FRANKFURT IN TAKT - 20-1 SCHWERPUNKT: TEMPO - HFMDK FRANKFURT
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Frankfurt in Takt 20-1 → Intuition nach Maß? Über Rast und Unrast in der Kunst → Schneller, weiter: Journalist Schwerpunkt: Tempo Werner D’Inka (FAZ) im Gespräch
Unter Partnerschaftlichkeit verstehen wir, gemeinsam an einem großen Ziel zu arbeiten. Kennen Sie Michael Collins? Die wenigstens tun das. Er hat als Pilot der Apollo-11-Kapsel Buzz Aldrin und Neil Armstrong 1969 zur ersten Mond- landung geflogen – und wieder zurück. Für uns ist Collins eine Inspiration. Denn als Spitzeninstitut der rund 850 Genossenschaftsbanken in Deutsch- land glauben wir an Partnerschaften, bei denen jeder sich in den Dienst einer großen Sache stellt, damit das gemeinsame Ziel erreicht wird. Mehr über Partnerschaftlichkeit erfahren Sie unter: dzbank.de/haltung
Vollbrem- sung Tempo, das ist in den linearen Künsten ein zentraler Gestaltungsfaktor. Wie schnell läuft ein bestimmtes Ereignis ab, welchen Zeitraum benötigt ein Vorgang in Musik, Tanz oder Theater – das sind Fragen, die ein Kunstwerk im Kern bestimmen, im Kontext einer konkreten Aufführung zu ganz unterschiedlichen Lösungen und damit Interpretationen und Botschaften führen. Sie können es selbst ausprobieren! Die berühmten ersten Sätze aus Goethes „Faust“ lauten: „Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.“ Langsam, fast stockend und einzeln betont gesprochen, entfachen sie eine ganz andere Wirkung, als wenn mit Hast, in hohem Tempo heraus gestoßen. Hier ein Faust, der sich, von Selbstzweifeln gequält, das Gehirn zermartert und alles in Frage stellt, dort ein Gelehrter, dem die Zeit durch die Finger rinnt, ohne die ersehnte Erkenntnis zu erlangen. Oder der Anfang der 5. Sinfonie von Beethoven: die Unisono-Passage, als markante Schicksalsschläge hin gewuchtet und damit als unverrückbare Konklusion formuliert – oder, die Vortragsbezeichnung „con brio“, also „mit Schwung“ aufgreifend, überstürzt, ungeduldig, zwischen Voranstürmen und Verharren artikuliert. Hier erscheint die Welt gegeben, dort veränderbar. Ein ziemlicher Unterschied und sehr davon getrieben, welches Bild sich der Interpret von dem Künstler Beethoven macht. Es ist also eine ziemlich spannende Frage, die wir uns im Schwerpunkt dieser Ausgabe unseres Hochschul magazins stellen: Was bedeutet für uns Tempo? Durch die Corona-Krise, die uns seit Wochen beschäftigt, erfahren wir Geschwindigkeit nochmals ganz anders. Das Virus war eben noch weit weg irgendwo in China. Wir hörten davon, aber begriffen es nicht, weil wir emotional noch immer in den Zeitläufen der Alten Welt denken. Aber dann war das Virus bei uns, breitete sich rasend schnell aus, tägliche Verdoppelung der Infektionen. Und unser Leben wurde plötzlich extrem lang sam. Alles Öffentliche war eingefroren, wir waren auf Abstand, zuhause. Wir warteten, dass es vorbeigeht oder zumindest die Neuinfektionen zurückgehen, ein, zwei und mehr Wochen lang. Das ist für uns alle eine extreme Erfahrung: Nachrichten in Sekundenschnelle und Echtzeit, gleichzeitig weitgehend zur Untätigkeit verdammt, Rettung durch Verharren, indem wir Tempo rausnehmen, Unternehmungen weitgehend zurückfahren. Eine Vollbremsung unseres vertrauten Lebens. Das ganze Land stand still, die Kultur ist noch immer geschlossen. Unsere Veranstaltungen sind abgesagt, der Beginn des Präsenzunterrichts wurde verschoben, dafür ein digitaler Zugang zur Hochschule geschaffen. Beim Thema Tempo geht es um die Kunst. Ja, aber auch um unser Selbstverständnis als Zeitgenossin und Zeitgenosse, um die Frage, wie wir uns in dieser Welt bewegen. Ihr Elmar Fulda Präsident der HfMDK Editorial 3
Inhalt Schwerpunkt: Tempo 08 Von Zeit zu Zeit Fragmente des Alltags an der HfMDK 10 usik gestalten, M 22 Gezielte Reizarmut mit dem Maß- Auf was es ankommt, wenn jede Sekunde zählt Von: Ulf Henrik Göhle band Emotion Warum das Tempo in der Kunst 24 Hochbetrieb keine festen Messgrößen kennt Berichte aus dem Bühnenalltag Von: Michael Sanderling Von: Julian von Hansemann, Ramon John, Ralph Abelein 14 Im Takt der Zeit Wie Musikerinnen und Musiker 28 on der Dynamik, V das richtige Tempo finden Neues zu lernen Von: Lucas Fels, Sandro Hirsch, Rhythmus und Ruhe im Tanz Florian Hölscher, Tim Vogler Von: Martin Nachbar und Eike Wernhard 30 Eine Minute Pause Vom Innehalten und Zuhören im Musikunterrricht Von: Julia Jung 32 R e-boot Bologna Die Grenzen der Creditpoints im Kunststudium Von: Sina-Mareen Retolaza und Ingo Diehl 34 Zeitfalle Studium? Protokolle von: Sebastian Munsch, Fotografie: Janine Bächle; Tayfun Selcuk (oben, links) Philipp Schlosser, Clara Valdera, Sabine Rosenberger, Thilo Dahlmann 20 Hin und her 37 So viel, so früh Ergebnisse einer Instagram-Blitzumfrage Über das Jungstudium an der Von: Lorna Lüers Young Academy der HfMDK Von: Anne Sophie Luong und Carolin Grün 4
