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Reckahner Reflexionen Inhalt zur Ethik pädagogischer Beziehungen Rochow-Edition: Reckahn 2017 ISBN-Nummer: 978-3-9809752-9-2 I. Reckahner Reflexionen zur Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Herausgeber: pädagogischer Beziehungen • Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin • Deutsches Jugendinstitut e. V., München • MenschenRechtsZentrum an der Universität Potsdam • Rochow-Museum und Akademie für bildungsgeschichtliche und II. Informationen zu den . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 zeitdiagnostische Forschung e. V. an der Universität Potsdam Reckahner Reflexionen zur Ethik Titelfoto: pädagogischer Beziehungen Die Skulptur „Kinderrechte“ wurde im Jahr 2013 von der Bildhauerin Karin Bohrmann für das Rochow-Museum geschaffen. Das Kunstwerk 1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 5 veranschaulicht kindliche Bedürfnisse – sowohl nach Halt als auch nach Freiheit in Beziehungen zu Erwachsenen. (Foto: Karla Fritze) 2. Kinderrechtliche Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 7 Projektförderung: 3. Wissenschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .10 9 Wir danken der Robert Bosch Stiftung für langfristige und umfassende 4. Handlungsmöglichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 12 Förderung des Projekts. Der Universitätsgesellschaft Potsdam e. V. und der 5. A ktuelle Maßnahmen im . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Helga Breuninger Stiftung sei für Anschubfinanzierung gedankt. internationalen Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Unterzeichner: Für unterzeichnende Personen und Institutionen siehe 6. Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 16 www.paedagogische-beziehungen.eu/unterstuetzer-der-reckahner-reflexionen 9 Weitere Unterzeichnungen und Anregungen zur Weiterentwicklung sind erwünscht. Kontakt: Annedore Prengel (prengel@uni-potsdam.de) und Anne Piezunka (info@paedagogische-beziehungen.eu) Redaktion: Annedore Prengel, Friederike Heinzel, Sandra Reitz, Ursula Winklhofer (in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Menschenrechtsbildung an der Rochow-Akademie) Webseite: www.paedagogische-beziehungen.eu verantwortlich: Anne Piezunka Friederike Heinzel Annedore Prengel Sandra Reitz Ursula Winklhofer 2 3
I. Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen Gute pädagogische Beziehungen bilden ein Fundament dafür, dass Leben, Lernen und demokratische Sozialisation gelingen. Darum soll mit den hier vorliegenden ethischen Leitlinien die wechselseitige Achtung der Würde aller Mitglieder von Schulen und Ein- richtungen gestärkt werden. Die Leitlinien sollen Reflexion anregen und als Orientierung für dauerhafte professionelle Entwicklungen auf der Beziehungsebene dienen. Sie wenden sich an Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte sowie an verantwortliche Erwachsene in allen Bereichen des Bildungswesens. Warum werden Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen gebraucht? Laut Kinderrechtskonvention und Gesetzgebung Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte sowie sind seelische Verletzungen unzulässig: Die zehn Leitlinien Diese Leitlinien einer pädagogischen Selbstverpflichtung Kinder und Jugendliche brauchen gute pädagogische Beziehungen, damit Leben, Lernen und demokrati- setzen sich unter besonderer Berücksichtigung seelischer sche Sozialisation gelingen: Was ethisch begründet ist Was ethisch unzulässig ist Verletzungen für die international gültigen Kinderrechte Anerkennung trägt dazu bei, dass Kinder ihre Rechte und für das Gewaltverbot in der Erziehung ein, das in und ein erfülltes Leben genießen können. Seelische 1. Kinder und Jugendliche werden wertschätzend 7. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und päda nationalen demokratischen Verfassungen und Gesetzen Verletzungen beschädigen das emotionale, soziale und angesprochen und behandelt. gogische Fachkräfte Kinder und Jugendliche diskri- verankert ist. Sie wenden sich zugleich gegen alle Formen kognitive Gedeihen aller Kinder. Anerkennung der Rechte, minierend, respektlos, demütigend, übergriffig oder der Gewalt und beziehen die Arbeit gegen körperliche, der Würde und der Bedürfnisse von Kindern fördert die 2. Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte hören unhöflich behandeln. sexualisierte, miterlebte und vernachlässigende Gewalt Entfaltung der Persönlichkeit sowie Achtung der Men- Kindern und Jugendlichen zu. mit ein. Die Reckahner Reflexionen betreffen alle Kinder schenrechte, Bildung, Teilhabe, Selbstwirksamkeit und 8. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädago und Jugendlichen in vielfältigen Lebenslagen und tragen Verantwortungsübernahme. Die Erfahrung von Zugehö- 3. Bei Rückmeldungen zum Lernen wird das Erreichte gische Fachkräfte Produkte und Leistungen von Kin- zu Menschenrechtsbildung, Antidiskriminierung, Parti- rigkeit in Kindheit und Jugend dient der Gewaltpräven benannt. Auf dieser Basis werden neue Lernschritte dern und Jugendlichen entwertend und entmutigend zipation und Inklusion auf der Beziehungsebene des unun- tion und kann gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und förderliche Unterstützung besprochen. kommentieren. terbrochen stattfindenden professionellen Handelns bei. vorbeugen. Für die ganztägige Bildung ist die Pflege guter pädagogischer Beziehungen besonders wichtig. Dabei 4. Bei Rückmeldungen zum Verhalten werden bereits ge- 9. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und päda- Seelische Verletzungen kommen sind Kinder und Jugendliche mit traumatisierenden und lingende Verhaltensweisen benannt. Schritte zur guten gogische Fachkräfte auf das Verhalten von Kindern zu oft vor und werden zu wenig beachtet: risikoreichen Lebenserfahrungen auf dauerhaft halt Weiterentwicklung werden vereinbart. Die dauerhafte und Jugendlichen herabsetzend, überwältigend oder Viele Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte reali- gebende Beziehungen zu ihren Pädagoginnen und Pädago- Zugehörigkeit aller zur Gemeinschaft wird gestärkt. ausgrenzend reagieren. sieren alltäglich genügend gute pädagogische Beziehun- gen besonders angewiesen. Notwendig ist eine kritische gen. Sie zeigen, dass es im Bildungssystem möglich ist, Auseinandersetzung mit manipulierenden, ausgrenzen- 5. Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte achten auf 10. