauftragten wird nicht so weit führen, nen – Einblick in das Studium der Polizei- keit, Homophobie, Ausgrenzung, Gewalt wie Befürworter glauben. Die Möglichkeiten anwärterinnen und -anwärter. Insbesondere oder Extremismus an. Das Reden im Mitei- für Clearingstellen sind begrenzt und liegen war aber der Austausch mit den Studieren- nander ist doch viel gehaltvoller als das Re- allenfalls in der Vermittlung zwischen Bür- den und dem Lehrpersonal ausgesprochen den übereinander. gern und Polizei. Am Ende ist doch die Justiz wichtig. Sie übermittelten ihr eindrucksvoll am Zug. Was auch richtig ist. Denn die not- wie kompetent, dass der ihrerseits geäußer- wendige Kontrolle wird durch den Gesetz- te Vorwurf nicht zutreffend sei und bekräf- geber, die Staatsanwaltschaften und Gerich- tigten damit ihre positive und frei von rassis- te gewährleistet. Das ist das Prinzip unserer tischen Vorurteilen befindliche Einstellung Rechtstaatlichkeit. zu ihrem Beruf. Die Polizei kommt dem mit regelmäßiger Die SPD-Co-Vorsitzende nahm auf der ab- Selbstreflexion sogar entgegen und passt die schließenden Pressekonferenz in Nienburg
4 DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 DP Hingeschaut MENSCHEN IN DER POLIZEI mit der auflagenstarken türkischen Tages- Bunt wie die zeitung „Hürriyet”, die allein in Deutsch- land rund 70.000 Exemplare verkauft. Ver- lässliche Sicherheit sei „besser leistbar, wenn die Polizisten sich im entsprechen- Gesellschaft den Milieu auskennen”, betonte der dama- lige Innenminister und heutige CDU-Minis- terpräsident Volker Bouffier. Ziel der Medienkooperation war es vor allem, die Eltern potenzieller Nachwuchs- beamtinnen und -beamten in ihrer Her- Die Polizei wirbt um Bewerberinnen und Bewerber mit kunftssprache anzusprechen und sie zu überzeugen, dass der Dienst bei der Poli- Migrationshintergrund. Denn diese bringen nicht nur zei hierzulande ein angesehener Beruf ist. sprachliche und interkulturelle Kompetenzen mit, sondern Die Kampagne, die in ähnlicher Form zuvor auch im Stadtstaat Hamburg durchgeführt lassen auch die Polizei den Gesellschaftsstrukturen wurde, zeigte Wirkung: In Hessen beträgt hierzulande ähnlicher werden. der Anteil der nicht-biodeutschen Polizistin- nen und Polizisten mittlerweile 18 Prozent – das ist der zweithöchste Wert bundesweit. Bei teils deutlich unter zehn Prozent hinge- gen liegen Schleswig-Holstein und die ost- deutschen Länder – allerdings ist hier der Thomas Gesterkamp Migrationsanteil an der Gesamtbevölkerung erheblich niedriger. N awid Faalnazari arbeitet in der Poli- Bundesland einen Migrationshintergrund, Kein Sonderstatus zeiwache Köln-Nippes. Das Viertel seit 2010 ist der Anteil auf mehr als das Dop- nördlich der Innenstadt, nicht allzu pelte gestiegen. „Eine erfreuliche Entwick- Die besonders großen Erfolge der polizei- weit entfernt von den Standorten großer lung”, lobt Victor Ocansey, der im westaf- lichen Rekrutierungspolitik in Berlin sind industrieller Arbeitgeber, ist schon seit Jahr- rikanischen Ghana geboren wurde und umstritten. Denn in der Hauptstadt wur- zehnten von Einwanderung geprägt. Auf der heute Sprecher des Landesamts für Ausbil- den nicht nur verstärkt Werbemaßnahmen Einkaufsmeile Neusser Straße finden sich dung der NRW-Polizei ist. Er findet es wich- ergriffen, sondern die Einstellungsvoraus- die unterschiedlichsten Konsumangebote. tig, dass auch die öffentlichen Sicherheits- setzungen abgesenkt. Sogenannte inter- Auf die traditionelle Kölschkneipe folgt das behörden „die gesellschaftliche Vielfalt wi- kulturelle Kompetenztests gewichteten die angesagte Szenecafe, dem Thai-Imbiss ge- derspiegeln”. ausbildenden Stellen höher als die obliga- genüber liegt ein beliebtes marokkanisches torische Rechtschreibprüfung, an der vie- Restaurant. Auch in der einige hundert Meter le Bewerberinnen und Bewerber mit aus- entfernten örtlichen Polizeidienststelle spie- Starke regionale Unterschiede ländischen Wurzeln scheitern. Begründet gelt sich diese bunte Mischung. „Zu Beginn wurde die Änderung der Auswahlkriterien war ich einer von ganz wenigen Anwärtern Das Bemühen um die ethnische Diversifizie- mit dem Wert von Fremdsprachen wie Tür- ohne deutsche Wurzeln”, erinnert sich Faal- rung im Bereich der Polizei begann schon kisch oder Arabisch, die bei Einsätzen in mi- nazari, dessen iranische Eltern nach dem vor der Jahrtausendwende. 