38 Ursache & Wirkung 53 Ehre trifft Ehrgeiz Was macht die Digitalisierung mit der Das Deutschlandstipendium will beste Kunst? Antworten von: Robin Brosowski, Bedingungen im Studium schaffen. Orm Finnendahl und Florian Hölscher, Stipendiaten profitieren, Förderer Julia Wilke und Peter Ackermann engagieren sich. Warum? 42 Unterwegs mit... 56 Ein Tanzhaus! Annina Merz, Robin Brosowski und Ideen für die Freie Tanzszene in Frankfurt Michael Preuß – ein Tempo-Experiment Von: Ida Kaufmann und Laurin Thomas 57 Die Netzwerkerin Lebenswege der HfMDK-Alumni, Folge 12: Aus der Hochschule Lena Krause, Geschäftsführerin des Vereins Freie Ensembles und Orchester in Deutschland 48 „ Ich kann mich im Restaurant auch erst dann entscheiden, wenn der Kellner hinter mir steht“ Der Journalist und ehemalige FAZ-Herausgeber Werner D’Inka im Gespräch mit Hochschulpräsident Prof. Elmar Fulda über Tempowechsel 58 „Das ist kein Spaziergang“ in der Kunst und in der Welt der Medien Frank-Ullrich Rittwagen hat ein Streich quartett für die Studierenden der HfMDK gebaut. Es ist seit langem der wertvollste Instrumentensatz, den Freunde und Förderer der Hochschule als Leihgabe überlassen. Hanna Ponkala hat mit ihm gesprochen. 62 Danke! Zum Abschied der Professoren Werner Jank, Karl Kaiser und Bernhard Wetz 66 Gloria & Glanz Erfolge unserer Studierenden 68 achrichten aus den N Fachbereichen 5
TEM „Ein Tempo zu finden, ist für mich kein mechanischer Vorgang. Ich suche die Emotion, den wahrhaftigen Moment – daraus ergibt sich das Timing“ MICHAEL SANDERLING → S. 10 6
MPO „Der Idealzustand für mich als Musiker ist: Wenn ich intuitiv das Tempo treffe – ohne aufs Metronom schauen zu müssen“ RALPH ABELEIN → S. 25 Fotografie: Janine Bächle 7
Von 2 Minuten und 5 Sekunden So lange dauert es, von der Pforte in den 5. Stock zu kommen: zu Fuß, Stufe für Stufe – aber nur, wenn man sich zwischendurch nicht weiter ablenken Zeit lässt und sich die Höhenmeter ohne Gepäck vornimmt (der Fahrstuhl ist knapp 40 Sekunden unterwegs). zu 7 Minuten und 6 Sekunden Das Hauptgebäude der HfMDK und der Standort in der Leimrode 29 liegen – Luft Zeit linie – gerade einmal 160 Meter vonein ander entfernt. Doch es stehen Häuser im Weg, Mauern, Ampeln: Wer sich an die Verkehrsregeln hält, braucht zu Fuß rund sieben Minuten, um an all diesen Barri eren vorbeizukommen. Es soll (gewagte) Abkürzungen geben? Ja, davon hörten wir auch … 5 Minuten und 27 Sekunden Lehramtsstudierende pendeln zur Uni, Fragmente des Alltags an der nicht alle und nicht ständig, aber es HfMDK: Wie lange dauert es von kommt vor. Pendeln sie mit dem Rad, genügen gut fünf Minuten – reine Fahrzeit der Pforte zu Fuß in den 5. Stock? von Tür zu Tor. Bis die Konzertflügel gestimmt sind? Die Hochschule fertig ist für die Nacht? „Frankfurt in Takt“ hat nachgemessen. 8 Tempo
90 Minuten Bevor abends in der Hochschule die Lich ter ausgehen (können), rücken die Pfört ner zu ihrem letzten Kontrollgang aus. Klingt nach Routine, ist oft genug jedoch ein Nervenkitzel: Anders als verabredet, halten sich nicht alle an die Schließzeiten – sodass aus den 90 Minuten, die für den Kontrollgang eingeplant sind, schnell auch mal zwei Stunden werden. Wer sich hier jetzt angesprochen fühlt: Bitte etwas mehr Solidarität! 75 Minuten Cembali gehören zu den schönsten Ins trumenten – aber auch zu den größten und empfindlichsten. Werden sie für ein Konzert gebraucht, muss der Hausdienst seine Samthandschuhe auspacken: um die Instrumente unbeschadet aus dem Lager oben in Haus C nach unten in die Konzertsäle im Hauptgebäude zu brin gen. Von jetzt auf gleich ist das nicht zu machen, jedes Cembalo ist im Lager zunächst auseinanderzubauen, dann nach unten zu transportieren und wieder zusammenzusetzen. Pro Instrument und Wegstrecke dauert das: etwa 75 Minuten. 180 Minuten Die beiden Steinway-Flügel im großen Konzertsaal haben einen klaren, war men, präzisen Klang. Dafür sorgt: das Künstlerische Betriebsbüro, kurz KBB. Regelmäßig beauftragt es Fachleute, die die hochkomplexen Handgriffe im Detail beherrschen und selbst mini malste Interferenzen heraushören. Und das geht, klar, nicht parallel: Mit je dem Flügel sind die Klavierstimmer rund anderthalb Stunden beschäftigt – macht 180 Minuten für zwei. Zeitmessung 9
Musik gestalten, mit dem Maßband Emotion TEXT: MICHAEL SANDERLING DOKUMENTATION: ELMAR FULDA Musiker, Pädagoge und Dirigent: Michael Sanderling ist der Mann mit den drei Leben und doch kaum über 50 Jahre alt. In allen Feldern sofort einer der Großen. Erst Orchestermusiker in Leipzig und Berlin, Fotografie: Marco Borggreve dann Cellovirtuose in den Konzertsälen der Welt. Heute Professor für Cello an der HfMDK. Und Chefdirigent, zuletzt bei der Dresdner Philharmonie, ab 2021 beim Luzerner Sinfonieorchester. 10 Tempo
