FRANKFURT IN TAKT - 20-1 SCHWERPUNKT: TEMPO - HFMDK FRANKFURT

 
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FRANKFURT IN TAKT - 20-1 SCHWERPUNKT: TEMPO - HFMDK FRANKFURT
Frankfurt in Takt

                     20-1
                            → Intuition nach Maß?
                                Über Rast und Unrast in der Kunst

                            → Schneller, weiter: Journalist
Schwerpunkt: Tempo              Werner D’Inka (FAZ) im Gespräch
FRANKFURT IN TAKT - 20-1 SCHWERPUNKT: TEMPO - HFMDK FRANKFURT
Unter Partnerschaftlichkeit verstehen wir,
gemeinsam an einem großen Ziel zu
arbeiten.
Kennen Sie Michael Collins? Die wenigstens tun das. Er hat als Pilot der
Apollo-11-Kapsel Buzz Aldrin und Neil Armstrong 1969 zur ersten Mond-
landung geflogen – und wieder zurück. Für uns ist Collins eine Inspiration.
Denn als Spitzeninstitut der rund 850 Genossenschaftsbanken in Deutsch-
land glauben wir an Partnerschaften, bei denen jeder sich in den Dienst
einer großen Sache stellt, damit das gemeinsame Ziel erreicht wird.
Mehr über Partnerschaftlichkeit erfahren Sie unter: dzbank.de/haltung
FRANKFURT IN TAKT - 20-1 SCHWERPUNKT: TEMPO - HFMDK FRANKFURT
Vollbrem-
sung
            Tempo, das ist in den linearen Künsten ein zentraler Gestaltungsfaktor. Wie schnell läuft ein bestimmtes
            Ereignis ab, welchen Zeitraum benötigt ein Vorgang in Musik, Tanz oder Theater – das sind Fragen, die ein
            Kunstwerk im Kern bestimmen, im Kontext einer konkreten Aufführung zu ganz unterschiedlichen Lösungen
            und damit Interpretationen und Botschaften führen. Sie können es selbst ausprobieren!

            Die berühmten ersten Sätze aus Goethes „Faust“ lauten: „Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin,
            und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.“ Langsam, fast stockend und einzeln
            betont gesprochen, entfachen sie eine ganz andere Wirkung, als wenn mit Hast, in hohem Tempo heraus­
            gestoßen. Hier ein Faust, der sich, von Selbstzweifeln gequält, das Gehirn zermartert und alles in Frage stellt,
            dort ein Gelehrter, dem die Zeit durch die Finger rinnt, ohne die ersehnte Erkenntnis zu erlangen.

            Oder der Anfang der 5. Sinfonie von Beethoven: die Unisono-Passage, als markante Schicksalsschläge hin­
            gewuchtet und damit als unverrückbare Konklusion formuliert – oder, die Vortragsbezeichnung „con brio“,
            also „mit Schwung“ aufgreifend, überstürzt, ungeduldig, zwischen Voranstürmen und Verharren artikuliert.
            Hier erscheint die Welt gegeben, dort veränderbar. Ein ziemlicher Unterschied und sehr davon getrieben,
            welches Bild sich der Interpret von dem Künstler Beethoven macht.

            Es ist also eine ziemlich spannende Frage, die wir uns im Schwerpunkt dieser Ausgabe unseres Hochschul­
            magazins stellen: Was bedeutet für uns Tempo?
                 Durch die Corona-Krise, die uns seit Wochen beschäftigt, erfahren wir Geschwindigkeit nochmals ganz
            anders. Das Virus war eben noch weit weg irgendwo in China. Wir hörten davon, aber begriffen es nicht, weil
            wir emotional noch immer in den Zeitläufen der Alten Welt denken. Aber dann war das Virus bei uns, breitete
            sich rasend schnell aus, tägliche Verdoppelung der Infektionen. Und unser Leben wurde plötzlich extrem lang­
            sam. Alles Öffentliche war eingefroren, wir waren auf Abstand, zuhause. Wir warteten, dass es vorbeigeht oder
            zumindest die Neuinfektionen zurückgehen, ein, zwei und mehr Wochen lang. Das ist für uns alle eine extreme
            Erfahrung: Nachrichten in Sekundenschnelle und Echtzeit, gleichzeitig weitgehend zur Untätigkeit verdammt,
            Rettung durch Verharren, indem wir Tempo rausnehmen, Unternehmungen weitgehend zurückfahren. Eine
            Vollbremsung unseres vertrauten Lebens.

            Das ganze Land stand still, die Kultur ist noch immer geschlossen. Unsere Veranstaltungen sind abgesagt,
            der Beginn des Präsenzunterrichts wurde verschoben, dafür ein digitaler Zugang zur Hochschule geschaffen.
            Beim Thema Tempo geht es um die Kunst. Ja, aber auch um unser Selbstverständnis als Zeitgenossin und
            Zeitgenosse, um die Frage, wie wir uns in dieser Welt bewegen.

                Ihr Elmar Fulda
                Präsident der HfMDK

Editorial                                                                                                                3
FRANKFURT IN TAKT - 20-1 SCHWERPUNKT: TEMPO - HFMDK FRANKFURT
Inhalt
Schwerpunkt: Tempo
08   Von Zeit zu Zeit
         Fragmente des Alltags an der HfMDK

10     usik gestalten,
      M                                            22   Gezielte Reizarmut
      mit dem Maß-
                                                          Auf was es ankommt,
                                                          wenn jede Sekunde zählt
                                                          Von: Ulf Henrik Göhle

      band Emotion
         Warum das Tempo in der Kunst              24   Hochbetrieb
         keine festen Messgrößen kennt                    Berichte aus dem Bühnenalltag
         Von: Michael Sanderling                          Von: Julian von Hansemann,
                                                          Ramon John, Ralph Abelein

14    Im Takt der Zeit
         Wie Musikerinnen und Musiker              28    on der Dynamik,
                                                        V
         das richtige Tempo finden                      Neues zu lernen
         Von: Lucas Fels, Sandro Hirsch,
                                                          Rhythmus und Ruhe im Tanz
         Florian Hölscher, Tim Vogler
                                                          Von: Martin Nachbar
         und Eike Wernhard

                                                   30   Eine Minute Pause
                                                          Vom Innehalten und
                                                          Zuhören im Musikunterrricht
                                                          Von: Julia Jung

                                                   32   R
                                                         e-boot
                                                        Bologna
                                                          Die Grenzen der Creditpoints im Kunststudium
                                                          Von: Sina-Mareen Retolaza und Ingo Diehl

                                                   34   Zeitfalle Studium?
                                                          Protokolle von: Sebastian Munsch,
                                                                                                         Fotografie: Janine Bächle; Tayfun Selcuk (oben, links)

                                                          Philipp Schlosser, Clara Valdera,
                                                          Sabine Rosenberger, Thilo Dahlmann

20    Hin und her                                  37   So viel, so früh
         Ergebnisse einer Instagram-Blitzumfrage
                                                          Über das Jungstudium an der
         Von: Lorna Lüers
                                                          Young Academy der HfMDK
                                                          Von: Anne Sophie Luong und Carolin Grün

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38    Ursache & Wirkung                          53   Ehre trifft Ehrgeiz
        Was macht die Digitalisierung mit der            Das Deutschlandstipendium will beste
        Kunst? Antworten von: Robin Brosowski,           Bedingungen im Studium schaffen.
        Orm Finnendahl und Florian Hölscher,             Stipendiaten profitieren, Förderer
        Julia Wilke und Peter Ackermann                  engagieren sich. Warum?

42    Unterwegs mit...                           56   Ein Tanzhaus!
        Annina Merz, Robin Brosowski und                 Ideen für die Freie Tanzszene in Frankfurt
        Michael Preuß – ein Tempo-Experiment             Von: Ida Kaufmann und Laurin Thomas

                                                  57   Die Netzwerkerin
                                                         Lebenswege der HfMDK-Alumni, Folge 12:
Aus der Hochschule                                       Lena Krause, Geschäftsführerin des Vereins
                                                         Freie Ensembles und Orchester in Deutschland

48    „ Ich kann mich
       im Restaurant
       auch erst dann
       entscheiden,
       wenn der Kellner
       hinter mir steht“
        Der Journalist und ehemalige
        FAZ-Herausgeber Werner D’Inka im
        Gespräch mit Hochschulpräsident
        Prof. Elmar Fulda über Tempowechsel       58   „Das ist kein Spaziergang“
        in der Kunst und in der Welt der Medien          Frank-Ullrich Rittwagen hat ein Streich­
                                                         quartett für die Studierenden der HfMDK
                                                         gebaut. Es ist seit langem der wertvollste
                                                         Instrumen­tensatz, den Freunde und Förderer
                                                         der Hochschule als Leihgabe überlassen.
                                                         Hanna Ponkala hat mit ihm gesprochen.