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogi- die Lernenden respektvoll anzusprechen. Aber zugleich den und etikettierenden Erziehungsmethoden, die häufig Interessen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und sche Fachkräfte verbale, tätliche oder mediale Verlet- erfahren Kinder und Jugendliche auf allen Bildungsstufen kurzfristige Erfolge versprechen und die den Grund für Kummer von Kindern und Jugendlichen. Sie berück- zungen zwischen Kindern und Jugendlichen ignorieren. Verletzungen durch Erwachsene, die sie betreuen und Störungen nur bei Kindern und Jugendlichen suchen und sichtigen ihre Belange und den subjektiven Sinn ihres unterrichten. Durchschnittlich sind vermutlich mehr den Anteil von Erwachsenen daran ausblenden. Verhaltens. als 5 Prozent aller pädagogischen Interaktionen als sehr verletzend und weitere 20 Prozent als leicht verletzend Die Reckahner Reflexionen dienen der 6. Kinder und Jugendliche werden zu Selbstachtung und einzustufen. Seelische Verletzungen sind die Gewaltform, Auseinandersetzung mit der Ethik pädagogischer Anerkennung der Anderen angeleitet. von der Kinder und Jugendliche am häufigsten betroffen Beziehungen in Teams und Kollegien sowie auf sind. Die Reckahner Reflexionen machen auf seelische weiteren Handlungsebenen: Verletzungen aufmerksam, um zur Verbesserung pädago- Pädagogische Situationen brauchen Reflexion, weil sie gischer Beziehungen beizutragen. einzigartig, unvorhersehbar und widersprüchlich sind. Handlungsebenen der Stärkung pädagogischer Ethik Die Reckahner Reflexionen formulieren wegweisende menschenrechtliche Grundlagen. Sie sollen helfen, pädag 1. Menschenrechtlich orientierte Schul- oder Einrich- 4. K ollegien und Teams arbeiten an der kinderrechtli- ogische Situationen kollegial zu überdenken und an den tungsordnungen werden vereinbart, sie enthalten chen Qualität ihrer pädagogischen Beziehungen. Dazu Kinderrechten auszurichten. Zur Unterstützung der demokratische Verfahren zur Bearbeitung von Konflik- werden regelmäßige Sitzungen fest im wöchentlichen „Es kommt auf den ersten pädagogischen Fachkräfte und Lehrpersonen regen die ten zwischen allen Beteiligten. Zeitplan verankert. Sie dienen der kollegialen Rück- Reckahner Reflexionen Initiativen auf allen Handlungs meldung und der Selbstreflexion. Lehrpersonen und Empfang der Kinder an. Er ebenen des Bildungswesens sowie internationale Koope- 2. P ersonen in Leitungspositionen fördern anerkennende pädagogische Fachkräfte lassen sich bei Bedarf beraten. ration an. Dabei stehen die hier vorgelegten Reckahner pädagogische Beziehungen und werden dabei von der Alle Angehörigen der Schule oder Einrichtung sorgen muss vorzüglich freundlich Reflexionen selbst zur Diskussion, weil auch sie der Refle- Einrichtungs- oder Schulaufsicht unterstützt. dafür, dass bei professionellem Fehlverhalten interve- xion und immer wieder der Erneuerung bedürfen. Dafür niert wird, um die Situation zu verbessern. und liebreich sein, damit sie nimmt die Redaktion gern Vorschläge entgegen. 3. Für Kinder, Jugendliche und Eltern werden interne und externe Ansprechstellen geschaffen, an die sie sich 5. Auf allen Ebenen im Bildungssystem werden Strategien Zutrauen fassen können.“ wenden können, wenn Lehrpersonen und pädagogische zur Unterstützung ethisch begründeten pädagogischen Fachkräfte sich fehlverhalten. Handelns entwickelt. Verwaltungen, Träger, Organisa- (Carl Friedrich Riemann, 1798) tionen, Verbände, Stiftungen und Politik fördern dazu Prävention, Intervention, Forschung, Ausbildung, Fortbildung, Beratung, Beschwerdemöglichkeiten und juristische Klärungen sowie die Bereitstellung von Ressourcen. 4 5
II. Informationen zu den Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen 1. Einleitung Friedrich Eberhard von Rochow Christiane Louise von Rochow Philanthropische Musterschule Reckahn von 1773, 1734–1805 1734–1806 heute Schulmuseum Ziele Die Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Be- verletzendes pädagogisches Handeln vorkommt und dass Entstehung der Initiative und historischer Kontext zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema hervorgegan- ziehungen wenden sich an Pädagoginnen und Pädagogen oft nicht dagegen eingeschritten wird. Die Reckahner Für die hier vorgelegten Leitlinien einer Ethik päda- gen (siehe Prengel / Schmitt 2016). Eine internationale Kon- in allen Bildungsstufen, allen Bildungsinstitutionen und Reflexionen sollen die Gefahr der Duldung pädagogischen gogischer Beziehungen wurde die Titelformulierung ferenz „Kinderrechte in pädagogischen Beziehungen“ fand allen pädagogischen Berufen, Richtungen und Konzepti- Fehlverhaltens auf der Beziehungsebene bewusst machen „Reckahner Reflexionen“ aus Gründen gewählt, die mit 2013 mit sehr großer Resonanz an der Universität Potsdam onen. Sie sind konsenstauglich, denn eine anerkennende und wirksame und für alle Beteiligten hilfreiche Inter- ihrer Entstehungsgeschichte und Zielsetzung zu tun statt (Prengel / Winklhofer 2014). pädagogische Haltung kommt sowohl den Heranwach- ventionen dagegen vorschlagen. haben. Die Stellungnahme selbst ist in einem mehrstu- senden als auch den Erwachsenen zugute und wirkt als figen reflexiven Prozess entstanden und sie gibt Impulse Reckahn – die Rochows Vorbild. Mit den vorliegenden Leitlinien wird die alltäg Ziel der Reckahner Reflexionen ist die Stärkung anerken- für professionelle Reflexionen. Pädagogisches Handeln Der Tagungsort des Arbeitskreises Menschenrechtsbil- liche Arbeit der Lehrpersonen und pädagogischen Fach- nender und die Verminderung verletzender Handlungs- findet immer in unvorhersehbaren, unsicheren und wider- dung, das Dorf Reckahn unweit der Stadt Brandenburg / kräfte anerkannt und ihre Unterstützung durch Fachleute weisen in schulischen und außerschulischen pädagogi- sprüchlichen Situationen statt (Shulman 2002). Weil stets Havel, ist von herausragender Bedeutung für das kultu- auf allen Ebenen der Bildungssysteme wird gefordert. schen Arbeitsfeldern. Ihr Schwerpunkt ist die alltägliche eine unbegrenzte Fülle konkreter pädagogischer Hand- relle Gedächtnis (Assmann 2006). An diesem Ort tragen Beteiligt sind an dieser internationalen Initiative Beziehungsebene, zugleich wenden sie sich gegen alle lungen möglich ist, sind in den multiprofessionellen die Reckahner Museen auf der Basis einer 250-jährigen deutschsprachige Personen und Institutionen; die Aus- Gewaltformen und beziehen die Arbeit gegen körperliche, frühpädagogischen und schulischen Teams und Kollegien aufgeklärten Tradition zur Stärkung von Kinderrechten weitung auf die europäische und weitere internationale sexualisierte, miterlebte und vernachlässigende Gewalt Reflexionen notwendig, um angemessenes professionelles in pädagogischen Beziehungen bei (Krappmann u. a. Ebene wird angestrebt. mit ein. Sie betreffen alle Kinder und Jugendlichen in Handeln zu erwägen. Dafür wird die Grundlage ethisch 2013). Reckahn beherbergt ein historisches