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Michael Sanderling ist ein Reisender, vielleicht auch Rastloser, jeden- falls ein Musik-Besessener: im Anspruch an sich und andere, in der Menschlichkeit, mit der er fordert, fördert und aus Musik Funken schlägt. Er ist ein Kollege, der in der Welt unterwegs ist, aber seine künst- lerische Heimat in der Hochschule gefunden hat. Was denkt ein Künstler und Mensch wie Michael Sanderling über Tempo? Wir haben versucht es herauszufinden, und ihm zugehört. An einem Sonntag Anfang März, er unterrichtet, kam gerade aus Budapest und steigt schon am Tag darauf wieder in ein Flugzeug. Es ist ein ruhiges, fokussiertes Gespräch. Hier sind seine Antworten. Tempo ist ein wichtiger Interpretationsbaustein in der Musik – sprunghaftesten zurückgeführt auf die Dinge, die man eigent und ein besonders heikler, weil so scheinbar objektiv, wenn lich hätte wissen können und sollen. Von ihm haben wir gelernt, ein Komponist seinem Werk Tempoangaben durch Metro- dass Tempo immer auch eine historische Vorstellung ist. Ein nomzahlen mitgibt. Ich habe vor Jahren als Cellist die Urauf Largo zu Beethovens Zeit hat eine andere Bedeutung als ein führung eines Werkes vorbereitet, mir dabei die Finger wund Largo zu Brahms Zeit. geübt, aber kam nicht zum Erfolg. Ich rief den Komponis Ich habe mich intensiv und mit großer Hingabe mit ten an. Er lud mich ein. Ich spielte ihm die betreffende Stelle Schostakowitsch beschäftigt. Er ist ein Extremfall, gerade, vor. Er: „Das ist doch alles viel zu schnell!“ Ich: „Ich bin was seine Tempoangaben betrifft. Schostakowitsch hat ganz erst bei 60, Sie schreiben 86.“ Da holt er sein altes Metro- bewusst falsche Metronomzahlen und falsche Tempobezeich nom heraus. Was war passiert: Es lief viel zu langsam, war nungen notiert. Wenn er Allegro schreibt, meint er nicht unbe nicht geeicht. dingt Allegro. Er schrieb es, um in der Generalprobe, in die immer eine Abordnung des Zentralkomitees zur Kontrolle kam, sagen Tempo entsteht aus Emotion zu können: Genossen, Entschuldigung, ich habe da Allegro stehen, die haben gerade einen Riesenfehler gemacht, die haben das Ich verstehe Tempo als einen Baustein der Interpretation, so wie übersehen, die haben viel zu langsam, traurig gespielt – das Artikulation, Dynamik, Phrasierung andere es sind. Tempo hat ist natürlich heiter, eine Feier des Sozialismus und der Partei. immer auch etwas Subjektives, sehr Individuelles. Auch dieses Wissen hat meine Sicht zurechtgerückt. Bei Tempo ist an die spieltechnischen Möglichkeiten der Mu der Frage nach dem richtigen musikalischen Tempo gibt es nur siker, an einen konkreten Ort gebunden: In welcher Distanz be relative, subjektive Antworten, keine objektiven. finden sich die Orchestermusiker zueinander, in welchem Raum spielen sie? Wenn man plötzlich in einen trockenen Raum kommt, stellt man fest, so zerfasert geht das nicht, und nimmt Wahrheitssuche es zügiger. Und umgekehrt bei einer Brucknersinfonie, wenn Als Dirigent dirigiere ich Stücke erst, wenn ich glaube, sie ver es die Akustik zulässt, wähle ich ein noch langsameres Tempo. standen zu haben, sie gleichsam in mir erlebe. Ich lasse mich Ein Tempo zu finden, ist für mich kein mechanischer Vor da nicht treiben. Das ist ein Grund, warum ich meine Zwei gang. Ich suche die Emotion, den wahrhaftigen Moment – gleisigkeit, Professur hier und Dirigent in der Welt, so sehr daraus ergibt sich das Timing, der Zeitpunkt, wo es weiterge schätze. Auf keiner dieser beiden Schienen muss ich für sich hen muss, oder, wo es Zeit ist zu verweilen. Ich finde es schwie genommen Erfolg haben, weil ich mir immer sagen kann, dass rig, sich an einer Metronomzahl festzuhalten. Da vermisse ich es noch die andere gibt. Das ist ein ganz großes Privileg, das ich Fantasie. aus meinem Leben nicht mehr wegdenken möchte. Ich erhalte Angebote, kurzfristig Dirigate zu übernehmen, wie letztes Jahr hier in Frankfurt. Drei Stücke waren mir ver Historische Zusammenhänge traut, ein viertes nicht. Wir haben es weggelassen. Das Orches Noch in den 1950er Jahren spielte man die Musik von Monte ter hatte es geprobt, konnte es spielen. Mir wäre es gelungen, verdi über Bach bis Mozart in deutlich anderen, langsameren es irgendwie runterzupinseln. Aber das ist nicht meine Aufga Tempi. Das war das berüchtigte Barockspiel, wo man heute be. Ich will dem Orchester ein ebenbürtiger Partner sein. Es ist das Gefühl hat, ein Eimer Soße und dreimal Rühren. Es fehlten nicht nur eine Frage des Berufsethos, sondern auch eine Frage historische Informationen. Die Musikinterpretation war geprägt der Wahrheitsfindung. Ich ruhe nicht, bis ich zumindest das Fotografie: Marco Borggreve durch die Romantik, insbesondere durch die französische Mu Gefühl habe, nahe an die Wahrheit heranzukommen, die in ein sik, die im guten Wortsinn sehr zeitaufreibend ist, gebaut auf Kunstwerk, ein Musikstück eingeschrieben ist. Und ich habe Harmonien, die ein ganz anderes Tempo brauchen, um im Fort den Eindruck, diese Ehrlichkeit und Seriosität wird auch heute gang begriffen zu werden. Da war Nikolaus Harnoncourt eine noch geschätzt. Erleuchtung. Nicht er allein, aber er hat uns am meisten und am 12 Tempo
