FACHINFORMATION No 1 | 2020 - "GEWALTFREI LEBEN - SICHER WOHNEN" - Frauenhauskoordinierung

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FACHINFORMATION No 1 | 2020 - "GEWALTFREI LEBEN - SICHER WOHNEN" - Frauenhauskoordinierung
FACHINFORMATION
No 1 | 2020

    „GEWALTFREI LEBEN – SICHER WOHNEN“
FACHINFORMATION No 1 | 2020 - "GEWALTFREI LEBEN - SICHER WOHNEN" - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
                                                                                                                                          Seite 2

Liebe Leser_innen1,
liebe Kolleg_innen,

die vorliegende Fachinformation widmet sich dem Zusam-                                Problem von internationaler Dimension ist. Ein beson-
menhang zwischen Wohnen und Häuslicher Gewalt. Welche                                 deres Augenmerk richten wir mit den Beiträgen von
besondere Bedeutung die eigenen vier Wänden während der                               Nina Vollbracht und Lea Susemichel diesmal außerdem
Arbeit an dieser Publikation für uns alle gewinnen würde,                             auf die geschlechtsspezifischen Aspekte von Wohn-
war zu Anfang des Jahres wohl für die wenigsten vorauszu-                             raum und Architektur. Wie immer nutzen wir zudem
sehen. Die Bindung an den eigenen Wohnraum im Zuge der                                die Gelegenheit, um über aktuelle Veröffentlichungen
Corona-Pandemie hat zahlreiche Probleme des Gewaltschut-                              und Entwicklungen in Politik, Recht sowie FHK selbst zu
zes sowie der Wohnungslosenhilfe weiter zugespitzt und                                informieren.
Lücken der Hilfesysteme, aber auch politische Handlungsbe-
darfe, für eine breitere Öffentlichkeit deutlich sichtbar ge-                         Besonders freuen wir uns auch, dass erneut Kol-
macht.                                                                                leg_innen aus der Praxis – diesmal Frauenhäuser in
                                                                                      Brandenburg – zu Wort kommen. Und nicht zuletzt
Dennoch sind die in dieser Fachinformation behandelten
                                                                                      nutzen wir die Gelegenheit, Sie alle herzlich zur Teil-
Problemstellungen nicht neu. Sie verweisen vielmehr auf
                                                                                      nahme am nunmehr digitalen FHK-Fachforum im Sep-
einen dauerhaften Krisenzustand, der unsere Gesellschaft
                                                                                      tember einzuladen.
auch jenseits von Viren oder Pandemien prägt und der des-
halb eine erneute Auseinandersetzung im Rahmen unserer                                Nun bleibt uns nur, allen eine anregende Lektüre zu
Fachinformation verdient: das Ringen um sicheres, gewalt-                             wünschen und Ihnen noch einmal für den beachtlichen
freies Leben & Wohnen für alle Frauen.                                                gemeinsamen Kraftakt der vergangenen Monate zu
So beleuchtet Lena Abstiens in ihrem Beitrag die sozialpoliti-                        danken!
schen Dimensionen bezahlbaren Wohnraums; verschiedene                                 Mit herzlichen Grüßen aus der FHK-Geschäftsstelle
Projekte stellen ihre Arbeit zur Unterstützung wohnungsu-
                                                                                      Elisabeth Oberthür
chender, gewaltbetroffener Frauen vor; und ein Blick nach
                                                                                      Referentin Öffentlichkeitsarbeit / Gewaltschutz und
Großbritannien verdeutlicht, dass der Zusammenhang zwi-
                                                                                      Flucht
schen Wohnungslosigkeit und Häuslicher Gewalt ein

1 Anmerkung zur genderspezifischen Schreibweise: Um die Vielfalt geschlechtlicher
Identitäten sichtbar zu machen, verwendet FHK in eigenen Publikationen den soge-
nannten Gender-Gap (Unterstrich). In den Beiträgen der Fachinformation überlassen
wir es jedoch den jeweiligen Verfasser_innen, für welche Form einer gendersensiblen
Schreibweise sie sich entscheiden. So viel Vielfalt und Freiheit muss sein.
FACHINFORMATION No 1 | 2020 - "GEWALTFREI LEBEN - SICHER WOHNEN" - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
                                                                                                                                                                           Seite 3

INHALT

Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen ................4                             Interview: „Einzelkämpferin kann man nicht sein im
Einführung: Partnergewalt entkommen – aber keine                                            Frauenhaus“......................................................................... 46
Wohnung? ............................................................................. 4    Reformpläne zum Kindschafts- und Unterhaltsrecht .......... 48
Gewalt und Wohnungslosigkeit – die Suche von Frauen                                         Handbuch für die Umsetzung der Istanbul-Konvention ...... 51
nach Schutz und Sicherheit.................................................... 7
Projekt Karla 51 (München) ................................................. 12
                                                                                            Tipps und Termine ........................................................... 52
Wohnprojekt Anker – Trägerwohnungen in Berlin.............. 16
                                                                                            Buchrezension: „Häusliche Gewalt – Handbuch
Projekt Second Stage (Heidelberg) ...................................... 21                 Täterarbeit“ ......................................................................... 52
Haus ohne Adresse – eine architektonische Betrachtung                                       Leseempfehlung: „Prügel – Eine ganz gewöhnliche
von Frauen*häusern ............................................................ 23          Geschichte Häuslicher Gewalt“ ........................................... 53
Die Herrin des Hauses oder die Hausfrau in der                                              Leseempfehlung: „AktenEinsicht – Geschichten von
Heimhölle? Die komplexe Beziehung von Weiblichkeit &                                        Frauen und Gewalt“ ............................................................. 54
Wohnen ............................................................................... 26
                                                                                            Filmtipp „Una primavera“ .................................................... 55
Bezahlbarer Wohnraum – Aufgabe von
Wohnungsunternehmen, Kommunen und Politik ............... 31
                                                                                            Neues von FHK................................................................. 56
Die andere Wohnungskrise: Wie die Wohnungslosenhilfe
in Großbritannien bei der Unterstützung gewaltbe-                                           Einladung: FHK-Fachforum 2020 ......................................... 56
troffener Frauen versagt...................................................... 35           Datenschutz in Frauenhäusern und Beratungsstellen:
Soziale Plattform Wohnen ................................................... 40             FHK-Rechtsinformation zur DS-GVO erschienen ................. 57
                                                                                            Kampagne #StärkerAlsGewalt ............................................. 58

Aus Forschung und Praxis ................................................ 41                Melderecht .......................................................................... 59

Interdisziplinäre Online-Fortbildung „Schutz und Hilfe
bei Gewalt“ .......................................................................... 41   Impressum....................................................................... 60
Maßnahmen des Bundes ..................................................... 42
Interview: „Gebt uns doch einfach genug Geld, wir
machen schon etwas Vernünftiges daraus!“ ...................... 43
FACHINFORMATION No 1 | 2020 - "GEWALTFREI LEBEN - SICHER WOHNEN" - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
                                                                                   Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                         Seite 4

SCHWERPUNKT: GEWALTFREI LEBEN – SICHER WOHNEN

Einführung: Partnergewalt entkommen – aber keine Wohnung?
Gisela Pingen-Rainer, Vorstand Frauenhauskoordinierung e.V.

