Fl e xionen - Reckahner ...

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                     zur Ethik
                   pädagogischer
                    Beziehungen

                        Rochow-Edition
Fl e xionen - Reckahner ...
Reckahner Reflexionen                                                                          Inhalt
    zur Ethik pädagogischer Beziehungen

    Rochow-Edition: Reckahn 2017
    ISBN-Nummer: 978-3-9809752-9-2                                                                 I. Reckahner Reflexionen zur Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  4
    Herausgeber:                                                                                   pädagogischer Beziehungen
    • Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin
    • Deutsches Jugendinstitut e. V., München
    • MenschenRechtsZentrum an der Universität Potsdam
    • Rochow-Museum und Akademie für bildungsgeschichtliche und                                   II. Informationen zu den . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  6
      zeitdiagnostische Forschung e. V. an der Universität Potsdam                                 Reckahner Reflexionen zur Ethik
    Titelfoto:                                                                                     pädagogischer Beziehungen
    Die Skulptur „Kinderrechte“ wurde im Jahr 2013 von der Bildhauerin
    Karin Bohrmann für das Rochow-Museum geschaffen. Das Kunstwerk                                   1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  6 5
    veranschaulicht kindliche Bedürfnisse – sowohl nach Halt als auch
    nach Freiheit in Beziehungen zu Erwachsenen. (Foto: Karla Fritze)
                                                                                                     2. Kinderrechtliche Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  8 7

    Projektförderung:
                                                                                                     3. Wissenschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .10 9
    Wir danken der Robert Bosch Stiftung für langfristige und umfassende
                                                                                                     4. Handlungsmöglichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 12
    Förderung des Projekts.
    Der Universitätsgesellschaft Potsdam e. V. und der                                               5. A
                                                                                                         ktuelle Maßnahmen im . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
    Helga Breuninger Stiftung sei für Anschubfinanzierung gedankt.
                                                                                                        internationalen Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
    Unterzeichner:
    Für unterzeichnende Personen und Institutionen siehe
                                                                                                     6. Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 16
    www.paedagogische-beziehungen.eu/unterstuetzer-der-reckahner-reflexionen
                                                                                                   9
    Weitere Unterzeichnungen und Anregungen zur Weiterentwicklung sind
    erwünscht.
    Kontakt: Annedore Prengel (prengel@uni-potsdam.de) und
    Anne Piezunka (info@paedagogische-beziehungen.eu)

    Redaktion:
    Annedore Prengel, Friederike Heinzel, Sandra Reitz, Ursula Winklhofer
    (in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Menschenrechtsbildung an der
    Rochow-Akademie)
    Webseite: www.paedagogische-beziehungen.eu
    verantwortlich: Anne Piezunka

    Friederike Heinzel         Annedore Prengel          Sandra Reitz          Ursula Winklhofer

2                                                                                                                                                                                                                                                              3
Fl e xionen - Reckahner ...
I. Reckahner Reflexionen
      zur Ethik pädagogischer Beziehungen
      Gute pädagogische Beziehungen bilden ein Fundament dafür, dass Leben, Lernen und
      demokratische Sozialisation gelingen. Darum soll mit den hier vorliegenden ethischen
      Leitlinien die wechselseitige Achtung der Würde aller Mitglieder von Schulen und Ein-
      richtungen gestärkt werden. Die Leitlinien sollen Reflexion anregen und als Orientierung
      für dauerhafte professionelle Entwicklungen auf der Beziehungs­ebene dienen. Sie wenden
      sich an Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte sowie an verantwortliche Erwachsene
      in allen Bereichen des Bildungswesens.
                                                                                                                              Warum werden Reflexionen zur Ethik
                                                                                                                              pädagogischer Beziehungen gebraucht?
                                                                                                                              Laut Kinderrechtskonvention und Gesetzgebung                Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte sowie
                                                                                                                              sind seelische Verletzungen unzulässig:
      Die zehn Leitlinien                                                                                                     Diese Leitlinien einer pädagogischen Selbstverpflichtung
                                                                                                                                                                                          Kinder und Jugendliche brauchen gute pädagogische
                                                                                                                                                                                          Beziehungen, damit Leben, Lernen und demokrati-
                                                                                                                              setzen sich unter besonderer Berücksichtigung seelischer    sche Sozialisation gelingen:
      Was ethisch begründet ist                                  Was ethisch unzulässig ist                                   Verletzungen für die international gültigen Kinderrechte    Anerkennung trägt dazu bei, dass Kinder ihre Rechte
                                                                                                                              und für das Gewaltverbot in der Erziehung ein, das in       und ein erfülltes Leben genießen können. Seelische
    1. 	Kinder und Jugendliche werden wertschätzend             7. 	Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und päda­      nationalen demokratischen Verfassungen und Gesetzen         Verletzungen beschädigen das emotionale, soziale und
         angesprochen und behandelt.                                  gogische Fachkräfte Kinder und Jugendliche diskri-      verankert ist. Sie wenden sich zugleich gegen alle Formen   kognitive Gedeihen aller Kinder. Anerkennung der Rechte,
                                                                      minierend, respektlos, demütigend, übergriffig oder     der Gewalt und beziehen die Arbeit gegen körperliche,       der Würde und der Bedürfnisse von Kindern fördert die
    2. 	Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte hören               unhöflich behandeln.                                    sexualisierte, miterlebte und vernachlässigende Gewalt      Entfaltung der Persönlichkeit sowie Achtung der Men-
         Kindern und Jugendlichen zu.                                                                                         mit ein. Die Reckahner Reflexionen betreffen alle Kinder    schenrechte, Bildung, Teilhabe, Selbstwirksamkeit und
                                                                 8. 	Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädago­    und Jugendlichen in vielfältigen Lebenslagen und tragen     Verantwortungsübernahme. Die Erfahrung von Zugehö-
    3. 	Bei Rückmeldungen zum Lernen wird das Erreichte              gische Fachkräfte Produkte und Leistungen von Kin-      zu Menschenrechtsbildung, Antidiskriminierung, Parti-       rigkeit in Kindheit und Jugend dient der Gewaltpräven­
         benannt. Auf dieser Basis werden neue Lernschritte           dern und Jugendlichen entwertend und entmutigend        zipation und Inklusion auf der Beziehungsebene des unun-    tion und kann gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit
         und förderliche Unterstützung besprochen.                    kommentieren.                                           terbrochen stattfindenden professionellen Handelns bei.     vorbeugen. Für die ganztägige Bildung ist die Pflege guter
                                                                                                                                                                                          pädagogischer Beziehungen besonders wichtig. Dabei
    4. 	Bei Rückmeldungen zum Verhalten werden bereits ge-      9. 	Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und päda-      Seelische Verletzungen kommen                               sind Kinder und Jugendliche mit traumatisierenden und
         lingende Verhaltensweisen benannt. Schritte zur guten        gogische Fachkräfte auf das Verhalten von Kindern       zu oft vor und werden zu wenig beachtet:                    risiko­reichen Lebenserfahrungen auf dauerhaft halt­
        Weiterentwicklung werden vereinbart. Die dauerhafte           und Jugendlichen herabsetzend, überwältigend oder       Viele Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte reali-       gebende Beziehungen zu ihren Pädagoginnen und Pädago-
         Zugehörigkeit aller zur Gemeinschaft wird gestärkt.          ausgrenzend reagieren.                                  sieren alltäglich genügend gute pädagogische Beziehun-      gen besonders angewiesen. Notwendig ist eine kritische
                                                                                                                              gen. Sie zeigen, dass es im Bildungssystem möglich ist,     Auseinandersetzung mit manipulierenden, ausgrenzen-
    5. 	Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte achten auf 10. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogi-      die Lernenden respektvoll anzusprechen. Aber zugleich       den und etikettierenden Erziehungsmethoden, die häufig
         Interessen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und    sche Fachkräfte verbale, tätliche oder mediale Verlet-      erfahren Kinder und Jugendliche auf allen Bildungsstufen    kurzfristige Erfolge versprechen und die den Grund für
         Kummer von Kindern und Jugendlichen. Sie berück-         zungen zwischen Kindern und Jugendlichen ignorieren.        Verletzungen durch Erwachsene, die sie betreuen und         Störungen nur bei Kindern und Jugendlichen suchen und
         sichtigen ihre Belange und den subjektiven Sinn ihres                                                                unterrichten. Durchschnittlich sind vermutlich mehr         den Anteil von Erwachsenen daran ausblenden.