1993 forderte grantisch geprägten Quartieren äußerst hilf- Sturz des Schahs Ende der 1970er-Jahre nach ein Beschluss der Innenministerkonferenz, reich seien. Wer sich für die Polizeiausbil- Deutschland auswanderten. „Das hat sich dass auch Bürgern aus Nicht-EU-Ländern er- dung interessiere, brauche nicht unbedingt über die Jahre verändert, die Polizei ist heute möglicht werden sollte, als Polizistin oder perfekte Deutschkenntnisse, lautet das Ar- durchmischter, genau wie die Gesellschaft.” Polizist verbeamtet zu werden. Dieses An- gument der zuständigen Stellen. Mit ähn- Vor zehn Jahren hatte die nordrhein-west- liegen wurde mittlerweile umgesetzt, die re- lichen Äußerungen war kürzlich Baden- fälische Landesregierung eine Initiative ge- gionalen Unterschiede zwischen den Bun- Württembergs Ministerpräsident Winfried startet, die mehr Migrantinnen und Mi- desländern sind aber erheblich. In den Ein- Kretschmann auf erheblichen Widerspruch granten auf Arbeitsmöglichkeiten im öffent- stellungsrunden der letzten Jahre hatte zum gestoßen. Der frühere Gymnasiallehrer hat- lichen Dienst aufmerksam machen woll- Beispiel in Berlin bereits ein Drittel der An- te für „Entspannung” in der Rechtschreib- te. Nur knapp sechs Prozent der neu einge- wärterinnen und Anwärter einen Migrati- debatte plädiert, kleine sprachliche Mängel stellten Polizeibeamtinnen und -beamten onshintergrund. Das Land Hessen organi- hält er für kein Problem, dafür gebe es ja in- hatten damals im bevölkerungsreichsten sierte einst eine Werbeaktion gemeinsam zwischen elektronische Korrekturprogram-
DP DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 5 Soziale Medien Besucht uns im Netz GdP.de gdp.bund @gdppresse gdp.de me. Die Absenkung von Lernstandards kri- #unsereGdP tisch sieht der GdP-Bundesvorsitzende Oli- 200 Polizeibeschäftigte werden täglich ver Malchow, der immer wieder vor einer Opfer von Gewalt. Das geht aus einer „Aufweichung” der Anforderungen in den Statistik des BKA hervor. GdP-Vize Jörg Bewerbungsverfahren gewarnt hat. Radek bringt es auf den Punkt: „Es reicht. Das Maß ist übervoll.“ Auf Farsi In Nordrhein-Westfalen gebe es für Beam- Foto: GdP te mit Migrationshintergrund keinen Son- derstatus, weder bei den Auswahltests noch später im Dienst, betont Ausbilder Ocansey. Polizist Faalnazari erlebt bei sei- ner täglichen Arbeit im Kölner Multikul- Ente gut, alles gut. ti-Stadtteil Nippes zahlreiche Situationen, Die gelben Kollegen der BAO Bürzel haben in denen ihm seine Herkunft hilft. „Es gibt endlich Namen. Wir stellen vor: Boje, Harry Foto: GdP einfach Bereiche, da ist es für mich als au- und Ida. genscheinlichem Ausländer einfacher zu er- mitteln”, sagt der rheinische Beamte mit per- sischer Zuwanderungsgeschichte. Wegen Was das Netz bewegt … seiner schwarzen Haare und dem dunklem Teint fällt er in heiklen Einsätzen schon äu- ßerlich weniger auf als manche seiner bio- deutschen Kollegen. Zudem laufen gegen die Polizei gerichtete Rassismus-Vorwürfe bei ihm ins Leere: „Wenn ich bei Kontrollen Und dafür Danke!!! Ihr macht einen oder Festnahmen als Nazi beschimpft werde richtig guten Job, Hört niemals da- und dann auf Farsi antworte, sind die Leute mit auf!!!!! […] überrascht und werden meist schnell klein- laut.”I „„ Wer sich für die Die Schreihälse sind solange so laut bis sie euch brauchen und sind dann froh, wenn ihr für sie da seid! Polizeiausbildung interessiere, brauche nicht unbedingt perfekte Deutschkenntnisse, lautet Foto: GdP Nicht zu laut heulen! Sorgt lieber das Argument der #aufeinwort für Ordnung in Euren Reihen, dann bekommt ihr den Respekt, der zuständigen Stellen. Als Gewerkschaft präsentieren wir uns auch in den sozialen euch […]gebührt. Medien und treten mit Mitgliedern in Kontakt. Die bewe- gendsten Inhalte stellen wir hier vor. Ausgewählte Kommen- tare darauf bilden wir anonym ab. „Latenter Rassismus“, steigende Gewalt: Der Ton ist rauer geworden. Derzeit sam- #malebenkurzwasanderes voll der meln sich hunderte polizeifeindlicher Kommentare unter unnötige Beitrag unseren Beiträgen. Wie begegnet man diesen beleidigen- den und mitunter gewaltverherrlichenden Reaktionen? Mit Humor! Über 700 Menschen gefällt das, über 1.000 von ihnen haben den Beitrag geteilt.
6 Titel LINKSEXTREMISMUS: DIE ERBEN DER RAF Verstörende Menschenbilder Leipzig-Connewitz: Pflastersteine gegen die Polizei.