Ensemble, zu ihren vielfältigen Lebenslagen und tragen zu Bildung, verbindlicher Prinzipien benötigt. Zugleich können Ethik dem die original erhaltene, von Friedrich Eberhard von Die Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Antidiskriminierung, Partizipation und Inklusion auf kodizes, wie die hier vorgelegten Reckahner Reflexionen, Rochow (1734–1805) und Christiane Louise von Rochow Beziehungen dienen dazu, die menschenwürdige der Beziehungsebene und somit zu einer gelebten Kultur immer nur einen perspektivisch begrenzten und vorläufig (1734–1808) erbaute und im Jahr 1773 eingeweihte erste Gestaltung pädagogischer Beziehungen zu fördern. der Menschenrechte bei. gültigen Erkenntnisstand im Sinne einer Zwischenbilanz philanthropische Musterschule gehört. In dieser Schule Kern der Reckahner Reflexionen sind 10 Leitlinien einer widerspiegeln. Sie bedürfen selbst im Laufe der Zeit immer wurden alle Schülerinnen und Schüler des Dorfes im Selbstverpflichtung, die ethische Orientierungen für den Die erste Aussage der Reckahner Reflexionen, „Kinder und wieder der Reflexion und der Erneuerung (Wapler 2016). Geiste der Aufklärung unterrichtet. Der dort realisierte Alltag in schulischen, frühpädagogischen und sozialpäd- Jugendliche werden wertschätzend angesprochen und behan- menschenfreundliche Unterricht wandte sich bereits agogischen Feldern formulieren. Im Spektrum internatio- delt“, bildet die pädagogische Grundregel für den Umgang Die Reckahner Reflexionen beruhen auf einer fünfjährigen vor fast 250 Jahren gegen die Prügelstrafe und gegen naler kinderrechtlich fundierter Erklärungen zur Profes- mit allen Kindern und Jugendlichen in allen institutio- interdisziplinären und internationalen Auseinanderset- ständ ische, religiöse oder rassistische Diskriminierung. sionsethik wird damit – soweit wir wissen – erstmals eine nellen Strukturen. Damit handelt es sich zugleich um eine zung mit dem Thema Ethik pädagogischer Beziehungen, Kinder wurden vom Schulanfang an als vernunftbegabte spezifische Charta vereinbart, die eigens dem Schwer- pädagogische Grundregel für die Arbeit mit heterogenen an dem Fachleute aus Praxis, Leitung, Verwaltung, Wis- Wesen respektiert (Schmitt 2007, S. 171ff.; Tenorth 2011). punkt anerkennenden und verletzenden pädagogischen Gruppen und Klassen. Denn sie soll allen Kindern und senschaft, Bildungspolitik und Stiftungen beteiligt waren. Handelns mit seinen täglichen Auswirkungen auf das Jugendlichen – mit ihren unterschiedlichsten sozialen, Die Zusammenarbeit wurde ab 2011 in jährlichen Exper- „Es kommt auf den ersten Empfang der Kinder an. Er muss vor- seelische Erleben der Kinder und Jugendlichen gewidmet ökonomischen, kulturellen, religiösen, geschlechtlichen, tenkonferenzen des Arbeitskreises Menschenrechtsbil- züglich freundlich und liebreich sein, damit sie Zutrauen fassen ist. Die Reckahner Reflexionen konzentrieren sich auf die befähigenden oder behindernden lebensweltlichen Erfah- dung in der Reckahner Einrichtung Rochow-Museum und können“ – mit diesen Worten fasste ein zeitgenössischer persönliche Dimension professionellen Handelns, darü- rungen – nützen. Akademie für bildungsgeschichtliche und zeitdiagnostische pädagogischer Augenzeuge seine in der Musterschule ber hinaus beziehen sie auch den Einfluss struktureller Forschung e. V. an der Universität Potsdam r ealisiert (abge- gewonnenen Erkenntnisse zur pädagogischen Beziehung Bedingungen auf personale und intersubjektive Prozesse Auf dem ersten Grundsatz beruhen alle Aussagen der kürzt: Rochow Akademie). Aus diesem Expertenkreis sind zusammen. Er hatte den dortigen Unterricht über ein mit ein. Reckahner Reflexionen und alle sind wechselseitig aufein- ander bezogen. Die 10 Leitlinien sind aus Beobachtungen In Zeiten, in denen frühe und ganztägige institutionelle im pädagogischen Alltag hervorgegangen, es geht ihnen Bildung zunehmen, gewinnen professionelle Bezugsper- also um die Stärkung von Formen der Anerkennung, die sonen an existenzieller Bedeutung für Kinder, die einen im Schul- und Kitaleben vorzufinden sind und in einem erheblichen Anteil ihrer Lebenszeit in Bildungseinrich- kollektiv geteilten menschenrechtlich-demokratischen tungen verbringen. Lehrpersonen und pädagogische Verständnis von pädagogischer Anerkennung verankert Fachkräfte tragen Verantwortung für die bestmögliche sind. Die Aussagen des ersten Teils unter der Überschrift Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (Arendt 1958; „Was ethisch begründet ist“ wurden aus im Feld praktizierten Gründungskonferenz des Arbeitskreises Wapler 2015). Die ethische Selbstverpflichtung der Lehr- gelingenden pädagogischen Handlungsweisen abgeleitet. Menschenrechtsbildung im personen und Erziehenden wird unerlässlich. Die Aussagen des zweiten Teils „Was ethisch unzulässig ist“ Rochow-Museum Reckahn sind Reaktionen auf im Feld praktizierte problematische im Jahr 2011 Die Reckahner Reflexionen beruhen auf umfassenden pädagogische Handlungsweisen. Auch die Vorschläge für (Foto: Reckahner Museen) empirischen Studien, die belegen, dass ethisch fundiertes „Handlungsebenen der Stärkung pädagogischer Ethik“ sind An- anerkennendes Handeln im Bildungssystem möglich und regungen, die allesamt in Praxisfeldern gefunden wurden. üblich ist. Studien belegen aber auch, dass seelisch 6 7
halbes Jahr besucht und schriftlich dokumentiert (Rie- 2. Kinderrechtliche Grundlagen mann 1798). Auch in der Gründungsgeschichte des Kin- dergartens spielt eine kindgerechte Haltung eine zentrale Die Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Rolle (Aden-Grossmann 2011; König 2007; Baader 2002; Beziehungen beruhen auf rechtlichen Begründungen und Baader u. a. 2014; Rabe-Kleberg 2010). sie knüpfen an alltägliche Erfahrungen an. Persönliche Erfahrungen in Bildungseinrichtungen sind Materialien zur Präsentation davon geprägt, ob die Beziehungen zur Lehrkraft oder der Reckahner Reflexionen zur Erzieherin als förderlich oder als verletzend erlebt werden. Diese Einsicht wird seit Jahrhunderten in auto- Foto: Gisela Lau Die Reckahner Reflexionen werden in Form biografischen Texten erinnert und in literarischen und verschiedener Materialien und Medien vorgelegt, bildlichen Kunstwerken zum Ausdruck gebracht (Scheibe beachtet wird. Körperliche und sexualisierte Gewalt in Erzieher-Jugendlichen-Beziehung bildet einen zentralen dazu gehören: 1967; Rutschky 1983; Schiffer / Winkeler 1998). Sie ist nach Bildungsinstitutionen erlangten öffentliche Aufmerk- Aspekt der Lernumgebungen. Die Reckahner Reflexionen wie vor auch allgegenwärtiger Gegenstand familiärer und samkeit, die zu zielgerichteten Gegenmaßnahmen und machen es sich zur Aufgabe, auf die große Bedeutung • Ein Plakat fachlicher Gespräche. Seit Langem propagieren Einzel eindeutigen Verboten sowie zu strafrechtlicher Ahndung des Beziehungsaspekts für die Menschenrechtsbildung, (die 10 ethischen Leitlinien und informative Hinweise) personen, Bildungseinrichtungen, Träger und Verbände führte (KMK 2013; Scheibe 1967). Demgegenüber sind für die Demokratie als Lebensform und für das Recht • Ein Flyer die Orientierung am Leitbild einer Kultur der Aner- Formen der seelischen Missachtung in Form alltäglicher auf Bildung hinzuweisen. Denn Menschenrechtsbildung, (die 10 ethischen Leitlinien und informative Hinweise) kennung (z. B. Singer 1998; Miller 2011; Hafeneger 2013; sprachlicher Gewalt (Herrmann u. a. 2007; Schubarth / Demokratieerziehung und die Einlösung des Rechts auf Ittel / Raufelder 2008; Herrmann 2001). In der historischen Ulbricht 2012; Schubarth / Winter 2012) in pädagogischen Bildung können nicht gelingen, wenn die Lernenden die • Ein Miniflyer (die 10 ethischen Leitlinien für die Hand-, Entwicklung führten die schmerzlichen und zerstöreri- Einrichtungen bisher kaum Gegenstand von Debatten in Erfahrung machen, dass sie entwürdigend behandelt wer- Hosen- oder Westentasche) schen Erfahrungen von Kindern, zu denen immer auch der Öffentlichkeit geworden. den (Edelstein / Frank 2009; Edelstein / Krappman / Student • Eine Broschüre seelische Verletzungen gehörten, schließlich zur Entste- 2014; Kittel 2008). (der vorliegende Text mit grundlegenden Informationen) hung der Kinderrechtskonvention (Kerber-Ganse 2009), Obwohl die Reckahner Reflexionen auf die Ebene alltägli- • Netzpublikationen auch spiegeln sie sich in rechtlichen Erkenntnissen und cher pädagogischer Beziehungen fokussiert sind, können „Menschenrechtserziehung kann sich nicht auf die Vermittlung (Plakat, Flyer, Broschüre, Videos, Liste der Unterzeichner Deklarationen wider (vgl. z. B. Kinderkommission 2016). sie zugleich auch Beiträge zur Prävention vor anderen von Wissen beschränken. Sie muss die emotionale und handelnde und vielfältige weitere Texte). Kinder sind Träger von Rechten und haben als solche An- Gewaltformen (Kindler 2014) sowie zur Stärkung des Komponente einbeziehen. Schülerinnen und Schüler müssen die spruch auf würdevolle und achtsame Behandlung. Rechts auf Bildung leisten. Indem sie die Wertschätzung Achtung des Mitmenschen im täglichen Umgang in der Schule Darüber hinaus sollen weitere, auch barrierefreie, Juristisch stellen die internationale Kinderrechtskonven- der Kinder und Jugendlichen betonen, richten sie sich erleben und üben.“ (KMK 1980/2000, S. 6) Varianten angeboten werden, dazu gehören u. a.: tion sowie vielseitige nationale und föderale gesetzliche auch gegen körperliche, sexualisierte, miterlebte und Vorgaben klar, dass seelische Verletzungen unzulässig vernachlässigende Gewalt und unterstützen die darauf Die Einsicht, dass über menschenrechtliche Prinzipien • Eine Variante der Reckahner Reflexionen für die Hand sind. In der Kinderrechtskonvention heißt es (Vereinte bezogenen Initiativen und Maßnahmen. Indem Pädago- nicht nur informiert werden soll, sondern dass sie in der Kinder und Jugendlichen Nationen 1989, Artikel 3 (1)): ginnen und Pädagogen sich wertschätzend den Lernenden alltäglichen Interaktionen gelebt werden müssen, wird • Eine Variante der Reckahner Reflexionen in leichter zuwenden, nehmen sie auch ihre Gefühle, ihre Denkwei- von der Kultusministerkonferenz der deutschen Bundes- Sprache „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von sen und ihre kognitiven Unterstützungsbedürfnisse wahr, länder vermittelt. In ihrer Empfehlung zur Förderung der öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, um geeignete pädagogische und didaktische Angebote Menschenrechtserziehung in der Schule weist die KMK • Übersetzungen der Reckahner Reflexionen in weitere Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen zu gestalten und Entwicklungs- und Lernprozesse zu schon seit 1980 darauf hin, dass die Lernenden im Schul- Sprachen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes1 ein Gesichtspunkt, fördern. Indem Kinder und Jugendliche darauf vertrauen leben sowohl erfahren sollen, dass sie selbst geachtet In Form eines Plakats und eines Flyers werden die Leit der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ können, dass sie anerkennend behandelt werden, können werden, als auch, dass sie sich darin üben sollen, andere linien der Reckahner Reflexionen präsentiert und sehr sie sich zuversichtlich auf das Lernen konzentrieren und zu achten. knapp begründet. Ausführlichere Informationen zu den Nationale Gesetze in demokratischen Gesellschaften ihr Recht auf Bildung wahrnehmen. Leitlinien werden in der vorliegenden Broschüre ange- untersagen in unterschiedlichen Ausprägungen Gewalt Für alle Felder, in denen es um die Arbeit mit Kindern boten: Kinderrechtliche und wissenschaftliche Gründe gegen Kinder. So heißt es zum Beispiel in der Neufassung Bildung über, durch und für Menschenrechte und Jugendlichen und um ihre Bildung geht, wurden in- werden erläutert. Schritte zu ihrer Realisierung auf des Gesetzes zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung Die Reckahner Reflexionen sind ein Beitrag zur Men- zwischen Konzeptionen einer kinderrechtlich fundierten verschiedenen Handlungsebenen werden vorgestellt. Dazu (BGB 2002, § 1631 (2)), das im Deutschen Bundestag verab- schenrechtsbildung. Drei zusammenhängende Zugänge Pädagogik mit Schutz-, Förder- und Beteiligungsaufgaben gehören auch Anregungen für Forschung, Studium und schiedet wurde: werden zu ihrer Realisierung für notwendig erachtet: ausgearbeitet (institutionenübergreifend vgl. Maywald Ausbildung. Über internationale Bezüge zu ähnlichen Bildung über Menschenrechte betrifft vor allem die 2012; für den Kindergarten vgl. zum Beispiel Maywald Initiativen wird informiert. „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Wissensvermittlung. Bildung durch die Menschenrechte 2016; Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband 2016; Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende betrifft die menschenrechtliche Gestaltung des pädago- Günnewig / Reitz 2016; für die Schule vgl. z. B. Krappmann Maßnahmen sind unzulässig.