                                                  62   Danke!
                                                         Zum Abschied der Professoren
                                                         Werner Jank, Karl Kaiser
                                                         und Bernhard Wetz

                                                  66   Gloria & Glanz
                                                         Erfolge unserer Studierenden

                                                  68    achrichten aus den
                                                       N
                                                       Fachbereichen

                                                                                                        5
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TEM
„Ein Tempo zu finden, ist für mich kein mechanischer Vorgang. Ich suche die
Emotion, den wahrhaftigen Moment – daraus ergibt sich das Timing“
MICHAEL SANDERLING → S. 10

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MPO
„Der Idealzustand für mich als Musiker ist: Wenn ich intuitiv das Tempo treffe
– ohne aufs Metronom schauen zu müssen“
RALPH ABELEIN → S. 25
Fotografie: Janine Bächle

                                                                                 7
FRANKFURT IN TAKT - 20-1 SCHWERPUNKT: TEMPO - HFMDK FRANKFURT
Von
                                     2 Minuten und
                                     5 Sekunden
                                     So lange dauert es, von der Pforte in den
                                     5. Stock zu kommen: zu Fuß, Stufe
                                     für Stufe – aber nur, wenn man sich
                                     zwische­ndurch nicht weiter ablenken

Zeit
                                     lässt und sich die Höhenmeter ohne
                                     Gepäck vornimmt (der Fahrstuhl ist knapp
                                     40 Sekun­den unterwegs).

zu                                   7 Minuten und
                                     6 Sekunden
                                     Das Hauptgebäude der HfMDK und der
                                     Standort in der Leimrode 29 liegen – Luft­

Zeit
                                     linie – gerade einmal 160 Meter vonein­
                                     ander entfernt. Doch es stehen Häuser im
                                     Weg, Mauern, Ampeln: Wer sich an die
                                     Verkehrsregeln hält, braucht zu Fuß rund
                                     sieben Minuten, um an all diesen Barri­
                                     eren vorbeizukommen. Es soll (gewagte)
                                     Abkürzungen geben? Ja, davon hörten
                                     wir auch …

                                     5 Minuten und
                                     27 Sekunden
                                     Lehramtsstudierende pendeln zur Uni,
Fragmente des Alltags an der         nicht alle und nicht ständig, aber es
HfMDK: Wie lange dauert es von       kommt vor. Pendeln sie mit dem Rad,
                                     genügen gut fünf Minuten – reine Fahrzeit
der Pforte zu Fuß in den 5. Stock?   von Tür zu Tor.
Bis die Konzertflügel gestimmt
sind? Die Hochschule fertig ist
für die Nacht? „Frankfurt in Takt“
hat nachgemessen.

8           Tempo
FRANKFURT IN TAKT - 20-1 SCHWERPUNKT: TEMPO - HFMDK FRANKFURT
90 Minuten
                              Bevor abends in der Hochschule die Lich­
                              ter ausgehen (können), rücken die Pfört­
                              ner zu ihrem letzten Kontrollgang aus.
                              Klingt nach Routine, ist oft genug jedoch
                              ein Nervenkitzel: Anders als verabredet,
                              halten sich nicht alle an die Schließ­zeiten –
                              sodass aus den 90 Minuten, die für den
                              Kontrollgang eingeplant sind, schnell
                              auch mal zwei Stunden werden. Wer sich
                              hier jetzt angesprochen fühlt: Bitte etwas
                              mehr Solidarität!

          75 Minuten
          Cembali gehören zu den schönsten Ins­
          trumenten – aber auch zu den größten
          und empfindlichsten. Werden sie für ein
          Konzert gebraucht, muss der Hausdienst
          seine Samthandschuhe auspacken: um
          die Instrumente unbeschadet aus dem
          Lager oben in Haus C nach unten in die
          Konzertsäle im Hauptgebäude zu brin­
          gen. Von jetzt auf gleich ist das nicht
          zu machen, jedes Cembalo ist im Lager
          zunächst auseinanderzubauen, dann
          nach unten zu transportieren und wieder
          zusammenzusetzen. Pro Instrument und
          Wegstrecke dauert das: etwa 75 Minuten.

                                                                               180 Minuten
                                                                               Die beiden Steinway-Flügel im großen
                                                                               Konzertsaal haben einen klaren, war­
                                                                               men, präzisen Klang. Dafür sorgt: das
                                                                               Künstlerische Betriebsbüro, kurz KBB.
                                                                               Regelmäßig beauftragt es Fachleute,
                                                                               die die hochkomplexen Handgriffe im
                                                                               Detail beherrschen und selbst mini­
                                                                               malste Interferenzen heraushören. Und
                                                                               das geht, klar, nicht parallel: Mit je­
                                                                               dem Flügel sind die Klavierstimmer
                                                                               rund anderthalb Stunden beschäftigt –
                                                                               macht 180 Minuten für zwei.

Zeitmessung                                                                                                         9
FRANKFURT IN TAKT - 20-1 SCHWERPUNKT: TEMPO - HFMDK FRANKFURT
Musik
gestalten,
mit dem
Maßband
Emotion
TEXT: MICHAEL SANDERLING DOKUMENTATION: ELMAR FULDA

Musiker, Pädagoge und Dirigent: Michael Sanderling ist der Mann
mit den drei Leben und doch kaum über 50 Jahre alt. In allen Feldern
sofort einer der Großen. Erst Orchestermusiker in Leipzig und Berlin,
                                                                        Fotografie: Marco Borggreve

dann Cellovirtuose in den Konzertsälen der Welt. Heute Professor
für Cello an der HfMDK. Und Chefdirigent, zuletzt bei der Dresdner
Philharmonie, ab 2021 beim Luzerner Sinfonieorchester.

10              Tempo
11
Michael Sanderling ist ein Reisender, vielleicht auch Rastloser, jeden-
falls ein Musik-Besessener: im Anspruch an sich und andere, in der
Menschlichkeit, mit der er fordert, fördert und aus Musik Funken schlägt.
Er ist ein Kollege, der in der Welt unterwegs ist, aber seine künst-
lerische Heimat in der Hochschule gefunden hat.
Was denkt ein Künstler und Mensch wie Michael Sanderling über Tempo?
Wir haben versucht es herauszufinden, und ihm zugehört. An einem
Sonntag Anfang März, er unterrichtet, kam gerade aus Budapest und
steigt schon am Tag darauf wieder in ein Flugzeug. Es ist ein ruhiges,
fokussiertes Gespräch. Hier sind seine Antworten.