Zeitdruck Es gibt Dirigenten, die sind in den Proben immer eine Stunde früher fertig. Ich kann das so nicht, habe auch kein Vergnügen daran. Ich bin nicht nur für mich verantwortlich und für das, was ich mit dem Stück vorhabe. Es sind die Musikerinnen und Musi ker, die es spielen. Ich muss berücksichtigen, dass der Fagottist mit dem schweren Solo vielleicht auch etwas ausprobieren möchte und etwas Zeit braucht. Fürsorge ist ein Charakterzug, den Dirigenten mitbringen sollten, da sie immer die Perspektive des Orchestermusikers mitdenken müssen, und nicht die eige ne. Was der Dirigent braucht, ist unwichtig. Das ist das Schwere an dem Beruf. Sie müssen alles fertig haben, obwohl Sie es vor her nie ausprobieren konnten. Als Dirigent gehöre ich zu denen, die zu wenig Zeit haben, die oft jammern, die aber dann auch immer wieder feststellen, ohne daraus zu lernen, dass es doch gereicht hat. Arbeitstempo Mein Eindruck ist – vielleicht trete ich jetzt in ein Fettnäpfchen –, dass sich Studierende heute mehr Zeit nehmen, als sie sich neh men sollten. Als ich damals in der DDR studierte, war für mich klar: Wenn ich nicht alles daransetze, Musiker zu werden, und zwar ein erfolgreicher, muss ich in einem System verharren, in dem ich nicht leben möchte. Diesen unbedingten Willen spüre ich bei Studierenden heute nicht immer, dagegen oft eine gewisse Sorglosigkeit. Mein eigenes Leben, der Blick in die Musikgeschichte zeigt mir aber: Herausfordernde Situationen bringen oft die beste Kunst hervor. Das können ein seelischer Druck sein, die Sehn sucht nach gesellschaftlicher Veränderung, finanzielle Nöte. Krisen sind große Motivatoren, die eigene Komfortzone zu ver lassen. Vielleicht geht es uns für Kunst ein bisschen zu gut, viel leicht nehmen wir es als zu selbstverständlich, dass es Kunst, dass es diese Studiermöglichkeiten gibt. Wir brauchen einen Michael Sanderling positiven Drill. Sich Ziele setzen, diese konsequent zu verfolgen und zu erreichen, auch das kann glücklich machen. Es ist letzt lich der eigene Wille, der das Arbeitstempo bestimmt, auch im Studium. Und da habe ich so hier und da meine Zweifel. → rof. Michael Sanderling ist Professor für Violoncello P an der HfMDK. Ab 2001 wandte er sich dem Dirigieren zu, arbeitete u.a. als künstlerischer Leiter und Chef- dirigent der Kammerakademie Potsdam, später als Chefdirigent der Dresdner Philharmonie. Mit Beginn der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters. „Als Dirigent dirigiere ich Stücke erst, wenn ich glaube, sie verstanden zu haben, sie gleichsam in mir erlebe“ Interpretation 13
Metronome machen Musik zur Maßarbeit, sie sind aber genau genommen nicht mehr als ein Hilfsmittel. Wie Musikerinnen und Musiker heute arbeiten, wie sie zum richtigen Tempo finden und welchen Impulsen sie dabei folgen. Im Takt 14 Tempo
Metronom versus Gefühl empfinden, denn eigentlich hat er eine Eins und einen Off-Beat, geht also in taktigen Impulsen voran. Dadurch wird das Tempo in der klassischen Musik zwar schneller, aber auch ruhiger. Harmonien: Verändern sich diese quasi auf jeder Note, kann das darauf hindeuten, dass TEXT: TIM VOGLER das Tempo mehr Zeit braucht, also tendenziell langsamer ist, „Die Entscheidung, in welchem Tempo man ein Musikstück als wenn sich die Harmonien nur in größeren Abständen än spielt, ist sicherlich eine der wichtigsten Entscheidungen, die dern. Oft löst eine langsame Tempobezeichnung wie „Adagio“ ein Interpret zu treffen hat. Aber es muss die letzte Entschei den Reflex aus, den langsamen Satz zu langsam zu spielen. dung sein, die getroffen wird. Man kann nicht einfach ein Metro- Das passiert auch nach vielen Jahren Bühnenerfahrung noch. nom nehmen und versuchen, die Musik diesem anzupassen.