Frauen, die in ihren eigen vier Wänden Gewalt durch den        – nicht nur in Ballungszentren oder Großstädten – lange
Ehemann oder Lebenspartner erleben, wollen irgendwann          keine Wohnung finden und es somit zu langen Verweildau-
nur noch eins: raus. Die einen versuchen, sich mit Hilfe von   ern in den ohnehin voll belegten Frauenhäusern kommt.
Interventions- und Beratungsstellen aus der Beziehung zu       Um in dieser Situation Abhilfe und damit Perspektiven zu
lösen und eine eigene Wohnung zu finden oder in einigen        schaffen, geht die Fachpraxis an vielen Orten neue Wege,
Fällen die Wohnungszuweisung gerichtlich zu erwirken. Die      um mit Projektmitteln von Ländern, Kommunen und Stif-
anderen flüchten sich aus Mangel an Alternativen und um        tungen Übergangswohnen oder sogenanntes Second-Stage-
Unterstützung zu finden (mit ihren Kindern) in ein Frauen-     Wohnen zu ermöglichen.
haus. Frauen mit langjähriger Gewalterfahrung müssen sich
                                                               Die Unterstützung bei der Suche nach einer neuen Woh-
meist aus Abhängigkeiten vom Partner befreien, vieles
                                                               nung nimmt zunehmend mehr Raum bei der Beratung und
klären, eine Arbeit finden und sich ein eigenständiges Le-
                                                               Begleitung von Frauen ein, die nicht in ihre alte Wohnung
ben aufbauen. Viele der Frauen sind durch die jahrelang
                                                               zurück können bzw. wollen oder erstmalig als Geflüchtete
erfahrene Gewalt wenig selbstständig und selbstbewusst
                                                               eine Wohnung brauchen. Einen Sonderfall stellen geflüch-
und tun sich schwer, eine Wohnung zu finden oder haben
                                                               tete Frauen dar, die aufgrund von Wohnsitzauflagen be-
schlicht (als teilweise sozial Isolierte, Migrantin und/oder
                                                               sondere Schwierigkeiten haben und zeitintensiv unterstützt
Alleinerziehende) schlechte Chancen auf dem allerorts
                                                               werden müssen. Wohnraummangel und Kapazitätsgrenzen
angespannten Wohnungsmarkt. Für viele ist es frustrie-
                                                               der Frauenhäuser haben in vielen Ortsvereinen zu neuen
rend, wenn sie sich durch die Unterstützung und Interven-
                                                               Projektinitiativen geführt, die vor allem Übergänge im An-
tionen von Fachkräften in Frauenhäusern stabilisieren
                                                               schluss an den Aufenthalt im Frauenhaus schaffen wollen
konnten und zu mehr Selbstvertrauen gefunden haben und
                                                               und somit konzeptionell an die vorherige Hilfeleistung an-
dann beim nächsten Schritt, der Wohnungssuche, mit er-
                                                               schließen. Etliche Bundesländer zeigen sich zunehmend
heblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.
                                                               offen, Projekte mit dem Ziel von Wohnraumakquise und
Frauenhäuser und Interventionsstellen machen schon seit        sozialpädagogischer Begleitung für gewaltbetroffene Frau-
Jahren darauf aufmerksam, dass Frauen sich wegen des           en zu fördern.
angespannten Wohnungsmarkts nicht aus Gewaltbezie-
                                                               Die Projekte und Maßnahmen für gewaltbetroffene Frauen
hungen trennen können oder nach Frauenhausaufenthalten
                                                               sind breit gefächert:
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FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
                                                               Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                     Seite 5

    •   Wohnen im Vordergrund / Schutzcharakter im
        Vordergrund: Unterschieden wird das Zurverfü-
        gungstellen von Wohnraum für Frauen nach Frau-
        enhausaufenthalt, die Vermittlungshemmnisse auf
        dem Wohnungsmarkt haben wie beispielsweise
        Schulden, von der Einrichtung neuer Schutzwoh-
        nungen, die insbesondere dem geschützten Woh-
        nen vor Gewalt dienen und als erweitertes exter-
        nes Angebot des Frauenhauses angesehen werden
        müssen.

    •   Trägerwohnungen, die vom Träger dauerhaft oder
        für übergangsweises Wohnen angemietet oder zur
        Verfügung gestellt werden / von den Frauen mit
        sozialpädagogischer Unterstützung eigenständig
        angemieteter Wohnraum

    •   Wohnen für bestimmte Zielgruppen, wie bei-
        spielsweise für Frauen mit älteren Söhnen, die
        nicht im Frauenhaus untergebracht werden kön-
        nen, weil die baulichen und sanitären Anlagen
        oder das geschützte Zusammenleben im Frauen-
        haus nicht möglich ist

    •   Vom Träger geschaffener Wohnraum mit Förde-
        rung / Finanzierung als Frauenhausplatz

    •   Initiativen zur Wohnraumakquise u. a. mit Sach-
        kenntnis der Immobilienbranche / Initiativen zur
        Begleitung der Wohnungssuche

    •   Begleitung beim Übergang in neues Wohnumfeld
        (Unterstützung bei Behördenkontakten, Schul-
        /Kita-Anmeldung, Kontakt zu Beratungslandschaft)

Die derzeitigen Wohnprojekte werden meist mit zusätzli-
chen Projektmitteln der Länder aus dem Ressort „Gewalt
gegen Frauen“ realisiert (z. B. in NRW, Baden-Württemberg
und Bayern) und sind zeitlich befristet. Vor Ort sind in der
Regel Behörden und Kooperationspartner wie Kommunen,
Stiftungen und Wohnungsbaugesellschaften in die Projekte
eingebunden. In relativ kurzen Projektlaufzeiten von 1 bis 2
Jahren werden neue Unterstützungsstrukturen aufgebaut,
jedoch muss auch die Verstetigung im Auge behalten wer-
den. Die Fachpraxis sieht nicht nur vorübergehenden, son-
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FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
                                                                                    Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                          Seite 6

dern längerfristigen Bedarf, eigenständiges Wohnen von         und Kommunen sind aufgefordert, der freien Wohlfahrt –
Frauen mit Gewalterfahrung im Rahmen des Übergangs-            und insbesondere Frauenverbänden – adäquate Fördermit-
managements nach Frauenhausaufenthalt zu etablieren            tel für den Ausbau des Hilfesystems bei Gewalt gegen Frau-
und als Baustein der Frauenhaus-/ und ggfls. auch Interven-    en zur Verfügung zu stellen.
tionsstellenarbeit konzeptionell weiterzuentwickeln. Auch
                                                               Seit dem Frühjahr 2020 erfährt das Thema „Sichere Unter-
in den nächsten Jahren ist weiterhin von einer angespann-
                                                               bringung von gewaltbetroffenen Frauen“ eine neue Brisanz:
ten Situation auf dem Wohnungsmarkt auszugehen, vor
                                                               Durch die Virus-Pandemie mit Kontaktverboten und Ab-
allem für Menschen mit niedrigen Einkommen. Vom Über-
                                                               stands-/Hygieneregeln wurde es vielfach notwendig, Frau-
gangswohnen oder Second Stage profitieren auch diejeni-
                                                               enhauskapazitäten herunterzufahren, um möglichen Qua-
gen Frauen, die noch Unterstützung brauchen, um den
                                                               rantänesituationen vorzubeugen und Abstandsregeln im
Umgang mit Behörden zu lernen oder in einem neuen Um-
                                                               Haus einhalten zu können. Damit steigt der Bedarf, kurzfris-
feld aktiv und eigenständig relevante Kontakte für sich und
                                                               tig Frauen und Kinder anderweitig sicher unterzubringen
ihre Kinder aufzubauen, wie beispielsweise viele Migrantin-
                                                               und zu begleiten. In Kooperation mit Kommunen und sozia-
nen, die noch nicht lange in Deutschland leben. Ihr Anteil
                                                               len Organisationen konnte mancherorts die Anmietung von
im Frauenhaus steigt seit Jahren und liegt aktuell bei etwa
                                                               geeigneten leer stehenden Hotels, Ferienunterkünften oder
70%. Vielfach haben vormals die Partner „den Behörden-
                                                               Bildungshäusern realisiert werden – wobei sich zusätzliche
kram“ übernommen oder die Frauen keine Eigenständigkeit
                                                               Fragen der personellen Betreuung stellen. An dieser Stelle
entwickeln können, weil sie seitens ihrer Ehemän-
                                                               wird deutlich, dass bei Planung und Umbau von Frauenhäu-
ner/Partner ständiger Kontrolle ausgesetzt waren oder
                                                               sern zukünftig verstärkt Wert auf die Einrichtung von Fami-
nicht in nennenswertem Umfang über eigenes Geld verfü-
                                                               lienappartements mit integriertem Bad und Küche gelegt
gen konnten.
                                                               werden muss. Derzeit ist davon auszugehen, dass länger-
Mancherorts sind mit zusätzlichen Mitteln und großem           fristig Gesundheitsrisiken mit der Pandemie einhergehen.
Engagement seitens der SkF-Ortsvereine neue Schutzwoh-         Die Konsequenzen für die weitere Konzeptentwicklung und
nungen geschaffen worden, die teilweise von den Ländern        Finanzierung der Frauenhäuser muss daher alsbald fachlich
mit zusätzlichen Platzpauschalen (orientiert an Frauenhäu-     diskutiert werden.
sern) finanziert werden, jedoch den realen Personal- und
Sachkostenaufwand des Trägers nicht abdecken. Schutz-
wohnungen bieten nicht den fachlichen Standard von Frau-       Verfasserin:
enhäusern hinsichtlich Schutz, Ausstattung und psychosozi-     Gisela Pingen-Rainer ist Referentin für das Arbeitsgebiet
aler Versorgung von Frauen und Kindern. Sie dürfen daher       Gewaltschutz/Häusliche Gewalt in der Bundesgeschäfts-
von öffentlichen Geldgebern nicht als zusätzlich finanzierte   stelle des Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein
Frauenhausplätze gewertet werden (Kein Ausbau der Frau-        e. V. in Dortmund und Vorstandsmitglied bei FHK.
enhausplätze „light“!). Zu denken geben sollte in diesem
Kontext die Tatsache, dass bundesweit die Anzahl von
Frauenhäusern offenbar zurückgegangen ist, wogegen die
Zahl der Schutzwohnungen gestiegen ist (Bestandsaufnah-
me 2012: 353 Frauenhäuser und ca. 40 Schutzwohnungen;
Länderabfrage BMFSFJ 2018: 336 Frauenhäuser und 114
Schutzwohnungen). Die Bedarfe an Wohnen, Begleitung
und Schutz gewaltbetroffener Frauen und Kinder fordern zu
differenziertem Hinsehen und Reagieren auf. Bund, Länder
FACHINFORMATION No 1 | 2020 - "GEWALTFREI LEBEN - SICHER WOHNEN" - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
                                                                                                              Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                                                         Seite 7