DP DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 7 Die Rote Armee Fraktion (RAF) ist Geschichte. Ihre Gründung jährte sich im Mai zum 50. Mal. Doch ist das Kapitel wirklich überwunden? Ein Blick nach Leipzig oder Berlin sowie zu diversen Anlässen zeigt: Nein. Ihre Ideologie lebt weiter. „Nur wollen wir das nicht wahrhaben“, betont DP-Autorin Prof. Dr. Dorothee Dienstbühl. Sie plädiert dafür, linksextremistischen Gruppen konsequent Grenzen aufzuzeigen. Prof. Dr. Dorothee Dienstbühl Foto: privat I n der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY… wäre die Tat ohne die Ausstrahlung in der ungelöst“ wurde Mitte April der An- populären Fahndungssendung gar nicht schlag auf eine Polizeiwache in Berlin erst bekannt geworden. In der Presse hin- gezeigt. Unbekannte hatten am 26. Februar terließ der Angriff jedenfalls kein Echo. Und 2019 in einem zuvor geklauten Postzustell- auch nach der Sendung hielten sich Bestür- wagen die darin befindlichen Zeitungs- zung und Betroffenheit in Grenzen. pakete mit 60 Litern Benzin übergossen. In der von der Pandemie geprägten Zeit Das Fahrzeug war dann direkt vor dem zeigen sich Linksextremisten gefährlich ak- Haupteingang des Polizeigebäudes in der tiv: In Stuttgart gingen Mitte Mai Tausende Invalidenstraße in Mitte angezündet wor- auf den Cannstatter Wasen gegen die Coro- den. Binnen Sekunden brannte der kleine na-Maßnahmen der Politik auf die Straße. Wagen lichterloh – mit Temperaturen von Die Protestierenden sind ein Mix aus Men- rund 1.000 Grad Celsius. schen, die schlichtweg Angst um ihre Exis- Das Feuer griff auf das Foyer des Gebäu- tenz haben, Verschwörungsgläubigen und des über. Dabei entwickelten sich toxische, Sympathisanten des rechten wie linken lebensgefährliche Gase. Der Anschlag ereig- Spektrums. Es gab bereits mehrere Demons- nete sich zwischen zwei und vier Uhr mor- trationen in der baden-württembergischen gens. Die Wache war zu diesem Zeitpunkt Hauptstadt: An diesem Tag kam es rund um besetzt, was auch an beleuchteten Räu- die Demonstration zu Übergriffen auf Teil- men zu erkennen war. Die Polizisten hatten nehmende, wie sie Stuttgart noch nicht er- Glück. Wer immer diesen Anschlag ausge- lebt hatte. Am Ende des Tages schwebte ein führt hat, der Schaden von Menschen und 54-jähriger Mann in Lebensgefahr. Viele möglicherweise auch deren Tod wurde bil- weitere waren verletzt, Fahrzeuge brannten, ligend in Kauf genommen. Autoreifen waren zerstochen. Der Sachscha- den geht in die Zehntausende. Das Landesamt für Verfassungsschutz „Aktionen“, die töten können (LfV) ordnet die Tat dem linksextremen Spektrum zu. Seit Jahren beobachtet es ein Auf der Online-Plattform „indymedia.org“ Anwachsen – und fürchtet weitere Gewaltes- tauchte ein entsprechendes Bekennerschrei- kalationen. Trotz eines Mannes, der um sein Foto: Sebastian Willnow/dpa ben auf, dessen Tenor auf eine linksextre- Leben kämpfen musste, verblieb der Schre- mistische Tat schließen ließ. Dieser An- cken auf der lokalen Ebene. Die überregio- schlag hätte prinzipiell einen bundeswei- nale Presse arbeitete auch hier die Hinter- ten Aufschrei verursachen müssen, jedoch gründe nicht weiter auf.
„„ 8 DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 DP Brandanschläge auf Polizeiwachen und Fahrzeuge sowie Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte, gegen die Presse, gegen Demonstrierende – ist das Antifaschismus? Foto: Sebastian Willnow/dpa Wohnungsdurchsuchungen in Leipzig-Connewitz: Mehrere Hundert Menschen protestierten Mitte Juni gegen die Polizeimaßnahmen. des Antifaschismus einen generell „posi- „Sie sind mit Totschlägern auf „Antifaschismus“ als tiv besetzten Terminus“. Das heißt: Mit die- das Team los.“ Relativierung und Waffe ser Selbstbezeichnung gehe in demokrati- schen Gesellschaften eine anerkennende Anders verhielt es sich mit den Angriffen auf Brandanschläge auf Polizeiwachen und und wohlwollende Wahrnehmung einher. ein Kamerateam der satirischen ZDF-„heute Fahrzeuge sowie Gewalt gegen Polizeibeam- Im historischen Kontext wird in Italien und Show“ am 1. Mai in Berlin: 15 Personen gin- tinnen und -beamte, die Presse, Demonstrie- Spanien Antifaschismus als „Ausdruck der gen – teils gefährlich bewaffnet – auf das rende – ist das Antifaschismus? Bereits hier Ablehnung einer autoritären Diktatur, die Team los. Der Satiriker Abdelkarim wurde offenbart sich das erste Problem: Der Begriff im angeblichen Namen von Nation und Volk von dem Angriff überrascht: „So etwas habe des Faschismus ist schwammig. In unzähli- Grundrechte aufhob und Oppositionelle ver- ich noch nie erlebt, so feige, brutal und aso- gen Definitionsansätzen erläutert, bezeich- folgte“ verstanden. zial.“ Der Geschäftsführer der beteiligten Pro- net er eine diktatorische Herrschaftsform, Vor diesem Hintergrund der Ablehnung duktionsfirma fasst die Tat so zusammen: die, bezogen auf Mussolini, nationalistisch rechtsextremer Politik, autoritärer Diktatur „Sie sind mit Totschlägern auf das Team los. und von gewaltbejahenden Exklusionsge- und der willkürlichen Verfolgung von Opposi- Unserem Tonassistenten wurde ins Gesicht danken geprägt ist. Somit bedeutet Antifa- tionellen wäre jeder überzeugte Demokrat ein getreten – mit einer Brutalität, mit der man schismus – nicht weniger weit gefasst – sich Antifaschist. Denn die Demokratie (aus „de- in Kauf genommen hat, dass es ein Mensch gegen jede Erscheinungsform von Faschis- mos“ für Volk und „kratein“ für herrschen) ist nicht überlebt.“ Die Polizei wertet die Angrif- mus zu wenden. Der Erziehungswissen- die Bezeichnung für eine politische Ordnung, fe als linksextremistisch motiviert. Da es die schaftler Peter Dudek deutet den Terminus in der sich die Herrschaft auf den Willen des Presse war, die dieses Mal angegriffen wur- als politisch-strategischen Begriff, als „prin- Volkes beruft und die Regierenden dem Volk de, gab es im Gegensatz zum Berliner Brand- zipiellen Gegensatz zu jeder Form faschisti- rechenschaftspflichtig sind. Allerdings sind anschlag im Februar 2019 ein massives Echo. scher und rechtsextremistischer Politik und die selbstbezeichneten Antifaschisten, die Mittlerweile ist es schon wieder relativ ruhig Ideologie.“ Der Politikwissenschaftler Ar- das Mittel der Gewalt nicht nur legitimieren, geworden. Warum eigentlich? min Pfahl-Traughber sieht somit im Begriff sondern auch praktizieren, regelmäßig kei-