“ Und welche Rolle spielt nun das Metronom? Man kann es Dieses Zitat von Daniel Barenboim finde ich großartig, denn natürlich immer wieder zur Korrektur des eigenen Empfindens es kann uns dabei helfen, die Wahl eines Tempos als einen Pro nutzen. Mit Metronom zu üben, kann sehr hilfreich sein, wenn zess zu begreifen, und nicht nur als eine von einer Metronom man vermeidet, in eine mechanische Spielweise zu verfallen. zahl vorgegebene Geschwindigkeit. Barenboim spricht in dem Ebenso kann man in eine vom Komponisten vorgegebene Video auf seinem Youtube-Kanal, aus welchem dieses Zitat Metronomzahl hineinwachsen. Solches passiert, wenn eine stammt, weiterhin davon, dass man sich wirklich in die Musik Metronomzahl vielleicht, wie es zum Beispiel bei Beethoven vertiefen, sie studieren, analysieren, in alle Richtungen auspro öfter der Fall ist, anfänglich irrwitzig schnell erscheint und man bieren soll. Er vergleicht das Tempo mit einem Koffer, den man durch das Studium der Musik dieser extremen Vorgabe allmäh für eine Reise packen muss. Ist der Koffer zu klein für die lich immer näher kommen kann. Und wenn man einmal ein Sachen, die man mitnehmen möchte, wird der Inhalt zer gutes Tempo gefunden hat, ist es eine gute Idee, dieses mit knautscht, ist der Koffer zu groß, schlackert alles darin herum. dem Metronom zu messen und es zu vermerken, damit man es Temporelevant sind in diesem Sinne nicht nur die Tempo später wiederfinden kann. bezeichnung und eine dazugehörige Metronomzahl, sondern ebenso die Taktart, der Rhythmus, die Periodik, die Harmonik, → rof. Tim Vogler ist Professor für Streicherkammermusik P und bis heute 1. Geiger des von ihm 1985 gegründeten speziell der rhythmische Verlauf derselben. Die Dichte des kon Vogler Quartetts. trapunktischen Satzes und auch die Architektur des Werkes spielen ebenso eine große Rolle. Und natürlich ganz allgemein der musikalische Charakter. All diese Faktoren gilt es wahrzu nehmen und miteinander in eine Balance zu bringen. Wir wissen, dass unser Zeitempfinden je nach Situation Jenseits aller Stilrichtungen subjektiv funktioniert. So können fünf Minuten ziemlich lang TEXT: SANDRO HIRSCH erscheinen und ein ganzes Jahr kann sehr kurz sein. Zum Bei Intuitive Improvisation: Einer der führenden Musiker in dieser spiel kann ich die Jahre auf meine Zahnarztbesuche reduzieren Szene – der Trompeter und Komponist Markus Stockhausen – – dann wirken sie sehr kurz. Wenn ich aber an all das denke, beschreibt sie als „eine Musik jenseits aller Stilrichtungen, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat, dann ergibt sich ein die sich dabei jedoch keiner verweigert“. Weiterhin erklärt er, anderes, viel differenzierteres Bild. Die zwischen den Arztbe dass in der Improvisation nichts festgelegt sei, alles im Moment suchen vergangene Zeit bekommt plötzlich einen rhythmisch erscheine. Doch wie steht diese Musik zum Thema dieser strukturierten Inhalt, genauso wie Barenboims Tempokoffer. „Frankfurt in Takt“: Tempo? Konkret gefragt: Gibt es im Raum der Um ein die musikalischen Inhalte integrierendes Tempo an Intuitiven Improvisation Metrum oder Zeit? schaulicher zu machen, möchte ich noch ein paar kurze und Dazu lohnt es sich, zunächst in Kürze zu beschreiben, was praxisbezogene Assoziationen zu den oben angesprochenen diese außergewöhnliche Art des Musizierens ausmacht. Ers temporelevanten Inhalten aufzeigen. Die Taktart zum Beispiel: tens: Es gibt keine Noten, keine direkten Vorgaben, die die Mu Ist ein bestimmtes Menuett auf drei Schläge zu empfinden oder sizierenden auszuführen haben – sie sind somit frei darin, Neues eher auf einen? Diese Entscheidung kann nur erfühlt werden, Fotografie: Janine Bächle zu erschaffen. Und zweitens: Benötigt Intuitive Improvisation, macht aber einen fundamentalen Unterschied im Tempo, wel laut Stockhausen, das „Erlernen und Erkennen von Intervallen, ches deutlich flüssiger ist, wenn in ganzen Takten empfunden Skalen, Harmonien und Rhythmen als Grundlage der Improvi wird. Oder: Wie gehen wir mit einem alla breve um? Ein häufi sation (…) (sowie) das Wissen um verschiedene Formabläufe“. der Zeit ger Fehler ist, den Alla-breve-Takt in zwei gleichen Schlägen zu Von gleicher Wichtigkeit ist es, mit großem Bewusstsein 15
Student Lukas Siebert im Dirigierunterricht bei Prof. Florian Lohmann Fotografie: Janine Bächle 16 Tempo
Beethoven und großer Achtsamkeit in sich hineinzuhören, und ungefiltert Adagio con molta espressione T tönen zu lassen, was im Geiste bereits existiert. Eine Bereitschaft, b 9 œ œj œnœ œnœ nœ n œ ™ œœ™ &b b 8 Œ ‰Œ ‰ œ œj œ œ œ œ nœ ™ œ™ œ œj œnœ œ œ { sich für sich selbst zu öffnen, in den Raum und die Mitmenschen hineinzufühlen ist dabei Basis. . . . . . . . . . [simile] pp ? bb 98 œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœœœœœœœ œœœœœœœœœœœœ œœœ œœœ Das Metrum, die Zeit, ließe sich somit – auf zwei Möglich b keiten beschränkt – definieren: Die Begrifflichkeiten können pp Symbol für Strukturen im Hintergrund sein, sprich, die völlig b œœ 4 & b b œ™ œ œ œ nœ œ œ œ œ œ nœ œ œ #œ ™ œ™ œœœœ { freie Improvisation baut hier auf kleinen Minimalstrukturen auf, etwa auf Skalen, Harmonien und rhythmischen Elemen ? bb œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œ ten. Andererseits ließen sie sich verstehen als ein Symbol von b œ œ Berechenbarkeit in der Gesamtheit, als quasi-komponiert und in Verbundenheit mit Zeitempfinden. Je nachdem, in welchem Ludwig van Beethoven, aus: Sonate FeldmanB-Dur Op. 22, 2. Satz Stil – Pop, Jazz, Klassik, zeitgenössisch, frei u.a. – und in wel cher Formation improvisiert wird, können die Definitionen b œj unterschiedlich stark zutreffen. 