Gewalt und Wohnungslosigkeit – die Suche von Frauen nach Schutz und Sicherheit
Sabine Bösing, Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe

„Wenn das eigene Zuhause nicht sicher ist“2 betitelte der                          verbergen. Viele Frauen leben in provisorischen Übernach-
Spiegel seinen Beitrag zu häuslicher Gewalt in Zeiten von                          tungsmöglichkeiten, bei Freunden und Bekannten, oft in
Corona. Eine Überschrift, die gerade in diesen Tagen, an                           prekären Wohnverhältnissen mit hohem Gewaltrisiko. In
denen wir uns in unsere eigene Häuslichkeit zurückziehen                           der Hoffnung auf mehr Schutz und Sicherheit verbleiben
müssen und diese kaum mehr verlassen können, eine neue                             sie oftmals in gewaltgeprägten Beziehungen oder begeben
Dimension erfährt.                                                                 sich in neue Abhängigkeiten.

„Wenn es um Häusliche Gewalt geht, haben die Coronakri-                            Wie viele Einrichtungen und Dienste sind auch die Anlauf-
se und Weihnachten etwas gemeinsam: Sobald Familien                                stellen und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in die-
auf engstem Raum tagelang zusammensitzen, kommt es                                 sen Zeiten mit vielen neuen Herausforderungen konfron-
häufiger zu Streit – und auch zu Gewaltausbrüchen“, ist im                         tiert. Die oft beengten Belegungssituationen in den Notun-
Beitrag zu lesen. Doch die Coronakrise bringt noch weitere                         terbringungen müssen aufgelöst und verstärkte Hygiene-
Verschärfungen mit sich. Auf Weihnachten sind wir alle                             maßnahmen umgesetzt werden. Die fehlenden Platzkapa-
vorbereitet, das Hilfesystem, die Familien, die Gesellschaft.                      zitäten müssen durch Anmietung von leerstehendem
Weihnachten ist nach drei Tagen vorbei, es gibt weniger                            Wohnraum, Hotels und Pensionen durch die Kommunen
Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, keine Quarantänebeschrän-                            ausgeglichen und erweitert werden. Es braucht gerade für
kungen, Schließungen von Kitas und Schulen auf unbe-                               besonders vulnerable Gruppen wie Alleinerziehende und
stimmte Zeit, Aufnahmestopps in Einrichtungen, um nur                              Familien, psychisch oder somatisch schwer beeinträchtigte
einige der aktuellen Herausforderungen zu benennen.                                Menschen, von Gewalt bedrohte oder betroffene woh-
                                                                                   nungslose Frauen abgeschlossene Wohneinheiten.3
Leben auf engem Raum, unbewältigte Probleme in der
Partnerschaft, fehlender Ausgleich und Rückzug, eigene                             Die Tagesaufenthalte und Beratungsangebote können
Anspannungen und psychische Belastungen, fehlende                                  durch die Abstands- und Hygienemaßnahmen nur noch für
Bewältigungsstrategien und keine Zufluchtsorte außerhalb                           eine begrenzte Anzahl von wohnungslosen Frauen zur
der Wohnung erhöhen das Potential von Gewalt und Ag-                               Verfügung stehen, d.h. da wo sonst zwischen 30 – 50 Frau-
gression.                                                                          en pro Tag Schutz und Beratung erhalten konnten, sind es
                                                                                   heute die Hälfte. Durch die eingeschränkten Angebote
                                                                                   können die, die in anderen Einrichtungen und in eigener
Wohnungslos in Zeiten von Corona.                                                  Wohnung leben, nur eingeschränkt versorgt werden. Die
Was, wenn das eigene Zuhause zur Gewaltfalle wird?                                 psychische Belastung ist enorm und die fehlenden persön-
Wenn ich auf der Straße lande, wohin kann ich mich wen-                            lichen Kontakte führen zur Vereinsamung.
den? Freunde und Bekannte dürfen nicht aufgesucht wer-                             Besonders betroffen von dem Kontaktverbot sind Frauen
den bzw. haben auch keine Möglichkeiten der Aufnahme.                              mit Kindern. Sie leben in einem Zimmer und haben kaum
Doch gerade für Frauen sind dies oft die ersten Kontakt-                           Möglichkeiten der Entlastung. Schulpflichtige Kinder sollen
stellen. Eine große Anzahl Frauen, die sich in einer Woh-                          über Online-Schule am Schulalltag teilnehmen, aber die
nungsnotfallsituation befinden, geben sich zumeist die                             benötigten digitalen Voraussetzungen fehlen.
größte Mühe, unauffällig zu bleiben und ihre Notlage zu

                                                                                   3
                                                                                     Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (Hg.) (2020): CORONA-
2
  https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-krise-und-haeusliche-gewalt-   Krise – Auswirkungen auf Menschen in Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot. Die
wenn-das-eigene-zuhause-nicht-sicher-ist-a-f4ed7e8a-9224-4876-bbc1-                BAG Wohnungslosenhilfe e. V. (BAG W) fordert ein 10-Punkte-Sofortprogramm,
45e2b5a9c26c abgerufen am 07.04.2020.                                              Berlin.
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                                                                                                             Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                                                          Seite 8

Wohnungslosigkeit ist eine extreme Form von Armut und
Ausgrenzung. Diese Pandemie macht das Ausmaß noch
sichtbarer und die Unsicherheit und Ängste der betroffe-
nen Frauen nehmen zu.

Wohnungslose Frauen.

