ALLTAG IM RHEINLAND - LVR-Institut für Landeskunde und ...
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ALLTAG IM RHEINLAND Mitteilungen der Abteilungen Sprache und Volkskunde des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte (ILR) Eine Jahresgabe für ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 2016 Redaktion: Katrin Bauer, Georg Cornelissen, Gabriele Dafft, Dagmar Hänel, Peter Honnen
INHALT Seite 8 Seite 29 IM NETZ PUPPENSPIEL Das Tonarchiv Rheinland geht online 5 „De Strippkes Trekker“ 29 Ein neues Internetportal der Die Marionettenspielgruppe am Franzis- Sprachabteilung kanerkloster Hürtgenwald-Vossenack von Peter Honnen und ihr Puppenspiel vom heiligen Franz von Assisi NEU IM ILR von Alois Döring Mit der Kamera zur Kirmes 8 Anlässlich des 650-jährigen Jubiläums NIEDERLANDE von Pützchens Markt entsteht eine neue Dialekt am Dreiländereck 39 Filmdokumentation Dialektgebrauch, Dialektbewertung und von Gabriele Dafft Dialektstruktur in Vaals (NL), Gemmenich (B) und Laurensberg (D) Der „Sprachatlas Rheinland“ 12 von Sanne Hoffman Im ILR entsteht ein neues Kartenwerk von Georg Cornelissen Limburgisch 45 Ein Dialekt feiert Geburtstag (2016) ERINNERUNGSORTE von Georg Cornelissen „Eigentlich soll sich nichts ändern hier“ 20 SPRACHGESCHICHTE – ein Erinnerungsort im ländlichen Raum Sprechen wie die alten Römer 52 von Dagmar Hänel Spracharchäologie im Rheinland von Peter Honnen
INHALT Seite 67 Seite 89 Der Flurname „Acker“ gibt Von Übergangsritualen, gekauften einen Hinweis auf den ältesten Bräuten und Individualisierungs Siedlungsplatz 63 tendenzen 86 von Ottmar Prothmann KUCKEN TAKENPLATTEN „Eigentlich soll sich nichts ändern Alte Taken und neue Bücher 67 hier“ Haus Esselt, die Menschen, von Karlheinz von den Driesch die Kunst und die Zeit 88 TIPPS UND TERMINE Vogelschießen der St. Sebastiani Armbrustschützen-Gesellschaft HINGEHEN Herzogenrath 89 Aushandlungen von Räumen in Film und Forschung 81 NACHGEHAKT fispernölle (fisternölle) 90 Alltag sammeln 81 Neue Literatur 91 LESEN Bildnachweis 95 Der „Norddeutsche Sprachatlas“ Impressum 96 reicht bis Oedt und Bracht (Kreis Viersen) 82 Zwei neue Dorfbücher: Lappersdorf und Gabsheim 83
Das Drahttongerät des Instituts, hier mit aufgelegtem Teller für Schellackplatten. Alltag im Rheinland 2016
Das Tonarchiv Rheinland geht online Ein neues Internetportal der Sprachabteilung von Peter Honnen D ie Sprachabteilung des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalge- schichte besitzt eine der deutschlandweit kassetten unterschiedlicher Güte gespei- chert. Als technisches Schmankerl kann das Archiv sogar Drahtbänder vorweisen, größten Sammlungen von Tonaufnahmen die auf einem um 1900 in den USA entwi- gesprochener Alltagssprache. Da es sich ckelten Aufnahmeverfahren beruhen, bei dabei zu neunzig Prozent um Mitschnitte dem ein dünner Draht magnetisiert wird. rheinischer Dialekte handelt, dürfte das Sogar ein funktionierendes Abspielgerät Archiv in diesem Zusammenhang sogar wurde seinerzeit beim Umzug des damali- das mit Abstand größte sein. Ihm kommt gen Amtes für rheinische Landeskunde an auch deshalb besondere Bedeutung zu, seine heutige Adresse in den Kellern des weil das Gros der Aufnahmen in den 70er Gebäudes entdeckt (siehe Foto). und 80er Jahren des vergangenen Jahr- hunderts entstanden ist und somit ei- Dass Tonbänder, sowohl das Träger- nen Sprachstand dokumentiert, den man material als auch die Magnetschicht, al- schon als historisch bezeichnen muss. tern, wissen alle, die mit dieser Technik Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des aufgewachsen sind. Insbesondere die Archivs ist, dass etwa die Hälfte der Auf- notwendigerweise sehr dünnen Materiali- nahmen frei gesprochen, also weder ab- en in den Kompaktkassetten führen sehr gelesene noch aufgesagte Texte sind. Sie schnell zu deutlichem Übersprechen, von dokumentieren die rheinischen Mund- dem auch die Aufnahmen im Tonarchiv des arten so, wie sie tatsächlich gesprochen Instituts nicht ausgenommen sind. Des- werden – oder besser gesagt – gesprochen halb haben die LVR-Sprachwissenschaft- wurden. ler vor einigen Jahren damit begonnen, den gesamten Bestand in einem aufwän- Die analoge Technik ist dem Alter digen Verfahren zu digitalisieren, bei dem entsprechend: Etwa die Hälfte der Auf- auch beschädigte Aufnahmen so weit als nahmen ist auf Tonband (Schnürsenkel) möglich restauriert wurden. Das Projekt aufgenommen worden, alle anderen sind ist mittlerweile abgeschlossen, so dass auf den damals gebräuchlichen Kompakt- der Bestand als gesichert gelten kann, Alltag im Rheinland 2016 5
IM NETZ Startseite des Portals „Rheinisches Tonarchiv“ . auch wenn nicht alle Aufnahmen voll- etwa 150 Gesprächsmitschnitte nutzbar. ständig wieder hergestellt werden konn- Da sie bislang nur in einer simplen Liste ten. Hier wird eventuell in einem zweiten präsentiert werden und diese schon jetzt Durchgang noch einmal mit spezieller für die User ziemlich unübersichtlich ist, Technik nachgearbeitet werden müssen. arbeitet die Sprachabteilung zur Zeit an einem neuen Portal, über das die Aufnah- Mit der Digitalisierung sind die Aufnah- men in Zukunft sehr komfortabel abgeru- men nicht nur gesichert, sondern auch in fen werden können. Kernstück der neuen einem Format gespeichert, das eine Ver- Seite ist eine zoombare, interaktive Karte, öffentlichung im Internet ermöglicht. Die auf der alle rheinischen Orte angefahren Sprachabteilung hat deshalb seit einiger werden können, um die hinterlegten Ton- Zeit damit begonnen, die Sprachaufnah- aufnahmen abzuhören (s. Abb.). men auf die Website des LVR-Instituts zu stellen (http://www.rheinische-landes- Je weiter die Karte vergrößert wird, um kunde.lvr.de/de/sprache/tonarchiv/tonar- so mehr – kleine – Aufnahmeorte erschei- chiv_1.html), wo sie mit einem Mausklick nen. Zu jeder Aufnahme öffnet sich ein abgehört werden können. Bis jetzt sind Fenster mit dem üblichen Bedienungs- 6 Alltag im Rheinland 2016