        Verhaltens.                                                                                                           als 5 Prozent aller pädagogischen Interaktionen als sehr
                                                                                                                              verletzend und weitere 20 Prozent als leicht verletzend      Die Reckahner Reflexionen dienen der
    6. 	Kinder und Jugendliche werden zu Selbstachtung und                                                                   einzustufen. Seelische Verletzungen sind die Gewaltform,    Auseinandersetzung mit der Ethik pädagogischer
        Anerkennung der Anderen angeleitet.                                                                                   von der Kinder und Jugendliche am häufigsten betroffen       Beziehungen in Teams und Kollegien sowie auf
                                                                                                                              sind. Die Reckahner Reflexionen machen auf seelische         weiteren Handlungsebenen:
                                                                                                                              Verletzungen aufmerksam, um zur Verbesserung pädago-         Pädagogische Situationen brauchen Reflexion, weil sie
                                                                                                                              gischer Beziehungen beizutragen.                             einzigartig, unvorhersehbar und widersprüchlich sind.
      Handlungsebenen der Stärkung pädagogischer Ethik                                                                                                                                     Die Reckahner Reflexionen formulieren wegweisende
                                                                                                                                                                                           menschenrechtliche Grundlagen. Sie sollen helfen, pädag­
    1. Menschenrechtlich orientierte Schul- oder Einrich-       4. K
                                                                     ollegien und Teams arbeiten an der kinderrechtli-                                                                    ogische Situationen kollegial zu überdenken und an den
       tungsordnungen werden vereinbart, sie enthalten              chen Qualität ihrer pädagogischen Beziehungen. Dazu                                                                    Kinderrechten auszurichten. Zur Unterstützung der
       demokratische Verfahren zur Bearbeitung von Konflik-         werden regelmäßige Sitzungen fest im wöchentlichen        „Es kommt auf den ersten                                     pädagogischen Fachkräfte und Lehrpersonen regen die
       ten zwischen allen Beteiligten.                              Zeitplan verankert. Sie dienen der kollegialen Rück-                                                                  ­Reckahner Reflexionen Initiativen auf allen Handlungs­
                                                                    meldung und der Selbstreflexion. Lehrpersonen und          Empfang der Kinder an. Er                                   ebenen des Bildungswesens sowie internationale Koope-
    2. P
        ersonen in Leitungspositionen fördern anerkennende         pädagogische Fachkräfte lassen sich bei Bedarf beraten.                                                                ration an. Dabei stehen die hier vorgelegten Reckahner
       pädagogische Beziehungen und werden dabei von der            Alle Angehörigen der Schule oder Einrichtung sorgen        muss vorzüglich freundlich                                  Reflexionen selbst zur Diskussion, weil auch sie der Refle-
       Einrichtungs- oder Schulaufsicht unterstützt.                dafür, dass bei professionellem Fehlverhalten interve-                                                                 xion und immer wieder der Erneuerung bedürfen. Dafür
                                                                    niert wird, um die Situation zu verbessern.                und liebreich sein, damit sie                               nimmt die Redaktion gern Vorschläge entgegen.
    3. Für Kinder, Jugendliche und Eltern werden interne und
        externe Ansprechstellen geschaffen, an die sie sich      5. Auf allen Ebenen im Bildungssystem werden Strategien      Zutrauen fassen können.“
        wenden können, wenn Lehrpersonen und pädagogische           zur Unterstützung ethisch begründeten pädagogischen
        Fachkräfte sich fehlverhalten.                              Handelns entwickelt. Verwaltungen, Träger, Organisa-       (Carl Friedrich Riemann, 1798)
                                                                    tionen, Verbände, Stiftungen und Politik fördern dazu
                                                                    Prävention, Intervention, Forschung, Ausbildung,
                                                                    Fortbildung, Beratung, Beschwerdemöglichkeiten und
                                                                    juristische Klärungen sowie die Bereitstellung von
                                                                    Ressourcen.
4                                                                                                                                                                                                                                                        5
Fl e xionen - Reckahner ...
II. Informationen zu den Reckahner Reflexionen
    zur Ethik pädagogischer Beziehungen

    1. Einleitung
                                                                                                                             Friedrich Eberhard von Rochow    Christiane Louise von Rochow    Philanthropische Musterschule Reckahn von 1773,
                                                                                                                             1734–1805                        1734–1806                       heute Schulmuseum
    Ziele
    Die Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Be-       verletzendes pädagogisches Handeln vorkommt und dass          Entstehung der Initiative und historischer Kontext              zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema hervorgegan-
    ziehungen wenden sich an Pädagoginnen und Pädagogen         oft nicht dagegen eingeschritten wird. Die Reckahner          Für die hier vorgelegten Leitlinien einer Ethik päda-           gen (siehe Prengel / Schmitt 2016). Eine internationale Kon-
    in allen Bildungsstufen, allen Bildungsinstitutionen und    Reflexionen sollen die Gefahr der Duldung pädagogischen       gogischer Beziehungen wurde die Titelformulierung               ferenz „Kinderrechte in pädagogischen Beziehungen“ fand
    allen pädagogischen Berufen, Richtungen und Konzepti-       Fehlverhaltens auf der Beziehungsebene bewusst machen        ­„Reckahner Reflexionen“ aus Gründen gewählt, die mit            2013 mit sehr großer Resonanz an der Universität Potsdam
    onen. Sie sind konsenstauglich, denn eine anerkennende      und wirksame und für alle Beteiligten hilfreiche Inter-       ihrer Entstehungsgeschichte und Zielsetzung zu tun              statt (Prengel / Winklhofer 2014).
    pädagogische Haltung kommt sowohl den Heranwach-            ventionen dagegen vorschlagen.                                haben. Die Stellungnahme selbst ist in einem mehrstu-
    senden als auch den Erwachsenen zugute und wirkt als                                                                      figen reflexiven Prozess entstanden und sie gibt Impulse        Reckahn – die Rochows
    Vorbild. Mit den vorliegenden Leitlinien wird die alltäg­   Ziel der Reckahner Reflexionen ist die Stärkung anerken-      für professionelle Reflexionen. Pädagogisches Handeln           Der Tagungsort des Arbeitskreises Menschenrechtsbil-
    liche Arbeit der Lehrpersonen und pädagogischen Fach-       nender und die Verminderung verletzender Handlungs-           findet immer in unvorhersehbaren, unsicheren und wider-         dung, das Dorf Reckahn unweit der Stadt Brandenburg /
    kräfte anerkannt und ihre Unterstützung durch Fachleute     weisen in schulischen und außerschulischen pädagogi-          sprüchlichen Situationen statt (Shulman 2002). Weil stets       Havel, ist von herausragender Bedeutung für das kultu-
    auf allen Ebenen der Bildungssysteme wird gefordert.        schen Arbeitsfeldern. Ihr Schwerpunkt ist die alltägliche     eine unbegrenzte Fülle konkreter pädagogischer Hand-            relle Gedächtnis (Assmann 2006). An diesem Ort tragen
    Beteiligt sind an dieser internationalen Initiative         Beziehungsebene, zugleich wenden sie sich gegen alle          lungen möglich ist, sind in den multiprofessionellen            die Reckahner Museen auf der Basis einer 250-jährigen
    deutschsprachige Personen und Institutionen; die Aus-       Gewaltformen und beziehen die Arbeit gegen körperliche,       frühpädagogischen und schulischen Teams und Kollegien           aufgeklärten Tradition zur Stärkung von Kinderrechten
    weitung auf die europäische und weitere internationale      sexualisierte, miterlebte und vernachlässigende Gewalt        Reflexionen notwendig, um angemessenes professionelles          in pädagogischen Beziehungen bei (Krappmann u. a.