In den Jahreserhebungen der BAG Wohnungslosenhilfe
zur Lebenslage von Menschen in Wohnungsnot4 wird seit
Jahren deutlich, dass der Anteil der Frauen in einem Woh-
nungsnotfall steigt. 2018 waren 26,5 % der wohnungslo-
sen Menschen Frauen. Für bedarfsgerechte Hilfen für
Frauen in einer Wohnungsnotfallsituation sind die spezifi-
schen Unterschiede von Frauen und Männern zu berück-
sichtigen: Bei Betrachtung der Altersverteilung zeigt sich,
dass 21,3 % der Frauen unter 25 Jahre alt waren, während
nur 16,8 % männliche Betroffene dieser Alterskategorie
zuzuordnen sind. Frauen nehmen bei drohendem Woh-
nungsverlust frühzeitiger Hilfen in Anspruch und leben
                                                                                 Von Gewalt betroffene Frauen.
häufiger in der eigenen Wohnung (34,3 % ggü. 19,3 %). Sie
haben zwar etwas häufiger einen Fachschul- oder                                  Gewalt in der Herkunftsfamilie, sexualisierte Gewalt und
(fach)hochschulbezogenen Berufsabschluss (5,3 % ggü.                             insbesondere Häusliche Gewalt sind prägend für das Leben
3,3 %), aber auch deutlich öfter gar keine abgeschlossene                        vieler Frauen in einer Wohnungsnotfallsituation. Die Fol-
berufliche Ausbildung (62,2 % ggü. 54,3 %). Die fehlende                         gen sind vielfältig und können gravierend sein. Sie reichen
berufliche Qualifizierung, die Übernahme von Kindererzie-                        von gesundheitlichen – wie körperliche Verletzungen,
hung und Pflege und prekäre Beschäftigungsverhältnisse                           psychosomatische Beschwerden und psychische Störungen
führen oft zu finanziellen Notlagen und Abhängigkeiten.                          – bis zu sozialen und ökonomischen Folgen. Frauen, die oft
Bei der Haushaltsstruktur lässt sich feststellen, dass Ein-                      jahrelang Häusliche Gewalt erfahren haben, oder junge
Eltern-Haushalte häufiger Frauen als Männer (87,1 % ggü.                         Frauen und Mädchen, die aus gewaltgeprägten Lebensum-
12,9 %) führen. Auf die Frage nach dem Auslöser für den                          ständen in ihrer Herkunftsfamilie zu entkommen versu-
Wohnungsverlust nennen mehr Frauen als Männer Gewalt                             chen, geraten in Wohnungsnot, weil sie weder über trag-
durch den Partner / die Partnerin oder Gewalt durch Dritte                       fähige soziale Netzwerke verfügen, noch wirtschaftlich und
als Grund. Neben Gewalterfahrungen gehören zu den                                materiell abgesichert sind, um sich selbst mit alternativem
häufigsten Ursachen von Wohnungslosigkeit Mietschulden,                          Wohnraum versorgen zu können.5
Trennung und Scheidung. Gesundheitliche Beeinträchti-
                                                                                 Bei akuter Gewalt findet ein Teil dieser Frauen Aufnahme
gungen, z. B. psychische Erkrankungen, Armut, ge-
                                                                                 in einem Frauenhaus. Anderen Frauen bleibt nur die Woh-
schlechtsspezifische Benachteiligungen und Mangel an
                                                                                 nungslosigkeit, insbesondere dann, wenn sie aufgrund
persönlichen, materiellen und sozialen Ressourcen er-
                                                                                 weiterer sozialer Schwierigkeiten, gesetzlicher Ausschluss-
schweren die Situation von Frauen in einem Wohnungs-
notfall.
                                                                                 5
                                                                                   Vgl. Rosenke, Werena: Frauen in Specht, Thomas et al.: Handbuch der Hilfen in
4
   Vgl. Statistikbericht 2018 der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe   Wohnungsnotfällen. Entwicklung lokaler Hilfesysteme und lebenslagenbezogener
e.V.: Zur Lebenssituation von Menschen in den Einrichtungen und Diensten der     Hilfeansätze. Im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des
Hilfen in Wohnungsnotfällen in Deutschland, in Veröffentlichung.                 Landes Nordrhein-Westfalen. Berlin / Düsseldorf 2017, S. 302.
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                                                                                                               Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                                                           Seite 9

kriterien oder einer Suchtproblematik keine Aufnahme in                             nen, Schlaf- und Essstörungen sowie Suchtprobleme (Sel-
einem Frauenhaus finden.                                                            lach 2002)8.

Auch das Leben auf der Straße bedeutet für viele Frauen                             Darüber hinaus können im Kontext von Trennung und
eine Fortsetzung von bereits erlebter Gewalt. Ohne ge-                              Scheidung weitere Risiken und Hürden für ein gewaltfreies,
schützten Raum sind sie häufig Opfer sexuellen Miss-                                selbstbestimmtes Leben entstehen. Wie empirische Be-
brauchs und sexueller Gewalt. Um der Obdachlosigkeit und                            funde zeigen, besteht in dieser Situation zum einen eine
dem Elend und Schutzlosigkeit auf der Straße zu entkom-                             erhöhte Gefahr schwerer und eskalierender Gewalt9. Zum
men, gehen Frauen prekäre Mitwohnangebote (Zweckbe-                                 anderen ist häufig eine Einbuße an Einkommen und Eigen-
ziehungen) ein, oder nehmen Wohnangebote gekoppelt an                               tum die Folge, was zu erheblichen finanziellen Problemen
sexuelle Verfügbarkeit an. Wohnungslose Frauen, die der                             führen kann – insbesondere, wenn der Verlust des Ar-
Prostitution nachgehen, wurden häufig durch ihre Partner                            beitsplatzes hinzukommt.
zur Prostitution gezwungen bzw. leben in den Häusern
                                                                                    Mit der geringen personellen Ausstattung und aufgrund
ihrer Zuhälter. Sie sind extremer Unterdrückung, Gewalt
                                                                                    ihrer konzeptionellen Ausrichtung sind Frauenhäuser auf
und Beschneidung ihrer Freiheit ausgesetzt. Sie haben
                                                                                    Frauen mit multiplen Problemlagen nur begrenzt einge-
selten einen Zugang zum herkömmlichen Hilfesystem und
                                                                                    richtet.
zur persönlichen Hilfe.6
                                                                                    Für Frauen mit multiplen Problemlagen, die über einen
                                                                                    langen Zeitraum Gewalterfahrungen gemacht haben und
Von Gewalt betroffene und wohnungslose Frauen und                                   oftmals am Ende ihrer Kräfte sind, ist die Wohnungssuche
ihre Unterstützungsbedarfe.7                                                        eine besonders große Herausforderung. Sie sind in höhe-
                                                                                    rem Maße schutzbedürftig und haben daher ein besonde-
Die Lebenslagen von Frauen in Wohnungsnotfallsituation
                                                                                    res Recht auf sicheren Wohnraum.
sind geprägt durch komplexe Problemlagen in den ver-
schiedensten Bereichen, wie familiäre und soziale Situati-
on, Gesundheit und Arbeit.
                                                                                    Gewaltschutz für Frauen in der Wohnungslosenhilfe.
Der Zusammenhang von Gewalt, weitreichenden gesund-
                                                                                    Aufgrund der großen Bedeutung der gewaltgeprägten
heitlichen Risiken und Wohnungslosigkeit lässt sich eindeu-
                                                                                    Lebensumstände in der Vergangenheit und Gegenwart
tig nachweisen. Gewalt geprägte Lebensumstände können
                                                                                    vieler wohnungsloser Frauen müssen diese Frauen eine
Frauen nicht nur arm und wohnungslos, sondern auch
                                                                                    Option auf ein Hilfeangebot haben, welches ausreichend
körperlich und seelisch krank machen. Gewalt gegen Frau-
                                                                                    Schutz- und Unterstützungsstrukturen gegen geschlechts-
en hat daher beachtliche gesundheitliche, soziale und
                                                                                    spezifische Gewalt vorhält. Die Kooperation mit Frauen-
wirtschaftliche Auswirkungen. Nicht nur das Selbstwertge-
                                                                                    häusern ist besonders notwendig.
fühl wird beeinträchtigt, sondern auch die Folgen von
Verletzungen sind weitreichend: posttraumatisches Belas-                            Mit der Ratifizierung des Europaratübereinkommens zur
tungssyndrom, Stress bedingte Erkrankungen, Depressio-                              Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Häusliche Ge-
                                                                                    walt (sog. „Istanbul-Konvention“) hat sich Deutschland auf
                                                                                    all seinen staatlichen Ebenen verpflichtet, für ein
                                                                                    Schutzsystem zu sorgen, das allen Frauen, die von Gewalt.
6
  Vgl. Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg e. V. (Hg.) (2012):
Hilfen für Wohnungslose Frauen in Baden-Württemberg. Grundsätze – Anforderun-
                                                                                    8
gen – Standards, Stuttgart.                                                            Vgl. Sellach, Brigitte: Frauen in Wohnungsnot. Hilfen, Bedarfslagen und neue
7                                                                                   Wege in NRW. o.J. In: http://www.gsfev.de/pdf/frauen-in-wohnungsnot_NRW.pdf
   Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (2019): Sicherstellung
                                                                                    (abgerufen am 20.4.2020).
bedarfsgerechter Hilfen für Frauen in einer Wohnungsnotfallsituation. Empfehlun-
                                                                                    9
gen     der   BAG      Wohnungslosenhilfe.    (abgerufen      am     20.04.2020).     BMFSFJ: „Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen – Eine sekundäranalytische
http://www.bagw.de/media/doc/POS_19_Sicherstellung_bedarfsgerechter_Hilfen_f        Auswertung zur Differenzierung von Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und
uer_Frauen.pdf                                                                      Unterstützung nach erlebter Gewalt.“ Kurzfassung . Berlin 2008.
FACHINFORMATION No 1 | 2020 - "GEWALTFREI LEBEN - SICHER WOHNEN" - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                     Seite 10
FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
                                                                                                               Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                                                         Seite 11

betroffen sind, zugänglich ist und das Hilfe sofort, effektiv                       Frauen mit Gewalterfahrung brauchen ein sicheres
und in ausreichendem Maße bereithält.                                               Zuhause.