IM NETZ Detailseite des Portals „Rheinisches Tonarchiv“. balken und Informationen zum jeweiligen steht dabei der rheinische Teil Nordrhein- Sprecher. Clou des Aufnahmefensters Westfalens, allerdings werden auch die wird eine scrollbare, sehr wortgetreue angrenzenden Gebiete (Eifel, Belgien, Nie- Übersetzung der abgehörten Aufnahme derlande, Westfalen) mit Vergleichsauf- sein, die es auch Mundartunkundigen er- nahmen vertreten sein. Starten wird das laubt, dem Inhalt der Erzählung zu folgen neue Portal mit den Dialektaufnahmen des (s. Abb.). Tonarchivs, in einer späteren Ausbaustufe ist auch an die Integration von Regiolekt- Die abgebildeten Screenshots zeigen aufnahmen oder Proben von „rheinischem natürlich noch nicht die endgültige Vari- Hochdeutsch“ gedacht. Das Tonarchiv ante, das Portal ist noch in der Erprobung. Rheinland soll in der zweiten Jahreshälfte Die Zahl der aufscheinenden Kreise, hin- online gehen. Wenn es so weit ist, werden ter denen sich Aufnahmen verbergen, wird wir auf unserer Website darüber informie- auch in der Startversion schon merklich ren. Hier schon mal vorab die Webadresse: größer sein. Im Laufe der nächsten Jahre www.tonarchiv-rheinland.lvr.de. wird das Aufnahmenetz dann kontinuier- lich und systematisch gefüllt. Im Zentrum Alltag im Rheinland 2016 7
NEU IM ILR Mit der Kamera zur Kirmes Anlässlich des 650-jährigen Jubiläums von Pützchens Markt entsteht eine neue Filmdokumentation von Gabriele Dafft H aben Sie sich vielleicht schon als Kind immer aufs Karussell gefreut und ist Ihnen dann von zu viel Süßigkei- für Landeskunde und Regionalgeschichte (ILR) zur Sprache kommen. Denn wenn sich dieses Jahr vom 9. bis 13. September ten schlecht geworden? Kann Ihnen kein auf der traditionsreichen und überregio- Fahrgeschäft rasant genug sein oder nal bekannten Kirmes „Pützchens Markt“ schunkeln Sie lieber im Festzelt? Wa- rund eine Million Menschen zwischen ren sie schon mal die Gewinnerkönigin Autoskooter, Bratwurst und Zuckerwat- an der Losbude oder ziehen Sie immer te amüsieren und Bonn-Beuel fünf Tage die Nieten? Ist der Bierstand an der Ecke lang zur Hochburg für Jahrmarktfans und alljährlicher Treffpunkt für ihren Freun- Festzeltfreunde wird, ist das ILR mit der des- und Bekanntenkreis – ohne sich Filmkamera dabei. Pützchens Markt steht dafür fest verabreden zu müssen? Was kurz vor seinem 650-jährigen Jubiläum im macht für Sie den Kirmesbesuch erst so Jahr 2017. Grund genug für die Volkskund- richtig komplett? Worauf freuen Sie sich lerinnen im ILR bereits in diesem Jahr die – oder auch nicht? Solche ganz persönli- Faszination und den Facettenreichtum des chen Anekdoten und Erlebnisse könnten Jahrmarkts einzufangen und hinter seine im aktuellen Filmprojekt des LVR-Instituts Kulissen zu blicken. Steht vor einem großen Jubiläum: Pützchens Kettenkarussell auf Pützchens Markt in Markt. Bonn. 8 Alltag im Rheinland 2016
NEU IM ILR Ein Klassiker auf dem Jahrmarkt: Das Riesenrad Der Markt hat sich aus der Wallfahrt der Heiligen Adelheid entwickelt. Aus der Notwendigkeit, Pilger zu versorgen und zu unterhalten, entwickelte sich allmählich die Kirmes zu ihrer heutigen Form. Selbst wenn dieser Zusammenhang heutzutage nicht mehr jeder Kirmesbesucherin und jedem Kirmesbesucher bewusst ist, die Menschen in Pützchen sind oftmals stolz darauf, im Ortsteil auf eine lange Tradition und ein Ereignis mit überregionaler Anzie- hungskraft blicken zur können. Und auch wer nicht an der Wallfahrt oder sonstigen kirchlich initiierten Ritualen in der Woche Das „Pützchen“ wird auch während der vor Kirmesbeginn teilnimmt, kann sich Kirmes besucht. zum Beispiel noch gut an den Jahrmarkts- besuch in Kindertagen erinnern, als man Riesenrad gab. Das Pützchen ist der Brun- die Oma zum Augenwaschen ans „Pütz- nen an einer Quelle, die der Legende nach chen“ begleiten musste, bevor es Zucker- zu fließen begann, als die Äbtissin Adel- watte auf dem Rummel und eine Fahrt im heid bei einer Dürre ihren Äbtissinnenstab Alltag im Rheinland 2016 9
NEU IM ILR in den Boden stieß. Das Wasser gilt als ausgelassenen Jahrmarkttreiben macht heilend bei Augenleiden. die Bonn-Beueler Großveranstaltung so besonders und ist für die Menschen im Interviews mit Menschen auf der Kir- Ortsteil Pützchen Teil persönlicher oder mes möchten individuellen Erfahrun- kollektiver Erinnerungskultur. Von zent- gen auf die Spur kommen. Die Kamera ralem Interesse für die beiden Autorinnen wird dieses Jahr Protagonistinnen und des Films, Katrin Bauer und Gabriele Dafft Protagonisten begleiten, für die das Kir- aus der Volkskundeabteilung des ILR, sind mesgeschehen jeweils unterschiedliche die vielfältigen kleineren und größeren Bedeutungen hat, zum Beispiel: Einge- Rituale rundum das Kirmesgeschehen fleischte Kirmesfans und Schausteller, – vom persönlichen Familienausflug bis Anwohner und Auswärtige, Organisato- zum offiziellen Fassanstich – und wie sie rinnen und Organisatoren, Schützenbrü- miteinander verzahnt sind. Denn aus der der oder Gemeindemitglieder. Inwieweit Vogelperspektive mag die Großkirmes wie gibt es Schnittstellen zwischen all diesen ein Epizentrum von Spaß und Vergnügen Menschen? Was verbindet sie, wenn sie wirken, aus der Nähe zeigen sich die viel- bei Festumzug, Fassanstich oder Wall- schichtigen Bedürfnisse, die hier ausge- fahrt aufeinander treffen? Welche „An- handelt werden. Pützchens Markt wird zur ekdötchen“ und „Verzällcher“ können sie Bühne, auf der private Familientraditionen erzählen, welche spontanen Eindrücke und politische Repräsentationen, Nostal- haben sie? Gerade das Spannungsfeld giefreude und moderne Festkultur, ehren- zwischen den religiösen Handlungen im amtliches Engagement und ökonomische Vorfeld und Umfeld der Kirmes und dem Interessen gelebt werden. Ein Mikrokos- Das bunte Jahrmarkttreiben findet direkt an Wer sich auf dem Jahrmarkt gruseln möchte der Kirche St. Adelheid statt. dreht eine Runde in der Geisterbahn. 10 Alltag im Rheinland 2016
NEU IM ILR mos, in dem sich sogar Gottesdienst und Geisterbahn nicht ausschließen. Denn der Festgottesdienst am Sonntag findet nicht in der Kirche, sondern im Festzelt inmitten des Kirmesplatzes statt. Bereits Ende der 1970er Jahre weckten Volksfest und die Adelheidiswallfahrt so sehr das Interesse des damaligen Amtes für rheinische Landeskunde (unser heuti- ges ILR), dass gleich drei Filmdokumenta- tionen entstanden sind. Die volkskundlich- filmischen Interessen lagen damals eher im minutiösen Nachzeichnen des Ablaufs von Wallfahrt und Kirmes in ihren einzel- nen Elementen. Aus heutiger Sicht sind diese Dokumentationen daher nicht nur eine wertvolle Fundgrube, um einen Ein- druck von der damaligen Festkultur zu bekommen, sondern auch ein Beleg für veränderte Ansätze des volkskundlichen Arbeitens. Das aktuelle Filmprojekt läuft nun un- ter neuen kulturwissenschaflichen Frage- stellungen an und bietet die Möglichkeit, exemplarisch am Phänomen Kirmes ge- Dreharbeiten Ende der 1970er Jahre. sellschaftlichen Wandel zu beobachten. Pützchens Markt steht für ein Stück kul- turelles Erbe, das sich dynamisch entwi- ckelt und an veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen anpasst, um leben- dig zu bleiben. Auch diesen Prozessen ver- sucht der Film auf die Spur zu kommen. Fertiggestellt wird er in der ersten Jah- reshälfte 2017, damit das LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte ihn pünktlich zum Jubiläumsprogramm prä- sentieren kann. Alltag im Rheinland 2016 11