“ gischen Alltags und der Lernumgebung. Bildung für die 2015; Krappmann / Petry 2016; Niendorf / Reitz 2016; Menschenrechte regt die Lernenden dazu an, selbst im für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik vgl. z. B. Staub- Die Reckahner Reflexionen wenden sich im Einklang Sinne der Menschenrechte aktiv zu sein (Vereinte Nationen Bernasconi 2008, 2016; Braun u. a. 2005; Bimschas / Seelische Missachtung in Form alltäglicher mit diesen juristischen Vorgaben gegen alle Formen der 2011; Niendorf / Reitz 2016; Rudolf 2014; Reitz / Rudolf 2014, Schröder 2003; Friebertshäuser 2007). Gewalt. Ihr besonderer Schwerpunkt ist die Stärkung von S. 18; Mahler/ Mihr 2004; Kirchschläger / Kirchschläger sprachlicher Gewalt in pädagogischen persönlicher Anerkennung und die Verminderung von 2013; Carle/ Kaiser 1998). Einige rechtliche Vorgaben dienen auch dazu, die Einhal- seelischen Verletzungen, die sich in tagtäglichen Interak- tung von Menschenrechten zu gewährleisten. Seit 2012 Einrichtungen ist bisher kaum Gegenstand tionen vor allem durch Worte und Gesten ereignen, weil Menschenrechtliche Verbesserungen auf der Bezie- bestimmt in Deutschland das Bundeskinderschutzgesetz diese wohl verbreitetste Gewaltform nach wie vor wenig hungsebene sind als Bildung durch die Menschenrechte (§ 45 SGB VIII), dass Beschwerdeverfahren und institutio- von Debatten in der Öffentlichkeit geworden. einzuordnen, denn die Lehrer-Schüler-Beziehung be- nelle Beteiligungsformen Voraussetzung für die Erteilung 1 I m englischsprachigen Original wird hier formuliert „best interest of the ziehungsweise die Erzieher-Kind-Beziehung oder die einer Betriebserlaubnis von Jugendhilfeeinrichtungen, child“ (Zermatten 2007). 8 9
3. Wissenschaftliche Grundlagen zu denen auch Kindertageseinrichtungen gehören, sind Die rechtlichen Aussagen stehen im Einklang mit wis- (§ 45 SGB VIII; Winklhofer 2014; Urban-Stahl / Jann 2013; senschaftlichen Befunden. Beide, die in den Reckahner Jann 2014). Auch Schülerinnen und Schüler beziehungs- Reflexionen formulierten ethisch gebotenen und die weise ihre Eltern haben grundsätzlich das Recht sich zu unzulässigen pädagogischen Handlungsweisen, sind aus beschweren. Dazu werden zwar teilweise Ratgeber ange- Ergebnissen empirischer Studien hervorgegangen. Zahl- boten (vgl. z. B. LIS Bremen 2009), Partizipationsstruktu- reiche Forschungen belegen, dass Kinder und Jugendliche Takt (Blochmann 1950) sind hier zu nennen. Auch die Schaden wiedergutzumachen, kreativ Wege zur Zuge- ren in der Schulverfassung verankert (Beutel u. a. 2010) unterstützende pädagogische Beziehungen brauchen aktuelle Schulleistungsforschung sowie die Schulstruk- hörigkeit eröffnen und angemessenes soziales Verhalten oder systematisch Rückmeldungen der Schülerschaft und dass Verletzungen für Entwicklung, Lernen und turforschung betonen im 21. Jahrhundert den hohen Wert unterstützen. In diesen erfolgreichen Ansätzen wird eine erhoben (vgl. z. B. Gödde / Sprenger 2014), aber es mangelt demokratische Sozialisation schädlich sind (Sitzer 2014; unterstützenden Lehrerhandelns (Reusser / Pauli 2014; problematische Handlung nicht toleriert, aber die Person für das Schulwesen an flächendeckend bekannten und Sutterlüthy 2003; Geddes 2009; Bausum u. a. 2013; Hyman / Helsper / Wiezorek 2006; Helsper / Hummrich 2009). wird weiterhin wertgeschätzt, ihre bereits vorhandenen leicht zugängl ichen Beschwerde- und Ombudsstellen. Perone 1998; Hattie 2013). Theorien pädagogischer Rela- guten Ansätze werden erkannt und anerkannt und alle tionalität (Künkler 2011; Prengel 2013a; Pfahl 2014) sowie International Beteiligten, also die Erwachsenen in multiprofessionellen Menschenrechte gelten für alle Altersgruppen. Darum eine Pädagogikethik (Krämer / Bagattini 2015) werden Ferner sind aus dem internationalen Spektrum For- Teams und die Peers, bemühen sich gemeinsam um Besse- sind Menschen- und Kinderrechte gemeinsam zu denken: entwickelt, rechtstheoretische Grundlagen werden ent- schungsrichtungen hervorzuheben. Almon Shumba rung der Situation. Ein Mehr an Kinderrechten bedeutet nicht ein Weniger faltet (Wapler 2015, 2016). Beobachtungs- und Befragungs (2002) befragte afrikanische Lehrer und Lehrerinnen an Rechten für Erwachsene (Hinderer 2015). Auch Be- studien belegen, dass anerkennendes pädagogisches danach, warum sie Kinder für Fehler nicht anbrüllen und Mit den hier beschriebenen Forschungsergebnissen ist schwerden von Kindern und Jugendlichen beziehungs- Handeln in Schulen und Kindertagesstätten zwar vor- ausschimpfen. Die Antworten verweisen darauf, dass keineswegs eine Laissez-faire-Pädagogik zu begründen. weise ihren Eltern richten sich im Grunde nicht gegen herrscht, aber dass zugleich Verletzungen durch Pädago- pädagogische Fachleute weltweit übereinstimmende Vielmehr stimmen die Autorinnen und Autoren darin Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte, sondern sind ginnen und Pädagogen, teilweise auch in heftiger Form, Gründe dafür haben, warum sie es für richtig halten, die überein, dass auf Verhalten, mit dem Kinder oder Jugend- wichtige Instrumente zur guten Schul- und Einrichtungs- an der Tagesordnung sind. Lernenden anerkennend zu behandeln. Robert C. Pianta liche sich selbst oder anderen schaden, deutlich zu reagie- entwicklung. Kinderrechte sind als Teil der Menschen- (2014) untersuchte in zahlreichen amerikanischen Studien ren ist. Wenn Kinder und Jugendliche sich problematisch rechte zu verstehen, und zusammen mit den Kinder- Wie wirken sich anerkennendes und verletzendes pädagogische Beziehungen. Er fand heraus, unter welchen verhalten, ist professionelles, und das heißt konstruk- rechten sind auch die Menschenrechte von Erwachsenen pädagogisches Handeln aus? Bedingungen „children at risk“ erwartungswidrig einen tives, erzieherisches Handeln erfolgreich. Beschrieben zu achten und zu fördern. Darum sind Menschen- und Dokumente, die verdeutlichen, dass die verbreiteten erfolgreichen Bildungsweg absolvieren können. Sein Be- werden Änderungen in der Lernumgebung, die helfen, Kinderrechte nicht als zusätzliches Thema oder gar als körperlichen, aber auch die seelischen Verletzungen der fund ist, dass vor allem eine kontinuierlich haltgebende, angemessenes Verhalten zu stärken (Becker 2013, 2014a, b; Belastung der Erwachsenen anzusehen, sondern als Kinder schädlich sind, finden sich historisch in unter anerkennende und unterstützende Erzieher-Kind-Bezie- Stähling 2006; Kokemoor 2014). Orientierungsrahmen, der in alltäglichen Fragen unter- schiedlichsten Epochen und Orten, zum Beispiel in hung und Lehrer-Schüler-Beziehung den Kindern in ris- stützend wirken kann (Günnewig / Reitz 2016; National Mittelalter und früher Neuzeit sowie ausgeprägt in der kanten Lebenslagen helfen kann, sich gut zu entwickeln. Anerkennung von Anfang an Coalition 2008). auch noch im 19. Jahrhundert einflussreichen Pädago- Die Ethik pädagogischer Beziehungen ist in der Krippen- gik der Aufklärung. In der Reformpädagogik des Fin de Eine aktuelle schweizerische Langzeitstudie mit pädagogik auf besondere Weise gefordert. Feinfühlige Siècle und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden 1 400 