Verschiedene mögliche Handlungsansätze für ein weiteres                             Doch „überfüllte“ Frauenhäuser und Einrichtungen in der
Vorgehen beim Ausbau des Gewaltschutzes für wohnungs-                               Wohnungslosenhilfe machen deutlich: Die Vermittlung in
lose Frauen könnten u. a. sein10:                                                   eine eigene, bezahlbare Wohnung ist durch den ange-
                                                                                    spannten Wohnungsmarkt kaum mehr möglich. Die Unter-
     •      Einbeziehung der Situation gewaltbetroffener
                                                                                    stützungsleistungen stoßen an ihre Grenzen. Neben allen
            wohnungsloser Frauen in politische Gesamtstra-
                                                                                    frauengerechten Hilfeangeboten braucht es vor allem
            tegien gegen geschlechtsspezifische Gewalt auf
                                                                                    bezahlbaren Wohnraum. In einer eigenen Wohnung kön-
            Bundes- und Landesebene (Aktionspläne, gleich-
                                                                                    nen Frauen sicher leben und zugleich bei Bedarf unterstüt-
            stellungspolitische Rahmenprogramme etc.);
                                                                                    zende professionelle Hilfen erhalten.11 Daher braucht es
     •      Einbeziehung von Akteuren der frauenspezifi-                            Kooperationen von Wohnungslosenhilfe, Frauenhäusern
            schen Wohnungslosenhilfe in die Vernetzungs-                            und anderen Akteuren, um sich gemeinsam für eine aus-
            strukturen von Bund, Ländern, Kommunen (z. B.                           reichende und bedarfsgerechte Versorgung mit Wohnraum
            Bund-Länder-AG „Häusliche Gewalt“, Runde Ti-                            und entsprechende Unterstützungsleistungen für Frauen
            sche gegen Gewalt gegen Frauen in den Bundes-                           einzusetzen.
            ländern und Kommunen);

     •      Berücksichtigung der hohen Gewaltprävalenz im
            Leben wohnungsloser Frauen in der Forschung zu                          Verfasserin:
            geschlechtsspezifischer Gewalt, z. B. bei regiona-                      Sabine Bösing ist stellvertretene Geschäftsführerin sowie
            len Bedarfsanalysen für den Ausbau des Hilfesys-                        Fachreferentin für den Bereich Frauen in der Bundesar-
            tems.                                                                   beitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (www.bagw.de).
                                                                                    Kontakt: sabineboesing@bagw.de

                                                                                    11
                                                                                       Vgl. Rosenke, Werena (2017): Wohnungslosigkeit und Gewalt gegen Frauen. In:
10
   Vgl. Engelmann, Claudia; Rabe, Heike (2019): Umsetzung der Istanbul-Konvention   Frauenhauskoordinierung Newsletter 1/2017 (abgerufen am 21.04.2020).
– Gewaltschutz in der Wohnungslosenhilfe, in: wohnungslos. Aktuelles aus Theorie    https://www.frauenhauskoordinierung.de/fileadmin/redakteure/Publikationen/Ne
und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit, Jg. 61, Nr. 3, S. 94–98.                wsletter/newsletter_FHK_2017-1_web.pdf
FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
                                                                                   Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                        Seite 12

Projekt Karla 51 (München)
Interview mit Isabel Schmidhuber, Leiterin Frauenobdach KARLA 51

Über das Projekt                                              Was will KARLA 51 erreichen?

Das Projekt in Zahlen:                                        Unsere Ziele sind,
                                                                  •   dass Frauen ein eigenes Zimmer in einem ge-
Frauenobdach KARLA 51, München                                        schützten Frauenraum haben.
Evangelisches Hilfswerk München                                   •   dass Frauen zur Ruhe kommen und sich stabilisie-
Das Frauenobdach KARLA 51 besteht seit 1996 und ist aus               ren.
der Frauenteestube entstanden, einer ambulanten Bera-             •   existentielle Grundbedürfnisse abgedeckt sind.
                                                                  •   Frauen professionelle Ansprechpartnerinnen fin-
tungsstelle mit Tagesaufenthalt für wohnungslose Frauen.
                                                                      den.
Es dauerte allerdings sechs Jahre vom Erkennen des Be-
                                                                  •   Perspektiven für längerfristige Wohnverhältnisse
darfs bis zur Eröffnung des Hauses, da damals weibliche
                                                                      zu entwickeln und erste Schritte einzuleiten.
Obdachlosigkeit noch kaum sichtbar war und der Bedarf
nicht gesehen wurde. Finanziert wird das Frauenobdach im      Die Hauptaufgaben des Frauenobdachs gliedern sich in
Rahmen einer pauschalen Zuschussfinanzierung von der          drei Bereiche:
Landeshauptstadt München und durch Eigenmittel des            A. Aufnahme und Wohnen:
Trägers sowie Spenden.
                                                                  •   24 Stunden an 365 bzw. 366 Tagen im Jahr geöff-
Mitarbeiterinnen: 24,22 Vollzeitstellen,                              net; zu allen Zeiten kann eine Aufnahme stattfin-
    •   13 Sozialarbeiterinnen                                        den.
    •   2 Verwaltungskräfte                                       •   Notaufnahme der Frau (mit Kind), wenn ein Zim-
    •   2 Hauswirtschafterinnen                                       mer frei ist oder Weitervermittlung an entspre-
    •   2 Kinderkrankenschwestern                                     chende Einrichtungen.
    •   60 Pfortenkräfte sowie                                    •   Die Unterbringung erfolgt in 55 Einzelzimmern (an
                                                                      zwei Standorten).
        sowie ca. 30 ehrenamtliche Helferinnen.
                                                                  •   Der Aufenthalt dauert bis zu 8 Wochen, in Einzel-
Die rechtliche Grundlage der Arbeit sind die §§ 67 SGB XII,           fällen auch länger.
ff. Wir sind also keine ordnungsrechtliche Unterkunft!            •   Intensives Clearing und schnelle, passgenaue Wei-
                                                                      tervermittlung der Klientin, um schnellstmöglich
                                                                      wieder ein freies Zimmer vergeben zu können.
An wen richtet sich KARLA 51?

Zielgruppe sind wohnungslose Frauen, von Wohnungslo-          B. Frauencafé im Haus:
sigkeit bedrohte Frauen, Frauen in ungesicherten Wohn-
verhältnissen mit und ohne Kinder.                            Niedrigschwellige Anlaufstelle mit Beratungsangebot für
                                                              ambulante Besucherinnen und aktuelle Bewohnerinnen
Es gibt keine Ausschlusskriterien. Somit können auch Frau-    mit dem Angebot der Grundversorgung mit warmem Es-
en mit psychischen Krankheiten, Suchtproblematiken,           sen, Kleidung (gut ausgestattete Kleiderkammer im Haus),
Transfrauen und Migrantinnen aufgenommen werden,              Möglichkeit zu Körperpflege, Wäschereinigung und medi-
sofern keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt.     zinischer Versorgung (ärztliche Sprechstunden im Haus).
Es ist auch möglich, Frauen aufzunehmen, die ihren Namen      Regelmäßig stattfindende Angebote zur Teilhabe am ge-
nicht nennen wollen.                                          sellschaftlichen Leben (z.B. Konzerte, Vorträge, angeleitete
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                                                                                  Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                       Seite 13

Gruppenangebote). Geschützter Raum für Begegnung,             Was sind die zentralen Herausforderungen, mit denen Ihre
Kontakte, Weitergabe von fachlichen Informationen. Zu-        Zielgruppe zu Ihnen kommt?
gehende psychosoziale Beratung des sozialpädagogischen
                                                              Die Klientinnen sind von Wohnungslosigkeit betroffen bzw.
Fachpersonals während der Caféöffnungszeiten.
                                                              bedroht. Nicht selten haben sie für einige Zeit in einem
                                                              Abhängigkeitsverhältnis ohne eigenen Mietvertrag gelebt
                                                              und waren dort Belästigungen und/oder Gewalt ausge-
C. Mutter-Kind-Betreuung:
                                                              setzt. Häufig bringen die Frauen psychische Auffälligkeiten
Überprüfung des Kindeswohls anhand des gängigen Krite-        mit und haben teilweise wenig bis keine Krankheitsein-
rienkatalogs, Anleitung und Unterstützung der Mütter bei      sicht. Immer häufiger beobachten wir auch schwere kör-
den Themen Gesundheit, Ernährung, Tagesstruktur, Klei-        perliche Krankheiten oder Beeinträchtigungen. Der stetig
dung, altersgerechter Umgang, Grenzsetzung, Förderung,        ansteigende Anteil von Migrantinnen (2019: mehr als 60 %
Beschäftigung, etc. Beobachten und Analysieren der Mut-       der Bewohnerinnen) fordert das Personal hinsichtlich der
ter-Kind-Beziehung, bzw. der Mutter-Kind-Bindung. Be-         Sprachkenntnisse und der kulturellen Unterschiede der
schäftigung mit einzelnen Kindern, um den Entwicklungs-       Frauen.
stand zu überprüfen, Unterstützung, Hilfestellung und ggfs.
                                                              Welche Unterstützung bietet KARLA 51 an?
Begleitung bei allen Aufgaben, die in Zusammenhang mit
dem Kind stehen und die die Mutter nicht alleine bewälti-     Wir bieten Notaufnahme in Einzelzimmern, dadurch
gen kann (Hebamme, Ärztin, Schule, KiTa, etc.). Hinweise      kommt es häufig schon zu einiger Stabilisierung der Frau-
zu Spiel- und Ausflugsmöglichkeiten, Hilfe bei Organisation   en. Außerdem bieten wir intensive Beratung durch eine
und Anmeldung zu Ausflügen, Ferienfreizeiten, etc.            Bezugs-Sozialarbeiterin – ohne Terminvergabe: Die Klien-
                                                              tinnen kommen i.d.R. zu Beginn des Aufenthalts mehrfach
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                                                                                     Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                          Seite 14