NEU IM ILR Der „Sprachatlas Rheinland“ Im ILR ensteht ein neues Kartenwerk von Georg Cornelissen Der erste Fragebogen schen gesprochen, die den Dialekt nicht Vor 16 Jahren, also 2000, verschickte (mehr) beherrschen. Diese Alltagssprache das ILR, das da noch Amt für rheinische ist mit dem Dialekt nicht zu verwechseln. Landeskunde hieß, erstmals einen Fra- Vom Hochdeutschen, wie es in der Schule gebogen zum Regiolekt. Vorangehende gelehrt wird, unterscheidet sie sich unter Spracherhebungen hatten dem Dialekt anderem durch viele regionale Sprach (Platt) gegolten, nun wollten wir ausloten, eigenheiten. Beispiele aus verschiedenen ob sich durch eine solche schriftliche Er- Gebieten des Rheinlandes enthalten die hebung auch das Wissen der Gewährsleu- folgenden Sätze: Der hat Dinger erzählt, te zur regionalen Umgangssprache „an- dat is wirklich unglaublich! (Er hat Sa- zapfen“ ließ. Da unsere Korrespondenten chen erzählt, die wirklich unglaublich und Korrespondentinnen an Fragebogen sind!) Hasse auch dran jedacht, datte den zu den örtlichen Dialekten gewöhnt waren, Stuten mitbringen solls? (Hast du auch fand sich im Kopf des Regiolekt-Bogens daran gedacht, dass du das Weißbrot mit- eine längere Erläuterung: bringen sollst?) Dat haste schön gesacht! (Das hast du schön gesagt!) Nää, wat hat „In diesem Fragebogen geht es nicht dér große Quanten! (Nein, wie groß des- um die örtlichen Dialekte im Rheinland, sen Füße sind!) Die hat mir nix mitje sondern um die regionale Sprechsprache, bracht. (Sie hat mir nichts mitgebracht.)“ die zwischen Dialekt und ‚reinem‘ Hoch- deutsch angesiedelt ist. Ausfüllen kann Das Sprachmaterial für den den Fragebogen deshalb jeder Rheinlän- „Sprachatlas Rheinland“ (SpARh) der und jede Rheinländerin, Dialektbe- Wie sich 2000 zeigte, wusste ein gro- herrschung ist keine Voraussetzung dafür! ßer Teil unserer KorrespondentInnen zwischen Regiolekt und Dialekt zu un- Regionale Sprechsprache nennen wir terschieden (wenn es auch ausgefüllte die regionale Alltagssprache, die in der Fragebogen gab, die eindeutig dialektale Regel nicht geschrieben, sondern nur Belege enthielten, so dass sie für die Un- gesprochen wird. Sie wird auch von Men- tersuchung der regionalen Umgangsspra- 12 Alltag im Rheinland 2016
NEU IM ILR Hubbel oder Huckel Emmerich Hubbel Kleve Huckel Kranenburg Rees andere Hamminkeln Bedburg-Hau Kalkar Rh Schermbeck Goch Uedem ei Wesel n Weeze Xanten Hünxe Sonsbeck Alpen Voerde Dinslaken Kevelaer Issum Rheinberg Geldern Oberhausen Kamp- Lintfort Moers Rheurdt Kerken Duisburg Essen Straelen Neukirchen- Vluyn Kempen Mülheim/Ruhr Wachtendonk Heiligenhaus Krefeld Velbert Ratingen Nettetal Meerbusch Tönisvorst Willich Düsseldorf Wuppertal Schwalmtal Viersen Kaarst Mettmann Radevormwald Remscheid Niederkrüchten Korschenbroich Erkrath Hilden Solingen Wegberg Neuss Wassenberg Jüchen Langenfeld Mönchen- Dormagen Leich- Wipperfürth gladbach Grevenbroich lingen Wermels- Waldfeucht kirchen Hückelhoven Erkelenz Monheim Kürten Bergneustadt Selfkant Rommerskirchen Lindlar Titz Heinsberg Bedburg Pulheim Leverkusen Odenthal Gangelt Linnich Gummersbach Köln Engelskirchen Geilenkirchen Wiehl Bergheim Bergisch-Gladbach Jülich Overath Frechen Elsdorf Rösrath Much Baesweiler Aldenhoven Hürth Waldbröl Lohmar Morsbach Herzogenrath Neunkirchen- Alsdorf Inden Kerpen Seelscheid Wesseling Troisdorf Merzenich Eschweiler Brühl Ruppicheroth Nörvenich Würselen Windeck Langerwehe Siegburg Düren Niederkassel Aachen Erftstadt Kreuzau Vettweiß Eitorf Bornheim Alfter St.Augustin Stolberg Hennef Zülpich Hürtgenwald Weilerswist Königswinter Nideggen Bonn Swisttal Roetgen Heimbach Euskirchen Bad Honnef Wachtberg Simmerath Rheinbach Schleiden Mechernich Meckenheim Bad Münstereifel Kall Monschau Hellenthal Nettersheim 0 20 km ©LVR-ILR 2015 Dahlem Blankenheim ILR-Fragebogen 10 (2012), Frage 9 Altersgruppe 45-64 Jahre che nicht heranzuziehen sind). Deshalb und auf dem Fragebogen von 2012 basie- folgten auf diesen ersten Regiolekt-Frage- rend, zeigte den Raum, der auf den Haupt- bogen drei weitere: 2002, 2005 und 2012. karten des SpARh zu sehen sein wird: Er Insgesamt vier Fragebogenrunden aus deckt sich mit dem Grundgebiet des Land- dem Zeitraum zwischen 2000 und 2012 ist schaftsverbandes Rheinland, mithin mit also das Material zu verdanken, das für dem Teil des „Rheinlands“, der zu NRW den SpARh zur Verfügung steht. Die Karte gehört. Er reicht von Kleve im Norden bis „Plümmo oder Oberbett“, abgebildet auf nach Bonn im Süden, von Aachen im Wes- dem Umschlag des AiR-Jahrgangs 2015 ten bis zur westfälischen Grenze im Osten. Alltag im Rheinland 2016 13
NEU IM ILR gebogen vor, wurden die zehn (gemessen am Lebensalter der Gewährsleute) „mitt- leren“ Bogen berücksichtigt. Gab es für die Altersgruppe 45–64 überhaupt keine Daten, basiert die Karte ersatzweise auf den Fragebogen der Gruppe 65 Jahre und älter bzw. der Gewährsleute im Alter von 25 bis 44 Jahre. Insgesamt wurden für den SpARh vier Altersgruppen gebildet: 16–24, Scan: Aus dem ILR-Sprachfragebogen von 25–44, 45–64, 65+. 2012. Auf dieser wie auf allen weiteren Hauptkarten sind einfarbige und farblich Die Karte „Hubbel oder Huckel“ geht unterteilte Diagramme zu finden. Wurde ebenfalls auf den Fragebogen des Jahres auf allen Fragebogen einer Kommune nur 2012 zurück. Wie die betreffende Frage 9 eine einzige Variante genannt, zeigt die damals lautete, zeigt die Abbildung. Die Karte einen einfarbig gefüllten Kreis (in Karte dazu lässt auf den ersten Blick eine diesem Fall: rot oder grün). Kommen nach Zweiteilung des Gebiets erkennen: Wäh- den Angaben der Gewährspersonen zwei rend im Norden – also am unteren Nie- Bezeichnungen mit gleicher Häufigkeit derrhein, in den Städten des Ruhrgebiets vor, ist das Halbe-Halbe-Diagramm auf und im Niederbergischen – Huckel (rot) do- der Karte zu finden (hier etwa für Sonsbeck miniert, wurde anderswo vor allem Hub- oder Geilenkirchen). Dreivierteldiagramme bel (grün) genannt. Die Farbe Lila steht präsentieren die häufigste (oben) und die für „andere“ Lexeme (siehe unten). Die zweithäufigste Variante (unten). Die Farbe drei Komponenten des SpARh bilden die Lila hat zwei Funktionen: Sie kann erstens Hauptkarten, die Nebenkarten sowie die (in allen drei Diagrammtypen) für eine Be- Kartenkommentare. Bei „Hubbel oder Hu- zeichnung stehen, die nicht in der Legende ckel“ handelt es sich um eine Hauptkarte, aufgeführt ist. Zweitens tritt Lila auf, wenn für diesen Kartentyp wird stets die Alters- mehr als zwei Varianten zu berücksichti- gruppe der 45- bis 64-Jährigen herange- gen gewesen wären, wenn also drei oder zogen. Jede Kommune, für die auswert- mehr Bezeichnungen in derselben Häufig- bare Fragebogen vorlagen, ist mit einem keit für den ersten Platz (ungeteilter Kreis) Kreisdiagramm (Kuchendiagramm) ver- oder für den zweiten Platz (unteres Feld im treten; in diesem Fall fehlen genau 12 der Dreiviertelsymbol) darzustellen gewesen insgesamt 165 Kommunen im Rheinland. wären. Für die Hauptkarten wird demnach Hinter einem Diagramm können sich ein in vier Hinsichten reduziert: bis zehn Fragebogen verbergen; lagen für 1. w erden alle Orte einer Kommune diese Altersgruppe mehr ausgefüllte Fra- zusammengefasst. 14 Alltag im Rheinland 2016