250 bœ ™ 3 ™ 5 Geht man von einer sehr freien Improvisation aus, wäre das & Œ j Œ œ ™ Œ™ nbœœ ™™ bnœœ ∑ 4 bb˙˙ ™ 8 { œ œ™ bbœœ Œ ? b#œœ ™™ Œ ™ Fazit: Eine Improvisation nach Intuition ist fernab von Struktur, 3 5 von Metrum, – und kann durch das Gefühl von Zeitlosigkeit ge & Œ ∑ 4 n˙˙ ™™ 8 bœ ™ kennzeichnet sein. Gleichzeitig baut sie in ihrer Gesamtheit, 5 bœ ™ Œ ™ n œ Œ bœ ™ 3 Œ ™ nœ ™ 5 Œ nœ ™ j 2 255 jeder Phrase, jeder kleinsten musikalischen Einheit sehr deut &8 Œ œ nœ ™ 4 b œ ™ 8 nb œœ ™™ ∑ Ó œ 2w { lich auf gelernte Strukturen auf, etwa Skalen und rhythmische bœ w nn œœ ™ ™ b# œœ Œ nnœœ ™™ 3 ™ bbœœ ™™ Einheiten. Somit ist die freie Intuitive Improvisation die Verkör ? 58 Œ Œ™ 5 Œ b#œœœ ™™™ 2 4Œ 8 ∑ Ó j 2 ∑ ## œœ perung von Zeitlosigkeit und freier Metrik. Und paradoxerweise wäre sie aber ohne Zeit, ohne Metrum und ohne Struktur im ° ø Morton Feldman: Palais de Mari für Klavier weiteren Sinne nicht existent. → andro Hirsch ist Trompeter (Klasse Prof. Klaus S Schuhwerk). In solistischer Konzerttätigkeit hat er es sich zur Aufgabe gemacht, Brücken zwischen → Charles Ives: 4. Symphonie, 1910-1925 „klassischer“ Musik aller Epochen und Intuitiver Impro- Ives komponiert im 2. Satz („Comedy“) nicht nur mehrere visation zu bauen, das Publikum zu berühren und Temposchichten, sondern gleich mehrere Musiken, die mit- zu inspirieren, und einen Raum der Rückbesinnung einander nichts weiter zu tun haben, als dass sie gleichzeitig auf sich selbst zu kreieren. erklingen. Konsequenterweise benötigt man für das Dirigat mehrere Personen, manche Instrumentengruppen agieren www.sandrohirsch.com zusätzlich autonom: Es tanzen also nicht alle nach einer Pfeife. Pluralismus der Gesellschaft und der Stile, Demokrati- sierung des Musizierens, Abkehr vom komponierenden Schöpfer-Genie: Mit diesen Ideen ist der Autodidakt Ives Weg- Taktlos: Vom Tempo und bereiter nicht nur der amerikanischen Avantgarde geworden. seinen Grenzen → Olivier Messiaen: Quatuor pour la fin du Temps In der „Louange à l’Èternité de Jésus“ heißt es „infiniment lent, extatique“, 16tel=44, also Viertel=11. Ein Tempo nicht TEXT: FLORIAN HÖLSCHER von dieser Welt, Puls der Ewigkeit, der göttlichen Harmonie. Man muss nur ganz wenig übertreiben, wenn man behauptet, Die einzelnen Anschläge strukturieren nicht mehr die Zeit, dass in der abendländischen Kunstmusik des 17. und 18. Jahr sondern übersetzen eine Zeitlosigkeit in Klang. hunderts die Vorstellung von Tempo eng verknüpft war mit Ka tegorien der (menschlichen) Natur: wahlweise mit dem Puls, → Morton Feldman: Palais de Mari für Klavier, 1986 Das gehörte Tempo des 30-minütigen, extrem leisen Spät- dem Affekt, der getanzten Bewegung oder der Sprache. Doch es werks ist sehr langsam, oft liegen zwischen zwei Klängen gibt Alternativen, Neubestimmungen, kulturelle Inspirationen. mehrere Sekunden. Weil das rechte Pedal durchgängig gedrückt bleibt, verschwimmen die Grenzen zwischen Aus- klang und Pausen. Wie eine zweite Schicht ist ein durch- FÜNF UNSYSTEMATISCHE UND ZUFÄLLIGE SCHLAGLICHTER gängiger Puls komponiert, der in unregelmäßigen Takten → Ludwig van Beethoven: Sonate B-Dur op. 22, 2. Satz zusammengefasst ist: 5/8, 3/4, 2/2, 3/8, 1/2. Gelegentlich fallen Takt und Klänge zusammen, das Metrum ist dann Hier wirken gleichzeitig drei Tempi: ein metrisches (in 3), identisch mit dem Rhythmus. In diesen Momenten scheint ein pulsierendes (in Achteln) und ein extrem langsames die fragile Musik eine gewisse Festigkeit zu bekommen. harmonisches Tempo, das in Einzelschritten von etwa Häufig jedoch bleibt die pulsierende Schicht im Hintergrund MM = 6 voranschreitet. Beethoven verzahnt diese Tempo- und wirkt auf die Klänge ebenso wie auf die Stille ein. ebenen nicht nur mit einer ausgezierten, kantablen Ober- Eine Musik der Abwesenheit, der pulsierenden Trauer, des stimme. Sondern indem der Puls – eigentlich ein vertikales Übergangs von Klang zu Leere. Element – den immer gleichen Klang erneuert, mutiert er zur pulsierenden Fläche, die jeweils durch die neue Harmo- nie begrenzt wird. Indem drei Tempoebenen wirken und ineinandergreifen, sind Einfachheit, Kantabilität und Größe in eins komponiert. Temporelationen 17