Kindern belegt, dass die Qualität der Lehrer-Schü- pädagogische Beziehungen sind für alle Altersstufen re- Vorläufer der schließlich 1989 von den Vereinten Natio- ler-Beziehung das soziale Verhalten von Schülerinnen levant, aber in der Arbeit mit unter dreijährigen Kindern nen verabschiedeten Kinderrechtskonvention entwickelt und Schülern stark beeinflusst: Wenn Kinder eine gute sind sie von allerhöchster Bedeutung – diese Erkenntnis Wenn Kinder eine gute (Kerber-Ganse 2009). Beziehung zu ihrer Lehrperson haben, verhalten sie sich wird vor allem in der Bindungsforschung und der psy- deutlich empathischer und altruistischer sowie weniger choanalytischen Forschung immer wieder betont (vgl. Beziehung zu ihrer Lehr Zahlreiche Forschungen, unter anderem aus Erziehungs- aggressiv (Obsuth u. a. 2016). Hédervári-Heller 2011, S. 151 ff.; Ludwig-Körner / Krauskopf wissenschaft, Psychologie, Soziologie, Medizin, Philo 2016; Gonzales-Mena / Widmeyer Eyer 2014; Petrie / Owen person haben, verhalten sie sophie und Bildungsgeschichte, setzen sich mit der Diese Erkenntnisse werden in vielseitigen Erfahrungen 2006). Eine gedeihliche Entwicklung von Kleinstkindern Qualität pädagogischer Beziehungen auseinander (vgl. und Untersuchungen zur pädagogischen Praxis bestätigt. in der Krippe ist gefährdet, wenn es an einer dauerhaft lie- sich deutlich empathischer zusammenfassend Prengel 2013a, S. 25–57; Tillack u. a. Kinder und Jugendliche, deren Leistungen als schwach bevollen und verlässlichen persönlichen Bindung zu ihrer 2014; Müller-Using 2010; Kuhl u. a. 2011; Wertenbruch / gelten, brauchen die Erfahrung, dass auch ihre Beiträge Bezugserzieherin mangelt. Die persönliche Bindung ist in und altruistischer sowie Röttger-Rössler 2011; Nesbit / Philpott 2002; Kalicki 2014). geachtet werden (Bohnsack 2013; Kristeva / Gardou 2012). einer sensibel und langsam gestalteten Eingewöhnungs- Im Laufe des 20. Jahrhunderts kommen die Wissenschaf- Reinhard Stähling (2006) und Ulrike Becker (dies. / Prengel phase anzubahnen. Unerlässlich ist eine ausreichende weniger aggressiv. ten weltweit immer wieder neu und variantenreich zu 2016) beschreiben ebenfalls die herausragende Bedeutung Personalausstattung der Kindertagesstätten und eine aus- dem Ergebnis, dass Kinder und Jugendliche in frühpäda- der verlässlichen persönlichen Lehrer-Schüler-Beziehung reichende Ausbildung der Krippenerzieherinnen. Wenn gogischen, schulischen und sozialpädagogischen Kontex- für eine heilsame Entwicklung, vor allem von trauma- Kleinstkindern in Krippen eine genügend gute Qualität ten die freundliche Zuwendung ihrer Lehrpersonen und tisierten Kindern und Jugendlichen (Bausum u. a. 2013). und Kontinuität der Erzieherin-Kind-Beziehung vorent- pädagogischen Fachkräfte brauchen, um sich körperlich, Ergebnis ihrer Studien und Erfahrungen ist, dass es von halten wird, so ist zu analysieren, ob solche Situationen emotional, sozial und kognitiv gut entwickeln zu können. Vorteil ist, wenn diese intersubjektive Beziehung in eine nicht als eine besonders zu beachtende, altersspezifische Die Bindungsforschung, die Vertrauensforschung, die von allen Angehörigen der Schulgemeinde vertretene Form einer Menschenrechtsverletzung anzusehen sind. Gesundheitsforschung, die Wohlbefindensforschung, die Schulordnung mit gemeinsamen Regeln und partizipa- Unterrichtsstilforschung, die Kindheitsforschung, die tiven Ritualen eingebettet ist. Dazu gehören auch syste- Wie sehr eine anerkennend-partizipative Haltung auch Sozialisationsforschung, die zahlreichen Ansätze der matische und konsistente pädagogische Reaktionen auf die kognitiven Lernprozesse der Kleinen unterstützt, wird Bedürfnisforschung und der Pädiatrie (Ziegenhain / Fehlverhalten, die am erfolgreichsten sind, wenn sie nicht in frühpädagogischen Beobachtungsstudien herausge- Fegert 2014) sowie die geisteswissenschaftlichen Studien ausgrenzen, sondern den subjektiven Sinn des proble- arbeitet (König 2009, 2010; Wadepohl / Mackowiak 2016). zum pädagogischen Verhältnis und zum pädagogischen matischen Handelns entschlüsseln, dazu anleiten, einen Sie zeigen, dass in dialogisch-entwickelnden, reziproken 10 11
Interaktionsprozessen, die den Kindern die Freiheit las- Rituale, freundlicher Körperkontakt, Trost, Kooperation stundenlang, auch bei Kummer, sich selbst überließen sen, ihre Gedanken, Erkenntnisse und Wissenswünsche fördern, Fairness, Missachtung durch Mitschüler unter und das als Erziehung zur Selbständigkeit legitimier- zum Ausdruck zu bringen, sowohl konstruktive als auch binden, notwendige Grenzen setzen, positive Zuschrei- ten, oder auch, wie sie sich gegenseitig in der Haltung instruktive Momente des Bildungsprozesses ihren Platz bung zum Kind, sinnvoll Konsequenzen aufzeigen, konst- einer diskriminierenden Entwertung ihrer Schülerschaft haben. ruktive Strafe, respektvolle Distanz. bestärkten und kinderfreundlicheren Kolleginnen in ihren Reihen oder anders denkenden Praktikantinnen das Wie verbreitet sind Anerkennung und Verletzung? Kodierte Interaktionsformen der Verletzung sind: Leben schwer machten. Aus der Fülle einschlägiger Untersuchungen sind For- destruktive Ermahnung, destruktiver Kommentar, schungsergebnisse, die begründete Arbeitshypothesen ignorieren / nicht beachten, destruktive Anweisung, über Formen und Verbreitung anerkennender und ver- Spott / Ironie / Sarkasmus, Drohung, Ausgrenzung, an- Die Forschungsbefunde resümierend lässt sich letzender Handlungsmuster zulassen, für die Reckahner brüllen, destruktive Hilfe, destruktive Strafe, negative festhalten: In unserem Bildungssystem sind ethisch Reflexionen bedeutsam. Einige davon werden im Folgen- Zuschreibung zum Kind, Selbständigkeit / Kreativität vorbildliches, die Würde der Kinder und Jugendlichen den vorgestellt. verhindern, Hilfe verweigern, notwendige Grenzen nicht in ausreichendem Maße (Krämer / Bagattini 2015) achten- setzen, Missachtung durch Mitschüler tolerieren und des und ethisch unzulässiges, Kinder und Jugendliche Volker Krumm fand mit Befragungen von Studierenden Kooperation verhindern (Zschipke 2015; Zapf / Klauder seelisch verletzendes pädagogisches Handeln empirisch heraus, an welche Formen des Fehlverhaltens von Lehr- 2014). In der gesamten Datenbank wurde die geringe vorzufinden. Seelische Verletzungen sind die verbreitetste kräften sie sich erinnerten. Nur 23 Prozent der ehemaligen Anzahl von insgesamt 59 Interaktionen als „aggressiver Form der Gewalt, die Kinder erleiden und deren Zeugen Schülerinnen und Schüler gaben an, von Lehrkräften Körperkontakt“ kategorisiert (vor allem am Arm ziehen, sie werden. keine Kränkung erfahren zu haben, alle erinnerten sich schubsen oder schütteln). Die Beobachtenden