NEU IM ILR bolzen, kicken oder pöhlen Emmerich bolzen Kleve kicken Kranenburg Rees pöhlen Hamminkeln Bedburg-Hau Fußball spielen Rh Schermbeck Goch Uedem fußballen ei n flabben Xanten Hünxe Sonsbeck Alpen Voerde andere Dinslaken Kevelaer Rheinberg Geldern Oberhausen Kamp- Lintfort Moers Rheurdt Kerken Duisburg Essen Straelen Neukirchen- Vluyn Kempen Mülheim/Ruhr Wachtendonk Grefrath Heiligenhaus Krefeld Velbert Ratingen Nettetal Meerbusch Tönisvorst Willich Düsseldorf Wuppertal Schwalmtal Viersen Kaarst Mettmann Radevormwald Remscheid Niederkrüchten Korschenbroich Erkrath Hilden Solingen Wegberg Neuss Wassenberg Jüchen Langenfeld Mönchen- Dormagen Leich- Wipperfürth gladbach Grevenbroich lingen Wermels- kirchen Erkelenz Monheim Kürten Bergneustadt Selfkant Rommerskirchen Lindlar Titz Heinsberg Bedburg Pulheim Leverkusen Odenthal Gangelt Linnich Gummersbach Köln Engelskirchen Geilenkirchen Wiehl Bergheim Bergisch-Gladbach Jülich Overath Frechen Elsdorf Rösrath Much Baesweiler Aldenhoven Hürth Waldbröl Lohmar Morsbach Herzogenrath Neunkirchen- Alsdorf Inden Kerpen Seelscheid Troisdorf Merzenich Eschweiler Brühl Ruppicheroth Nörvenich Würselen Windeck Langerwehe Siegburg Düren Niederkassel Aachen Erftstadt Kreuzau Vettweiß Eitorf Bornheim Alfter St.Augustin Stolberg Hennef Zülpich Hürtgenwald Weilerswist Königswinter Nideggen Bonn Swisttal Roetgen Heimbach Euskirchen Bad Honnef Wachtberg Simmerath Rheinbach Schleiden Mechernich Meckenheim Bad Münstereifel Monschau Hellenthal Nettersheim 0 20 km ©LVR-ILR 2015 Dahlem Blankenheim ILR-Fragebogen 10 (2012), Frage 20 Altersgruppe 45-64 Jahre 2. wird nur eine der vier hier gebildeten Diese sprachkartografischen Entschei- Altersgruppen, die Gruppe 45–64, dungen dienen dem Ziel, gut „lesbare“ und berücksichtigt. übersichtliche Kartenbilder zu präsentie- 3. wird die Zahl der herangezogenen ren. Eine Karte dieses Typs soll einerseits Fragebogen gegebenenfalls auf zehn Worträume darstellen und andererseits beschränkt. örtliche (kleinräumige) Varianten in gewis- 4. wird die darzustellende Varianz mit sem Umfang ins Blickfeld rücken. Auch Hilfe einer Sammelkategorie (lila) wer nicht Linguistik studiert hat und über begrenzt. keine große Erfahrung im „Kartenlesen“ Alltag im Rheinland 2016 15
NEU IM ILR verfügt, soll, wenn er sich für die Sprache flabben besonders in Betracht. Über die der Region interessiert, imstande sein, die geografische Verbreitung der einzelnen Sy- Karten dieses Atlas aufzunehmen. In den nonyme über die Grenzen des Rheinlands zu schreibenden Kartenkommentaren las- hinaus geben andere Kartenwerke Aus- sen sich dann viele Details nachtragen. kunft; im Fall von „Fußball spielen“ bieten sich die Karte in Jürgen Eichhoffs „Wort- Ein ganz anderes Kartenbild als die atlas der deutschen Umgangssprachen“ räumlich übersichtliche Verteilung der (1977–2000, Band 3, Karte 30) und die Kar- beiden Synonyme Hubbel und Huckel zeigt te in dem von Stephan Elspaß und Robert sich bei den Bezeichnungen für „Fußball Möller verantworteten „Atlas zur deut- spielen (außerhalb des Vereins)“. Das schen Alltagssprache“ (hier Runde 4) an. Material stammt wiederum aus der Er- hebung des Jahres 2012, allerdings war Der Deutsche Fußballbund offerier- in diesem Fall eine offene Fragestellung te Anfang 2016 in seinem „Fanshop“ ein ohne Antwortvorgabe gewählt worden Shirt, dessen Brustaufschrift „BOLZEN KI- („20. Wenn Kinder außerhalb des Fußball- CKEN PÖHLEN“ (untereinander geschrie- vereins miteinander ‚Fußball spielen‘: Wie ben) lautete. Viele Menschen im Rheinland nennen Sie das?“). Am häufigsten wurde werden sich (bzw. ihre Sprache) darin wie- von der Altersgruppe 45–64 bolzen (grün) dergefunden haben. Zu erwähnen ist noch, genannt, diese Bezeichnung kommt über- dass diese Fußballerwörter – zumindest all im Rheinland vor. Verbreitet, allerdings bolzen und pöhlen – auch eine negative deutlich seltener belegt, sind kicken (oran- Bedeutung haben können; sie verweisen ge) und Fußball spielen anzutreffen (rosa; dann, in Spielen auf dem Bolzplatz wie im wahrscheinlich meist Fussball spielen großen Stadion, auf ein bescheidenes Ni- ausgesprochen); pöhlen (blau), das auch veau der gezeigten sportlichen Leistungen in Westfalen bekannt ist, begegnet im (unkontrolliertes Balltreten, „Dreschen“ Rheinland eher am Niederrhein als wei- des Balles). Das Gesamt des Bolzens oder ter südlich im Raum Aachen-Köln-Gum- Pöhlens wird dann auch gern Gekicke ge- mersbach. Nur kleinräumig bekannt sind nannt. Bei jungen Leuten (Altersgruppe flabben (gelb, im Raum Düren-Voreifel) und 16–24) ist heute, wie die Fragebogenaus- fußballen (rot, am unteren Niederrhein, wertung ergab, auch zocken (oder Fußball fussballen auszusprechen). zocken) zu hören, wenn das Spielen auf dem Bolzplatz gemeint ist. Im Kartenkommentar des SpARh kön- nen die unter „andere“ (lila) verbuchten Als der vorliegende Aufsatz verfasst Bezeichnungen vorgestellt werden. Ety- wurde (Juni 2016), war im Internet ein digi- mologische Sondierungen drängen sich taler Fragebogen zu finden, in dem es um bei manchen der Verben mehr auf als bei die Verwendung des Neutrums bei weibli- anderen, hier kommen etwa pöhlen und chen Rufnamen ging (dat Anna usw.). Der 16 Alltag im Rheinland 2016