täglich zur Beratung. (Finanzielle) Existenzsicherung steht     benamtlichen Mitarbeiterinnen als Dolmetscherin ein-
an erster Stelle des Beratungsprozesses (z.B. Antrag auf        springt.
Hartz IV und Krankenversicherung). Danach folgt ein Clea-
                                                                Aufgrund der jahrelangen Demütigung und Misshandlun-
ring, wie es zur jetzigen Situation kam und welche Schwie-
                                                                gen durch ihren Mann besitzt Frau T. kaum noch Selbstbe-
rigkeiten die Klientin außer der Wohnungslosigkeit noch
                                                                wusstsein oder Selbstwertgefühl.
mitbringt. Im Bedarfsfall wird die Klientin zu Ärztinnen und
Behörden begleitet, bei Bedarf leisten wir Motivationsar-       Nur durch intensive Beratungsgespräche ist es uns mög-
beit zum Beginnen einer Therapie sowie Weitvermittlung          lich, ihr zu vermitteln, dass es für sie und ihren Jungen
in eine geeignete längerfristige Wohnform oder – wenn           durchaus eine Zukunftsperspektive gibt, dass unsere Stadt
möglich – Begleitung in eine eigene Wohnung. Die Arbeit         genügend Hilfsangebote bereithält, um Frauen in ihrer
muss intensiv und sehr schnell sein, weil die durchschnittli-   Situation dauerhaft ein selbst bestimmtes Leben zu ermög-
che Aufenthaltsdauer acht Wochen nicht überschreiten            lichen. Nach einigen Tagen ist Frau T. sicher, dass sie dieses
soll.                                                           Mal nicht zu ihrem Mann zurückkehren will – auch wenn
                                                                sie noch nicht weiß, wie es weitergehen soll.
Ist eine Klientin schwanger oder bringt Kind(er) mit ins
Haus, gehört zu den Hauptaufgaben, die Frauen gut durch         Ob der massiven Gewalttätigkeit des Ehemannes und an-
Schwangerschaft und Geburt zu begleiten und Kindeswohl,         gesichts der schlechten seelischen Verfassung der jungen
Vaterschaftsfeststellungen, Unterhaltsfragen und Um-            Mutter scheint es uns sinnvoll, Frau T. in ein Frauenhaus
gangsregeln zu klären.                                          im Münchner Umland zu vermitteln. Dort ist sie zum einen
                                                                in größerer Sicherheit und hat zudem Zeit, sich zu stabili-
                                                                sieren und in der neuen Lebenssituation zurechtzufinden.
Wie sieht ein „typischer“ Fall aus?                             Nach einem knapp dreiwöchigen Aufenthalt in KARLA 51
                                                                kann Meriyem T. mit ihrem Sohn in ein Frauenhaus in der
Meriyem T. ist 24 Jahre alt, hat einen vierjährigen Sohn
                                                                Nähe Münchens umziehen.
und wird zum zweiten Mal in KARLA 51 aufgenommen.
Wie vor einem knappen Jahr, viele Male davor und viele
Male danach, hat ihr Ehemann sie misshandelt. Diesmal so
schwer, dass Nachbarn die Polizei gerufen haben und es          Erfolge und Hürden
zum ersten Mal zu einer Strafanzeige kommt. Obwohl die          Welche Bilanz ziehen Sie bislang aus dem Projekt?
Polizisten Frau T. anbieten, dem gewalttätigen Partner –
                                                                Nach 24 Jahren Arbeit des Frauenobdachs KARLA 51 kann
entsprechend dem Gewaltschutzgesetz – Hausverbot zu
                                                                man resümieren, dass es so eine niedrigschwellige Anlauf-
erteilen, damit sie mit dem Kind in der gemeinsamen
                                                                stelle für Frauen mit und ohne Kinder im Wohnungsnotfall
Wohnung bleiben kann, möchte die junge Frau woanders
                                                                dringend braucht. Wir bekommen jährlich um die 2000
unterkommen: Zu groß ist die Angst, dass der Mann sich
                                                                Anfragen. Ca. 10 % davon können wir aufnehmen. Im Jahr
nicht an die Verfügung hält und ihr noch Schlimmeres
                                                                2019 haben wir 234 Frauen mit 47 Kindern beherbergt. 22
antut.
                                                                Frauen waren bei der Aufnahme schwanger.
Obwohl der Ehemann von Frau T. als Sohn türkischer El-
                                                                Hinzu kommen die Frauen, die unser Café besuchen und
tern in Deutschland aufgewachsen ist, gewährte er seiner
                                                                die unsere ambulanten Angebote annehmen, wie Bera-
Frau, die erst nach der Heirat vor fünf Jahren aus der Tür-
                                                                tung, materielle und finanzielle Grundversorgung, Hilfe mit
kei nach München kam, keinerlei Freiheit. Sie verfügte
                                                                Ämtern und Behörden, etc. Das sind ungefähr 200 Frauen
weder über eigenes Geld noch durfte sie die Wohnung
                                                                mit und ohne Kinder pro Jahr.
ohne seine Begleitung verlassen. Darum spricht Meriyem
T. kaum Deutsch und wir sind froh, dass eine unserer ne-
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                                                                                 Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                      Seite 15

Was sind wichtige Faktoren für das Gelingen Ihrer Arbeit?   sie sucht, denn er könnte sie bei uns finden und dieser
                                                            Gefahr möchten wir weder die betroffene Frau noch die
Wichtigste Faktoren sind unsere Niederschwelligkeit, das
                                                            anderen Bewohnerinnen oder das Personal aussetzen.
parteiliche Arbeiten für Frauen, Beratung auf Augenhöhe
und Ansetzen an den Ressourcen der Frauen.                  Des Weiteren hat das Frauenobdach keinen Zugriff auf die
                                                            Liste der freien Plätze in den Frauenhäusern und muss sich
Daneben ist es unabdingbar, dass die Sozialarbeiterinnen
                                                            mühselig durch alle durchtelefonieren, um eine Frau in
stets auf dem Laufenden sind, was Änderungen im Auslän-
                                                            Gefahr unterzubringen.
derinnen- und Aufenthaltsrecht, der Sozialgesetzbücher
und bei den Jobcentern betrifft.                            Besondere Hürden sehen wir auch darin, dass in Abend-
                                                            und Nachtzeiten in der Regel kein Fachpersonal verfügbar
                                                            ist (wir wissen, das liegt an der schlechten Finanzierung der
Wo stößt Ihre Arbeit an Ihre Grenzen und woran liegt das?   Frauenhäuser), um die Polizei, uns oder betroffene Frauen
Obwohl das Hilfesystem für Münchner Frauen im Woh-          beraten zu können.
nungsnotfall sehr gut und differenziert ausgebaut worden
ist, fehlt es an Plätzen in den Nachfolgeeinrichtungen.
                                                            Inwiefern hat sich Ihre Arbeit durch die Covid19-Pandemie
Die Zahl der Frauen (mit und ohne Kinder) in Wohnungsnot    verändert?
steigt so schnell an, dass die vorhandenen Plätze schon
                                                            Wir hatten mit vermehrten Anfragen von den Frauenhäu-
länger nicht mehr ausreichen und unsere Klientinnen zum
                                                            sern gerechnet, weil wir – wie alle – befürchtet hatten,
Teil monatelang auf einen Platz in einer adäquaten An-
                                                            dass die Frauenhäuser von Anfragen überrannt werden.
schlusseinrichtung warten müssen.
                                                            Das ist nicht passiert, was allerdings auch Sorgen bereitet,
Ganz abgesehen davon fehlt es in München an bezahlba-       weil wir vermuten, dass die Frauen momentan keine Hilfe-
rem Wohnraum. So liegt die Aufenthaltsdauer der Frauen      rufe tätigen können.
häufig, das heißt bei ca. 60 %, über den acht Wochen.
                                                            In den ersten zwei Wochen des „Shut downs“ konnten wir
                                                            keine Frauen in andere Einrichtungen weitervermitteln,
Wie schätzen Sie die Zusammenarbeit zwischen den Hilfe-     jetzt laufen Neuanfragen und Weitervermittlungen wieder
systemen für gewaltbetroffene Frauen und Wohnungslose       (fast) wie im Normalfall.
ein?