Tempo ist ein wichtiger Interpretationsbaustein in der Musik –      sprunghaftesten zurückgeführt auf die Dinge, die man eigent­
und ein besonders heikler, weil so scheinbar objektiv, wenn         lich hätte wissen können und sollen. Von ihm haben wir gelernt,
ein Komponist seinem Werk Tempoangaben durch Metro-                 dass Tempo immer auch eine historische Vorstellung ist. Ein
nomzahlen mitgibt. Ich habe vor Jahren als Cellist die Urauf­       Largo zu Beethovens Zeit hat eine andere Bedeutung als ein
führung eines Werkes vorbereitet, mir dabei die Finger wund         Largo zu Brahms Zeit.
geübt, aber kam nicht zum Erfolg. Ich rief den Komponis­                 Ich habe mich intensiv und mit großer Hingabe mit
ten an. Er lud mich ein. Ich spielte ihm die betreffende Stelle     Schos­takowitsch beschäftigt. Er ist ein Extremfall, gerade,
vor. Er: „Das ist doch alles viel zu schnell!“ Ich: „Ich bin        was seine Tempoangaben betrifft. Schostakowitsch hat ganz
erst bei 60, Sie schreiben 86.“ Da holt er sein altes Metro-        bewusst falsche Metronomzahlen und falsche Tempobezeich­
nom heraus. Was war passiert: Es lief viel zu langsam, war          nungen notiert. Wenn er Allegro schreibt, meint er nicht unbe­
nicht geeicht.                                                      dingt Allegro. Er schrieb es, um in der Generalprobe, in die immer
                                                                    eine Abordnung des Zentralkomitees zur Kontrolle kam, sagen
Tempo entsteht aus Emotion                                          zu können: Genossen, Entschuldigung, ich habe da Allegro stehen,
                                                                    die haben gerade einen Riesenfehler gemacht, die haben das
Ich verstehe Tempo als einen Baustein der Interpretation, so wie    übersehen, die haben viel zu langsam, traurig gespielt – das
Artikulation, Dynamik, Phrasierung andere es sind. Tempo hat        ist natürlich heiter, eine Feier des Sozialismus und der Partei.
immer auch etwas Subjektives, sehr Individuelles.                        Auch dieses Wissen hat meine Sicht zurechtgerückt. Bei
     Tempo ist an die spieltechnischen Möglichkeiten der Mu­        der Frage nach dem richtigen musikalischen Tempo gibt es nur
siker, an einen konkreten Ort gebunden: In welcher Distanz be­      relative, subjektive Antworten, keine objektiven.
finden sich die Orchestermusiker zueinander, in welchem Raum
spielen sie? Wenn man plötzlich in einen trockenen Raum
kommt, stellt man fest, so zerfasert geht das nicht, und nimmt      Wahrheitssuche
es zügiger. Und umgekehrt bei einer Brucknersinfonie, wenn          Als Dirigent dirigiere ich Stücke erst, wenn ich glaube, sie ver­
es die Akustik zulässt, wähle ich ein noch langsameres Tempo.       standen zu haben, sie gleichsam in mir erlebe. Ich lasse mich
     Ein Tempo zu finden, ist für mich kein mechanischer Vor­       da nicht treiben. Das ist ein Grund, warum ich meine Zwei­
gang. Ich suche die Emotion, den wahrhaftigen Moment –              gleisigkeit, Professur hier und Dirigent in der Welt, so sehr
daraus ergibt sich das Timing, der Zeitpunkt, wo es weiterge­       schätze. Auf keiner dieser beiden Schienen muss ich für sich
hen muss, oder, wo es Zeit ist zu verweilen. Ich finde es schwie­   genommen Erfolg haben, weil ich mir immer sagen kann, dass
rig, sich an einer Metronomzahl festzuhalten. Da vermisse ich       es noch die andere gibt. Das ist ein ganz großes Privileg, das ich
Fantasie.                                                           aus meinem Leben nicht mehr wegdenken möchte.
                                                                         Ich erhalte Angebote, kurzfristig Dirigate zu übernehmen,
                                                                    wie letztes Jahr hier in Frankfurt. Drei Stücke waren mir ver­
Historische Zusammenhänge                                           traut, ein viertes nicht. Wir haben es weggelassen. Das Orches­
Noch in den 1950er Jahren spielte man die Musik von Monte­          ter hatte es geprobt, konnte es spielen. Mir wäre es gelungen,
verdi über Bach bis Mozart in deutlich anderen, langsameren         es irgendwie runterzupinseln. Aber das ist nicht meine Aufga­
Tempi. Das war das berüchtigte Barockspiel, wo man heute            be. Ich will dem Orchester ein ebenbürtiger Partner sein. Es ist
das Gefühl hat, ein Eimer Soße und dreimal Rühren. Es fehlten       nicht nur eine Frage des Berufsethos, sondern auch eine Frage
historische Informationen. Die Musikinterpretation war geprägt      der Wahrheitsfindung. Ich ruhe nicht, bis ich zumindest das
                                                                                                                                         Fotografie: Marco Borggreve

durch die Romantik, insbesondere durch die französische Mu­         Gefühl habe, nahe an die Wahrheit heranzukommen, die in ein
sik, die im guten Wortsinn sehr zeitaufreibend ist, gebaut auf      Kunstwerk, ein Musikstück eingeschrieben ist. Und ich habe
Harmonien, die ein ganz anderes Tempo brauchen, um im Fort­         den Eindruck, diese Ehrlichkeit und Seriosität wird auch heute
gang begriffen zu werden. Da war Nikolaus Harnoncourt eine          noch geschätzt.
Erleuchtung. Nicht er allein, aber er hat uns am meisten und am

12                    Tempo
Zeitdruck
                                 Es gibt Dirigenten, die sind in den Proben immer eine Stunde
                                 früher fertig. Ich kann das so nicht, habe auch kein Vergnügen
                                 daran. Ich bin nicht nur für mich verantwortlich und für das, was
                                 ich mit dem Stück vorhabe. Es sind die Musikerinnen und Musi­
                                 ker, die es spielen. Ich muss berücksichtigen, dass der Fagottist
                                 mit dem schweren Solo vielleicht auch etwas ausprobieren
                                 möchte und etwas Zeit braucht. Fürsorge ist ein Charakterzug,
                                 den Dirigenten mitbringen sollten, da sie immer die Perspektive
                                 des Orchestermusikers mitdenken müssen, und nicht die eige­
                                 ne. Was der Dirigent braucht, ist unwichtig. Das ist das Schwere
                                 an dem Beruf. Sie müssen alles fertig haben, obwohl Sie es vor­
                                 her nie ausprobieren konnten. Als Dirigent gehöre ich zu denen,
                                 die zu wenig Zeit haben, die oft jammern, die aber dann auch
                                 immer wieder feststellen, ohne daraus zu lernen, dass es doch
                                 gereicht hat.

                                 Arbeitstempo
                                 Mein Eindruck ist – vielleicht trete ich jetzt in ein Fettnäpfchen –,
                                 dass sich Studierende heute mehr Zeit nehmen, als sie sich neh­
                                 men sollten. Als ich damals in der DDR studierte, war für mich
                                 klar: Wenn ich nicht alles daransetze, Musiker zu werden, und
                                 zwar ein erfolgreicher, muss ich in einem System verharren, in
                                 dem ich nicht leben möchte. Diesen unbedingten Willen spüre
                                 ich bei Studierenden heute nicht immer, dagegen oft eine
                                 gewisse Sorglosigkeit.
                                      Mein eigenes Leben, der Blick in die Musikgeschichte zeigt
                                 mir aber: Herausfordernde Situationen bringen oft die beste
                                 Kunst hervor. Das können ein seelischer Druck sein, die Sehn­
                                 sucht nach gesellschaftlicher Veränderung, finanzielle Nöte.
                                 Krisen sind große Motivatoren, die eigene Komfortzone zu ver­
                                 lassen. Vielleicht geht es uns für Kunst ein bisschen zu gut, viel­
                                 leicht nehmen wir es als zu selbstverständlich, dass es Kunst,
                                 dass es diese Studiermöglichkeiten gibt. Wir brauchen einen
Michael Sanderling               positiven Drill. Sich Ziele setzen, diese konsequent zu verfolgen
                                 und zu erreichen, auch das kann glücklich machen. Es ist letzt­
                                 lich der eigene Wille, der das Arbeitstempo bestimmt, auch im
                                 Studium. Und da habe ich so hier und da meine Zweifel.

                                   →         rof. Michael Sanderling ist Professor für Violoncello
                                            P
                                            an der HfMDK. Ab 2001 wandte er sich dem Dirigieren
                                            zu, arbeitete u.a. als künstlerischer Leiter und Chef-
                                            dirigent der Kammerakademie Potsdam, später als
                                            Chefdirigent der Dresdner Philharmonie. Mit Beginn
                                            der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent des Luzerner
                                            Sinfonieorchesters.

            „Als Dirigent dirigiere ich Stücke erst,
            wenn ich glaube, sie verstanden
            zu haben, sie gleichsam in mir erlebe“
            Interpretation                                                                       13
Metronome machen Musik zur Maßarbeit, sie sind aber genau genommen
nicht mehr als ein Hilfsmittel. Wie Musikerinnen und Musiker heute
arbeiten, wie sie zum richtigen Tempo finden und welchen Impulsen sie
dabei folgen.