DP DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 9 ne Demokraten. Und wenn keiner genau und zwang sie dazu, sich mit den Gemeinsam- präzise definieren kann, was Antifaschismus keiten und Unterschieden von Rechts- und „„ ist, dann eignet sich die Eigenbezeichnung Linksextremisten zu befassen – insbeson- nicht als Rechtfertigung für Gewaltattacken dere mit deren Absolutheitsanspruch, deren auf die Polizei eines demokratischen Staates. Kein Extremismus ist Mitteln und Methoden sowie nicht zuletzt Sie nennen sich zwar Antifaschisten, sind je- deren Menschenbildern. In der vergleichen- doch lediglich Kriminelle. besser oder richtiger, als den Betrachtung treten einige Ähnlichkei- ein anderer. Es geht nicht ten zutage. Die unterschiedlichen Strömun- gen des Rechtsextremismus zeichnen sich Anonyme Gewalt darum, eine politisch unter anderem dadurch aus, dass sie öffent- lebendige Landschaft, die lichen Raum erobern und nach ihrem Welt- Wer einen Blick auf die Qualität der Gewalt- bild gestalten wollen. Damit sind sie mit dem taten, die von diesen Gruppen ausgeht, wirft, auch nach links und rechts Linksextremismus vergleichbar. Doch sind erkennt geplante Attacken aus dem Hinter- die Beweggründe im Linksextremismus tat- halt – mit gleichzeitiger Herstellung der Waf- bis zum Radikalen gehen sächlich weit weniger im Eroberungswillen fenungleichheit und im Schutz der Anonymi- darf, zum Verstummen zu verhaftet und schon gar nicht auf die Be- tät. Das macht ihre Taten nicht nur kriminell, fürwortung einer Rechts-Diktatur und dem sondern vor allem auch feige und verachtens- bringen. Allerspätestens Führerkult begründet, sondern sie resultie- wert. Dennoch maßen sich ausgerechnet die- aber muss dann eine Grenze ren nicht selten aus einem guten Willen und se Gruppierungen permanent an, bei jeder einer regelrecht herablassenden Naivität. sich bietenden Gelegenheit vermeintliche gezogen werden, wenn Polizeigewalt anzuprangern, und stellen per se den Rechtsstaat in Frage. Sie monieren all- Gewalt die Diskussion Gestatten: Elite gegenwärtigen Rassismus. Dabei sind es die- ersetzt. Und wenn jenigen, deren Menschenbild nur wenig Hu- Ein Blick in die linksextremen Szenen zeigt, manistisches in sich birgt. Doch gerade die- Menschenleben in Kauf dass sie besonders junge Menschen anzie- ses Eigenverständnis ist ihre größte Waffe: genommene Nebenschäden hen, die sich im Studium befinden. Typi- Ihre Taten werden in der öffentlichen Bewer- sche Studentenstädte sind von ihr geprägt, tung auf „Aktionen“ und als „geballte Unver- sind. vor allem das Leben am und rund um den nunft“ und dergleichen reduziert. Dabei sind Campus. Keine Frage: Während des Studi- es Anschläge mit terroristischem Potenzial, ums ein wenig den vermummten Revoluz- die Menschen teils schwerstens gefährden. zer zu spielen und sich beim Brandschat- Mit dem selbst verliehenen Siegel des Anti- schossen werden darf. Dies entlarvt zum ei- zen, Pöbeln und Steineschmeißen durch faschismus gehen die „Aktivisten“ aber noch nen die entgrenzte Überheblichkeit von Ex- Weglaufen vor den Polizeihundertschaften weiter: Sie denunzieren Menschen, Instituti- tremisten und Terroristen. Sie sind davon fit zu halten, hat seinen Reiz. Als Vollzeit- onen und nicht zuletzt: den deutschen Staat. überzeugt, darüber befinden zu dürfen, wer demonstrant lässt sich das Studium dabei was ist, wer was darf oder eben nicht, letzt- problemlos etwas länger gestalten, schließ- lich auch über das Recht, leben zu dürfen. lich geht es um einen guten Zweck. Zudem Befremdlich, überheblich Eine Sicht auf das Menschsein wird offen- kommen die selbsternannten Vertreter des bart, das uns in der deutschen Geschichte Proletariats, das sie jedoch – quasi zwangs- Noch heute genießen die Schriften der Ter- nicht zum ersten Mal begegnet ist. Denn tat- läufig – nicht wirklich kennen, aus einem roristinnen der Rote-Armee-Fraktion (RAF), sächlich macht sich der Linksextremismus akademischen und nicht selten „gutbürger- Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, im hier mit seinem klassischen Antagonisten, lichen“ Elternhaus. Auch dies ist eine Par- linksextremen Spektrum Lehrcharakter. dem Rechtsextremismus, jedoch auch dem allele zur RAF. Noch immer wird Meinhofs niedergelegte Islamismus und jeglichen Formen extremis- Der Journalist und langjährige Redak- Betrachtung zu Polizeibeamten in entspre- tischer Ansichten gemein. teur der Wochenzeitung „Die Zeit“, Karl- chenden Kreisen gefeiert: „Wir sagen na- Wie antifaschistisch sind nun also Anti- Heinz Janßen, sah im Linksterrorismus der türlich, die Bullen sind Schweine. Wir sa- fa, Autonome, der Schwarze Block und wei- 1970er-Jahre ein „Symptom der materiellen gen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, tere gewaltaffine Kollektive und Aktions- Selbstzufriedenheit“ und bezeichnete Links- kein Mensch. Und so haben wir uns mit ih- bündnisse tatsächlich? Oder andersherum terroristen als „entlaufene Wohlstandskin- nen auseinanderzusetzen. Das heißt, wir ha- gefragt: Wie viel Faschismus steckt in ihnen der“. Somit haben sowohl die RAF als auch ben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, und ihrem Menschenbild? Diese Frage hat heutige Linksextremisten mit dem Proletariat überhaupt mit diesen Leuten zu reden. Und die Journalistin Jillian Becker bereits Ende im Sinne einer ausgebeuteten Arbeiterschaft natürlich kann geschossen werden.” der 1970er-Jahre in ihrem Buch „Hitlers Chil- so viel gemein wie eine Werkstatt gepflegte Ideologen bestimmen darüber, wer ein dren?“ aufgeworfen. So kritisch der Diskurs Luxuskarosse mit der guten alten Rostlaube, Mensch ist, mit wem man reden und wer er- um Beckers These im Endeffekt war, so sehr die um die neue TÜV-Plakette bangen muss.