konnten in jedoch an Kränkungen von Mitschülern, die sie miterlebt den gruppen- beziehungsweise klassenöffentlichen Beob- Die Aussagen der Reckahner Reflexionen zur Ethik päd- hatten. Problematische Handlungsmuster, die genannt achtungssituationen keine Interaktionen, die als sexua- agogischer Beziehungen beruhen auf den umfassenden wurden, sind u. a. negative Zuschreibungen, Behaup- lisierter Übergriff kodiert wurden, wahrnehmen. Verbale Einblicken der INTAKT-Studien und weiterer Untersu- tungen, Vorurteile, Bloßstellen, Ungerechtigkeit, unfai- und mimisch-gestische Übergriffe ohne direkten Kör- chungen, die nachweisen, dass die alltägliche Gestaltung res Verhalten, Schreien, Beschimpfen, Schimpfwörter perkontakt in graduell ganz unterschiedlich verletzender pädagogischer Beziehungen von zahlreichen Verletzun- benutzen, Lächerlichmachen, Beschämen, Ignorieren, Ausprägung müssen aufgrund der Beobachtungen als die gen ebenso bestimmt ist wie von professionellen Formen Vernachlässigung, Missachtung, Verletzung von Rechten, insgesamt am häufigsten vorkommende Form der Kindes- humaner Anerkennung auch in schwierigen Situationen.3 Unterstellung von Fehlhandlungen, Drohung, Einschüch- wohlgefährdung angesehen werden. Zu berücksichtigen terung, Informationsweitergabe, Isolierung, unangemes- ist darüber hinaus, dass auch die Vernachlässigung sowie sene Arbeitsaufträge und schließlich auch Körperverlet- das Miterleben von Gewalt gegen andere Menschen als zungen (Krumm 2003; Krumm / Eckstein 2002). traumatisierende Gewaltformen einzuordnen sind. 4. Handlungsmöglichkeiten Projektnetz INTAKT Die Ergebnisse lassen sich in folgender holzschnittartiger Zu ähnlichen Ergebnissen kommen die Beobachtungsstu- Faustregel zusammenfassen: Durchschnittlich kategori- Eine Verbesserung pädagogischer Beziehungen kann Handlungsmöglichkeiten von Teams und Kollegien dien im Projektnetz INTAKT (Soziale INTerAKTionen in sierten die Beobachtenden drei Viertel der Lehrer-Schüler- gelingen, wenn auf vielen Handlungsebenen des Bil- Lehrerinnen und Lehrer, Pädagoginnen und Pädagogen pädagogischen Arbeitsfeldern). Dabei handelt es sich um beziehungsweise Erzieher-Kind-Interaktionen als aner- dungswesens unterstützende Schritte realisiert werden. sind einflussreiche Gestalter pädagogischer Beziehungen einen Verbund, in dem Lehr- und andere Forschungspro- kennend und neutral, während sie ca. 20 Prozent als leicht Akteure dieser Arbeit sind vor allem Pädagoginnen und mit vielseitigen Handlungsmöglichkeiten. Dazu gehören jekte kooperieren, um Wissen über Formen pädagogischer verletzend beziehungsweise ambivalent und mehr als Pädagogen in ihren multiprofessionellen Teams und die folgenden Vorschläge: Interaktionen und Beziehungen und deren Verbreitung 5 Prozent als stark verletzend einordneten. Seelische Ver- Kollegien, Kinder, Jugendliche und ihre Eltern, Schul- zu gewinnen2. Auch streben sie an, die Theorie pädagogi- letzungen bilden in pädagogischen Institutionen die am und Einrichtungsleitungen sowie Personen aus Wissen- Eine menschenrechtlich fundierte, demokratische scher Beziehungen weiterzuentwickeln und das kulturelle häufigsten vorkommende Form der Gewalt gegen Kinder schaft, Ausbildung, Beratung, Verwaltung, Stiftungs Schulordnung beziehungsweise Einrichtungsordnung Gedächtnis um Erkenntnisse aus der Geschichte pädago- und Jugendliche. wesen und Politik. Auf allen Handlungsebenen sind zwei mit einem Leitbild wechselseitiger Achtung wird in Ko- gischer Beziehungen zu bereichern. Perspektiven bedeutsam: operation mit allen Angehörigen der Institution sowie mit Für das Verständnis der genannten Befunde ist zu berück- den Eltern erstellt. Eine solche Ordnung braucht einerseits In 15-jähriger Kooperation entstand eine gegenwärtig sichtigen, dass die erhobenen Handlungsweisen unter • d ie Stärkung von vorhandenen gelingenden Ansätzen Rituale und Regeln des wertschätzenden, anerkennenden mehr als 12 000 Feldvignetten umfassende Datenbank, die der Bedingung der Gegenwart von Zeugen vorkamen und und von Prävention auf der einen und und das heißt auch höflichen Umgangs miteinander, die aus Interaktionsszenen besteht, die in Schulen, Kinderta- dass die Durchschnittswerte nichts über das Handeln • d ie Entwicklung von wirksameren Möglichkeiten der reziprok für die Angehörigen aller Generationen gleicher gestätten und sozialpädagogischen Einrichtungen proto- Einzelner aussagen, denn es finden sich Pädagoginnen Intervention bei Fehlverhalten auf der anderen Seite. maßen gelten. Andererseits formuliert sie auch die kolliert wurden (Prengel 2013a; Prengel u. a. 2016; Tellisch und Pädagogen mit sehr verschiedenen individuellen unterschiedlichen Regeln, die nur für die verantwort- 2015; Wohne / Hedderich 2015). Anerkennungsbilanzen Tür an Tür. An Orten mit ex- Auch alle folgenden Vorschläge beruhen auf Studien, all lichen Erwachsenen und jeweils altersangemessen nur plizit reformpädagogischem oder inklusivem Profil, in täglichen Erfahrungen und im Alltag entwickelten und für die Kinder und Jugendlichen gelten. Sie ist zentraler Kodierte Interaktionsformen der Anerkennung sind deren Schulkultur oder einrichtungsspezifischem Bild erprobten Handlungsweisen. Bestandteil eines demokratischen Schul-, Kita- oder Lob, freundlicher Kommentar, sinnvolle Hilfe, konstruk- vom Kind Anerkennung betont wird, fallen die Durch- Einrichtungslebens und beschreibt Verfahren zur Bear- 3 Es gibt struktur- und machttheoretische Ansätze in der Erziehungs tive Anweisung, konstruktive Hilfe, freundliche Hand- schnittswerte deutlich besser aus, aber auch hier werden wissenschaft, die sich, wenn sie pädagogische Interaktionen deuten, vor beitung von Konflikten zwischen den Heranwachsenden lung, Selbständigkeit / Kreativität fördern, anerkennende regelmäßig einzelne Lehrpersonen beziehungsweise allem für die ihnen prinzipiell und unvermeidlich innewohnenden Macht- ebenso wie zwischen ihnen und ihren Lehrpersonen pädagogische Fachkräfte gefunden, die stark dazu neigen, verhältnisse interessieren. In dieser strukturtheoretischen Perspektive und pädagogischen Fachkräften. Wenn Angehörige aller 2 Die (Namen und Erhebungsorte anonymisierenden) INTAKT-Protokolle die ihnen Anvertrauten zu verletzen. Auch fanden sich wird in der Regel nicht die Unterscheidung zwischen genügend gutem und pädagogischen Berufe für die demokratische Schul- oder mit Feldvignetten können wegen ihrer hohen Anzahl in verschiedenen unzulässigem professionellen Handeln betont, sodass hier nach Tillmann Auswertungsperspektiven statistisch analysiert werden. Im von Friederike einzelne Krippen, Kitas und Schulen aller Schulformen, (2014) die Ethik pädagogischen Handelns und seine normative Verwoben- Einrichtungsordnung einstehen und in ihrem Sinne vor- Heinzel gegründeten Online-Fallarchiv Schulpädagogik der Universität deren Teams und Kollegien sich kollektiv auf eine aversive heit (Beer / Bittlingmayer 2008) aus dem Blick geraten. Demgegenüber neh- bildlich handeln, tragen sie dazu bei, menschenrechtliche Kassel wird der Gesamtdatensatz aufbewahrt und auf Antrag für weitere men die Reckahner Reflexionen und die ihnen zugrunde liegenden Studien Haltung Kindern gegenüber geeinigt zu haben schienen. eine andere Perspektive ein, denn es geht ihnen um Analysen im Interesse Werte zu vermitteln (Wagner 2007). Sekundäranalysen und Projekte im Bereich der Lehrerbildung zur Verfü- gung gestellt (Heinzel / Krasemann 2015). Protokolliert wurde zum Beispiel, wie sie Krippenkinder eines bestmöglichen Abbaus schädlichen Handelns und einer bestmögli- chen Stärkung förderlichen Handelns. 12 13