    Ebene wird angestrebt.                                      mit ein. Sie betreffen alle Kinder und Jugendlichen in        Handeln zu erwägen. Dafür wird die Grundlage ethisch            2013). Reckahn beherbergt ein historisches Ensemble, zu
                                                                ihren vielfältigen Lebenslagen und tragen zu Bildung,         verbindlicher Prinzipien benötigt. Zugleich können Ethik­       dem die original erhaltene, von Friedrich Eberhard von
    Die Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer           Antidiskriminierung, Partizipation und Inklusion auf          kodizes, wie die hier vorgelegten Reckahner Reflexionen,        Rochow (1734–1805) und Christiane Louise von Rochow
    Beziehungen dienen dazu, die menschenwürdige                der Beziehungsebene und somit zu einer gelebten Kultur        immer nur einen perspektivisch begrenzten und vorläufig         (1734–1808) erbaute und im Jahr 1773 eingeweihte erste
    Gestaltung pädagogischer Beziehungen zu fördern.            der Menschenrechte bei.                                       gültigen Erkenntnisstand im Sinne einer Zwischenbilanz          philanthropische Musterschule gehört. In dieser Schule
    Kern der Reckahner Reflexionen sind 10 Leitlinien einer                                                                   widerspiegeln. Sie bedürfen selbst im Laufe der Zeit immer      wurden alle Schülerinnen und Schüler des Dorfes im
    Selbstverpflichtung, die ethische Orientierungen für den    Die erste Aussage der Reckahner Reflexionen, „Kinder und      wieder der Reflexion und der Erneuerung (Wapler 2016).          Geiste der Aufklärung unterrichtet. Der dort realisierte
    Alltag in schulischen, frühpädagogischen und sozialpäd-     Jugendliche werden wertschätzend angesprochen und behan-                                                                      menschenfreundliche Unterricht wandte sich bereits
    agogischen Feldern formulieren. Im Spektrum internatio-     delt“, bildet die pädagogische Grundregel für den Umgang     Die Reckahner Reflexionen beruhen auf einer fünfjährigen         vor fast 250 Jahren gegen die Prügelstrafe und gegen
    naler kinderrechtlich fundierter Erklärungen zur Profes-    mit allen Kindern und Jugendlichen in allen institutio-      interdisziplinären und internationalen Auseinanderset-           stän­d ische, religiöse oder rassistische Diskriminierung.
    sionsethik wird damit – soweit wir wissen – erstmals eine   nellen Strukturen. Damit handelt es sich zugleich um eine    zung mit dem Thema Ethik pädagogischer Beziehungen,              Kinder wurden vom Schulanfang an als vernunftbegabte
    spezifische Charta vereinbart, die eigens dem Schwer-       pädagogische Grundregel für die Arbeit mit heterogenen       an dem Fachleute aus Praxis, Leitung, Verwaltung, Wis-           Wesen respektiert (Schmitt 2007, S. 171ff.; Tenorth 2011).
    punkt anerkennenden und verletzenden pädagogischen          Gruppen und Klassen. Denn sie soll allen Kindern und         senschaft, Bildungspolitik und Stiftungen beteiligt waren.
    Handelns mit seinen täglichen Auswirkungen auf das          Jugendlichen – mit ihren unterschiedlichsten sozialen,       Die Zusammenarbeit wurde ab 2011 in jährlichen Exper-            „Es kommt auf den ersten Empfang der Kinder an. Er muss vor-
    seelische Erleben der Kinder und Jugendlichen gewidmet      ökonomischen, kulturellen, religiösen, geschlechtlichen,     tenkonferenzen des Arbeitskreises Menschenrechtsbil-              züglich freundlich und liebreich sein, damit sie Zutrauen fassen
    ist. Die Reckahner Reflexionen konzentrieren sich auf die   befähigenden oder behindernden lebensweltlichen Erfah-       dung in der Reckahner Einrichtung Rochow-Museum und               können“ – mit diesen Worten fasste ein zeitgenössischer
    persönliche Dimension professionellen Handelns, darü-       rungen – nützen.                                             Akademie für bildungsgeschichtliche und zeitdiagnostische         pädagogischer Augenzeuge seine in der Musterschule
    ber hinaus beziehen sie auch den Einfluss struktureller                                                                  Forschung e. V. an der Universität Potsdam r­ ealisiert (abge-    gewonnenen Erkenntnisse zur pädagogischen Beziehung
    Bedingungen auf personale und intersubjektive Prozesse    Auf dem ersten Grundsatz beruhen alle Aussagen der             kürzt: Rochow Akademie). Aus diesem Expertenkreis sind            zusammen. Er hatte den dortigen Unterricht über ein
    mit ein.                                                   Reckahner Reflexionen und alle sind wechselseitig aufein-
                                                               ander bezogen. Die 10 Leitlinien sind aus Beobachtungen
    In Zeiten, in denen frühe und ganztägige institutionelle   im pädagogischen Alltag hervorgegangen, es geht ihnen
    Bildung zunehmen, gewinnen professionelle Bezugsper-       also um die Stärkung von Formen der Anerkennung, die
    sonen an existenzieller Bedeutung für Kinder, die einen    im Schul- und Kitaleben vorzufinden sind und in einem
    erheblichen Anteil ihrer Lebenszeit in Bildungseinrich-    kollektiv geteilten menschenrechtlich-demokratischen
    tungen verbringen. Lehrpersonen und pädagogische          Verständnis von pädagogischer Anerkennung verankert
    Fachkräfte tragen Verantwortung für die bestmögliche       sind. Die Aussagen des ersten Teils unter der Überschrift
    Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (Arendt 1958; „Was ethisch begründet ist“ wurden aus im Feld praktizierten                                                                                                       Gründungskonferenz
                                                                                                                                                                                                                              des Arbeitskreises
    Wapler 2015). Die ethische Selbstverpflichtung der Lehr-   gelingenden pädagogischen Handlungsweisen abgeleitet.                                                                                                          Menschenrechtsbildung im
    personen und Erziehenden wird unerlässlich.                Die Aussagen des zweiten Teils „Was ethisch unzulässig ist“                                                                                                    Rochow-Museum Reckahn
                                                               sind Reaktionen auf im Feld praktizierte problematische                                                                                                        im Jahr 2011
    Die Reckahner Reflexionen beruhen auf umfassenden          pädagogische Handlungsweisen. Auch die Vorschläge für                                                                                                          (Foto: Reckahner Museen)

    empirischen Studien, die belegen, dass ethisch fundiertes „Handlungsebenen der Stärkung pädagogischer Ethik“ sind An-
    anerkennendes Handeln im Bildungssystem möglich und regungen, die allesamt in Praxisfeldern gefunden wurden.
    üblich ist. Studien belegen aber auch, dass seelisch

6                                                                                                                                                                                                                                                                 7
Fl e xionen - Reckahner ...
halbes Jahr besucht und schriftlich dokumentiert (Rie-         2. Kinderrechtliche Grundlagen
     mann 1798). Auch in der Gründungsgeschichte des Kin-
     dergartens spielt eine kindgerechte Haltung eine zentrale      Die Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer
     Rolle (Aden-Grossmann 2011; König 2007; Baader 2002;           Beziehungen beruhen auf rechtlichen Begründungen und
     Baader u. a. 2014; Rabe-Kleberg 2010).                         sie knüpfen an alltägliche Erfahrungen an.

                                                                    Persönliche Erfahrungen in Bildungseinrichtungen sind
     Materialien zur Präsentation                                   davon geprägt, ob die Beziehungen zur Lehrkraft oder
     der Reckahner Reflexionen                                      zur Erzieherin als förderlich oder als verletzend erlebt
                                                                    werden. Diese Einsicht wird seit Jahrhunderten in auto-
                                                                                                                                                      Foto: Gisela Lau
     Die Reckahner Reflexionen werden in Form                       biografischen Texten erinnert und in literarischen und
     verschiedener Materialien und Medien vorgelegt,                bildlichen Kunstwerken zum Ausdruck gebracht (Scheibe                             beachtet wird. Körperliche und sexualisierte Gewalt in         Erzieher-Jugendlichen-Beziehung bildet einen zentralen
     dazu gehören:                                                  1967; Rutschky 1983; Schiffer / Winkeler 1998). Sie ist nach                      Bildungsinstitutionen erlangten öffentliche Aufmerk-           Aspekt der Lernumgebungen. Die Reckahner Reflexionen
                                                                    wie vor auch allgegenwärtiger Gegenstand familiärer und                           samkeit, die zu zielgerichteten Gegenmaßnahmen und             machen es sich zur Aufgabe, auf die große Bedeutung
    • Ein Plakat                                                   fachlicher Gespräche. Seit Langem propagieren Einzel­                             eindeutigen Verboten sowie zu strafrechtlicher Ahndung         des Beziehungsaspekts für die Menschenrechtsbildung,
       (die 10 ethischen Leitlinien und informative Hinweise)       personen, Bildungseinrichtungen, Träger und Verbände                              führte (KMK 2013; Scheibe 1967). Demgegenüber sind             für die Demokratie als Lebensform und für das Recht
    • Ein Flyer                                                    die Orientierung am Leitbild einer Kultur der Aner-                               Formen der seelischen Missachtung in Form alltäglicher         auf Bildung hinzuweisen. Denn Menschenrechtsbildung,
       (die 10 ethischen Leitlinien und informative Hinweise)       kennung (z. B. Singer 1998; Miller 2011; Hafeneger 2013;                          sprachlicher Gewalt (Herrmann u. a. 2007; Schubarth /          Demokratieerziehung und die Einlösung des Rechts auf
                                                                    Ittel / Raufelder 2008; Herrmann 2001). In der historischen                       Ulbricht 2012; Schubarth / Winter 2012) in pädagogischen       Bildung können nicht gelingen, wenn die Lernenden die
    • Ein Miniflyer (die 10 ethischen Leitlinien für die Hand-,
                                                                    Entwicklung führten die schmerzlichen und zerstöreri-                             Einrichtungen bisher kaum Gegenstand von Debatten in           Erfahrung machen, dass sie entwürdigend behandelt wer-
       Hosen- oder Westentasche)
                                                                    schen Erfahrungen von Kindern, zu denen immer auch                                der Öffentlichkeit geworden.                                   den (Edelstein / Frank 2009; Edelstein / Krappman / Student
    • Eine Broschüre                                               seelische Verletzungen gehörten, schließlich zur Entste-                                                                                         2014; Kittel 2008).