° > > > > > > > > > > > > Tempo ohne Technik ™ ™ ™ ™ TEXT: LUCAS FELS Hier geht es nicht um eine Begriffsbestimmung oder eine histo rische Einordnung dessen, wie sich „Tempo“ im Lauf der Jahr > > > > > > > > > hunderte gewandelt hat, auch nicht um eine physikalische Be > > > > > > > > > > > > stimmung oder das oft falsch beschworene „Tempogefühl“, ™ ™ ™ ™ ™ ™ nicht um analytische Hinweise auf das Tempo – als den musi kalischen Charakter definierendes Element. Sondern: Es geht um Tempo als kompositorisches Element, als Parameter zur Ordnungs- und Organisationshilfe, und es geht um Spielhilfe. j j ¢ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Die Frage lautet: Wie koordiniert man sich mit seinem Instru Rhythmusschema aus einem Gesang der Aka-Pygmäen ment unter den Mitspielenden rhythmisch und metrisch, wenn dies über das Gehör oder vertraute kompositorische Strukturen → Musik der Aka-Pygmäen und nicht mehr möglich ist – beispielsweise aufgrund hoher György Ligeti: Etüden, 1985-2001 Komplexität oder ungewohnter, unstrukturierter Klangflächen? Gar nicht in Takten, Metren und ihren Teilungen denken Der Fokus ist im Folgenden auf Musik gerichtet, die seit viele afrikanische Musikkulturen. Stattdessen entstehen etwa Mitte des vorigen Jahrhunderts geschrieben wurde, und polyrhythmisch äußerst reiche Strukturen jeweils aus den auf ihre neuen und zum Teil extremen Herausforderungen. Vielfachen von rasend schnellen Grundpulsteilchen, die durchaus ein Tempo von MM=900 haben können. Zwar treffen sich die einzelnen rhythmischen Schichten in regel- ALS ANREGUNG ZUR WEITEREN BESCHÄFTIGUNG SEIEN HIER mäßigen Abständen wieder (meist nach 12 oder 24 Grund- EINZELNE KOMPONISTINNEN UND KOMPONISTEN GENANNT: pulsteilchen). Die atemberaubende Präzision lässt sich allerdings nur durch ein rhythmisch additives Denken erklären. → Nadia Boulanger, die revolutionär rhythmisch-metrische Ligetis Spätwerk ist ohne seine „Entdeckung“ dieser Neuerungen der Musik von Béla Bartók und Igor Stravinsky Kulturen nicht denkbar – er komponiert unterschiedliche an die nächsten Generationen weitergegeben hat. Temposchichten wie verschieden große Zahnräder, die ineinandergreifen. → John Cage, der zwei Extreme auf der Zeitachse bietet. In „4'33’’ ist nur mehr Anfang und Ende der „Komposition“ technisch definierbar. In „ASLSP“, der 639 Jahre dauern- → Prof. Florian Hölscher ist Professor für Klavier. den Orgelversion von Halberstatt, gibt es ein mit den Ohren wahrnehmbares akustisches Ereignis, das von aller Tempo- erfahrung befreit ist. → Brian Ferneyhough, in dessen Kompositionen sich Met- rum und Rhythmus völlig voneinander gelöst haben, bei dem es Lineal und Taschenrechner braucht, um eine Partitur umsetzen zu können. → Olivier Messiaen, von dem überliefert wird, „ein Musiker ist zwangsläufig Rhythmiker, sonst verdient er es nicht, Musiker genannt zu werden“. → Enno Poppe, bei dem „mathematische Modelle, die die Simulation pflanzlichen Wachstums beschreiben“ zur Partitur werden – und damit zur Herausforderung für die Interpreten. → Karlheinz Stockhausen, der die Vergänglichkeit der Zeit neu definierte. Wir sollten uns als Interpretinnen und Interpreten die Mühe machen, das Tempo (auch) unabhängig von technischen Mit teln definieren zu können und es ohne Einfluss von „Spielge fühl“ ins Laufen zu bringen. Meine über Jahrzehnte gewonnene Erfahrung im Quartett und im Ensemblespiel hat mir in der Praxis immer wieder gezeigt, beim Tempo strikt von Relationen auszugehen – und musikalischen Werkcharakter sowie alles unter „Tempogefühl“ Subsummierte wenigstens vorerst auszu klammern. Das Wissen und das Erlernen der Temporelationen ist in der Praxis der Neuen Musik unverzichtbar. Beinahe alle gebräuch- lichen Tempi von 30 bis 420 kann man von Tempo 60 (1 Sekunde) genau ableiten. Fotografie: Janine Bächle 18 Tempo
Lob der Langsamkeit TEXT: EIKE WERNHARD Das Üben prägt den Alltag des professionellen Musikers. Zwischen der ersten Durchsicht eines Stücks und seiner konzert reifen Beherrschung liegen unzählige Arbeitsstunden, die, um effektiv zu sein, strategisch geplant, methodisch durchdacht und in allen Phasen sinnvoll strukturiert sein müssen. Angesichts die ser Vorgaben erweist sich das Üben selbst als eine Kunst. Über wiegt zum Beispiel der nur allzu verständliche Drang, die Musik möglichst oft und im angestrebten Endtempo durchzuspie len, anstatt sie systematisch in ihre Komponenten zu zerlegen und zu verinnerlichen, bleibt der Prozess der Aneignung ober flächlich, geht weder musikalisch noch technisch in die Tiefe und hält dem Druck des Konzertpodiums nicht stand. „Ich kenne dieses Werk nicht gut genug, um es langsam spielen zu können.