NEU IM ILR die / dat Maria Emmerich Maria Kleve die Maria Kranenburg Rees dat (et) Maria Hamminkeln Bedburg-Hau andere Kalkar Rh Schermbeck Goch Uedem ei Wesel n Weeze Xanten Hünxe Sonsbeck Alpen Voerde Dinslaken Kevelaer Issum Rheinberg Geldern Oberhausen Kamp- Lintfort Moers Rheurdt Kerken Duisburg Essen Straelen Neukirchen- Vluyn Kempen Mülheim/Ruhr Wachtendonk Grefrath Heiligenhaus Krefeld Velbert Ratingen Nettetal Meerbusch Brüggen Tönisvorst Willich Wülfrath Düsseldorf Wuppertal Schwalmtal Viersen Kaarst Mettmann Radevormwald Remscheid Korschenbroich Erkrath Haan Niederkrüchten Hilden Solingen Hückeswagen Wegberg Neuss Wassenberg Langenfeld Mönchen- Dormagen Leich- Wipperfürth gladbach lingen Wermels- Waldfeucht kirchen Marienheide Hückelhoven Erkelenz Burscheid Monheim Kürten Bergneustadt Rommerskirchen Lindlar Titz Heinsberg Bedburg Pulheim Leverkusen Odenthal Gangelt Linnich Gummersbach Köln Engelskirchen Reichshof Geilenkirchen Wiehl Bergheim Bergisch-Gladbach Jülich Overath Frechen Übach-Palenberg Elsdorf Rösrath Much Baesweiler Hürth Waldbröl Lohmar Morsbach Niederzier Herzogenrath Neunkirchen- Alsdorf Kerpen Seelscheid Wesseling Troisdorf Merzenich Eschweiler Brühl Nörvenich Würselen Windeck Langerwehe Siegburg Düren Niederkassel Aachen Erftstadt Kreuzau Vettweiß Eitorf Bornheim Alfter St.Augustin Stolberg Hennef Zülpich Hürtgenwald Weilerswist Königswinter Nideggen Bonn Swisttal Roetgen Heimbach Euskirchen Bad Honnef Wachtberg Simmerath Rheinbach Schleiden Mechernich Meckenheim Bad Münstereifel Kall Monschau 0 20 km Nettersheim Hellenthal ©LVR-ILR 2015 Blankenheim ILR-Fragebogen 8 (2005), Frage 19 Altersgruppe 45-64 Jahre Fragebogen gehört/e zu einem Koope- Schauen Sie nach der Lektüre dieses AiR- rationsprojekt der Universitäten Mainz, Heftes ruhig einmal nach, ob die Erhebung Luxemburg und Fribouerg (Schweiz). Das im Internet, die zu dem Projekt „Das Anna Phänomen ist in einem Gebiet zwischen und ihr Hund“ gehört, noch andauert (Ad- Nordrhein-Westfalen im Norden und der resse im Literaturverzeichnis)! Schweiz im Süden verbreitet und betrifft auch das Luxemburgische. Im Süden ist Auf dem ILR-Fragebogen des Jahres anstelle des rheinischen dat (et) Anna 2005 war eine entsprechende Frage mit natürlich das (es/‘s) Anna gebräuchlich. vier Antwortalternativen zu finden („19. Alltag im Rheinland 2016 17
NEU IM ILR Wie heißt es in dem Satz: Da is … Ma- verschiedener Generationen oft durch si- ria: die Maria/Maria/datMaria/et Maria/ gnifikante Unterschiede auszeichnet, wird andere: …“). Der SpARh wird eine Karte der Atlas für ausgewählte Fragestellun- dazu enthalten: Der Atlas bezieht über den gen auch kontrastive Regiolektkarten für Wortschatz hinaus (s. dazu auch Honnen die Altersgruppen 65+, 25–44 und/oder 2012) also auch grammatische Phänome- 16–24 enthalten. Mit abnehmendem Le- ne ein. Ferner wird es im SpARh um Fra- bensalter sinkt der Anteil der Dialektalis- gen der Lautung in den Regiolekten gehen men im Regiolekt. Andere Nebenkarten (etwa um die Aussprachevarianten Jummi/ sind dem Dialekt vorbehalten. Auf ihnen Gummi), und es wird auch die geografi- wird die Verteilung der Varianten in den sche Verteilung von Grußformeln unter- örtlichen Dialekten des Rheinlands darge- sucht (z. B. tschüss/tschö/tschau). stellt, wobei u. a. auf die Ergebnisse einer Dialekt-Fragebogenerhebung aus dem Auf der Karte „die/dat Maria“ wird Jahr 2011 zurückgegriffen werden kann. nicht zwischen dat Maria und et Maria Regiolekte (regiolektale Elemente) können differenziert. Gut („auf den ersten Blick“) durchaus dialektale Verhältnisse wider- zu erkennen ist, dass die Neutrumformen spiegeln, sie können sich aber auch stark vom Süden her ins Rheinland hineinrei- dem Standarddeutschen annähern oder, chen und nördlich einer gedachten Linie viel leichter als die „starren“ Dialekte, um- Nettetal-Krefeld-Ratingen-Velbert nur gangssprachliche Varianten aus Nachbar- noch selten genannt wurden. Die Belege regionen und/oder aus anderen Teilen des am nördlichen Niederrhein (in Bedburg- deutschen Sprachraumes übernehmen. Hau und Rees) sind vielleicht „Fehlern“ beim Ausfüllen zu verdanken, hier kreuzte Die Entscheidung, die Auskünfte der jeweils eine von mehreren Gewährsleuten Altersgruppe 45–64 für die Hauptkarten dat Maria bzw. et Maria an. Der untere zugrundezulegen, basiert auf diesen Be- Niederrhein erweist sich zugleich als Ge- obachtungen. Zu erwarten ist, dass die biet, in dem der weibliche Artikel (die Ma- regiolektalen Register dieser Altersgrup- ria, blau) die im Vergleich zur artikellosen pe den „mittleren Bereich“ im heutigen Form (Maria, rot) seltenere Variante ist. Sprachspektrum des Rheinlands, das Standarddeutsche ausgeklammert, dar- Nebenkarten stellt. Es ist dabei hinsichtlich der regio- Für einen Teil der Hauptkarten wird nalen Prägung mit folgender Staffelung zu der SpARh Nebenkarten anbieten. Sie rechnen (D: Dialekt; R: Regiolekt): dienen der Kontrastierung, wobei entwe- D – R 65+ – R 45-64 – R 25-44 – R 16-24 der regiolektale oder dialektale Fragebo- gen zugrundeliegen. Da sich, wie in einer Regionalsprachforschung 2016 früheren Veröffentlichung gezeigt werden Regionalsprachforschung hat in konnte (Cornelissen 2008), der Regiolekt Deutschland derzeit Konjunktur. Das For- 18 Alltag im Rheinland 2016
NEU IM ILR schungszentrum Deutscher Sprachatlas in born und Siegen. Das Projekt bezieht, auch Marburg führt im Augenblick sein großes, wenn im Titel der „Dialekt“ hervorgehoben von der Akademie der Wissenschaften und wird, doch alle Ebenen regionalen Spre- der Literatur (Mainz) gefördertes Lang- chens zentral mit ein. zeitprojekt „Regionalsprache.de (REDE)“ durch. Eine theoretische Fundierung der Der Sprachatlas Rheinland, dessen modernen Regionalsprachforschung liegt Planung einige Jahre zurückreicht, konnte seit drei Jahren mit dem Werk „Sprachdy- 2014 dank der tatkräftigen Unterstützung namik“ vor (Schmidt/Herrgen 2013). Das durch die kartografischen Mitarbeiterin- Verbundprojekt „Sprachvariation in Nord- nen im ILR (Esther Weiß, Martina Schaper) deutschland“ (SiN), von 2008 bis 2012 von Fahrt aufnehmen. Das Jahr 2016 markiert der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen weitereren Meilenstein in der Pro- gefördert, hat mit der Publikation seiner jektgeschichte, da derzeit ein weiterer Ergebnisse begonnen (s. S. 80 in dieser Mitarbeiter (Tim Könenberg) die Arbeiten Ausgabe). In diesem Jahr (2016) wurde in unterstützt. Zwischen Platt und „Tages- NRW das Sprachatlasprojekt „Dialektatlas schau“ – wie die Rheinländer und Rhein- Mittleres Westdeutschland“ gestartet, ge- länderinnen den weiten und variantenrei- fördert von der Nordrhein-Westfälischen chen Sprachraum „dazwischen“ ausfüllen, Akademie der Wissenschaften und der werden wir nach dem Abschluss des Pro- Künste; beteiligt an diesem für den Zeit- jekts sicherlich ein bisschen (bissken, biss- raum 2016–2032 ausgelegten Projekt sind jen) besser wissen. die Universitäten Bonn, Münster, Pader- Literatur Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) (2001ff.). Eichhoff, Jürgen (1977–2000). Wortatlas der deut- Von Stephan Elspaß/Robert Möller. http:// schen Umgangssprachen. Band 1–4. Bern/ www.atlas-alltagssprache.de/ (18.5.2016). München. Cornelissen, Georg (2008): Areale Strukturen Honnen, Peter (2012): Kappes, Knies & Klüngel. und generationenabhängige Varianz auf Re- Regionalwörterbuch des Rheinlands. 