Im Takt
14         Tempo
Metronom versus Gefühl                                              empfinden, denn eigentlich hat er eine Eins und einen Off-Beat,
                                                                                                geht also in taktigen Impulsen voran. Dadurch wird das Tempo
                            in der klassischen Musik                                            zwar schneller, aber auch ruhiger. Harmonien: Verändern sich
                                                                                                diese quasi auf jeder Note, kann das darauf hindeuten, dass
                            TEXT: TIM VOGLER                                                    das Tempo mehr Zeit braucht, also tendenziell langsamer ist,
                            „Die Entscheidung, in welchem Tempo man ein Musikstück              als wenn sich die Harmonien nur in größeren Abständen än­
                            spielt, ist sicherlich eine der wichtigsten Entscheidungen, die     dern. Oft löst eine langsame Tempobezeichnung wie „Adagio“
                            ein Interpret zu treffen hat. Aber es muss die letzte Entschei­     den Reflex aus, den langsamen Satz zu langsam zu spielen.
                            dung sein, die getroffen wird. Man kann nicht einfach ein Metro-    Das passiert auch nach vielen Jahren Bühnenerfahrung noch.
                            nom nehmen und versuchen, die Musik diesem anzupassen.“                  Und welche Rolle spielt nun das Metronom? Man kann es
                                 Dieses Zitat von Daniel Barenboim finde ich großartig, denn    natürlich immer wieder zur Korrektur des eigenen Empfindens
                            es kann uns dabei helfen, die Wahl eines Tempos als einen Pro­      nutzen. Mit Metronom zu üben, kann sehr hilfreich sein, wenn
                            zess zu begreifen, und nicht nur als eine von einer Metronom­       man vermeidet, in eine mechanische Spielweise zu verfallen.
                            zahl vorgegebene Geschwindigkeit. Barenboim spricht in dem          Ebenso kann man in eine vom Komponisten vorgegebene
                            Video auf seinem Youtube-Kanal, aus welchem dieses Zitat            Metro­nomzahl hineinwachsen. Solches passiert, wenn eine
                            stammt, weiterhin davon, dass man sich wirklich in die Musik        Metronomzahl vielleicht, wie es zum Beispiel bei Beethoven
                            vertiefen, sie studieren, analysieren, in alle Richtungen auspro­   öfter der Fall ist, anfänglich irrwitzig schnell erscheint und man
                            bieren soll. Er vergleicht das Tempo mit einem Koffer, den man      durch das Studium der Musik dieser extremen Vorgabe allmäh­
                            für eine Reise packen muss. Ist der Koffer zu klein für die         lich immer näher kommen kann. Und wenn man einmal ein
                            Sachen, die man mitnehmen möchte, wird der Inhalt zer­              gutes Tempo gefunden hat, ist es eine gute Idee, dieses mit
                            knautscht, ist der Koffer zu groß, schlackert alles darin herum.    dem Metronom zu messen und es zu vermerken, damit man es
                                 Temporelevant sind in diesem Sinne nicht nur die Tempo­        später wiederfinden kann.
                            bezeichnung und eine dazugehörige Metronomzahl, sondern
                            ebenso die Taktart, der Rhythmus, die Periodik, die Harmonik,         →         rof. Tim Vogler ist Professor für Streicherkammermusik
                                                                                                           P
                                                                                                           und bis heute 1. Geiger des von ihm 1985 gegründeten
                            speziell der rhythmische Verlauf derselben. Die Dichte des kon­                Vogler Quartetts.
                            trapunktischen Satzes und auch die Architektur des Werkes
                            spielen ebenso eine große Rolle. Und natürlich ganz allgemein
                            der musikalische Charakter. All diese Faktoren gilt es wahrzu­
                            nehmen und miteinander in eine Balance zu bringen.
                                 Wir wissen, dass unser Zeitempfinden je nach Situation
                                                                                                Jenseits aller Stilrichtungen
                            subjektiv funktioniert. So können fünf Minuten ziemlich lang        TEXT: SANDRO HIRSCH
                            erscheinen und ein ganzes Jahr kann sehr kurz sein. Zum Bei­        Intuitive Improvisation: Einer der führenden Musiker in dieser
                            spiel kann ich die Jahre auf meine Zahnarztbesuche reduzieren       Szene – der Trompeter und Komponist Markus Stockhausen –
                            – dann wirken sie sehr kurz. Wenn ich aber an all das denke,        beschreibt sie als „eine Musik jenseits aller Stilrichtungen,
                            was sich in der Zwischenzeit ereignet hat, dann ergibt sich ein     die sich dabei jedoch keiner verweigert“. Weiterhin erklärt er,
                            anderes, viel differenzierteres Bild. Die zwischen den Arztbe­      dass in der Improvisation nichts festgelegt sei, alles im Moment
                            suchen vergangene Zeit bekommt plötzlich einen rhythmisch           erscheine. Doch wie steht diese Musik zum Thema dieser
                            strukturierten Inhalt, genauso wie Barenboims Tempokoffer.          „Frankfurt in Takt“: Tempo? Konkret gefragt: Gibt es im Raum der
                                 Um ein die musikalischen Inhalte integrierendes Tempo an­      Intuitiven Improvisation Metrum oder Zeit?
                            schaulicher zu machen, möchte ich noch ein paar kurze und                Dazu lohnt es sich, zunächst in Kürze zu beschreiben, was
                            praxisbezogene Assoziationen zu den oben angesprochenen             diese außergewöhnliche Art des Musizierens ausmacht. Ers­
                            temporelevanten Inhalten aufzeigen. Die Taktart zum Beispiel:       tens: Es gibt keine Noten, keine direkten Vorgaben, die die Mu­
                            Ist ein bestimmtes Menuett auf drei Schläge zu empfinden oder       sizierenden auszuführen haben – sie sind somit frei darin, Neues
                            eher auf einen? Diese Entscheidung kann nur erfühlt werden,
Fotografie: Janine Bächle

                                                                                                zu erschaffen. Und zweitens: Benötigt Intuitive Improvisation,
                            macht aber einen fundamentalen Unterschied im Tempo, wel­           laut Stockhausen, das „Erlernen und Erkennen von Intervallen,
                            ches deutlich flüssiger ist, wenn in ganzen Takten empfunden        Skalen, Harmonien und Rhythmen als Grundlage der Improvi­
                            wird. Oder: Wie gehen wir mit einem alla breve um? Ein häufi­       sation (…) (sowie) das Wissen um verschiedene Formabläufe“.

der Zeit
                            ger Fehler ist, den Alla-breve-Takt in zwei gleichen Schlägen zu    Von gleicher Wichtigkeit ist es, mit großem Bewusstsein

                                                                                                                                                              15
Student Lukas Siebert im Dirigierunterricht bei Prof. Florian Lohmann

                                                                        Fotografie: Janine Bächle

16                      Tempo
Beethoven

und großer Achtsamkeit in sich hineinzuhören, und ungefiltert                      Adagio con molta espressione
                                                                                                                                                        T
tönen zu lassen, was im Geiste bereits existiert. Eine Bereitschaft,         b 9                                                        œ œj œnœ œnœ nœ n œ ™ œœ™
                                                                           &b b 8 Œ         ‰Œ      ‰ œ œj œ œ œ œ nœ ™        œ™                                               œ œj œnœ œ œ

                                                                       {
sich für sich selbst zu öffnen, in den Raum und die Mitmenschen
hineinzufühlen ist dabei Basis.                                                      . . . . . . . . . [simile]
                                                                                                       pp

                                                                           ? bb 98 œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœœœœœœœ œœœœœœœœœœœœ œœœ œœœ
     Das Metrum, die Zeit, ließe sich somit – auf zwei Möglich­                b
keiten beschränkt – definieren: Die Begrifflichkeiten können                         pp

Symbol für Strukturen im Hintergrund sein, sprich, die völlig                 b                                                                                                œœ
                                                                        4

                                                                           & b b œ™               œ œ œ nœ œ œ œ œ œ nœ œ œ #œ ™                                œ™        œœœœ

                                                                       {
freie Improvisation baut hier auf kleinen Minimalstrukturen
auf, etwa auf Skalen, Harmonien und rhythmischen Elemen­
                                                                           ? bb œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ                 œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œ
ten. Andererseits ließen sie sich verstehen als ein Symbol von                 b                                                                                                œ   œ
Berechenbarkeit in der Gesamtheit, als quasi-komponiert und
in Verbundenheit mit Zeitempfinden. Je nachdem, in welchem             Ludwig van Beethoven, aus: Sonate
                                                                                                  FeldmanB-Dur Op. 22, 2. Satz
Stil – Pop, Jazz, Klassik, zeitgenössisch, frei u.a. – und in wel­
cher Formation improvisiert wird, können die Definitionen                                                                                                                               b œj
unter­schiedlich stark zutreffen.                                       250
                                                                                         bœ ™                                                                        3 ™                        5
     Geht man von einer sehr freien Improvisation aus, wäre das         & Œ            j               Œ      œ ™ Œ™
                                                                                                            nbœœ ™™                  bnœœ
                                                                                                                                                            ∑        4 bb˙˙ ™                   8

                                                                       {
                                                                                      œ

                                                                                                              œ™                    bbœœ
                                                                                                       Œ ? b#œœ ™™ Œ ™
Fazit: Eine Improvisation nach Intuition ist fernab von Struktur,                                                                                                    3                          5
von Metrum, – und kann durch das Gefühl von Zeitlosigkeit ge­           & Œ                                                                                 ∑        4 n˙˙ ™™                   8
                                                                                        bœ ™
kennzeichnet sein. Gleichzeitig baut sie in ihrer Gesamtheit,
                                                                              5 bœ ™ Œ ™ n œ Œ bœ ™ 3 Œ ™ nœ ™                              5 Œ nœ ™                       j 2
                                                                        255
jeder Phrase, jeder kleinsten musikalischen Einheit sehr deut­             &8 Œ                  œ     nœ ™ 4 b œ ™                         8 nb œœ ™™          ∑    Ó    œ 2w

                                                                       {
lich auf gelernte Strukturen auf, etwa Skalen und rhythmische                                                                                                           bœ     w
                                                                                  nn œœ ™
                                                                                        ™
                                                                                             b# œœ Œ nnœœ ™™ 3 ™ bbœœ ™™
Einheiten. Somit ist die freie Intuitive Improvisation die Verkör­         ? 58 Œ         Œ™                                                5 Œ b#œœœ ™™™                    2
                                                                                                             4Œ                             8                   ∑    Ó j 2 ∑
                                                                                                                                                                       ## œœ
perung von Zeitlosigkeit und freier Metrik. Und paradoxerweise
wäre sie aber ohne Zeit, ohne Metrum und ohne Struktur im                                                                                                             ° ø
                                                                       Morton Feldman: Palais de Mari für Klavier
weiteren Sinne nicht existent.