       (der vorliegende Text mit grundlegenden Informationen)       hung der Kinderrechtskonvention (Kerber-Ganse 2009),                              Obwohl die Reckahner Reflexionen auf die Ebene alltägli-
    • Netzpublikationen                                            auch spiegeln sie sich in rechtlichen Erkenntnissen und                           cher pädagogischer Beziehungen fokussiert sind, können „Menschenrechtserziehung kann sich nicht auf die Vermittlung
       (Plakat, Flyer, Broschüre, Videos, Liste der Unterzeichner   Deklarationen wider (vgl. z. B. Kinderkommission 2016).                           sie zugleich auch Beiträge zur Prävention vor anderen          von Wissen beschränken. Sie muss die emotionale und handelnde
       und vielfältige weitere Texte).                              Kinder sind Träger von Rechten und haben als solche An-                           Gewaltformen (Kindler 2014) sowie zur Stärkung des             Komponente einbeziehen. Schülerinnen und Schüler müssen die
                                                                    spruch auf würdevolle und achtsame Behandlung.                                    Rechts auf Bildung leisten. Indem sie die Wertschätzung        Achtung des Mitmenschen im täglichen Umgang in der Schule
     Darüber hinaus sollen weitere, auch barrierefreie,             Juristisch stellen die internationale Kinderrechtskonven-                         der Kinder und Jugendlichen betonen, richten sie sich          erleben und üben.“ (KMK 1980/2000, S. 6)
     Varianten angeboten werden, dazu gehören u. a.:                tion sowie vielseitige nationale und föderale gesetzliche                         auch gegen körperliche, sexualisierte, miterlebte und
                                                                    Vorgaben klar, dass seelische Verletzungen unzulässig                             vernachlässigende Gewalt und unterstützen die darauf           Die Einsicht, dass über menschenrechtliche Prinzipien
    • Eine Variante der Reckahner Reflexionen für die Hand         sind. In der Kinderrechtskonvention heißt es (Vereinte                            bezogenen Initiativen und Maßnahmen. Indem Pädago-             nicht nur informiert werden soll, sondern dass sie in
       der Kinder und Jugendlichen                                  Nationen 1989, Artikel 3 (1)):                                                    ginnen und Pädagogen sich wertschätzend den Lernenden alltäglichen Interaktionen gelebt werden müssen, wird
    • Eine Variante der Reckahner Reflexionen in leichter                                                                                            zuwenden, nehmen sie auch ihre Gefühle, ihre Denkwei-          von der Kultusministerkonferenz der deutschen Bundes-
       Sprache                                                      „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von                 sen und ihre kognitiven Unterstützungsbedürfnisse wahr, länder vermittelt. In ihrer Empfehlung zur Förderung der
                                                                     öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge,                  um geeignete pädagogische und didaktische Angebote             Menschenrechtserziehung in der Schule weist die KMK
    • Übersetzungen der Reckahner Reflexionen in weitere
                                                                     Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen                         zu gestalten und Entwicklungs- und Lernprozesse zu             schon seit 1980 darauf hin, dass die Lernenden im Schul-
       Sprachen
                                                                     getroffen werden, ist das Wohl des Kindes1 ein Gesichtspunkt,                    fördern. Indem Kinder und Jugendliche darauf vertrauen         leben sowohl erfahren sollen, dass sie selbst geachtet
      In Form eines Plakats und eines Flyers werden die Leit­        der vorrangig zu berücksichtigen ist.“                                           können, dass sie anerkennend behandelt werden, können          werden, als auch, dass sie sich darin üben sollen, andere
      linien der Reckahner Reflexionen präsentiert und sehr                                                                                           sie sich zuversichtlich auf das Lernen konzentrieren und       zu achten.
      knapp begründet. Ausführlichere Informationen zu den          Nationale Gesetze in demokratischen Gesellschaften                                ihr Recht auf Bildung wahrnehmen.
      Leitlinien werden in der vorliegenden Broschüre ange-         untersagen in unterschiedlichen Ausprägungen Gewalt                                                                                              Für alle Felder, in denen es um die Arbeit mit Kindern
      boten: Kinderrechtliche und wissenschaftliche Gründe          gegen Kinder. So heißt es zum Beispiel in der Neufassung                          Bildung über, durch und für Menschenrechte                     und Jugendlichen und um ihre Bildung geht, wurden in-
      werden erläutert. Schritte zu ihrer Realisierung auf          des Gesetzes zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung                              Die Reckahner Reflexionen sind ein Beitrag zur Men-            zwischen Konzeptionen einer kinderrechtlich fundierten
      verschiedenen Handlungsebenen werden vorgestellt. Dazu        (BGB 2002, § 1631 (2)), das im Deutschen Bundestag verab-                         schenrechtsbildung. Drei zusammenhängende Zugänge              Pädagogik mit Schutz-, Förder- und Beteiligungsaufgaben
      gehören auch Anregungen für Forschung, Studium und            schiedet wurde:                                                                   werden zu ihrer Realisierung für notwendig erachtet:           ausgearbeitet (institutionenübergreifend vgl. Maywald
     Ausbildung. Über internationale Bezüge zu ähnlichen                                                                                              Bildung über Menschenrechte betrifft vor allem die             2012; für den Kindergarten vgl. zum Beispiel Maywald
     ­Initiativen wird informiert.                                  „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche                    Wissensvermittlung. Bildung durch die Menschenrechte           2016; Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband 2016;
                                                                    Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende                     betrifft die menschenrechtliche Gestaltung des pädago-         Günnewig / Reitz 2016; für die Schule vgl. z. B. Krappmann
                                                                    Maßnahmen sind unzulässig.“                                                       gischen Alltags und der Lernumgebung. Bildung für die          2015; Krappmann / Petry 2016; Niendorf / Reitz 2016;
                                                                                                                                                      Menschen­­rechte regt die Lernenden dazu an, selbst im         für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik vgl. z. B. Staub-
                                                                    Die Reckahner Reflexionen wenden sich im Einklang                                 Sinne der Menschenrechte aktiv zu sein (Vereinte Nationen Bernasconi 2008, 2016; Braun u. a. 2005; Bimschas /
    Seelische Missachtung in Form alltäglicher                      mit diesen juristischen Vorgaben gegen alle Formen der                            2011; Niendorf / Reitz 2016; Rudolf 2014; Reitz / Rudolf 2014, Schröder 2003; Friebertshäuser 2007).