7. Aufl. giolektkarten des Rheinlands. In: Elspaß, Köln. Stephan/König, Werner (Hrsg.): Sprachge- ographie digital. Die neue Generation der Regionalsprache.de (REDE) (2008ff.). Von Jürgen Sprachatlanten (mit 80 Karten). (Germani- Erich Schmidt/Joachim Herrgen/Roland Keh- stische Linguistik, 190–191). Hildesheim/Zü- rein. https://regionalsprache.de (8.6.2016). rich/New York, S. 53–72. Schmidt, Jürgen Erich/Herrgen, Joachim (2013): Das Anna und ihr Hund. Weiblich Rufnamen Sprachdynamik. Eine Einführung in die mo- im Neutrum. Von Damaris Nübling/Helen derne Regionalsprachenforschung. (Grundla- Christen/Peter Gilles. http://www.namen- gen der Germanistik, 49). Berlin. forschung.net/weibliche-rufnamen-im-neu- trum/projektvorstellung (8.6.2016). Alltag im Rheinland 2016 19
ERINNERUNGSORTE „Eigentlich soll sich nichts ändern hier“ – ein Erinnerungsort im ländlichen Raum von Dagmar Hänel Gebäude, Garten, Landschaft: Haus Esselt standen die Menschen, die dort einen All- in Hünxe tag im Umbruch gestalten: Die 90-jährige Eva Pankok und eine Reihe von Freunden „E igentlich soll sich nichts ändern hier“ – dieser Satz oder ganz ähn- lich gemeinte Bemerkungen fielen häufig und Wegbegleitern, die sich vor allem eh- renamtlich für den Erhalt des Werks und das Museum engagieren. Schnell wurde im Sommer 2015, während der Dreharbei- deutlich, dass für alle Protagonisten der ten zu einem Filmprojekt am Niederrhein, Ort in seiner besonderen Gestaltung und in der Nähe von Drevenack, Gemeinde mit einer „Ausstrahlung“ von zentraler Hünxe. Gedreht wurde ein Dokumentar- Bedeutung ist: Dieser Ort ist vielschichtig film über Haus Esselt und das dort ange- und vielgestaltig: Ein altes Herrenhaus, siedelte Pankok Museum. Im Mittelpunkt dessen Innenausstattung einen ländlich- 20 Alltag im Rheinland 2016
ERINNERUNGSORTE bäuerlichen Charakter mit einer hetero- Eva Pankok, die Tochter, lebte in Haus Es- genen Kunstsammlung verbindet, eine selt und war die wohl wichtigste Verwal- umgenutzte Scheune, ein parkähnlicher terin dieses Erbes. Sie sollte und wollte Garten, das alles platziert im „Draußen“, Auskunft geben zur Lebensgeschichte der von Ackerbau und Wald geprägten ihrer Eltern, zum Werk ihres Vaters und Kulturlandschaft des Niederrheins. zu ihren Erinnerungen über den Alltag ihrer Familie. Geboren 1925 war Eva Pan- Während der Film vor allem die Men- kok eine noch lebende Zeitzeugin, die ihre schen zu Wort kommen lässt und der um- persönlichen Erinnerungen in die große gebende Raum als eine Art „heimlicher Geschichte des 20. Jahrhunderts erzäh- Hauptdarsteller“ das Setting bildet, durch lend einbetten konnte. Diese Interviews Raumeindrücke Stimmungen vermittelt, sollten als biographisches Archivmaterial Aussagen verstärkt oder kontrastiert, soll dienen und einen persönlichen Blick auf im folgenden der Ort als besonderer Raum Kunstwerke und Stationen eines Familien- in den Blick genommen werden.1 Er wird lebens dokumentieren. Sie waren gedacht vorgestellt über die Wahrnehmungen der als Ausgangsmaterial für etwas andere Menschen, die sich dort aufhalten und die Ausstellungsmedien: Kurzfilme, die in die ihn für sich aneignen und nutzen. In seiner neue Ausstellung eingebaut werden soll- Bedeutung lässt er sich als kreativer Ort, ten, um in medialer Form sowohl über ein- Vermittlungsort und natürlich Alltagsort zelne Werke der Pankoks ebenso wie über lesen. Als symbolischer Ort wird er zu ei- ihre Biographie zu informieren. Soweit der nem Erinnerungsort und zur Heimat. Plan. Zum Projekt Dieser erste Besuch in Haus Esselt Zunächst ging es nur um ein Interview, erbrachte vielfältige Eindrücke von einem ein mit der Kamera aufgezeichnetes Ge- besonderen Ort, einer sozialen Dynamik spräch mit Eva Pankok. Das war die An- und Kommunikation, einem Bemühen um frage aus dem LVR-Fachbereich Kultur, ein Erbe, alles in einem Veränderungspro- wo im Rahmen der Museumsförderung zess befindlich. Spürbar war ein Bedürf- die Neukonzeption und Umgestaltung des nis nach Tradierung, nach Festhalten und Pankok-Museums Haus Esselt in Dre- Sicherheit, gepaart mit einer Aufbruchs- venack begleitet wurde. Ein Schwerpunkt stimmung, einem Veränderungs- und Ge- dieser Begleitung lag auf der Sicherung staltungswillen. Hier lief gerade ein kultur- und Dokumentation des künstlerischen wissenschaftlich hochspannender Prozess und kulturellen Erbes von Otto und Hulda ab: Die Aushandlung von kulturellem Erbe Pankok. Ein Künstler und eine Journalis- in räumlichen, sozialen, materiellen und tin, die ein umfangreiches Werk hinterlas- symbolischen Konfigurationen. Was so ab- sen haben, das weit über Bilder, Skulptu- strakt klingt, wird in der Forschung über- ren, Druckplatten und Bücher hinausgeht. wiegend anhand historischer oder zumin- Alltag im Rheinland 2016 21
ERINNERUNGSORTE dest halbwegs abgeschlossener Beispiele lebnisort beschrieben, war in allen Inter- untersucht: Wie wird ein lokales Fest wie views hochgradig emotional aufgeladen. der Karneval in Binche zum immateriellen Kulturgut, wie funktionieren die Diskurse Kultur und Raum – eine kurze theore um eine kollektive Selbstdarstellung im tische Anmerkung Kontext der Bewerbung als „Europäische Raum ist neben Zeit und sozialer Kon- Kulturhauptstadt“?2 figuration eine der Grundkategorien von Kultur. „Landeskunde“ bezieht sich stets Nur selten ergibt sich die Gelegenheit, auf einen bestimmten Raum, wobei Pro- diese Diskurse quasi „life“ zu beobachten: zesse von Adaption (kultur-)räumlicher Was soll aus welchem Grund wie tradiert Gegebenheiten und der Konstruktion und werden? Welche Geschichte wird erzählt? Verbreitung dieser als „Region“ oft stereo- In welchen Formen und Materialitäten typ zusammengefassten Größe ambivalent wird kulturelles Erbe eingeschrieben? und kritisch zu betrachten sind. Gerade in Wie sind Menschen in ihrem subjektiven der älteren Forschung zeigt sich ein Kon- Empfinden an diesem Prozess beteiligt, zept von Räumen als Container, „die wie was bedeuten ihnen die Veränderungen? Behälter kulturelle Erscheinungen um- Wie verändert sich der Alltag an diesem mantelten und aufbewahrten.