  →         andro Hirsch ist Trompeter (Klasse Prof. Klaus
           S
           Schuhwerk). In solistischer Konzerttätigkeit hat er
           es sich zur Aufgabe gemacht, Brücken zwischen                       → Charles Ives: 4. Symphonie, 1910-1925
           „klassischer“ Musik aller Epochen und Intuitiver Impro-                    Ives komponiert im 2. Satz („Comedy“) nicht nur mehrere
           visation zu bauen, das Publikum zu berühren und                            Temposchichten, sondern gleich mehrere Musiken, die mit-
           zu inspirieren, und einen Raum der Rückbesinnung                           einander nichts weiter zu tun haben, als dass sie gleichzeitig
           auf sich selbst zu kreieren.                                               erklingen. Konsequenterweise benötigt man für das Dirigat
                                                                                      mehrere Personen, manche Instrumentengruppen agieren
           www.sandrohirsch.com                                                       zusätzlich autonom: Es tanzen also nicht alle nach einer
                                                                                      Pfeife. Pluralismus der Gesellschaft und der Stile, Demokrati­-
                                                                                      sierung des Musizierens, Abkehr vom komponierenden
                                                                                      Schöpfer-Genie: Mit diesen Ideen ist der Autodidakt Ives Weg-

Taktlos: Vom Tempo und                                                                bereiter nicht nur der amerikanischen Avantgarde geworden.

seinen Grenzen                                                                 → Olivier Messiaen: Quatuor pour la fin du Temps
                                                                                      In der „Louange à l’Èternité de Jésus“ heißt es „infiniment
                                                                                      lent, extatique“, 16tel=44, also Viertel=11. Ein Tempo nicht
TEXT: FLORIAN HÖLSCHER                                                                von dieser Welt, Puls der Ewigkeit, der göttlichen Harmonie.
Man muss nur ganz wenig übertreiben, wenn man behauptet,                              Die einzelnen Anschläge strukturieren nicht mehr die Zeit,
dass in der abendländischen Kunstmusik des 17. und 18. Jahr­                          sondern übersetzen eine Zeitlosigkeit in Klang.
hunderts die Vorstellung von Tempo eng verknüpft war mit Ka­
tegorien der (menschlichen) Natur: wahlweise mit dem Puls,
                                                                               → Morton Feldman: Palais de Mari für Klavier, 1986
                                                                                      Das gehörte Tempo des 30-minütigen, extrem leisen Spät-
dem Affekt, der getanzten Bewegung oder der Sprache. Doch es                          werks ist sehr langsam, oft liegen zwischen zwei Klängen
gibt Alternativen, Neubestimmungen, kulturelle Inspirationen.                         mehrere Sekunden. Weil das rechte Pedal durchgängig
                                                                                      gedrückt bleibt, verschwimmen die Grenzen zwischen Aus-
                                                                                      klang und Pausen. Wie eine zweite Schicht ist ein durch-
FÜNF UNSYSTEMATISCHE UND ZUFÄLLIGE SCHLAGLICHTER                                      gängiger Puls komponiert, der in unregelmäßigen Takten
    → Ludwig van Beethoven: Sonate B-Dur op. 22, 2. Satz                             zusammengefasst ist: 5/8, 3/4, 2/2, 3/8, 1/2. Gelegentlich
                                                                                      fallen Takt und Klänge zusammen, das Metrum ist dann
        Hier wirken gleichzeitig drei Tempi: ein metrisches (in 3),
                                                                                      identisch mit dem Rhythmus. In diesen Momenten scheint
        ein pulsierendes (in Achteln) und ein extrem langsames
                                                                                      die fragile Musik eine gewisse Festigkeit zu bekommen.
        harmonisches Tempo, das in Einzelschritten von etwa
                                                                                      Häufig jedoch bleibt die pulsierende Schicht im Hintergrund
        MM = 6 voranschreitet. Beethoven verzahnt diese Tempo-
                                                                                      und wirkt auf die Klänge ebenso wie auf die Stille ein.
        ebenen nicht nur mit einer ausgezierten, kantablen Ober-
                                                                                      Eine Musik der Abwesenheit, der pulsierenden Trauer, des
        stimme. Sondern indem der Puls – eigentlich ein vertikales
                                                                                      Übergangs von Klang zu Leere.
        Element – den immer gleichen Klang erneuert, mutiert er
        zur pulsierenden Fläche, die jeweils durch die neue Harmo-
        nie begrenzt wird. Indem drei Tempoebenen wirken und
        ineinandergreifen, sind Einfachheit, Kantabilität und Größe
        in eins komponiert.

Temporelationen                                                                                                                                                                      17
° >            >         > >       > >               >           >           > >     > >             Tempo ohne Technik
       ™                                 ™               ™                                   ™       TEXT: LUCAS FELS
                                                                                                     Hier geht es nicht um eine Begriffsbestimmung oder eine histo­
                                                                                                     rische Einordnung dessen, wie sich „Tempo“ im Lauf der Jahr­
   >       >             >     >             >               >       >         >         >
                                                                                                     hunderte gewandelt hat, auch nicht um eine physikalische Be­
   >           > >             > > >                 >           > >               > > >             stimmung oder das oft falsch beschworene „Tempogefühl“,
       ™             ™                   ™               ™               ™                   ™       nicht um analytische Hinweise auf das Tempo – als den musi­
                                                                                                     kalischen Charakter definierendes Element. Sondern: Es geht
                                                                                                     um Tempo als kompositorisches Element, als Parameter zur
                                                                                                     Ordnungs- und Organisationshilfe, und es geht um Spielhilfe.
            j                                                     j
¢ ¿        ¿ ¿           ¿     ¿     ¿           ¿           ¿   ¿ ¿           ¿     ¿           ¿
                                                                                                     Die Frage lautet: Wie koordiniert man sich mit seinem Instru­
Rhythmusschema aus einem Gesang der Aka-Pygmäen
                                                                                                     ment unter den Mitspielenden rhythmisch und metrisch, wenn
                                                                                                     dies über das Gehör oder vertraute kompositorische Strukturen
   → Musik der Aka-Pygmäen und                                                                      nicht mehr möglich ist – beispielsweise aufgrund hoher
           György Ligeti: Etüden, 1985-2001                                                          Komplexi­tät oder ungewohnter, unstrukturierter Klangflächen?
           Gar nicht in Takten, Metren und ihren Teilungen denken                                        Der Fokus ist im Folgenden auf Musik gerichtet, die seit
           viele afrikanische Musikkulturen. Stattdessen entstehen                                   etwa Mitte des vorigen Jahrhunderts geschrieben wurde, und
           polyrhythmisch äußerst reiche Strukturen jeweils aus den                                  auf ihre neuen und zum Teil extremen Herausforderungen.
           Vielfachen von rasend schnellen Grundpulsteilchen, die
           durchaus ein Tempo von MM=900 haben können. Zwar
           treffen sich die einzelnen rhythmischen Schichten in regel-                               ALS ANREGUNG ZUR WEITEREN BESCHÄFTIGUNG SEIEN HIER
           mäßigen Abständen wieder (meist nach 12 oder 24 Grund-                                    EINZELNE KOMPONISTINNEN UND KOMPONISTEN GENANNT:
           pulsteilchen). Die atemberaubende Präzision lässt sich
           allerdings nur durch ein rhythmisch additives Denken erklären.                                → Nadia Boulanger, die revolutionär rhythmisch-metrische
           Ligetis Spätwerk ist ohne seine „Entdeckung“ dieser                                               Neuerungen der Musik von Béla Bartók und Igor Stravinsky
           Kulturen nicht denkbar – er komponiert unterschiedliche                                           an die nächsten Generationen weitergegeben hat.
           Temposchichten wie verschieden große Zahnräder,
           die ineinandergreifen.                                                                        → John Cage, der zwei Extreme auf der Zeitachse bietet.
                                                                                                             In „4'33’’ ist nur mehr Anfang und Ende der „Komposition“
                                                                                                             technisch definierbar. In „ASLSP“, der 639 Jahre dauern-
  →            Prof. Florian Hölscher ist Professor für Klavier.                                             den Orgelversion von Halberstatt, gibt es ein mit den Ohren
                                                                                                             wahrnehmbares akustisches Ereignis, das von aller Tempo-
                                                                                                             erfahrung befreit ist.

                                                                                                         → Brian Ferneyhough, in dessen Kompositionen sich Met-
                                                                                                             rum und Rhythmus völlig voneinander gelöst haben, bei dem
                                                                                                             es Lineal und Taschenrechner braucht, um eine Partitur
                                                                                                             umsetzen zu können.