Die Zusammenarbeit funktioniert gut in den Fällen, in de-   Was würden Sie sich von politischer Seite wünschen?
nen das Frauenobdach Klientinnen der Frauenhäuser auf-
                                                            Für die Zukunft halten wir folgende Punkte für wichtig:
nimmt, bei denen keine akute Gefahr mehr besteht, um
freie Kapazitäten in den Frauenhäusern zu ermöglichen.          •   Notübernachtungen für Frauen und Familien in
                                                                    den umliegenden Gemeinden und Landkreisen in-
Sehr schwierig hingegen ist, dass – zumindest in München
                                                                    stallieren, da es dort zwar Übernachtungsmög-
– die Frauenhäuser keine psychisch kranken oder sucht-              lichkeiten für obdachlose Männer gibt, aber nicht
kranken Frauen in einer Gewaltsituation aufnehmen.                  für Frauen, vor allem mit Kindern.
Ebenso wenig werden Frauen aufgenommen, die von Ge-             •   Für die zukünftige Zusammenarbeit mit den Frau-
walt durch Verwandte (Väter, Brüder o.ä.) betroffen sind.           enhäusern wünschen wir uns einen Ausbau der
Die Adresse unseres Frauenobdachs ist bekannt und wenn              Plätze in den Frauenhäusern, Erweiterung der
jemand es darauf anlegt, kann er auch in das Haus kom-              Zielgruppe (Aufnahme auch von sucht- und psy-
men. Deshalb können wir keine Frauen aufnehmen, bei                 chisch kranken Frauen und Frauen die von Gewalt
                                                                    durch ihre Verwandten betroffen sind).
denen die Gefahr besteht, dass der gewalttätige Partner
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                                                                                 Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                      Seite 16

Wohnprojekt Anker – Trägerwohnungen in Berlin
Interview mit Elke Ihrlich, Wohnprojekt Anker

Über das Projekt                                             Beruhend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit sollen Frauen
                                                             dabei unterstützt werden, eine gewaltfreie Lebensperspek-
Das Projekt in Zahlen
                                                             tive zu entwickeln, und dabei individuell bei der Umset-
Seit Ende 2017 bietet der Sozialdienst katholischer Frauen   zung durch die Sozialarbeiterinnen begleitet werden. Eine
Berlin e.V. als Träger das Wohnprojekt Anker an. Hier ste-   weitere Aufgabe ist die Unterstützung bei der Suche nach
hen sieben Wohnungen für sieben gewaltbetroffene Frau-       eigenem Wohnraum und weiterführenden Hilfen nach
en mit 19 Kindern und insgesamt max. 26 Plätzen zur be-      dem Aufenthalt im Projekt Anker.
fristeten Untervermietung zur Verfügung. Finanziert wird
das Projekt über die Senatsverwaltung Gesundheit, Pflege
und Gleichstellung.                                          Welche Unterstützung bieten Sie an?

Zwei Sozialarbeiterinnen mit insgesamt 56 Stunden beglei-    Clearing: psychosoziale Beratungsgespräche zur Sondie-
ten und beraten die Frauen und ihre Kinder. Darüber hin-     rung von Problemlagen und Unterstützungsbedarf (Hilfe-
aus gibt es geringe Mittel für Sprachmittlung und Kinder-    planung)
betreuung.                                                       •   bei Bedarf Weiterleitung an spezialisierte Bera-
                                                                     tungsstellen
                                                                 •   rechtliche Abklärung der asyl- bzw. ausländer-
An wen richtet sich das Anker-Wohnprojekt?                           rechtlichen Fragen, ggf. Einschalten von und Be-
                                                                     gleiten zu Rechtsanwältinnen, Rechtsberatung
Das Angebot richtet sich an gewaltbetroffene Frauen und
                                                                 •   rechtliche Abklärung der familien- und ggf. zivil-
ihre Kinder, die sich vorübergehend in einem Frauenhaus
                                                                     rechtlichen Problematik, z.B. Umgang, Unterhalt,
aufhalten oder über den Anti-Gewalt-Bereich vermittelt
                                                                     Gewaltschutz, ggf. Weitervermittlung an entspre-
werden.                                                              chende Stellen
Zielgruppe bilden damit Frauen mit 1 – 4 Kindern                 •   Unterstützung und ggf. auch Begleitung bei der
                                                                     Suche / Anmeldung von Unterbringungsmöglich-
    •   die von häuslicher Gewalt betroffen, aber nicht              keiten für Kinder, z.B. Kita, Hort, Schule, Beglei-
        (mehr) akut gefährdet sind.                                  tung zu Elternabenden
    •   die nicht den besonderen Schutz und die Sicher-          •   Unterstützung, Hilfe und Anleitung zur Beantra-
        heitsvorkehrungen eines Frauenhauses benötigen,              gung von Leistungen zum Lebensunterhalt oder
        jedoch auf Unterstützung und Beratung angewie-               weiteren sozialen Leistungen (z.B. Elterngeld, Kin-
        sen sind.                                                    dergeld, Unterhaltsvorschuss, Wohngeld) zur Her-
    •   unterschiedlicher Herkunft, Weltanschauung und               stellung und Gewährleistung einer eigenständigen
        sexueller Orientierung.                                      Existenzsicherung
                                                                 •   Unterstützung bei der Erstellung von Widersprü-
                                                                     chen
Was sind die zentralen Anliegen des Anker-Projekts?              •   Beratung und Unterstützung bei der Entwicklung
                                                                     von neuen Lebensplänen und Perspektiven
Grundlegende Ziele der Arbeit sind die Entlastung der
                                                                 •   Vermittlung an Ärztinnen, Therapeutinnen und
Frauenhäuser in Berlin durch die Bereitstellung von Wohn-
                                                                     sonstige Fachberatungsstellen, beispielsweise bei
raum in Form von Trägerwohnungen und begleitender                    Schwangerschaft, Traumatisierungen, psychischen
Beratung von gewaltbetroffenen Frauen und ihren Kindern              Belastungen, Suchtproblematik usw.
sowie deren physische und psychische Stabilisierung.
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                                                                                 Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                      Seite 17