“3 Auch die Ort, an dem sich „eigentlich nichts ändern Disziplin Volkskunde hat im Kontext der soll“? Diesen Fragen wurde in dem ent- „Kulturraumforschung“ nach regionalen standenen Film „Eigentlich soll sich nichts Spezifika gesucht, diese in Karten visuell ändern hier“ – Haus Esselt, die Menschen, verortet und damit Grenzen und Räume die Kunst und die Zeit nachgegangen (sie- von Kultur(en) definiert. Obwohl gerade he hierzu auch S. 88). Eine besondere Note das große Kartierungsprojekt „Atlas der erhält der Film dadurch, dass er tatsäch- deutschen Volkskunde“ in seiner Liebe lich zum letzten audiovisuellen Dokument zum alltagskulturellen Detail auch als Eva Pankoks wurde: Kurz nach dem letz- Ausdruck des Scheiterns dieses Ansat- ten Drehtag in Haus Esselt ist Eva Pankok zes gelesen werden kann: Vor allem in im Februar 2016 gestorben. der vergleichenden Gesamtschau lassen sich aus dem Atlasmaterial kaum ein- Eine weitergehende Betrachtung deutige Kulturräume oder klare Grenzzie- nimmt nun das Thema Raum in den Blick: hungen zwischen Regionen und Nationen Welche Bedeutung kommt dieser kulturel- festmachen. Trotzdem bleibt er bis heute len Grundkategorie in diesem Prozess zu? in der Kritik, galt in der Zeit nach dem 2. Welche Aneignungen und Aushandlungen, Weltkrieg die Kulturraumforschung als Dinge und Symbole, materielle wie imma- ns-ideologisch. Polemische Schlagworte terielle Aspekte spielen eine Rolle? Denn vom „Volk ohne Raum“ und dem „Lebens- der Ort wurde von allen Gesprächspart- raum im Osten“ sowie der rassische Na- nern als besonderer Erfahrungs- und Er- tionalismus des NS-Systems griffen das 22 Alltag im Rheinland 2016
ERINNERUNGSORTE deutlich ältere wissenschaftliche Konzept des „Kulturraums“ gerne für ihre politi- schen Instrumentalisierungen auf. Seit den 1980er Jahren ist eine Neuperspek- tivierung der Kategorie Raum in den Kul- tur- und Geisteswissenschaften feststell- bar.4 Das Ende des „Kalten Krieges“ mit dem Verschwimmen tradierter Grenzen (symbolischer wie nationaler) und der nun neu verfügbare virtuelle Raum weckte ein Haus Esselt, Eingang mit Wappenschild neues kulturwissenschaftliches Interesse an räumlichen Ordnungen. Der „spatial einem konkreten Beispiel den Bedeutun- turn“ versteht Raum als soziale Größe, die gen von räumlichen Ordnungen für kultu- sowohl Produkt sozialer Prozesse ist als relle Bezüge nachzuvollziehen. auch auf menschliches Handeln wirkt.5 Räume entstehen dabei im alltäglichen Menschen machen Räume – Handeln, werden im Alltag ausgehandelt, Zur Herstellung von Räumen gestaltet und angeeignet. Die Soziologin am Ort „Haus Esselt“ Martina Löw identifiziert hierbei zwei Stra- Haus Esselt stammt aus dem 17. Jahr- tegien, das Spacing, mit dem Personen hundert und ist eine typische Grachten und Dinge spezifisch arrangiert werden hofanlage, wie sie in der Region charak- und die Synthese, die räumliche Settings teristisch als repräsentativer Wohnsitz der in Wahrnehmung und Vorstellung zusam- Oberschicht war. Barocke Architekturele- menfasst und ordnet. Studien zu institu- mente wie das Eingangsportal mit Sand- tionellen Räumen wie Pierre Bourdieus stein und der Wappenschild über dem „Geburt der Klinik“ und Erving Goffmans Portal verweisen auf seinen Status. Innen „Asyle“, zu symbolischen Raumordnungen erinnert das Haus eher an ein Bauern- wie Michel Foucaults „Heterotope“ und haus: ein offener Steinboden in Flur und Marc Augés „Nicht-Orte“ sind inzwischen Küche, in der Stube Holzdielen, ein Ka- zu Klassikern avanciert und zeigen den min, ein offenes Herdfeuer in der Küche. Wert dieser Perspektiven für kulturanaly- Gestaltet und ergänzt ist die niederrhei- tische Forschungen. nisch-bäuerliche Einrichtung durch Kunst des 20. Jahrhunderts und Sammlungen Der Blick auf einen Ort wie Haus Es- historischer Kunst und Kunsthandwerk selt, das ich als ein komplexes Raumge- sowie durch umfangreiche Buchbestände. bilde mit Grenzen und Binnenstrukturen Nicht nur Zeichnungen, Drucke und Bilder wie Innen und Außen, Haus und Museum, von Otto und Eva Pankok hängen an den Arbeits- und Freizeitort verstehe, soll von Wänden, auch Kunstwerke befreundeter dieser Perspektive geleitet werden, um an Künstlerinnen und Künstler. Im so ge- Alltag im Rheinland 2016 23
ERINNERUNGSORTE nannten Biedermeierzimmer findet sich damit sie es hörte: ‚Ist gekauft!‘, Ja, und eine Sammlung religiöser Kunst: eine höl- dann schrie meine Mutter zurück: ‚Du bist zerne Stifterfigur, Votivtafeln und Ikonen. verrückt, wir haben es doch noch nie gese- Diese Mischung, die durch die Familie hen!‘ ‚Doch, da habe ich 1926 gemalt. Das Pankok in dieser Form entstand, schafft ist so schön, das können wir unbesehen eine besondere Atmosphäre. kaufen‘.“ Die Familie erwarb Haus Esselt 1958. In dieser Erzählung wird deutlich, dass Otto Pankok gab seine Professur aus Al- Eva Pankok die Bedeutung des Hauses tersgründen auf, die Familie wollte ge- über die Erinnerung des Vaters, der es in meinsam aufs Land ziehen. Nach erfolglo- seiner Jugend gemalt hat, definiert. Die ser Suche an der Schlei erinnert sich Eva Familie zieht aus der Großstadt Düssel- Pankok lebhaft an die Szene, wie ihnen dorf an den Niederrhein. Die Betonung des Haus Esselt angeboten wurde: „Das Te- einfachen Lebens und eine Nähe zur Na- lefon war auf dem Flur, also etwas weiter tur zeigt sich einerseits im Alltag, der mit weg und darum schrie meine Mutter laut: Hunden, Katzen und Hühnern sowie einem ‚Da ist Eva Brinckmann‘, Bildhauerin aus Nutz- und Ziergarten einen bäuerlichen Wesel, eine Jugendfreundin von ihr. Und Charakter erhält. Der Garten wird durch die sagt, da gibt es ein altes Herrenhaus, zahlreiche Bäume parkähnlich gestaltet, Haus Esselt, das könnten wir vielleicht wobei auch Kunstwerke harmonisch ein- erwerben. Und mein Vater schrie zurück, gefügt werden. Frau M., die in den ersten Blick in das so genannte Biedermeierzimmer 24 Alltag im Rheinland 2016