                                                                                                         → Olivier Messiaen, von dem überliefert wird, „ein Musiker
                                                                                                             ist zwangsläufig Rhythmiker, sonst verdient er es nicht,
                                                                                                             Musiker genannt zu werden“.

                                                                                                         → Enno Poppe, bei dem „mathematische Modelle, die die
                                                                                                             Simulation pflanzlichen Wachstums beschreiben“ zur Parti­tur
                                                                                                             werden – und damit zur Herausforderung für die Interpreten.

                                                                                                         → Karlheinz Stockhausen, der die Vergänglichkeit der Zeit
                                                                                                             neu definierte.

                                                                                                          Wir sollten uns als Interpretinnen und Interpreten die Mühe
                                                                                                     machen, das Tempo (auch) unabhängig von technischen Mit­
                                                                                                     teln definieren zu können und es ohne Einfluss von „Spielge­
                                                                                                     fühl“ ins Laufen zu bringen. Meine über Jahrzehnte gewonnene
                                                                                                     Erfahrung im Quartett und im Ensemblespiel hat mir in der
                                                                                                     Praxis immer wieder gezeigt, beim Tempo strikt von Relationen
                                                                                                     auszugehen – und musikalischen Werkcharakter sowie alles
                                                                                                     unter „Tempogefühl“ Subsummierte wenigstens vorerst auszu­
                                                                                                     klammern.
                                                                                                          Das Wissen und das Erlernen der Temporelationen ist in der
                                                                                                     Praxis der Neuen Musik unverzichtbar. Beinahe alle gebräuch-
                                                                                                     lichen Tempi von 30 bis 420 kann man von Tempo 60 (1 Sekunde)
                                                                                                     genau ableiten.
                                                                                                                                                                            Fotografie: Janine Bächle

18                                 Tempo
Lob der Langsamkeit
                                                                     TEXT: EIKE WERNHARD
                                                                     Das Üben prägt den Alltag des professionellen Musikers.
                                                                     Zwischen der ersten Durchsicht eines Stücks und seiner konzert­
                                                                     reifen Beherrschung liegen unzählige Arbeitsstunden, die, um
                                                                     effektiv zu sein, strategisch geplant, methodisch durchdacht und
                                                                     in allen Phasen sinnvoll strukturiert sein müssen. Angesichts die­
                                                                     ser Vorgaben erweist sich das Üben selbst als eine Kunst. Über­
                                                                     wiegt zum Beispiel der nur allzu verständliche Drang, die Musik
                                                                     möglichst oft und im angestrebten Endtempo durchzuspie­
                                                                     len, anstatt sie systematisch in ihre Komponenten zu zerlegen
                                                                     und zu verinnerlichen, bleibt der Prozess der Aneignung ober­
                                                                     flächlich, geht weder musikalisch noch technisch in die Tiefe
                                                                     und hält dem Druck des Konzertpodiums nicht stand.
                                                                          „Ich kenne dieses Werk nicht gut genug, um es langsam
                                                                     spielen zu können.“ Dieser Franz Liszt zugeschriebene Satz um­
                                                                     reißt die Relevanz der Langsamkeit für das instrumentale Ler­
                                                                     nen: Unterschreitet das Tempo eine bestimmte Grenze, greifen
                                                                     sowohl die automatisierten Spielabläufe als auch das motori­
                                                                     sche Gedächtnis nicht mehr oder nur noch in reduzierter Form
                                                                     und werden durch bewusste Steuerungsprozesse sowie durch
                                                                     bewussten Nachvollzug des Notentextes ersetzt. Gezwungen,
                                                                     nun mit einer anderen, wesentlich aktiveren Aufmerksamkeit
                                                                     vorzugehen und in jeden Winkel eines Stücks denkend vorzu­
                                                                     dringen, sammelt unser Gehirn konkrete Informationen, die
                                                                     unsere musikalische Intuition unterfüttern und absichern. Das
                                                                     langfristige Ergebnis ist nicht nur ein wesentlich reflektierteres,
                                                                     sondern auch stabileres und – je nach den Erfordernissen –
                                                                     auch brillanteres Spiel.
                                                                          Dass instrumentales Üben und sportliches Training bis zu
                                                                     einem gewissen Grad auf gemeinsamen Prinzipien beruhen, ist
                                                                     seit geraumer Zeit Gegenstand der Forschung.
                                                                          Langsameres Laufen macht schneller, heißt es heute in
                                                                     der Leichtathletik. Entsprechend dieser Devise entwickelte der
TEMPORELATIONEN                                                      amerikanische Sportwissenschaftler Stephen Seiler die inzwi­
                                                                     schen als sehr erfolgreich bestätigte 80/20-Methode, bei der 80
1 Viertelnote                         60      (60 · 1)               Prozent des Trainings im niedrigen und nur 20 Prozent im mo­
1 Achtel                              120     (60 · 2)               deraten bis hohen Tempobereich absolviert werden.
1 Triolenachtel                       180     (60 · 3)                     Natürlich ist im Bereich der Musik das langsame Üben
                                                                     nur eine unter vielen anderen notwendigen Arbeitsstrategien.
1 Quintolensechzehntel                300      (60 · 5)
                                                                     Außerdem sind zum Beispiel Streichern und Bläsern nach
1 punktiertes Achtel                  80      (60 · 4 : 3)           unten Tempogrenzen gesetzt, da weder der Atem noch die Bogen-
1 punktierte Viertel                  40      (60 · 2 : 3)           geschwindigkeit beliebig verlangsamt werden können, und
1 punktiertes Quintolenachtel         100     (60 · 5 : 3)           bei allen Instrumenten erfordert jeder Tempobereich einen be­
                                                                     stimmten spezifischen Bewegungsablauf, der nicht ohne weite­
                                                                     res auf andere Tempi übertragbar ist. Mit diesen Einschränkun­
    Das heißt, beim letzten Beispiel: Ich denke mir eine Quintole    gen ist für die künstlerische Entwicklung das langsame Üben
in T. 60, ein Schlag davon entspricht Tempo 300, drei Schläge        eine wesentliche Voraussetzung. Wer es zum ersten Mal kon­
T. 100, zwei T. 150 und vier T. 175. So lassen sich mit Untertei­    sequent praktiziert, stellt fest, dass es viel schwieriger und an­
lungen von beispielsweise Sechzehnteln, Triolen und Quintolen        strengender ist als gedacht. Doch wie bereits Novalis vor über
Metronomzahlen genau ermitteln. Viel Spaß beim Rechnen und           zweihundert Jahren schrieb: „Was einem Mühe kostet, das hat
gutes Gelingen bei der spielerischen Anwendung!                      man lieb.“

  →          rof. Lucas Fels ist Professor für Interpretatorische
            P                                                          →         rof. Eike Wernhard ist Professor für Klavier und
                                                                                P
                                                                                Prodekan im Fachbereich 2 (Lehrämter, Wissenschaft
            Praxis und Vermittlung neuer Musik.
                                                                                und Komposition).

Temporelationen                                                                                                                    19
Ergebnisse einer Instagram-                       Ist Pendeln verschwendete Zeit?
Umfrage übers Pendeln                             (194 Personen haben teilgenommen)

auf @hfmdk.frankfurt, durch-
geführt Ende Februar 2020                                   Ja: 54 %

HIN & HER
Wie kommst du zur HfMDK?
(106 Personen haben teilgenommen).
Verkehrsmittel mit der Anzahl ihrer Nennung,
teilweise auch als Kombinationen angegeben.                                                    Nein: 46 %

     (33)               (25)
                                           (25)   Womit verbringst du die Zeit,
                                                  wenn du pendelst?
                                                  (117 Personen haben teilgenommen)

                                                     → Lesen (25)
               (24)                                  → Musik hören (23)
                                    (10)
                                                     → Arbeiten, recherchieren
                                                         und Dinge organisieren (10)

                                                     → Podcasts oder Hörbücher hören (9)
                      (7)                            → Social Media oder Spielen am Handy (8)
   (8)                                     (6)
                                                     → Aus dem Fenster schauen (7)
                                                     → Schlafen (5)
                                                     → Mails oder Nachrichten schreiben (5)
                                                     → Partitur lesen (5)
Wie lange bist du unterwegs,                         → Lernen (4)
von deiner Tür zur HfMDK?                            → Serie schauen (3)
(210 Personen haben teilgenommen)                    → Entspannen und Träumen (3)
Durchschnittlich:                                    → Mit Leuten im Zug reden/ mich unterhalten (2)
etwas mehr als 30 Minuten
                                                     → Text lernen (2)
                                                     → Hörproben verinnerlichen (2)
                                                     → Interpretation von Texten (1)
                                                     → Singen üben (im Auto) (1)
                                                     → Markieren (1)
                                                     → Schreiben (1)
                                                                                                            Grafik: State