„„ 10 DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 DP Ihre Taten werden in der öffentlichen Bewertung auf „Aktionen“ und als „geballte Unvernunft“ und dergleichen reduziert. Dabei sind es Anschläge mit terroristischem Potenzial, die Menschen teils schwerstens gefährden. Foto: Peter Endig/dpa Seit Jahren ein Schwerpunkt linker Gewalt, ein Beispiel: Anfang Januar 2015 hatten rund 50 Maskierte den Polizeiposten im Leipziger Stadtteil Connewitz unter anderem mit Pflastersteinen und Farbbeuteln angegriffen. Um Logik und echte Nöte geht es dabei sparen, sie wären lediglich Geldverschwen- lig unbeteiligte Menschen: Deren Autos wer- aber auch nicht. Ein wenig Robin-Hood-At- dung. den abgefackelt. Und warum? Weil es ein- titüde macht das vergnügliche Zerstören Aber macht dieser Aspekt Linksextremis- fach passend irgendwo steht und irgendwer des Eigentums anderer zu einer regelrech- mus zu etwas minder Schlimmen? Sind Ge- meint, dies als Aktion und sich als Aktivis- ten Heldentat. Und falls man doch einmal in walt und mutwillige Zerstörung aufgrund ten feiern zu können. Was und wie hart der den Fängen der Polizei landet, können sich temporärer jugendlich-naiven Geltungs- Eigentümer für seinen Besitz arbeitet, in- die Interimsrevoluzzer auf den Support der sucht derart zu verniedlichen? Vielleicht teressiert die jungen und junggebliebenen „Roten Hilfe“, die in Broschüren schon im sollte man die Opfer linker Gewalt hierzu be- Wohlstandsrabauken nicht, es ist schließ- Vorfeld juristisch wertvolle Tipps zum Her- fragen? Dabei handelt es sich übrigens kei- lich nicht die eigene Habe. auswinden aus misslichen Polizeilagen gibt, neswegs automatisch um „Rechte“, es han- Wie empfindlich die Szene reagieren verlassen. Und zur Not hilft der von Papi ge- delt sich sehr häufig um Polizeibeamtinnen kann, wenn jedoch ihr Eigentum zu Bruch sponserte Anwalt. und -beamte sowie um (Lokal-)Politikerin- geht, offenbarte sich während des Hambur- Wenn dann das Studium irgendwann ab- nen und Politiker demokratischer und de- ger G20-Gipfels im Sommer 2017. Zu viele lin- geschlossen und der Wunsch nach Eigen- mokratisch legitimierter Parteien. Selbst ke Randalierer kamen von auswärts. Nach- tum und Status größer ist, als der Hang mit wenn die politische Einordnung „rechts“ bei dem noch alle fröhlich durch die Straßen Sturmmasken durch Berlin, Leipzig oder Letzteren korrekt sein mag, obliegt es nie- zogen und dabei auch Kleinwagen mutwil- Hamburg zu rennen, dann wird der schwar- mandem, seine Gegenansicht durch Gewalt lig zerstörten, waren sie dann im Kiez ein- ze Hoodie abgelegt und gegen ein gebügel- zu demonstrieren. getroffen. Hier sorgten die Gäste für Zerstö- tes und gestärktes Hemd eingetauscht. Die rung im eigenen Revier. Selbst alteingeses- meisten derer werden irgendwann erwach- sene Gesinnungsgenossen fanden das gar sen und treten ihren persönlichen „Marsch Messen mit zweierlei Maß nicht mehr witzig. durch die Institutionen“ an. Entsprechend Doch mit zweierlei Maß misst auch die kann sich der Staat Aussteigerprogramme Auch trifft linke Gewalt im öffentlichen Gesellschaft: Anhängern keiner anderen aus dem Linksextremismus geflissentlich Raum neben der Polizei immer wieder völ- Form von Extremismus wird es so leicht ge-
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„„ 12 DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 DP Immer wieder werden auch GdP-Geschäftsstellen oder -Fahrzeuge Ziel mutmaßlich linksextremer Angriffe. Mitte Juni traf es erneut unsere Bremer Vertretung. In der jüngeren Zeit passierte Ähnliches in Berlin und Hamburg. cher Aktivisten mit den vermummten Aggres- soren. Das wendet sich dann sogar gegen die Polizei, die auf Einhaltung der mit dem De- monstrationsrecht verbundenen Pflichten wie dem Vermummungsverbot pocht. Wa- rum? Weil auch Extreme im gemeinsamen Bündnis nun mal auf der richtigen Seite ste- hen. Weil sie die „jungen Wilden“ und gegen rechts sind, und weil genau das als Solidari- tät begriffen wird. Die Übergänge sind flie- ßend und die Gruppen gut vernetzt. Und anderseits muss man auch konsta- tieren, dass es eher die „Antifa-Gruppen“ sind, die sich trauen, an der Seite von Kur- den den türkisch-nationalistischen Grauen Wölfen entgegenzutreten – wo sich demo- Foto: GdP Bremen kratische Bündnisse lieber raushalten. Somit tun sie etwas – und zuweilen sogar Angriff auf die Bremer GdP-Geschäftsstelle. völlig unvermummt – was sich viele, die sich doch sonst so vehement gegen rechte Ten- macht. Nachdem man vermummt – anonym roristen fast unerträglich und zeigt damit denzen einzusetzen glauben, nicht trauen. in der Masse – alles tun konnte, was man für gleichzeitig auf, dass Demokratie manchmal Sind sie also doch die „Guten“? angesagt hielt, kehrt man einfach entspannt weh tut und eben nicht immer einfach ist. Heißt das, für das aus gesellschaftlicher wieder in die Gesellschaft zurück und klopft Perspektive „Richtige“ einzustehen, muss sich für seinen geleisteten Einsatz auf die auch Freiräume mit sich bringen, in denen Schulter. Selbst