ERINNERUNGSORTE Haus Esselt, Kohlezeichnung von Otto Pankok, 1926 (Ausschnitt) Jahren als Hausmädchen bei Familie Pan- überliegende Raum als „Biedermeierzim- kok arbeitete, beschreibt den Alltag als mer“ als deutlich bürgerlich ausgestat- ruhig: „Es war ein sehr stilles Haus. Hulda teter Essraum wirkt. Der zentrale Tisch ging nach dem Frühstück in ihr Büro und hier ist aus poliertem Holz und deutlich schrieb, Otto ging in sein Druckzimmer“, filigraner gearbeitet als der Küchentisch; oder er zeichnete, wobei die direkte Um- als Sitzmöbel wirkt ein passendes Sofa gebung sein zentrales Motiv wird. mit geschwungenen Lehnen und elegant hell-gestreiftem Bezug als Blickfang des Im Haus sind die Räume in ihrem Cha- Raums. Ein weiterer Raum ist als Aufent- rakter als eher bürgerlich bzw. eher bäu- haltsraum gestaltet, wobei der Charak- erlich abgestuft: Die Küche ist der Raum ter dieses „blauen Zimmers“ wiederum mit dem stärksten „Bauernhausambien- deutlich bäuerlicher wirkt. Die Wände te“. Die Möbel sind einfach und pragma- sind hier hellblau gekälkt, eine typisch tisch, bis heute ist auch die Küchentechnik ländliche Technik, die von Familie Pankok sehr einfach gehalten. Zentraler Ort ist ein aufgegriffen wurde. Mit Holztisch, großen langer Holztisch unter dem ehemaligen Holzstühlen, einer Truhe und einem Ses- Kaminabzug, mit Holzbank und großen sel wird eine regionale Möblierung aufge- Holzstühlen, in denen bunte Kissen liegen. griffen, vor allem die Truhe gilt als typisch Hier ist sozusagen der einfache, bäuerlich niederrheinisches Möbelstück. Auch der anmutende Essplatz mit kommunikativem Garten wird als heterogener Ort gestal- Charakter inszeniert, während der gegen- tet: Rund um das Haus legt Otto Pankok Alltag im Rheinland 2016 25
ERINNERUNGSORTE eine dem englischen Landschaftsgarten den Erinnerungen an die bürgerliche Her- nachempfundenen Anlage an, die in einen kunft von Otto und Hulda Pankok, einer Waldbereich übergeht. Nah am Haus ist auch romantisch assoziierten Naturnähe ein ebenfalls an historisierenden Vorbil- und der Sehnsucht nach einem einfachen dern angelehnter Bauerngarten mit Nutz- Leben verstehen. Die klare Ordnung von pflanzen (Obst und Gemüse kombiniert innen und außen (Haus Esselt liegt abge- mit typischen Bauerngartenpflanzen wie schieden und ist nur durch einen verwin- Rosen, Hortensien und Buchsbaumhecke) kelten Eingang zu betreten) verstärkt die angelegt (wobei schon seit einigen Jah- Wirkung eines abgeschlossenen Ortes, an ren kein Gemüse mehr angepflanzt wird). dem die Zeit stillzustehen scheint. Dieser Dieser Bauerngarten ist mit Bezug zum Eindruck wird bestätigt: „Hier steht fast al- barocken Eingangsbereich und dem die les noch so, wie Otto und Hulda das einge- ehemalige Gräfte markierenden Baumbe- richtet haben“ erzählte bei einem ersten stand konzipiert und leitet als Blickachse Rundgang Frau D. den Blick des Betrachters in die umge- bende offene Landschaft. Haus und Garten Raumaneignungen: Kreativer Raum, wurden von der Familie Pankok nach be- Vermittlungsraum, Kommunikations stimmten Kriterien gestaltet. Dabei wer- raum und Erinnerungsort den Kunst (eigene und die von Freunden 1926 malte Otto Pankok bei einer Rei- und Weggefährten) und Repräsentationen se an den Niederrhein Haus Esselt. Eva eines bürgerlichen („Biedermeiermöbel“) Pankok erzählt, dass er an einem heißen wie intellektuell-akademischen Lebens Sommertag hier vorbeikam und von einer (Bibliothek) mit einer als „bäuerlich-nie- Bewohnerin ein Glas Milch erhielt. Die da- derrheinisch“ empfundene Ausstattung mals entstandene Kohlezeichnung (S. Abb. kombiniert. Es lassen sich die konkreten 4) zeigt Haus Esselt in seiner relativ qua- Ausformungen als Ausdruck romanti- dratischen Struktur, deutlich erkennbar scher Vorstellungen (bäuerliches Leben), ist der charakteristische Stein und die re- duzierte Form. Das Haus schmiegt sich in die umgebende Landschaft, zu sehen sind nur wenige Bäume, es dominiert eine Wie- sen- und Feldlandschaft unter bewegtem Himmel. Nachdem Otto 1958 nach Haus Esselt zurückkehrt, werden Elemente dieses Or- tes in seinem künstlerischen Werk auf- gegriffen: vor allem die Mitbewohner des Hauses gehören zu seinen Lieblingsmo- Bronzestatue im Garten dellen: Hahn und Hühner, Hunde, Katzen 26 Alltag im Rheinland 2016
HEIMAT aber auch seine Frau und seine Tochter. terlichen Erbes: Geboren 1925 erlebte Eva Nach dem Tod Otto Pankoks 1966 begin- Pankok fast das gesamte 20. Jahrhundert nen Hulda und Eva mit dem Aufbau des und konnte noch hochaltrig reflektiert ihre Museums. Am Ort des Familienlebens, in eigenen Erfahrungen mit historischen Er- der Scheune von Haus Esselt, sollen die eignissen und Prozessen verbinden. Diese Werke erhalten und gezeigt werden. Das Erzählungen präsentierte sie gerne den Museum ist ein privates Familienmuseum, Besuchern des Museums. nach dem Tod Huldas 1985 übernimmt Tochter Eva die Leitung, die sie nach ihrem Das Museum als Ort mit seinen Po- Unfall 2006 Stück für Stück an die Otto- tentialen nutzen auch andere Akteure: Pankok-Stiftung übergibt. Für Eva Pankok Die Sammlung von Kohlezeichnungen und war das Museum in erster Linie Erhalt des Grafiken wird neu geordnet, sortiert, kate- Erbes ihres Vaters, seine Kunst stand für gorisiert. Hier schreiben sich spezifische sie stets im Mittelpunkt. Während eines Ordnungsmuster ein, die wiederum be- Interviews erzählt sie amüsiert, dass an- stimmte Aspekte eines Wertekanons, der lässlich ihres Geburtstages eine Ausstel- sich auf Otto Pankok beruft, repräsentie- lung mit ihren Bildern zu sehen ist – „aber ren. In dieser Ordnung sind beispielsweise bald hängt hier wieder nur mein Vater.“ die so genannten Zigeunerbilder und der Diese Bemerkung zeigt, dass sie das Pan- Zyklus „Die Passion“ besonders herausge- kok Museum als exklusiven Ort für die hoben, an ihnen zeigen sich die Humanität Kunst ihres Vaters definiert. Ihre eigenen Pankoks und seine Widerständigkeit zum Bilder empfindet sie als zu Gast bei beson- Nationalsozialismus in besonderer Weise. derem Anlass. Damit erzählen die Ausstel- Diese Aspekte sind es wiederum, die als lungen und der Ort immer auch ein Stück prägend für den gesamten Ort definiert weit die Geschichte Otto Pankoks aus der werden: Im Kontext der Neuorientierung Perspektive seiner Tochter. als Kulturort im ländlichen Raum soll die politisch-philosophische Ebene von Hu- Auch Haus und Garten dienen der Er- manität, Interkulturalität, Integration und innerung an die Eltern von Eva Pankok. Verantwortung für zukünftige Besucher Ausstattung und Charakter des Hauses erfahrbar werden, auch in der Gestaltung bleiben möglichst unverändert, der Alltag als offener und gastfreundlicher Ort. ebenso. Für Museumsbesucher erschließt sich der Ort als Erinnerungsort an die Fa- Eva Pankok war an diesem Prozess der milie Pankok. Eva Pankok als Museums- Neukonzeption aktiv unterstützend betei- leiterin, Kuratorin und lebende Zeitzeugin ligt. Mit ihrem Tod im Februar 2016 wird war leidenschaftliche Erzählerin der Ge- Haus Esselt auch zu einem Erinnerungs- schichte ihrer Eltern. Dabei kombinierte ort an sie: zum einen als eigenständige sie ihre Erfahrungen als Zeitzeugin mit Künstlerin, deren Werk im Museum einen ihrer Perspektive der Verwalterin des el- festen Platz bekommen soll. Damit wird Alltag im Rheinland 2016 27
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