    •    Klärung von Schul- und Berufsabschlüssen, Unter-    Schritt 3: Clearinggespräche
         stützung bei der schulischen und beruflichen
                                                             Beratungsbedarf u.a. bei
         (Neu-)Orientierung, Alphabetisierung, Ausbil-
         dungs- sowie Stellensuche, ggf. Weiterleitung an        •   Verwaltungstätigkeiten: Bankkontoführung, Über-
         spezielle Beratungsangebote                                 blick über laufende Verträge, Ordnung wichtiger
    •    Begleitung zum Jugendamt, bspw. zur Umgangs-                Unterlagen; viele Frauen haben hier kaum Vorer-
         klärung, bei Problemen in Erziehungsfragen oder             fahrungen oder Ressourcen
         der Beantragung von Hilfe zur Erziehung                 •   Unvollständige Dokumente: Ggfs. müssen Ge-
    •    Vermittlung in Deutschkurse, Integrationskurse              burtsurkunden, Bescheide, etc. neu beantragt
    •    Hilfe bei der Zusammenstellung der notwendigen              oder nachgefordert werden
         Unterlagen zur Wohnungssuche (Mietschulden-             •   Finanzen: Überblick finanzieller Situation erarbei-
         freiheitsbescheinigung, Schufa-Auskunft usw.)               ten (Geldeingänge etc.)
    •    Beratung und Unterstützung (ggf. Begleitung zu          •   Kinder: Kita-Suche, Miteinbeziehung des Vaters
         Wohnungsbaugesellschaften usw.) bei der Woh-                (ggfs. über gerichtliche Umgangsregelungen und
         nungssuche (Bewerbung Hestia Wohnungsver-                   langwierige Verfahren), Stärkung der Erziehungs-
         mittlung, Geschütztes Marktsegment, private An-             ressourcen der Mütter.
         bieter)                                                 •   Wohnungssuche: wenig Raum für Frauen mit vie-
                                                                     len Kindern auf dem herkömmlichen Wohnungs-
                                                                     markt, deshalb sind WBS-Beantragung und Unter-
Wie sieht ein „typischer“ Fall aus?                                  stützung von Hestia Wohnungsvermittlung maß-
                                                                     geblich
In der Regel sind es Multiproblemlagen, mit denen die
                                                                 •   Deutschkurse: Für Deutschlernende muss ein pas-
Frauen an uns herantreten. Viele Probleme zeigen sich                sender Kurs gefunden werden. Erfolgsquote
auch erst im Laufe des Aufenthalts im Wohnprojekt und                durchwachsen, da oft Frauen oft überlastet sind
benötigen die Ruhe und das Vertrauen in einem längeren           •   Gesundheit: durch Prioritäten an anderen Stellen,
Beratungsprozess.                                                    wurden Gesundheits-Check-Ups oft vernachläs-
                                                                     sigt. Oftmals sind die Frauen deshalb krank, müs-
Schritt 1: Auszug aus einem Berliner Frauenhaus mit Einzug
                                                                     sen Beratungstermine verschieben
in die Trägerwohnung des SkF
                                                             Herausforderung: Beratungen müssen oft vormittags statt-
Dauer: ca. 1-3 Monate
                                                             finden, während die Kinder in der Kita und Schule sind.
    •    Jobcenterwechsel mit ggfs. aufwändigem Erstan-      Diese Zeiträume sind jedoch oft limitiert, da Frauen ggfs.
         trag, Klärungen mit bisherigem Jobcenter            Auch andere Termine. Oftmals werden Kinder krank, Ter-
    •    Frauen müssen benötigte Unterlagen finden, bei-     mine fallen dann (meist spontan) aus.
         bringen und ggf. mit Dolmetscherin erklären
    •    Zeitgleich Ummeldung der Wohnung, Anmeldung         Zu Beginn der Zeit im Projekt haben einige der Kinder kei-
         beim Stromanbieter                                  nen Kita-Platz, d.h. 1 - 5 Kinder sind bei den Gesprächen
    •    Frauen müssen Möbel kaufen, deren Auf- und          dabei. Diese Umstände verlangen sowohl den Bewohne-
         Einbau organisieren                                 rinnen als auch den Sozialarbeiterinnen große Flexibilität
                                                             ab.
Schritt 2: Stabilisierungsphase,

Dauer: individuell sehr verschieden, ein bis mehrere Mona-
te!
FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                     Seite 18
FHK-Fachinformation No. 1 | 2020
                                                                                          Schwerpunkt: Gewaltfrei leben – sicher wohnen
                                                                                                                                     Seite 19

Wie hat sich Ihre Arbeit durch die COVID19-Pandemie ver-      Was sind wichtige Faktoren für das Gelingen ihrer Arbeit?
ändert?
                                                              Gute Kooperationen u.a. mit Jobcentern, Hestia Woh-
Die Covid19-Pandemie hat unsere Arbeit stark verändert        nungsvermittlung, Wohnungsamt, aber auch ein ausrei-
und die bisher schon aufwändige Arbeit nochmal stark          chender Zeitrahmen für die Arbeit mit den Frauen, ausrei-
verkompliziert. Der sehr wichtige persönliche Kontakt zu      chende Personalausstattung sowie angemessene Büro-
unseren Bewohnerinnen ist stark eingeschränkt und             räume.
hauptsächlich auf Telefonate verlagert. Das erschwert vor
                                                              Je länger die Aufenthaltsdauer einer Frau im Wohnprojekt
allem den Kontakt zu den Bewohnerinnen mit wenig deut-
                                                              ist, desto besser gelingt es, die Frauen zur Selbständigkeit
schen Sprachkenntnissen. Die administrativen Dinge (An-
                                                              zu begleiten. Dazu benötigen wir:
tragstellungen beim Jobcenter, Ausländerbehörde usw.)
können wir derzeit überwiegend nicht mit, sondern nur im           •     zeitlichen Spielraum: Frauen sollen von ca. 1 Mo-
Auftrag der Bewohnerinnen für diese regeln: Kaum eine                    nat bis 2 Jahre und ggf. darüber hinaus in der
                                                                         Wohnung bleiben können und umfassenden Bera-
Bewohnerin hat hierfür Ressourcen oder technische Gege-
                                                                         tungsanspruch haben.
benheiten (Laptops, WLAN, Drucker, Scanner) vorzuwei-
                                                                   •     offenen Zugang für Frauen, mit dem Ziel der Ent-
sen. Dies finden wir tragisch, da unser Beratungsansatz
                                                                         lastung der Frauenhäuser: Zugang direkt von den
dazu führen soll, die Frauen in die Selbständigkeit zu be-               Beratungsstellen, Jobcentern, Selbstmelderinnen
gleiten und nicht die Arbeit für sie zu erledigen. Leider                für Frauen, die von Gewalt betroffen sind und
haben wir aber nicht die Zeit, abzuwarten bis Corona vor-                wenig Schutzbedarf haben.
bei ist und die Dinge solange liegen zu lassen.                    •     Ausstattung der Wohnungen: Wohnungen sollten
                                                                         möbliert werden, Küche, Waschmaschine, Klei-
Den Bewohnerinnen selbst geht es teilweise nicht gut:
                                                                         derschränke, Einrichtung des Wohnzimmers, Bet-
Verunsicherung, eingeschränktes Corona-Wissen und sozi-                  ten. Zum einen, damit Frauen schneller in das
ale Isolierung mit ihren (oftmals sehr kleinen) Kindern in               Wohnprojekt einziehen können, zum anderen
der Wohnung. Die Kinder haben derzeit keine Schule, kei-                 auch zur Entlastung der Frauen: Möbelbeschaf-
ne Kita und langweilen sich zu Hause. Dies führt zu Über-                fung und Aufbau sind neben allen anderen wichti-
forderungen und weiteren Krisen, vor allem, weil für alle                gen Erledigungen eine Zusatzbelastung. Zudem
unklar ist, wie lange es so weiter geht. Wir geben regelmä-              gehen die Möbel beim Umzug schnell kaputt, da
ßig Informationen zu Corona weiter und vermitteln die                    oftmals eine günstige Ausstattung gekauft wird.
                                                                         Das Jobcenter bewilligt nur einmalig, danach nur
Maßnahmen und den Umgang damit. Zudem versuchen
                                                                         in Form von Darlehen. Hier sind wir in der Anpas-
wir mit den Bewohnerinnen Ideen zu entwickeln, was sie
                                                                         sung und wollen nach und nach einige Zimmer
mit den Kindern machen können.                                           möblieren, abhängig von der finanziellen Ausstat-
                                                                         tung.

Erfolge und Hindernisse                                       Wo stößt Ihre Arbeit an Grenzen und woran liegt das?

                                                              Hindernisse und Grenzen unserer Arbeit treten insbeson-
Welche Bilanz ziehen Sie bislang?
                                                              dere durch fehlenden Wohnraum in Berlin auf, das heißt
In zwei Jahren Projektarbeit (Januar 2018 - April 2020)       für uns derzeit entsprechend der AV-Wohnen12 bezahlbare
haben wir mit 12 Frauen gearbeitet, konnten für diese Zeit    Wohnungen ab 3 Zimmer (und größer).
sechs Auszüge verzeichnen, durch die Frauen in unbefriste-
te Wohnungen als Hauptmieterin zogen. Die Verweildauer
                                                              12 Die Ausführungsvorschriften zur Gewährung von Leistungen gemäß § 22 SGB II
der Frauen bis April 2020 betrug zwischen 6 Monaten und       und §§ 35, 36 SHB XII (kurz: AV-Wohnen) regeln, welche Kosten für die Unterkunft
mehr als 2 Jahren.                                            und Heizung im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, Sozialhilfeemp-
                                                              fangende sowie für Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen nach dem
                                                              Asylbewerberleistungsgesetz übernommen werden, welche Kosten als angemessen
                                                              gelten und welche Verfahren zur Senkung der Kosten angewendet werden. Quelle:
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