wenn bekannt ist, dass der Doch die „richtige Seite“? „Kollateralschäden“ auch nur als solche be- „Schwarze Block“ einem das Fitnessstudio trachtet werden? ersetzt hat – solange man nicht verurteilt Sich kritisch mit dem Linksextremismus Damit gelangen wir erneut zur RAF. Denn wurde, stehen einem noch alle Wege offen, in Deutschland auseinanderzusetzen, fällt genau das war ihre Sicht der Dinge. Die im auch in den Staatsdienst. auch vor diesem Hintergrund, dass De- Stakkato-Imperativ dargelegten Ansichten So leicht haben es Aussteiger aus dem mokratie etwas aushalten können muss, werden noch heute als Weltbild, vorzugs- rechtsextremen oder islamistischen Milieu schwer. Zudem sind die „Aktivisten“ dieje- weise an Hauswänden, kommuniziert. Die- ganz sicher nicht – aus gutem Grund. Doch nigen, die am lautesten und offensivsten ge- se sind einfach nachvollziehbar und ohne- auch das zeigt eine Parallele im Umgang mit gen rechts sind. Der „Schwarze Block“ führt hin nicht zu hinterfragen. Wer dem nicht zu- der RAF: Es war der Staat, der die Hand zur Demonstrationen mit den unterschiedlichs- stimmt, der hat unrecht. Wer im Weg steht Versöhnung reichte. Formell mit der „Kin- ten Bündnissen und Friedensaktivisten an. oder parkt, muss mit Blessuren rechnen. kel-Initiative“. 1992 hatte der damalige Bun- Die viktimologische Betrachtung links- Wer den faschistischen Staatsdienst ausübt, desjustizminister vorgeschlagen, die Ex-Ter- extremer Gewalt lässt reflexartig die Frage der hat ohnehin keine Rechte mehr, denn er roristen freizulassen, wenn sie ihre Strafen aufkommen, ob die Opfer denn nicht ohne- ist als Systemknecht der Feind. Und wenn er abgesessen hätten. Der FDP-Politiker such- hin „nur Rechte“ seien. Dies offenbart zwei Familie hat, dann gehört auch sie dazu. Kla- te – mit viel Gegenwind – einen Ausstieg eklatante Probleme: Zum einen bedeutet es, res Welt- und Feindbild, keine Kompromis- aus der Gewaltspirale. Es gibt jedoch auch dass das grundgesetzlich verbürgte Recht se, nur schwarz und weiß, und der Rest ist eine Gesellschaft, die von „Ex-Terroristen“ auf körperliche Unversehrtheit durch das eben ein Kollateralschaden. Das entbindet spricht, obwohl diese Gruppe sich mehrheit- Etikett „rechts“ brüchig wird, und zum an- davon, sich ehrlich mit dem eigenen Welt- lich noch immer in Schweigen um die unauf- deren, dass sich außerstaatliche Akteure zu- bild auseinandersetzen zu müssen und geklärten Morde unter anderem an Siegfried mindest im gesellschaftlichen Denken in ei- schafft die nötigen Kapazitäten für die rei- Buback, Karl-Heinz Beckurts, Eckhard Grop- ner Exekutivfunktion zur Gewaltausübung ne Agitation. Oder anders ausgedrückt: Für pler, Gerold von Braunmühl, Alfred Herr- legitimiert sehen. das exzessive Eventhopping reicht der ober- hausen und Detlev Karsten Rohwedder hül- Und tatsächlich zeigt sich der Umgang mit flächliche Imperativ. Alles andere würde nur len. Schlagen sie damit nicht seit Jahren die linksextremen Szenen auch lokal äußerst ge- die Happening-Folklore stören. gereichte Hand einfach weg? nerös: Hausbesetzungen werden häufig ge- Der Staat hält das aus. Denn in der Demo- duldet, Gewalttäter aus dem „Schwarzen kratie besitzt der Gedanke der gesellschaftli- Block“ nicht aus Bündnissen ausgeschlos- Der Fehler liegt bei uns chen Wiedereingliederung einen besonders sen. Auch und gerade auf Demonstrationen hohen Stellenwert. Dieser Grundsatz ist an- zeigen sich den polizeilichen Einsatzkräften 50 Jahre nach RAF-Gründung lebt deren gesichts des Schweigens sogenannter Ex-Ter- vielmehr Solidarisierungseffekte bürgerli- Geist weiter – und mehr: Ihr Gedankengut
DP DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 13 DP-Autorin Prof. Dr. Dorothee Dienstbühl promovierte zwischen 2008 und 2014 am DEUTSCHE POLIZEI mehrfach brisante Lehrstuhl für theoretische Politikwissen- Themen angepackt. Seit 2016 lehrt sie als schaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Professorin an der Fachhochschule für Danach agierte sie bis 2016 als Leiterin des öffentliche Verwaltung (FHöV) NRW im Fach- Bedrohungsmanagements (BM) an der bereich Polizei mit den Fächern Kriminologie Hochschule Darmstadt. Dienstbühl hat für sowie Soziologie. war nicht zuletzt geprägt von elitärer Arro- der fordern, dann sind sie nichts anders als heit verlassen und aufhören, Gewalttäter als ganz. Gleichzeitig stilisierten sie sich mit ih- gewalttätige Kriminelle, womöglich Terroris- Antifaschisten regelrecht zu ikonisieren. ren Auftritten im Gerichtssaal als selbster- ten. Und nein: „Gegen rechts“ zu sein, kann Kein Extremismus ist besser oder rich- nannte Avantgarde und verhielten sich wie und darf deren Gewalt nicht rechtfertigen. tiger, als ein anderer. Es geht nicht darum, ungezogene jugendliche Popstars, denen Jeder, der gewalttätige „Aktionen“ beispiels- eine politisch lebendige Landschaft, die auch der Ruhm zu Kopf gestiegen war. weise gegen Vertreter kontrovers diskutier- nach links und rechts bis zum Radikalen ge- Es ist vor allem diese Selbstgefälligkeit, ter