                                                     → Denken (1)

20                    Tempo
THE NEW WORLD STANDARD
IN CONCERT GRAND PIANOS.
                       YAMAHA.COM

                                    21
Gezielte
Reizarmut
Szeneabend Gesang 2020

22                Tempo
Sängerinnen und Sänger müssen auf der Bühne schnell reagieren
                            können. Was sie dafür besonders trainieren: ihre Wahrnehmung.
                            TEXT: ULF HENRIK GÖHLE

                            Auf Tempo zu kommen, schnelle und vor allem präzise Bewe­                  Dieser Prozess der zunehmenden Geschmeidigkeit ist
                            gungen zu produzieren, die sogar noch ästhetischen Ansprü­            nicht zu unterschätzen, denn er ermöglicht wiederum verbes­
                            chen gerecht werden wollen, dafür muss das menschliche Ge­            serte Wahrnehmungsfähigkeiten nach dem Weber-Fechner-
                            hirn ein gigantisches Ensemble von 639 Muskeln koordinieren.          Gesetz. Leider sind unnötige Muskelaktivierungen nicht nur
                            Unsere Bewegungen können in nicht-bewusstseinsfähige als              Folge ungeübter Bewegungsabläufe, sondern nicht selten ein
                            auch in bewusstseinsfähige unterteilt werden. Letztere wiede­         Resultat von Übermüdung: Ist das Nervensystem überlastet,
                            rum in bewusstseinspflichtige als auch in nicht-bewusstseins­         „fährt“ insbesondere die tiefliegende Haltungsmuskulatur in der
                            pflichtige Anteile. Für die Professur Bewegung an der HfMDK           Spannung dauerhaft hoch.
                            sind nun besonders die nicht-bewusstseinspflichtigen Anteile               Was zunächst wie ein reines Gesundheitsproblem wirkt,
                            wichtig. Sie bilden ein zentrales Feld der Körper- und Bewe­          ist aber bei näherer Betrachtung auch ein ästhetisches Mal­
                            gungsarbeit und spielen auch im Hinblick auf die Kategorie            heur. Denn die Zunahme an tiefliegender Muskelspannung geht
                            „Tempo“ eine entscheidende Rolle: Jede Steigerung des Bewe­           einher mit einer Abnahme an differenzierter Wahrnehmungs­
                            gungstempos vermindert den Anteil der bewusstseinsfähigen             fähigkeit. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit wird aus
                            Anteile. Je intensiver und schneller Reize auf uns einwirken oder     dieser Perspektive zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für die
                            wir uns bewegen, umso weniger sind wir in der Lage, Details           Feinarbeit an den künstlerischen Wahrnehmungen.
                            zu spüren.
                                  Denken Sie daran, wie in Pianissimo-Stellen beim Orchester­       →        rof. Dr. Ulf Henrik Göhle hat seit dem Sommersemester
                                                                                                            P
                                                                                                            2020 die Professur für Bewegung in der Abteilung
                            konzert plötzlich jedes Rascheln zu hören ist, während beim                     Gesang/Musiktheater inne. Zuvor war er Professor
                            Fortissimo komischerweise anscheinend nie jemand hustet. Im                     für Gesundheitspädagogik an der IB-Hochschule in
                            stillen Wald, das wäre der erste Fall, an der vielbefahrenen Straße             Stuttgart. Göhle ist Diplom-Musiklehrer und Motologe
                            der zweite. Dieser Zusammenhang wurde im Weber-Fechner-                         (M.A./Dr. phil.). Die Motologie beschäftigt sich als
                            Gesetz beschrieben. Dies besagt, dass der Zusammenhang zwi­                     Wissenschaft mit der Verbindung zwischen Psyche
                            schen einem Stimulus und seiner Wahrnehmung logarithmisch                       und Bewegung. Seit Januar ist er auch Vorstand der
                            ist: Je größer das Grundrauschen, desto stärker muss sich ein                   Wissenschaftlichen Vereinigung Psychomotorik
                            Reiz davon abheben, damit wir ihn wahrnehmen können.                            und Motologie.
                                  Was für „langsames Üben“ jeder Kunstform selbstver­
                            ständlich ist, um feinste Nuancen zu erfassen, wird in der Be­
                            wegungsarbeit konsequent weitergedacht, um so mit unserer
                            Wahrnehmung in die Tiefen unseres Körpers vordringen zu
                            können. Kleinste Bewegungsaufgaben, gezielte Reizarmut und
                            Wahrnehmungsübungen in Entspannung sind die Wege, um
                            an mehr bewusstseinsfähige Bewegungsmuster zu kommen
                            und dann überhaupt erst damit ästhetisch arbeiten zu können.
                            Bemerkenswert dabei ist, dass die Profis der Bewegung immer
                            ökonomischer werden und unnötige Spannungen (= unnötige
                            Reize) nach und nach abbauen.
Fotografie: Tayfun Selcuk

                            „Je größer das Grundrauschen,
                            desto stärker muss sich ein
                            Reiz davon abheben, damit wir
                            ihn wahrnehmen können“
                            Wahrnehmung                                                                                                                        23
Berichte aus dem Bühnenalltag

Hochbetrieb

                   Rastlos im Rampenlicht
                   TEXT: JULIAN VON HANSEMANN

                   Schauspiel Ein befreundeter Regisseur hat einmal zu mir gesagt, er bräuchte eigentlich
                   mindestens ein halbes Jahr Zeit, um ein Theaterstück zu erarbeiten. Eine wirklich tiefergehende
                   Beschäftigung mit der Materie sei ihm sonst kaum möglich. Gemessen an der Realität des deut­
                   schen Stadttheaters ist das natürlich eine nahezu utopische Vorstellung. Sechs bis acht Wochen
                   von der Konzeptionsprobe bis zur Premiere, mehr Zeit haben Schauspielerinnen und Schauspie­
                   ler in aller Regel nicht, um einen Hamlet, eine Antigone, einen Faust darstellerisch zu erarbeiten.
                   Das kann eine unglaubliche intellektuelle, körperliche und nicht zuletzt psychische Kraftanstren­
                   gung und ein beinahe wahnwitziges Arbeitstempo bedeuten. Nach der Abendprobe um 22 Uhr
                   noch den Text zu lernen, der für die Probe am nächsten Morgen erwartet wird, gewaltige szeni­
                   sche Änderungen von der Hauptprobe am Donnerstag zur Generalprobe am Freitag umzuset­
                   zen, drei, vier verschiedene Vorstellungen in einer Woche zu spielen (parallel zu den laufenden
                   Proben), sind keine seltenen Vorgänge. Als ich im vergangenen Jahr Premiere mit „Leonce und
                   Lena“ hatte, hatte ich am Folgetag um 10 Uhr eine Übernahmeprobe für einen erkrankten Kolle­
                   gen. Der Abend, den ich zu übernehmen hatte, dauerte drei Stunden, ich musste in den letzten
                   Probentagen für „Leonce“ also ganze Textberge auswendig lernen und mir ständig die Videoauf­
                   zeichnung der Aufführung ansehen, damit ich überhaupt eine Idee davon bekam, was ich da tun
                   würde. Denn am Tag nach der Übernahmeprobe stand ich mit dem Stück schon vor Publikum auf
                   der Bühne. Gleichzeitig kann es passieren, dass ich mit einer kleineren Rolle besetzt werde oder
                   die Premiere des einen und der Probenbeginn des anderen Stücks ein paar Wochen auseinan­
                   derliegen – und dann ist plötzlich viel Zeit da. Drei, vier Wochen mit einer Handvoll Proben und
                                                                                                                         Illustration: Jan Buchczik

                   Vorstellungen, fast Urlaub. Bevor dann wieder alle Kräfte gespannt werden, um wie ein Hundert­
                   meterläufer zu explodieren.

                     →         ulian von Hansemann, Absolvent der HfMDK (2018), ist seit der Spielzeit
                              J
                              2017/ 2018 Ensemblemitglied am Staatstheater Mainz.