                                                                    Gewalt. Ihr besonderer Schwerpunkt ist die Stärkung von                           S. 18; Mahler/ Mihr 2004; Kirchschläger / Kirchschläger
    sprachlicher Gewalt in pädagogischen                            persönlicher Anerkennung und die Verminderung von                                 2013; Carle/ Kaiser 1998).                                     Einige rechtliche Vorgaben dienen auch dazu, die Einhal-
                                                                    seelischen Verletzungen, die sich in tagtäglichen Interak-                                                                                       tung von Menschenrechten zu gewährleisten. Seit 2012
    Einrichtungen ist bisher kaum Gegenstand                        tionen vor allem durch Worte und Gesten ereignen, weil                            Menschenrechtliche Verbesserungen auf der Bezie-               bestimmt in Deutschland das Bundeskinderschutzgesetz
                                                                    diese wohl verbreitetste Gewaltform nach wie vor wenig                            hungsebene sind als Bildung durch die Menschenrechte           (§ 45 SGB VIII), dass Beschwerdeverfahren und institutio-
    von Debatten in der Öffentlichkeit geworden.                                                                                                      einzuordnen, denn die Lehrer-Schüler-Beziehung be-             nelle Beteiligungsformen Voraussetzung für die Erteilung
                                                                    1  I m englischsprachigen Original wird hier formuliert „best interest of the   ziehungsweise die Erzieher-Kind-Beziehung oder die             einer Betriebserlaubnis von Jugendhilfeeinrichtungen,
                                                                      child“ (Zermatten 2007).
8                                                                                                                                                                                                                                                                                    9
Fl e xionen - Reckahner ...
3. Wissenschaftliche Grundlagen
     zu denen auch Kindertageseinrichtungen gehören, sind          Die rechtlichen Aussagen stehen im Einklang mit wis-
     (§ 45 SGB VIII; Winklhofer 2014; Urban-Stahl / Jann 2013;     senschaftlichen Befunden. Beide, die in den Reckahner
     Jann 2014). Auch Schülerinnen und Schüler beziehungs-         Reflexionen formulierten ethisch gebotenen und die
     weise ihre Eltern haben grundsätzlich das Recht sich zu       unzulässigen pädagogischen Handlungsweisen, sind aus
     beschweren. Dazu werden zwar teilweise Ratgeber ange-         Ergebnissen empirischer Studien hervorgegangen. Zahl-
     boten (vgl. z. B. LIS Bremen 2009), Partizipationsstruktu-    reiche Forschungen belegen, dass Kinder und Jugendliche        Takt (Blochmann 1950) sind hier zu nennen. Auch die           Schaden wiedergutzumachen, kreativ Wege zur Zuge-
     ren in der Schulverfassung verankert (Beutel u. a. 2010)      unterstützende pädagogische Beziehungen brauchen               aktuelle Schulleistungsforschung ­sowie die Schulstruk-       hörigkeit eröffnen und angemessenes soziales Verhalten
     oder systematisch Rückmeldungen der Schülerschaft             und dass Verletzungen für Entwicklung, Lernen und              turforschung betonen im 21. Jahrhundert den hohen Wert        unterstützen. In diesen erfolgreichen Ansätzen wird eine
     erhoben (vgl. z. B. Gödde / Sprenger 2014), aber es mangelt   demokratische Sozialisation schädlich sind (Sitzer 2014;       unterstützenden Lehrerhandelns (Reusser / Pauli 2014;         problematische Handlung nicht toleriert, aber die Person
     für das Schul­wesen an flächendeckend bekannten und           Sutterlüthy 2003; Geddes 2009; Bausum u. a. 2013; Hyman /      Helsper / Wiezorek 2006; Helsper / Hummrich 2009).            wird weiterhin wertgeschätzt, ihre bereits vorhandenen
     leicht zugäng­l ichen Beschwerde- und Ombudsstellen.          Perone 1998; Hattie 2013). Theorien pädagogischer Rela-                                                                      guten Ansätze werden erkannt und anerkannt und alle
                                                                   tionalität (Künkler 2011; Prengel 2013a; Pfahl 2014) sowie     International                                                 Beteiligten, also die Erwachsenen in multiprofessionellen
     Menschenrechte gelten für alle Altersgruppen. Darum           eine Pädagogikethik (Krämer / Bagattini 2015) werden           Ferner sind aus dem internationalen Spektrum For-             Teams und die Peers, bemühen sich gemeinsam um Besse-
     sind Menschen- und Kinderrechte gemeinsam zu denken:          entwickelt, rechtstheoretische Grundlagen werden ent-          schungsrichtungen hervorzuheben. Almon Shumba                 rung der Situation.
     Ein Mehr an Kinderrechten bedeutet nicht ein Weniger          faltet (Wapler 2015, 2016). Beobachtungs- und Befragungs­      (2002) befragte afrikanische Lehrer und Lehrerinnen
     an Rechten für Erwachsene (Hinderer 2015). Auch Be-           studien belegen, dass anerkennendes pädagogisches              danach, warum sie Kinder für Fehler nicht anbrüllen und       Mit den hier beschriebenen Forschungsergebnissen ist
     schwerden von Kindern und Jugendlichen beziehungs-            Handeln in Schulen und Kindertagesstätten zwar vor-            ausschimpfen. Die Antworten verweisen darauf, dass            keineswegs eine Laissez-faire-Pädagogik zu begründen.
     weise ihren Eltern richten sich im Grunde nicht gegen         herrscht, aber dass zugleich Verletzungen durch Pädago-        pädagogische Fachleute weltweit übereinstimmende              Vielmehr stimmen die Autorinnen und Autoren darin
     Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte, sondern sind        ginnen und Pädagogen, teilweise auch in heftiger Form,         Gründe dafür haben, warum sie es für richtig halten, die      überein, dass auf Verhalten, mit dem Kinder oder Jugend-
     wichtige Instrumente zur guten Schul- und Einrichtungs-       an der Tagesordnung sind.                                      Lernenden anerkennend zu behandeln. Robert C. Pianta          liche sich selbst oder anderen schaden, deutlich zu reagie-
     entwicklung. Kinderrechte sind als Teil der Menschen-                                                                        (2014) untersuchte in zahlreichen amerikanischen Studien      ren ist. Wenn Kinder und Jugendliche sich problematisch
     rechte zu verstehen, und zusammen mit den Kinder-             Wie wirken sich anerkennendes und verletzendes                 pädagogische Beziehungen. Er fand heraus, unter welchen       verhalten, ist professionelles, und das heißt konstruk-
     rechten sind auch die Menschenrechte von Erwachsenen           pädagogisches Handeln aus?                                    Bedingungen „children at risk“ erwartungswidrig einen         tives, erzieherisches Handeln erfolgreich. Beschrieben
     zu achten und zu fördern. Darum sind Menschen- und             Dokumente, die verdeutlichen, dass die verbreiteten           erfolgreichen Bildungsweg absolvieren können. Sein Be-        werden Änderungen in der Lernumgebung, die helfen,
     Kinderrechte nicht als zusätzliches Thema oder gar als        ­körperlichen, aber auch die seelischen Verletzungen der       fund ist, dass vor allem eine kontinuierlich haltgebende,     angemessenes Verhalten zu stärken (Becker 2013, 2014a, b;
     Belastung der Erwachsenen anzusehen, sondern als               Kinder schädlich sind, finden sich historisch in unter­       anerkennende und unterstützende Erzieher-Kind-Bezie-          Stähling 2006; Kokemoor 2014).
     Orientierungsrahmen, der in alltäglichen Fragen unter-         schiedlichsten Epochen und Orten, zum Beispiel in             hung und Lehrer-Schüler-Beziehung den Kindern in ris-
     stützend wirken kann (Günnewig / Reitz 2016; National          Mittelalter und früher Neuzeit sowie ausgeprägt in der        kanten Lebenslagen helfen kann, sich gut zu entwickeln.       Anerkennung von Anfang an
     Coalition 2008).                                               auch noch im 19. Jahrhundert einflussreichen Pädago-                                                                        Die Ethik pädagogischer Beziehungen ist in der Krippen-
                                                                    gik der Aufklärung. In der Reformpädagogik des Fin de         Eine aktuelle schweizerische Langzeitstudie mit               pädagogik auf besondere Weise gefordert. Feinfühlige
                                                                    Siècle und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden      1 400 Kindern belegt, dass die Qualität der Lehrer-Schü-      pädagogische Beziehungen sind für alle Altersstufen re-
                                                                   Vorläufer der schließlich 1989 von den Vereinten Natio-        ler-Beziehung das soziale Verhalten von Schülerinnen          levant, aber in der Arbeit mit unter dreijährigen Kindern
                                                                    nen verabschiedeten Kinderrechtskonvention entwickelt         und Schülern stark beeinflusst: Wenn Kinder eine gute         sind sie von allerhöchster Bedeutung – diese Erkenntnis
     Wenn Kinder eine gute                                          (Kerber-Ganse 2009).                                          Beziehung zu ihrer Lehrperson haben, verhalten sie sich       wird vor allem in der Bindungsforschung und der psy-
                                                                                                                                  deutlich empathischer und altruistischer sowie weniger        choanalytischen Forschung immer wieder betont (vgl.