Parteien gutheißt, sollte nicht nur sein de- hen darf, zum Verstummen zu bringen. Aller- die sich die Linksextremisten bis heute kul- mokratisches Verständnis hinterfragen, son- spätestens aber muss dann eine Grenze ge- tiviert haben. Aus ihrer Sicht dürfen sie al- dern auch ehrlich darüber nachdenken, ob zogen werden, wenn Gewalt die Diskussion les und benehmen sich entsprechend. Und und wie sehr eine solche Haltung zum beob- ersetzt. Und wenn Menschenleben in Kauf es ist eine Gesellschaft, die sie damit gewäh- achtbaren Rechtsruck hierzulande beiträgt. genommene Nebenschäden sind. ren lässt. Einen Extremismus durch Unterlassen und Es ist längst überfällig, dass Gesellschaft Man könnte sie lächerlich finden, denn konsequentes Verharmlosen zu überhöhen, und Justiz klarstellen, dass Antifaschismus ihre Ansichten sind schlichtweg naiv, nicht fördert auch das andere Extrem. Dies zu ver- eben nicht automatisch Linksextremismus selten an jeglicher Lebensrealität völlig vor- neinen und als Unsinn abzutun, ist bequem. bedeutet, und dieser deswegen von jeglicher bei. Sie sind jedoch gleichzeitig gefährlich Wer aber wirklich etwas zur Stärkung der Repression ausgeschlossen wäre. Gewalttä- und gewalttätig. Wenn sie Autos anzünden, Mitte und gegen rechts tun will, muss seine ter „besetzen“ vielmehr seit Jahren einen Be- Brandsätze werfen, den Tod Andersdenken- Komfortzone der einseitigen Dauerbetroffen- griff, der der Mitte der Gesellschaft gehört. I coex_2020-06-10_111522_055.pdf; s1; (210.00 x 148.00 mm); 10.Jun 2020 13:06:56; PDF-CMYK ab 150dpi für Prinergy; L. N. Schaffrath DruckMedien ANZEIGE Ein Angebot der el Leasing & Service AG Hannover Du träumst schon lange von einem richtig starken Bike? Mach es jetzt zu deinem. Das Fahrrad von dem du immer geträumt hast. Unser Privatleasingangebot für GdP-Mitglieder bietet dir: Exklusiv günstige Leasingraten z.B. nur 65€* monatlich bei einem Anschaffungswert von 1899€ Rundumschutz, eine Wartung & Mobilitätsgarantie inklusive Flexibilität & Sorglosigkeit Wie funktioniert’s? Einfach in unserm GdP Partner Portal die Leasingrate berechnen & einen Fachhändler in deiner Nähe finden! *Vertragslaufzeit 36 Monate
14 DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 DP Titel Foto: Klaus Rose/dpa Eines der Opfer – Ende September 1978: Beisetzung des 25-jährigen Polizeihauptwachtmeisters Hans-Wilhelm Hansen. Er war bei einem Einsatz gegen die Rote Armee Fraktion (RAF) in Dortmund durch mehrere Schüsse tödlich verletzt worden. RAF-LINKSTERRORISMUS – TEIL 1 50 Jahre nach ihrer Entstehung am 14. Mai Täter als Opfer 1970 und über 20 Jahre nach ihrer Selbst- auflösung am 20. April 1998 beschäftigt die „Rote Armee Fraktion“ weiterhin Teile der Öffentlichkeit. Gerade Jahrestage liefern An- als Täter lässe, sich mit der RAF zu befassen, deren Mordserie bis heute teilweise unaufgeklärt ist. Darunter die Attentate auf Ernst Zimmer- mann 1985, Karl Heinz Beckurts und seinen Fahrer Eckhard Groppler 1986, Gerold von Braunmühl 1986, Alfred Herrhausen 1989 1970 bis 1998 – fast drei Jahrzehnte Linksterrorismus. Die und Detlev Karsten Rohwedder 1991. Propaganda der Rote Armee Fraktion (RAF) zwischen Fiktionen und Fakten. Eine Analyse. Kampf gegen die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft Harald Bergsdorf Einige Filmemacher, Journalisten, Publi- zisten und Wissenschaftler zieht die mör- derische RAF-Geschichte bis heute in ihren Bann. Das Abtauchen einer kleinen Grup- pe junger Leute in den Untergrund, ihr ter-
„„ DP DEUTSCHE POLIZEI 07/2020 15 Die RAF hatte ihren besonderen Hass auf reformistische Politiker wie den SPD-Politiker Willy Brandt schon in ihrem Konzept Stadtguerilla artikuliert. roristischer Kampf gegen die westdeutsche an die Bundesrepublik, sie habe den Natio- siert und letztlich zertrümmert. Um ihn Wohlstandsgesellschaft und ihre offenkun- nalsozialismus, den die RAF meist verharm- möglichst wirkungsvoll zu bekämpfen, dige Bereitschaft, sowohl zu morden als losend Faschismus nannte, beinahe „restau- nutzte und instrumentalisierte die RAF ge- auch selbst zu sterben, verströmen immer riert“, gehörte zu den zentralen Elementen rade auch den Nationalsozialismus, den sie noch eine „morbide Faszination“, so die der Propaganda. Ideologisch basierte dieser bevorzugt „Nazismus“ nannte, um den So- Historikerin Prof. Dr. Petra Terhoeven. Das Vorwurf auf der kommunistischen Doktrin, zialismus-Teil des NS-Begriffs unter den Tep- umso mehr, weil die meisten RAF-Terroris- wonach Faschismus und bürgerliche Demo- pich zu kehren. Durch ihren „antifaschis- ten, insbesondere deren Führungspersonen, kratie lediglich zwei Varianten des Kapita- tischen Kampf“ gegen den Kapitalismus nicht als abgehängte Außenseiter geboren lismus bedeuteten. Aus dieser Sicht gründet wollte die RAF die Bundesrepublik diskre- und aufgewachsen waren, sondern oft aus der Faschismus auf dem Kapitalismus. Um- ditieren und sich selbst als fortschrittlich gehobenen, religiös und bildungsbürgerlich gekehrt lauere in jeder kapitalistischen