Für die Pflege und Reflexion wertschätzender Bezie- Positives Feedback ist unerlässlich hungen im pädagogischen Alltag brauchen Lehrper- Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte haben die sonen und pädagogische Fachkräfte kontinuierliche Aufgabe, Entwicklung und Lernen anzuleiten und zu Teamarbeit. Dafür müssen Zeitfenster im Arbeits- und begleiten. Damit kann die Gefahr einhergehen, dass Zeitplan jeder Bildungsinstitution festgelegt sein. Häu- Kinder und Jugendliche, die langsamer oder anders ler- fig wissen die Teamangehörigen voneinander, wer dazu nen als erwartet, als „auffällige Kinder“ oder „schlechte neigt, Lernende eher wertschätzend oder eher verletzend Schüler“ entwertet werden und auch die Peers bewerten zu behandeln. Aber oft ist es mit Scham verbunden und sich untereinander, sodass es zu Entmutigung kommen wird vermieden, kritische Rückmeldungen zu geben, um kann (Sell 2016; Richert 2005; Heinzel 2016). Gute päda- Kollegen oder Kolleginnen nicht zu nahe zu treten. Darum gogische Beziehungen stärken Anerkennung, indem auf ist es für zahlreiche Teams eine große Herausforderung, entwertende Kommentare und Rangordnungen verzich- ihre Zurückhaltung zu überwinden und Fehlverhalten im tet wird und indem Beiträge aller Heranwachsenden zur Team und Kollegium zu thematisieren. Dabei ist es hilf- Gemeinschaft ermöglicht und in ihrem Wert erkannt und reich, wenn bereits Gelingendes und zukünftig Förder- gewürdigt werden. Julia Kristeva und Charles Gardou liches besprochen wird. Auch kollegiale Intervision und (2012, S. 47) erläutern, dass es darum geht, „(...) jedem zu Supervision mit externer Gruppenleitung sind wirksame gewähren, seine ureigenste Biographie dem Gemeinwohl Hilfsmittel. Alle Angehörigen der Schule oder Einrich- beizusteuern und sich gegenseitig durch das soziale Band tung tragen Verantwortung dafür, dass bei gravierendem eine Teilhabe am Universalen zu verschaffen.“ Im pädago- professionellem Fehlverhalten wirksam interveniert wird. gischen Alltag folgt daraus bei Rückmeldungen zum Ler- nen, dass grundsätzlich das zu einem Zeitpunkt bereits Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte erfahren Erreichte in Worte gefasst wird. Wenn Kinder und Jugend- problematisches Verhalten von Kindern und Jugend- liche erkennen, was sie schon wissen und können, ist es lichen als besondere Herausforderung. Ein Bündel an möglich, die nächsten Lernschritte einschließlich pas- Maßnahmen ist geeignet, Abhilfe zu schaffen und sei sender Arbeitsmittel mit ihnen anzubahnen. Alle Kinder hier noch einmal zusammenfassend dargestellt. Grund- und Jugendlichen mit den verschiedensten Fähigkeiten legend sind besonders für Kinder und Jugendliche in und Beeinträchtigungen können so eher die Erfahrung riskanten und traumatisierenden Lebenslagen die Pflege machen, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte, einer unverbrüchlichen Zugehörigkeit zur Gemeinschaft aber auch ihre Peergruppen zu ihnen halten, ihren indivi- der Gruppe oder Klasse, eine verlässliche Beziehung zu duellen Weg befürworten und ihren persönlichen Erfolg einer Lehrperson oder pädagogischen Fachkraft sowie die wollen. Eine solche anerkennende Beziehungsqualität Entwicklung einer professionellen Einstellung, die von ignoriert nicht die in der schulischen Unterrichtspraxis Anerkennung, Zuwendung und Ressourcenorientierung realisierte Differenzherstellung und vermag Leistungs- geprägt ist. Eine solche Einstellung hilft, auch in schwie- hierarchien nicht völlig außer Kraft zu setzen. Sie ist aber, rigen Situationen Fehlverhalten zu unterbinden und dabei wie die oben genannten Beobachtungsstudien zeigen, ge- die haltgebende verlässliche Lehrer-Schüler-Beziehung eignet, deren destruktive Auswirkungen einzudämmen. oder Erzieher-Kind-Beziehung aufrechtzuerhalten. Sie hilft auch, den subjektiven Sinn von zunächst irritie- Die Reflexion der alltäglichen Handlungsmöglich- rendem und störendem Verhalten zu erkennen, bereits keiten ist für pädagogisches Professionsverständnis vorhandene positive Ansätze zu beachten und dazu anzu- unerlässlich, weil pädagogisches Handeln in komplexen, leiten, dass ein durch Fehlverhalten verursachter Schaden dynamischen und widersprüchlichen Situationen ange- wiedergutgemacht wird. siedelt ist. Einfache Regelungen in Form von schlichten Vorschriften können den Ansprüchen nicht genügen. So Wirksame Hilfe erhalten Lehrpersonen und pädagogische ist zum Beispiel immer wieder neu zu unterscheiden, ob Fachkräfte in krisenhaften Situationen durch unterstüt- eine Grenzsetzung für einen Schüler eher hilfreich oder zende Strukturen. Dazu gehören: eher einschränkend ist oder ob eine Rangelei unter Kin- dern als beglückendes Tobespiel (Oswald 2008) zu begrü- • eine demokratische Schul- oder Einrichtungsordnung, ßen oder als unfaire Verletzung zu unterbinden ist. • ein verlässlicher ritualisierter Tagesablauf, • i m Zeitplan fest verankerte Teamgespräche oder Zu klären ist, wie eigene auf Kindheit und Jugend bezo- Supervision, gene Menschenbilder dazu beitragen, wertschätzendes • das Hinzuziehen von Beratung bei Bedarf, pädagogisches Handeln zu stärken oder zu behindern • i n Ausnahmefällen die Arbeit in temporären Lerngrup- (Heinzel 2004, 2010). Darum werden erwägende Reflexio- pen sowie die Zusammenarbeit mit Eltern, Jugendhilfe nen der Teammitglieder benötigt, die ihre Orientierung und weiteren Hilfestellen aus einer Selbstverpflichtung auf menschenrechtliche • sowie eine ausreichende Ausstattung mit personellen Grundlagen gewinnen und in allen Phasen ihrer Berufstä- Ressourcen tigkeit moralische Aspekte ihres Professionsverständnis- (vgl. z. B. Becker / Prengel 2016; Katzenbach 2015). ses ernst nehmen (Jubilee Center 2016). 14 15
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