     Beziehung zu ihrer Lehr­                                      Zahlreiche Forschungen, unter anderem aus Erziehungs-          aggressiv (Obsuth u. a. 2016).                                Hédervári-Heller 2011, S. 151 ff.; Ludwig-Körner / Krauskopf
                                                                   wissenschaft, Psychologie, Soziologie, Medizin, Philo­                                                                       2016; Gonzales-Mena / Widmeyer Eyer 2014; Petrie / Owen
     person haben, verhalten sie                                   sophie und Bildungsgeschichte, setzen sich mit der             Diese Erkenntnisse werden in vielseitigen Erfahrungen         2006). Eine gedeihliche Entwicklung von Kleinstkindern
                                                                   Qualität pädagogischer Beziehungen auseinander (vgl.           und Untersuchungen zur pädagogischen Praxis bestätigt.        in der Krippe ist gefährdet, wenn es an einer dauerhaft lie-
     sich deutlich empathischer                                    zusammen­fassend Prengel 2013a, S. 25–57; Tillack u. a.        Kinder und Jugendliche, deren Leistungen als schwach          bevollen und verlässlichen persönlichen Bindung zu ihrer
                                                                   2014; Müller-Using 2010; Kuhl u. a. 2011; Wertenbruch /        gelten, brauchen die Erfahrung, dass auch ihre Beiträge       Bezugserzieherin mangelt. Die persönliche Bindung ist in
     und altruistischer sowie                                      Röttger-Rössler 2011; Nesbit / Philpott 2002; Kalicki 2014).   geachtet werden (Bohnsack 2013; Kristeva / Gardou 2012).      einer sensibel und langsam gestalteten Eingewöhnungs-
                                                                   Im Laufe des 20. Jahrhunderts kommen die Wissenschaf-          Reinhard Stähling (2006) und Ulrike Becker (dies. / Prengel   phase anzubahnen. Unerlässlich ist eine ausreichende
     weniger aggressiv.                                            ten weltweit immer wieder neu und variantenreich zu            2016) beschreiben ebenfalls die herausragende Bedeutung       Personalausstattung der Kindertagesstätten und eine aus-
                                                                   dem Ergebnis, dass Kinder und Jugendliche in frühpäda-         der verlässlichen persönlichen Lehrer-Schüler-Beziehung       reichende Ausbildung der Krippenerzieherinnen. Wenn
                                                                   gogischen, schulischen und sozialpädagogischen Kontex-         für eine heilsame Entwicklung, vor allem von trauma-          Kleinstkindern in Krippen eine genügend gute Qualität
                                                                   ten die freundliche Zuwendung ihrer Lehrpersonen und           tisierten Kindern und Jugendlichen (Bausum u. a. 2013).       und Kontinuität der Erzieherin-Kind-Beziehung vorent-
                                                                   pädagogischen Fachkräfte brauchen, um sich körperlich,         Ergebnis ihrer Studien und Erfahrungen ist, dass es von       halten wird, so ist zu analysieren, ob solche Situationen
                                                                   emotional, sozial und kognitiv gut entwickeln zu können.       Vorteil ist, wenn diese intersubjektive Beziehung in eine     nicht als eine besonders zu beachtende, altersspezifische
                                                                   Die Bindungsforschung, die Vertrauensforschung, die            von allen Angehörigen der Schulgemeinde vertretene            Form einer Menschenrechtsverletzung anzusehen sind.
                                                                   Gesundheitsforschung, die Wohlbefindensforschung, die          Schulordnung mit gemeinsamen Regeln und partizipa-
                                                                   Unterrichtsstilforschung, die Kindheitsforschung, die          tiven Ritualen eingebettet ist. Dazu gehören auch syste-      Wie sehr eine anerkennend-partizipative Haltung auch
                                                                   Sozialisationsforschung, die zahlreichen Ansätze der           matische und konsistente pädagogische Reaktionen auf          die kognitiven Lernprozesse der Kleinen unterstützt, wird
                                                                   Bedürfnisforschung und der Pädiatrie (Ziegenhain /             Fehlverhalten, die am erfolgreichsten sind, wenn sie nicht    in frühpädagogischen Beobachtungsstudien herausge-
                                                                   Fegert 2014) sowie die geisteswissenschaftlichen Studien       ausgrenzen, sondern den subjektiven Sinn des proble-          arbeitet (König 2009, 2010; Wadepohl / Mackowiak 2016).
                                                                   zum pädagogischen Verhältnis und zum pädagogischen             matischen Handelns entschlüsseln, dazu anleiten, einen        Sie zeigen, dass in dialogisch-entwickelnden, reziproken

10                                                                                                                                                                                                                                                             11
Fl e xionen - Reckahner ...
Interaktionsprozessen, die den Kindern die Freiheit las-                   Rituale, freundlicher Körperkontakt, Trost, Kooperation      stundenlang, auch bei Kummer, sich selbst überließen
     sen, ihre Gedanken, Erkenntnisse und Wissenswünsche                        fördern, Fairness, Missachtung durch Mitschüler unter­       und das als Erziehung zur Selbständigkeit legitimier-
     zum Ausdruck zu bringen, sowohl konstruktive als auch                      binden, notwendige Grenzen setzen, positive Zuschrei-        ten, oder auch, wie sie sich gegenseitig in der Haltung
     instruktive Momente des Bildungsprozesses ihren Platz                      bung zum Kind, sinnvoll Konsequenzen aufzeigen, konst-       einer diskriminierenden Entwertung ihrer Schülerschaft
     haben.                                                                     ruktive Strafe, respektvolle Distanz.                        bestärkten und kinderfreundlicheren Kolleginnen in
                                                                                                                                             ihren Reihen oder anders denkenden Praktikantinnen das
     Wie verbreitet sind Anerkennung und Verletzung?                            Kodierte Interaktionsformen der Verletzung sind:             Leben schwer machten.
     Aus der Fülle einschlägiger Untersuchungen sind For-                       destruktive Ermahnung, destruktiver Kommentar,
     schungsergebnisse, die begründete Arbeitshypothesen                        ignorieren / nicht beachten, destruktive Anweisung,
     über Formen und Verbreitung anerkennender und ver-                         Spott / Ironie / Sarkasmus, Drohung, Ausgrenzung, an-        Die Forschungsbefunde resümierend lässt sich
     letzender Handlungsmuster zulassen, für die Reckahner                      brüllen, destruktive Hilfe, destruktive Strafe, negative     festhalten: In unserem Bildungssystem sind ethisch
     Reflexionen bedeutsam. Einige davon werden im Folgen-                      Zuschreibung zum Kind, Selbständigkeit / Kreativität         vorbildliches, die Würde der Kinder und Jugendlichen
     den vorgestellt.                                                           verhindern, Hilfe verweigern, notwendige Grenzen nicht       in ausreichendem Maße (Krämer / Bagattini 2015) achten-
                                                                                setzen, Missachtung durch Mitschüler tolerieren und          des und ethisch unzulässiges, Kinder und Jugendliche
     Volker Krumm fand mit Befragungen von Studierenden                         Kooperation verhindern (Zschipke 2015; Zapf / Klauder        seelisch verletzendes pädagogisches Handeln empirisch
     heraus, an welche Formen des Fehlverhaltens von Lehr-                      2014). In der gesamten Datenbank wurde die geringe           vorzufinden. Seelische Verletzungen sind die verbreitetste
     kräften sie sich erinnerten. Nur 23 Prozent der ehemaligen                 Anzahl von insgesamt 59 ­Interaktionen als „aggressiver      Form der Gewalt, die Kinder erleiden und deren Zeugen
     Schülerinnen und Schüler gaben an, von Lehrkräften                         Körperkontakt“ kategorisiert (vor allem am Arm ziehen,       sie werden.