Ge- inszenieren. Ulrike Meinhof, langjährige geprägten Milieus stammten. sellschaft der Faschismus. RAF-Chefpropagandistin, antwortete daher Die „Studienstiftung des deutschen Vol- einst vor Gericht auf die Frage nach ihrem kes“ hatte drei der vier RAF-Hauptgründer Beruf, sie sei „Antifaschistin“. Stefan Wis- gefördert: Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof Besonderer Hass auf niewski, ein Hauptverantwortlicher für die und Horst Mahler. Über letzteren sprechen reformistische Politiker Morde der sogenannten zweiten RAF-Gene- heutige RAF-Apologeten weniger gern. Aus ration 1977, trug bei einem Auftritt als Zeuge den sozialen Souterrains der Gesellschaft Grundsätzlich ließ sich ein solcher Vorwurf vor Gericht – in einem späten Prozess wegen kam lediglich eine Minderheit in der RAF, in der Bundesrepublik nach der Hitler-Dik- der Ermordung des Generalbundesanwalts darunter Petra Schelm und Peter-Jürgen tatur natürlich leichter erheben als in an- Siegfried Buback – einen Pullover mit der Boock. deren Ländern. Das erkannte die RAF, die NSDAP-Mitgliedsnummer des späteren Ge- Inzwischen sind zahlreiche Gesamtdar- zugleich den chinesischen Massenmörder neralbundesanwaltes und dem Zusatz „Ver- stellungen über die RAF erschienen. Zu- Mao Zdeong heroisierte. Nach dessen Vor- folgt diese Spur“. Damit wollte Wisniewski gleich mangelt es weiterhin an Spezial- bild wollte sie gemäß ihrem „Konzept Stadt- offenbar von RAF-Morden ablenken und sie studien zum Beispiel über die Rolle der guerilla“ die kapitalistische Bundesrepublik als antifaschistische Aktionen gegen Perso- RAF-Anwälte, die sich mehrheitlich als „Ge- befreien – durch den bewaffneten Kampf als nen rechtfertigen, die – wie Buback und das nossen“ der Täter verstanden. Ebenso fehlt höchster Form des Marxismus-Leninismus. einstige SS-Mitglied Hanns Martin Schleyer es an biographischen Untersuchungen über Aus RAF-Perspektive bedeutete es keinen – in der Bundesrepublik hohe Funktionen Führungsfiguren der sogenannten zweiten Widerspruch, den Vorwurf der Restaurati- errungen hatten. Nach dem Manager und und dritten RAF-Generation wie vor allem on gegen ein Land zu erheben, als dessen Wirtschaftsfunktionär sind heute vor allem Brigitte Mohnhaupt und Birgit Hogefeld – Bundeskanzler ein Gegner des Nationalsozi- deshalb Straßen benannt, weil die RAF am beide liefern Beispiele für die fast durch- alismus (NS) wie Willy Brandt amtierte. Viel- 19. Oktober 1977, wie sie formulierte, „sei- gängige Dominanz von Frauen in RAF-Füh- mehr hatte die RAF ihren besonderen Hass ne klägliche und korrupte Existenz been- rungspositionen. Ein weiteres Desiderat be- auf reformistische Politiker wie den SPD-Po- det“ und ihn ermordet hatte. Zuvor hatte sie steht nicht nur in Studien vor allem über litiker schon in ihrem Konzept Stadtguerilla ihn entführt und seine Begleiter erschossen, nichtprominente RAF-Opfer, sondern auch artikuliert. Darin hieß es, die reformistische die sie in ihrer Taterklärung vom 6. Septem- in Analysen der Propaganda, die einen we- Linie ziele darauf, den Kapitalismus sozia- ber 1977 vollständig verschweigt. Noch in sentlichen Beitrag zum fast dreißigjährigen ler zu gestalten. Gerade ein solcher Refor- ihrer Auflösungserklärung versuchte die Überleben der Terrorgruppierung leistete. mismus der Sozialdemokratischen Par- RAF, ihre Verbrechen durch den Hinweis Die RAF betrieb eben auch eine Kommu- tei drohe, die Arbeiterklasse vom Klassen- zu legitimieren, die Bundesrepublik habe nikationsstrategie, um durch Propaganda kampf zu entfremden und den Kapitalismus, mit ihrer „nationalsozialistischen Vergan- eine Deutungshoheit über die eigenen Ver- also rechtsstaatliche Demokratie und Sozi- genheit nicht gebrochen“. Das hinderte die brechen zu erlangen. ale Marktwirtschaft, zu stabilisieren – aus RAF freilich kaum daran, immer wieder mit RAF-Sicht besonders verwerflich. Tatsäch- lupenrein antisemitischen Palästinensern lich wuchs in der Bundesrepublik nach 1949 zu kollaborieren, die Israel, den „imperia- Selbstlegitimation im Widerspruch zur Marxschen Lehre nicht listischen Komplizen“ der USA, auslöschen die Verelendung, sondern der Wohlstand der woll(t)en. Um die eigenen Verbrechen als „antifaschis- Massen, die aus RAF-Sicht als korrumpierte tische Aktionen“ zu legitimieren, stilisierte Konsumidioten funktionierten, denen revo- die RAF die damalige Bundesrepublik aus- lutionäres Bewusstsein fehlte. Problematische, personelle gerechnet unter Bundeskanzler Willy Brandt Kontinuitäten zu einem „faschistischen Repressionsstaat“ und einer Marionette der „imperialisti- Von Beruf Antfaschistin Tatsächlich gab es auch nach Hitlers Herr- schen“ USA, die seinerzeit in Vietnam einen schaft mit Massenpropaganda, Massenver- tatsächlich besonders brutalen Krieg gegen Umso mehr gehörte der Kapitalismus aus führung und Massenmorden keine Stunde ein totalitäres Regime führten. Der Vorwurf RAF-Perspektive unterminiert, destabili- null. Vielmehr existierten in den westlichen
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