24         Tempo
Ton in Ton
TEXT: RAMON JOHN

Tanz Tempo ist für uns keine Sache der Notation wie in der Musik, sondern der Dynamik, der
Bewegungen und vor allem: der Choreographie. Von ihr hängt alles ab, auch, ob wir uns mit oder
gegen die Musik bewegen. Da wir häufig mit Neukreationen arbeiten, haben wir beim Tempo auf
der Bühne heute oft mehr Freiheiten. Das heißt: Wir können uns heute anders in Beziehung zur
Musik setzen, müssen das durch die Notation vorgegebene Tempo nicht 1:1 übernehmen. Wie
ich dabei das richtige Tempo treffe: Ich achte auf den Dirigenten. Er ist immer ein guter Refe­
renzpunkt, auch ohne direkten Blickkontakt. Stichwort Körpergedächtnis: Man spürt es einfach,
wenn das Orchester anfängt, das Tempo schneller oder langsamer wird, entwickelt dafür eine
Routine. Daraus erklärt sich auch, wieso es schwierig ist, wenn sich Routinen ändern – wie es
2019 beim „Nussknacker“ an den Staatstheatern Darmstadt und Wiesbaden der Fall war. Wir
arbeiteten mit mehreren Dirigenten, da hat das Tempo doch sehr variiert, teilweise kam ich wirk­
lich an meine Grenzen. Zum Beispiel als es einmal so langsam wurde, dass ich für einen Sprung
eigentlich hätte schweben können müssen. Generell ist es so: Vor einer Produktion einigen sich
die Dirigenten, die musikalische Leitung und unsere Leitung auf eine Version der Musik, nach der
dann geprobt wird. Zwischendurch erhalten die Dirigenten von uns ein Feedback – hier ist es zu
schnell, dort zu langsam und so weiter –, und sie setzen das um. Kommt es später live, während
einer Aufführung, dann doch zu Abweichungen, kann man nicht viel mehr tun, als inuitiv zu
folgen – den anderen Tänzerinnen und Tänzern, der Musik.

  →           amon John, Absolvent der HfMDK (2011) und Träger des Deutschen Theaterpreises
             R
             „Der Faust“ in der Kategorie Darstellerin/Darsteller Tanz (2018), ist derzeit Mitglied
             des Hessischen Staatsballetts. Wie Prof. Ralph Abelein gehörte er zum Ensemble des
             Ballets „Der Nussknacker“, das Ende 2019 an den Staatstheatern Darmstadt und
             Wiesbaden aufgeführt wurde (Choreographie: Tim Plegge).

TEXT: RALPH ABELEIN

Musik Bevor ich 2005 zur HfMDK kam, war ich Dirigent bei den Stuttgarter Musicalproduk­
tionen. Dass ein Tempo in der Musik und im Tanz zum Teil sehr unterschiedlich wahrgenommen
wird, gehörte dort zu meinen Grunderfahrungen: In der Musik kann das Tempo zwar metrono­
misch genau festgelegt werden, doch schon kleine Abweichungen davon wirken sich auf Tänzer‑
innen und Tänzer unmittelbar aus. War eine Nummer aus Musikperspektive nur ein wenig schneller
als sonst, vielleicht fünf, sechs Metronomklicks, konnte es passieren, dass sie die Musik als
doppelt so schnell empfanden. Diese Erfahrung hat mich geprägt und als Musiker bereichert:
Solche Situationen zeigen, wie diffizil Tempofragen sind, wenn es um das Miteinander von Tanz
und Musik geht. Musikerinnen und Musiker, Tänzerinnen und Tänzer – alle haben ihre Tages­
form und setzen Noten und Choreographie nicht jeden Tag genau gleich um. Herausfordernd ist
es, wenn ich die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne nicht sehen kann, wie zuletzt bei den
„Nussknacker“-Aufführungen in Darmstadt und Wiesbaden: Ich saß an der Hammondorgel mit
dem Rücken zum Bühnengeschehen und musste ein Tempo anbieten, ohne es visuell prüfen
und anpassen zu können. Der Idealzustand für mich als Musiker ist: Wenn ich intuitiv das Tempo
treffe – ohne aufs Metronom schauen zu müssen. Dieses Gefühl, dass der Körper einfach weiß,
wie es geht, ist sehr befreiend, sehr positiv.

  →           rof. Ralph Abelein ist Professor für Schulpraktisches Instrumentalspiel an der HfMDK
             P
             und als Jazzpianist, Arrangeur, Komponist und Dirigent aktiv. An der Hochschule
             initiierte er 2008 das jährlich stattfindende Projekt „Musik für Stummfilme“ und 2009
             den HfMDK Jazz- und Popchor. Sein Lehrbuch „Liedbegleitung und Klavierimprovisation“
             wurde bisher in vier Sprachen veröffentlicht.

Protokolle                                                                                            25
Fotografie: Janine Bächle
Keine Bewegung ohne Stillstand, keine Beschleunigung –
ohne abzubremsen: Über Tempowechsel und Körperarbeit im Tanz
TEXT: MARTIN NACHBAR

Von der Dynamik,
Neues zu lernen
Als Tänzer und Choreograph stehe ich immer wieder vor der                 Ruhe und Bedacht helfen dabei, diese Spannungsmuster
Frage, wie ich einen neuen Bewegungsablauf lernen oder auch          loszulassen und offen zu bleiben – mit Entschleunigung hat das
lehren kann – über Nachahmung, technische Erklärung oder             allerdings wenig zu tun. Das meine ich kritisch. Heute wird oft
über Bilder und Metaphern? Oder über eine Mischung aus               das Tempo neuer Technologien beklagt. Als Gegenmittel wer­
alldem? Aber nicht nur Bewegungsabläufe sind von Belang. Oft         den Entschleunigung und Achtsamkeit gefordert. In Semina­
geht es auch um Bewegungsqualitäten, wie zum Beispiel „flie­         ren werden gestresste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so weit
ßend“ oder „gebunden“. Oder das Lernen gilt der Verbindung           vom Arbeitsstress heruntergefahren, dass sie nachher wieder
von Körperhaltung, Bewegung, Emotion und Intention. Immer            mit vollem Tempo der Umsatzsteigerung dienen können. Eine
aber steht der Körper mit sei nen Bewegungen im Fokus. Diese         solche Entschleunigung hat mit Lernen wenig zu tun. Sie öffnet
Bewegungen behandeln Tanz als Handlung und zugleich als              die Körpertechniken nicht zu neuen Handlungsmöglichkeiten in
Technik, bei der die Handlung in ihre Einzelteile zerlegt, dazu in   einer Welt voll neuer Technologien. Eher richtet sie Menschen
ihrer Motorik verstanden und experimentell neu zusammenge­           darauf ab, noch produktiver zu werden und noch mehr zu kon­
setzt werden kann.                                                   sumieren. Sie macht Menschen für Algorithmen vorhersehbar.
     Man könnte sagen, Tanz behandelt Handlung als Körper­                Wir Menschen aber haben uns seit der Erfindung des
technik, ganz im Sinne des französischen Soziologen und              zweibeinigen Gehens mit jeder neuen (Körper)technik immer
Ethno­graphen Marcel Mauss, für den der Körper das erste             ein Stück weit desorientiert und schließlich immer wieder neu
Instru­ment der Menschen ist. Tanz spielt und experimentiert         erfunden. Wenn wir uns als Spezies also irgendwie auszeich­
mit diesen Körpertechniken und findet so immer wieder neue           nen, dann dadurch, dass wir immer bereit waren, Neues zu
Kombinationsmöglichkeiten von Bewegungen als Bezugnah­               lernen und für uns selber unvorhersehbar zu werden.
me zur Welt. Dabei spielt auch das Tempo eine Rolle, allerdings           Als Professor für szenische Körperarbeit im Theater stehe
nicht so sehr als absolut messbare Geschwindigkeit, sondern          ich vor der Frage, wie sich meine Bewegungsexpertise auf die
als ein Verhältnis zwischen schnell und langsam.                     Fragen der Schauspielerei übertragen lässt. Und damit bin
     Im Tanz wird dieses Verhältnis als Dynamik bezeich-             ich – in Zusammenarbeit mit den Studierenden und anderen
net. Anders als in der Musik, wo der Begriff die Tonstärke           Lehrenden – wieder beim Erlernen von Neuem.
bezeichnet, geht es im Tanz um Ent- und Beschleunigung. Eine
dynamische Tänzerin ist also kein lauter Mensch, sondern kann          →        rof. Martin Nachbar hat zum Sommersemester
                                                                               P
                                                                               die Professur Szenische Körperarbeit im Fachbereich 3
schnell das Tempo wechseln. Es geht um Schwung, Kraftent­                      (Darstellende Kunst) übernommen. Er ist Tänzer,
faltung, Beschleunigung – und Abbremsen. Um etwas Neues zu                     Choreograph und Performer, unterrichtet hat er bisher
lernen, braucht es zunächst: Ruhe und Bedächtigkeit. Ohne sie                  u.a. an der Hollins University (USA), an den Performing
                                                                                                                                         Fotografie: Martin Nachbar

wird man sich kaum in dem zu erkundenden Feld oder Bewe­                       Arts Research and Training Studios P.A.R.T.S. (Belgien)
gungs­ablauf orientieren können. Denn wir neigen dazu, im                      sowie am Trinity Laban Conservatoire of Music and
Umgang mit etwas Unbekanntem Angst oder Stress zu verspüren.                   Dance (Großbritannien).
Die damit einhergehenden körperlichen Spannungsmuster sind
nicht gerade hilfreich, um sich auf Neues einzulassen.

28                     Tempo
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