     keine Kränkung erfahren zu haben, alle erinnerten sich                     schubsen oder schütteln). Die Beobachtenden konnten in
     jedoch an Kränkungen von Mitschülern, die sie miterlebt                    den gruppen- beziehungsweise klassenöffentlichen Beob-       Die Aussagen der Reckahner Reflexionen zur Ethik päd-
     hatten. Problematische Handlungsmuster, die genannt                        achtungssituationen keine Interaktionen, die als sexua-      agogischer Beziehungen beruhen auf den umfassenden
     wurden, sind u. a. negative Zuschreibungen, Behaup-                        lisierter Übergriff kodiert wurden, wahrnehmen. Verbale      Einblicken der INTAKT-Studien und weiterer Untersu-
     tungen, Vorurteile, Bloßstellen, Ungerechtigkeit, unfai-                   und mimisch-gestische Übergriffe ohne direkten Kör-          chungen, die nachweisen, dass die alltägliche Gestaltung
     res Verhalten, Schreien, Beschimpfen, Schimpfwörter                        perkontakt in graduell ganz unterschiedlich verletzender     pädagogischer Beziehungen von zahlreichen Verletzun-
     benutzen, Lächerlichmachen, Beschämen, Ignorieren,                         Ausprägung müssen aufgrund der Beobachtungen als die         gen ebenso bestimmt ist wie von professionellen Formen
     Vernachlässigung, Missachtung, Verletzung von Rechten,                     insgesamt am häufigsten vorkommende Form der Kindes-         humaner Anerkennung auch in schwierigen Situationen.3
     Unterstellung von Fehlhandlungen, Drohung, Einschüch-                      wohlgefährdung angesehen werden. Zu berücksichtigen
     terung, Informationsweitergabe, Isolierung, unangemes-                     ist darüber hinaus, dass auch die Vernachlässigung sowie
     sene Arbeitsaufträge und schließlich auch Körperverlet-                    das Miterleben von Gewalt gegen andere Menschen als
     zungen (Krumm 2003; Krumm / Eckstein 2002).                                traumatisierende Gewaltformen einzuordnen sind.
                                                                                                                                             4. Handlungsmöglichkeiten
     Projektnetz INTAKT                                                         Die Ergebnisse lassen sich in folgender holzschnittartiger
     Zu ähnlichen Ergebnissen kommen die Beobachtungsstu-                       Faustregel zusammenfassen: Durchschnittlich kategori-         Eine Verbesserung pädagogischer Beziehungen kann                           Handlungsmöglichkeiten von Teams und Kollegien
     dien im Projektnetz INTAKT (Soziale INTerAKTionen in                       sierten die Beobachtenden drei Viertel der Lehrer-Schüler-    gelingen, wenn auf vielen Handlungsebenen des Bil-                         Lehrerinnen und Lehrer, Pädagoginnen und Pädagogen
     pädagogischen Arbeitsfeldern). Dabei handelt es sich um                    beziehungsweise Erzieher-Kind-Interaktionen als aner-         dungswesens unterstützende Schritte realisiert werden.                     sind einflussreiche Gestalter pädagogischer Beziehungen
     einen Verbund, in dem Lehr- und andere Forschungspro-                      kennend und neutral, während sie ca. 20 Prozent als leicht   Akteure dieser Arbeit sind vor allem Pädagoginnen und                       mit vielseitigen Handlungsmöglichkeiten. Dazu gehören
     jekte kooperieren, um Wissen über Formen pädagogischer                     verletzend beziehungsweise ambivalent und mehr als            Pädagogen in ihren multiprofessionellen Teams und                          die folgenden Vorschläge:
     Interaktionen und Beziehungen und deren Verbreitung                        5 Prozent als stark verletzend einordneten. Seelische Ver-   ­Kollegien, Kinder, Jugendliche und ihre Eltern, Schul-
     zu gewinnen2. Auch streben sie an, die Theorie pädagogi-                   letzungen bilden in pädagogischen Institutionen die am        und Einrichtungsleitungen sowie Personen aus Wissen-                       Eine menschenrechtlich fundierte, demokratische
     scher Beziehungen weiterzuentwickeln und das kulturelle                    häufigsten vorkommende Form der Gewalt gegen Kinder           schaft, Ausbildung, Beratung, Verwaltung, Stiftungs­                       Schul­ordnung beziehungsweise Einrichtungsordnung
     Gedächtnis um Erkenntnisse aus der Geschichte pädago-                      und Jugendliche.                                              wesen und Politik. Auf allen Handlungsebenen sind zwei                     mit einem Leitbild wechselseitiger Achtung wird in Ko-
     gischer Beziehungen zu bereichern.                                                                                                       Perspektiven bedeutsam:                                                    operation mit allen Angehörigen der Institution sowie mit
                                                                                Für das Verständnis der genannten Befunde ist zu berück-                                                                                 den Eltern erstellt. Eine solche Ordnung braucht einerseits
     In 15-jähriger Kooperation entstand eine gegenwärtig                       sichtigen, dass die erhobenen Handlungsweisen unter          • d ie Stärkung von vorhandenen gelingenden Ansätzen                       Rituale und Regeln des wertschätzenden, anerkennenden
     mehr als 12 000 Feldvignetten umfassende Datenbank, die                    der Bedingung der Gegenwart von Zeugen vorkamen und             und von Prävention auf der einen und                                     und das heißt auch höflichen Umgangs miteinander, die
     aus Interaktionsszenen besteht, die in Schulen, Kinderta-                  dass die Durchschnittswerte nichts über das Handeln          • d ie Entwicklung von wirksameren Möglichkeiten der                       reziprok für die Angehörigen aller Generationen gleicher­
     gestätten und sozialpädagogischen Einrichtungen proto-                     Einzelner aussagen, denn es finden sich Pädagoginnen            Intervention bei Fehlverhalten auf der anderen Seite.                    maßen gelten. Andererseits formuliert sie auch die
     kolliert wurden (Prengel 2013a; Prengel u. a. 2016; Tellisch               und Pädagogen mit sehr verschiedenen individuellen                                                                                       unterschiedlichen Regeln, die nur für die verantwort-
     2015; Wohne / Hedderich 2015).                                             Anerkennungsbilanzen Tür an Tür. An Orten mit ex-            Auch alle folgenden Vorschläge beruhen auf Studien, all­                    lichen Erwachsenen und jeweils altersangemessen nur
                                                                                plizit reformpädagogischem oder inklusivem Profil, in        täglichen Erfahrungen und im Alltag entwickelten und                        für die Kinder und Jugendlichen gelten. Sie ist zentraler
     Kodierte Interaktionsformen der Anerkennung sind                           deren Schulkultur oder einrichtungsspezifischem Bild         erprobten Handlungsweisen.                                                  Bestandteil eines demokratischen Schul-, Kita- oder
     Lob, freundlicher Kommentar, sinnvolle Hilfe, konstruk-                    vom Kind Anerkennung betont wird, fallen die Durch-                                                                                      Einrichtungslebens und beschreibt Verfahren zur Bear-
                                                                                                                                             3  Es gibt struktur- und machttheoretische Ansätze in der Erziehungs­
     tive Anweisung, konstruktive Hilfe, freundliche Hand-                      schnittswerte deutlich besser aus, aber auch hier werden     wissenschaft, die sich, wenn sie pädagogische Interaktionen deuten, vor     beitung von Konflikten zwischen den Heranwachsenden
     lung, Selbständigkeit / Kreativität fördern, anerkennende                  regelmäßig einzelne Lehrpersonen beziehungsweise             allem für die ihnen prinzipiell und unvermeidlich innewohnenden Macht-      ebenso wie zwischen ihnen und ihren Lehrpersonen
                                                                                pädagogische Fachkräfte gefunden, die stark dazu neigen,     verhältnisse interessieren. In dieser strukturtheoretischen Perspektive     und pädagogischen Fachkräften. Wenn Angehörige aller
     2 Die (Namen und Erhebungsorte anonymisierenden) INTAKT-Protokolle         die ihnen Anvertrauten zu verletzen. Auch fanden sich
                                                                                                                                             wird in der Regel nicht die Unterscheidung zwischen genügend gutem und
                                                                                                                                                                                                                         pädagogischen Berufe für die demokratische Schul- oder
     mit Feldvignetten können wegen ihrer hohen Anzahl in verschiedenen                                                                      unzulässigem professionellen Handeln betont, sodass hier nach Tillmann
     Auswertungsperspektiven statistisch analysiert werden. Im von Friederike   einzelne Krippen, Kitas und Schulen aller Schulformen,       (2014) die Ethik pädagogischen Handelns und seine normative Verwoben-       Einrichtungsordnung einstehen und in ihrem Sinne vor-
     Heinzel gegründeten Online-Fallarchiv Schulpädagogik der Universität       deren Teams und Kollegien sich kollektiv auf eine aversive   heit (Beer / Bittlingmayer 2008) aus dem Blick geraten. Demgegenüber neh-   bildlich handeln, tragen sie dazu bei, menschenrechtliche
     Kassel wird der Gesamtdatensatz aufbewahrt und auf Antrag für weitere                                                                   men die Reckahner Reflexionen und die ihnen zugrunde liegenden Studien
                                                                                Haltung Kindern gegenüber geeinigt zu haben schienen.        eine andere Perspektive ein, denn es geht ihnen um Analysen im Interesse    Werte zu vermitteln (Wagner 2007).
     Sekundäranalysen und Projekte im Bereich der Lehrerbildung zur Verfü-
     gung gestellt (Heinzel / Krasemann 2015).                                  Protokolliert wurde zum Beispiel, wie sie Krippenkinder      eines bestmöglichen Abbaus schädlichen Handelns und einer bestmögli-
                                                                                                                                             chen Stärkung förderlichen Handelns.
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Fl e xionen - Reckahner ...
Für die Pflege und Reflexion wertschätzender Bezie-           Positives Feedback ist unerlässlich
     hungen im pädagogischen Alltag brauchen Lehrper-              Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte haben die
     sonen und pädagogische Fachkräfte kontinuierliche             Aufgabe, Entwicklung und Lernen anzuleiten und zu
     Teamarbeit. Dafür müssen Zeitfenster im Arbeits- und          begleiten. Damit kann die Gefahr einhergehen, dass
     Zeitplan jeder Bildungsinstitution festgelegt sein. Häu-      Kinder und Jugendliche, die langsamer oder anders ler-
     fig wissen die Teamangehörigen voneinander, wer dazu          nen als erwartet, als „auffällige Kinder“ oder „schlechte
     neigt, Lernende eher wertschätzend oder eher verletzend       Schüler“ entwertet werden und auch die Peers bewerten
     zu behandeln. Aber oft ist es mit Scham verbunden und         sich untereinander, sodass es zu Entmutigung kommen
     wird vermieden, kritische Rückmeldungen zu geben, um          kann (Sell 2016; Richert 2005; Heinzel 2016). Gute päda-
     Kollegen oder Kolleginnen nicht zu nahe zu treten. Darum      gogische Beziehungen stärken Anerkennung, indem auf
     ist es für zahlreiche Teams eine große Herausforderung,       entwer­tende Kommentare und Rangordnungen verzich-
     ihre Zurückhaltung zu überwinden und Fehlverhalten im         tet wird und indem Beiträge aller Heranwachsenden zur
     Team und Kollegium zu thematisieren. Dabei ist es hilf-       Gemeinschaft ermöglicht und in ihrem Wert erkannt und
     reich, wenn bereits Gelingendes und zukünftig Förder-         gewürdigt werden. Julia Kristeva und Charles Gardou
     liches besprochen wird. Auch kollegiale Intervision und       (2012, S. 47) erläutern, dass es darum geht, „(...) jedem zu
     Supervision mit externer Gruppenleitung sind wirksame         gewähren, seine ureigenste Biographie dem Gemeinwohl
     Hilfsmittel. Alle Angehörigen der Schule oder Einrich-        beizusteuern und sich gegenseitig durch das soziale Band
     tung tragen Verantwortung dafür, dass bei gravierendem        eine Teilhabe am Universalen zu verschaffen.“ Im pädago-
     professio­nellem Fehlverhalten wirksam interveniert wird.     gischen Alltag folgt daraus bei Rückmeldungen zum Ler-
                                                                   nen, dass grundsätzlich das zu einem Zeitpunkt bereits
     Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte erfahren             Erreichte in Worte gefasst wird. Wenn Kinder und Jugend-
     problematisches Verhalten von Kindern und Jugend-             liche erkennen, was sie schon wissen und können, ist es
     lichen als besondere Herausforderung. Ein Bündel an           möglich, die nächsten Lernschritte einschließlich pas-
     Maßnahmen ist geeignet, Abhilfe zu schaffen und sei           sender Arbeitsmittel mit ihnen anzubahnen. Alle Kinder
     hier noch einmal zusammenfassend dargestellt. Grund-          und Jugendlichen mit den verschiedensten Fähigkeiten
     legend sind besonders für Kinder und Jugendliche in           und Beeinträchtigungen können so eher die Erfahrung
     riskanten und traumatisierenden Lebenslagen die Pflege        machen, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte,
     einer unverbrüchlichen Zugehörigkeit zur Gemeinschaft         aber auch ihre Peergruppen zu ihnen halten, ihren indivi-
     der Gruppe oder Klasse, eine verlässliche Beziehung zu        duellen Weg befürworten und ihren persönlichen Erfolg
     einer Lehrperson oder pädagogischen Fachkraft sowie die       wollen. Eine solche anerkennende Beziehungsqualität
     Entwicklung einer professionellen Einstellung, die von        ignoriert nicht die in der schulischen Unterrichtspraxis
     Anerkennung, Zuwendung und Ressourcenorientierung             realisierte Differenzherstellung und vermag Leistungs-
     geprägt ist. Eine solche Einstellung hilft, auch in schwie-   hierarchien nicht völlig außer Kraft zu setzen. Sie ist aber,
     rigen Situationen Fehlverhalten zu unterbinden und dabei      wie die oben genannten Beobachtungsstudien zeigen, ge-
     die haltgebende verlässliche Lehrer-Schüler-Beziehung         eignet, deren destruktive Auswirkungen einzudämmen.
     oder Erzieher-Kind-Beziehung aufrechtzuerhalten. Sie
     hilft auch, den subjektiven Sinn von zunächst irritie-        Die Reflexion der alltäglichen Handlungsmöglich-
     rendem und störendem Verhalten zu erkennen, bereits           keiten ist für pädagogisches Professionsverständnis
     vorhandene positive Ansätze zu beachten und dazu anzu-        unerlässlich, weil pädagogisches Handeln in komplexen,
     leiten, dass ein durch Fehlverhalten verursachter Schaden     dynamischen und widersprüchlichen Situationen ange-
     wiedergutgemacht wird.                                        siedelt ist. Einfache Regelungen in Form von schlichten
                                                                   Vorschriften können den Ansprüchen nicht genügen. So
     Wirksame Hilfe erhalten Lehrpersonen und pädagogische         ist zum Beispiel immer wieder neu zu unterscheiden, ob
     Fachkräfte in krisenhaften Situationen durch unterstüt-       eine Grenzsetzung für einen Schüler eher hilfreich oder
     zende Strukturen. Dazu gehören:                               eher einschränkend ist oder ob eine Rangelei unter Kin-
                                                                   dern als beglückendes Tobespiel (Oswald 2008) zu begrü-
     • eine demokratische Schul- oder Einrichtungsordnung,         ßen oder als unfaire Verletzung zu unterbinden ist.
     • ein verlässlicher ritualisierter Tagesablauf,
     • i m Zeitplan fest verankerte Teamgespräche oder            Zu klären ist, wie eigene auf Kindheit und Jugend bezo-
        Supervision,                                               gene Menschen­bilder dazu beitragen, wertschätzendes
     • das Hinzuziehen von Beratung bei Bedarf,                    pädagogisches Handeln zu stärken oder zu behindern
     • i n Ausnahmefällen die Arbeit in temporären Lerngrup-      (Heinzel 2004, 2010). Darum werden erwägende Reflexio-
        pen sowie die Zusammenarbeit mit Eltern, Jugendhilfe       nen der Teammitglieder benötigt, die ihre Orientierung
        und weiteren Hilfestellen                                  aus einer Selbstverpflichtung auf menschenrechtliche
     • sowie eine ausreichende Ausstattung mit personellen        Grundlagen gewinnen und in allen Phasen ihrer Berufstä-
        Ressourcen                                                 tigkeit moralische Aspekte ihres Professionsverständnis-
     (vgl. z. B. Becker / Prengel 2016; Katzenbach 2015).          ses ernst nehmen (Jubilee Center 2016).

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Fl e xionen - Reckahner ... Fl e xionen - Reckahner ...
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