“ Dieser Franz Liszt zugeschriebene Satz um reißt die Relevanz der Langsamkeit für das instrumentale Ler nen: Unterschreitet das Tempo eine bestimmte Grenze, greifen sowohl die automatisierten Spielabläufe als auch das motori sche Gedächtnis nicht mehr oder nur noch in reduzierter Form und werden durch bewusste Steuerungsprozesse sowie durch bewussten Nachvollzug des Notentextes ersetzt. Gezwungen, nun mit einer anderen, wesentlich aktiveren Aufmerksamkeit vorzugehen und in jeden Winkel eines Stücks denkend vorzu dringen, sammelt unser Gehirn konkrete Informationen, die unsere musikalische Intuition unterfüttern und absichern. Das langfristige Ergebnis ist nicht nur ein wesentlich reflektierteres, sondern auch stabileres und – je nach den Erfordernissen – auch brillanteres Spiel. Dass instrumentales Üben und sportliches Training bis zu einem gewissen Grad auf gemeinsamen Prinzipien beruhen, ist seit geraumer Zeit Gegenstand der Forschung. Langsameres Laufen macht schneller, heißt es heute in der Leichtathletik. Entsprechend dieser Devise entwickelte der TEMPORELATIONEN amerikanische Sportwissenschaftler Stephen Seiler die inzwi schen als sehr erfolgreich bestätigte 80/20-Methode, bei der 80 1 Viertelnote 60 (60 · 1) Prozent des Trainings im niedrigen und nur 20 Prozent im mo 1 Achtel 120 (60 · 2) deraten bis hohen Tempobereich absolviert werden. 1 Triolenachtel 180 (60 · 3) Natürlich ist im Bereich der Musik das langsame Üben nur eine unter vielen anderen notwendigen Arbeitsstrategien. 1 Quintolensechzehntel 300 (60 · 5) Außerdem sind zum Beispiel Streichern und Bläsern nach 1 punktiertes Achtel 80 (60 · 4 : 3) unten Tempogrenzen gesetzt, da weder der Atem noch die Bogen- 1 punktierte Viertel 40 (60 · 2 : 3) geschwindigkeit beliebig verlangsamt werden können, und 1 punktiertes Quintolenachtel 100 (60 · 5 : 3) bei allen Instrumenten erfordert jeder Tempobereich einen be stimmten spezifischen Bewegungsablauf, der nicht ohne weite res auf andere Tempi übertragbar ist. Mit diesen Einschränkun Das heißt, beim letzten Beispiel: Ich denke mir eine Quintole gen ist für die künstlerische Entwicklung das langsame Üben in T. 60, ein Schlag davon entspricht Tempo 300, drei Schläge eine wesentliche Voraussetzung. Wer es zum ersten Mal kon T. 100, zwei T. 150 und vier T. 175. So lassen sich mit Untertei sequent praktiziert, stellt fest, dass es viel schwieriger und an lungen von beispielsweise Sechzehnteln, Triolen und Quintolen strengender ist als gedacht. Doch wie bereits Novalis vor über Metronomzahlen genau ermitteln. Viel Spaß beim Rechnen und zweihundert Jahren schrieb: „Was einem Mühe kostet, das hat gutes Gelingen bei der spielerischen Anwendung! man lieb.“ → rof. Lucas Fels ist Professor für Interpretatorische P → rof. Eike Wernhard ist Professor für Klavier und P Prodekan im Fachbereich 2 (Lehrämter, Wissenschaft Praxis und Vermittlung neuer Musik. und Komposition). Temporelationen 19
Ergebnisse einer Instagram- Ist Pendeln verschwendete Zeit? Umfrage übers Pendeln (194 Personen haben teilgenommen) auf @hfmdk.frankfurt, durch- geführt Ende Februar 2020 Ja: 54 % HIN & HER Wie kommst du zur HfMDK? (106 Personen haben teilgenommen). Verkehrsmittel mit der Anzahl ihrer Nennung, teilweise auch als Kombinationen angegeben. Nein: 46 % (33) (25) (25) Womit verbringst du die Zeit, wenn du pendelst? (117 Personen haben teilgenommen) → Lesen (25) (24) → Musik hören (23) (10) → Arbeiten, recherchieren und Dinge organisieren (10) → Podcasts oder Hörbücher hören (9) (7) → Social Media oder Spielen am Handy (8) (8) (6) → Aus dem Fenster schauen (7) → Schlafen (5) → Mails oder Nachrichten schreiben (5) → Partitur lesen (5) Wie lange bist du unterwegs, → Lernen (4) von deiner Tür zur HfMDK? → Serie schauen (3) (210 Personen haben teilgenommen) → Entspannen und Träumen (3) Durchschnittlich: → Mit Leuten im Zug reden/ mich unterhalten (2) etwas mehr als 30 Minuten → Text lernen (2) → Hörproben verinnerlichen (2) → Interpretation von Texten (1) → Singen üben (im Auto) (1) → Markieren (1) → Schreiben (1) Grafik: State → Denken (1) 20 Tempo
THE NEW WORLD STANDARD IN CONCERT GRAND PIANOS. YAMAHA.COM 21
Gezielte Reizarmut Szeneabend Gesang 2020 22 Tempo
Sängerinnen und Sänger müssen auf der Bühne schnell reagieren können. Was sie dafür besonders trainieren: ihre Wahrnehmung. TEXT: ULF HENRIK GÖHLE Auf Tempo zu kommen, schnelle und vor allem präzise Bewe Dieser Prozess der zunehmenden Geschmeidigkeit ist gungen zu produzieren, die sogar noch ästhetischen Ansprü nicht zu unterschätzen, denn er ermöglicht wiederum verbes chen gerecht werden wollen, dafür muss das menschliche Ge serte Wahrnehmungsfähigkeiten nach dem Weber-Fechner- hirn ein gigantisches Ensemble von 639 Muskeln koordinieren. Gesetz. Leider sind unnötige Muskelaktivierungen nicht nur Unsere Bewegungen können in nicht-bewusstseinsfähige als Folge ungeübter Bewegungsabläufe, sondern nicht selten ein auch in bewusstseinsfähige unterteilt werden. Letztere wiede Resultat von Übermüdung: Ist das Nervensystem überlastet, rum in bewusstseinspflichtige als auch in nicht-bewusstseins „fährt“ insbesondere die tiefliegende Haltungsmuskulatur in der pflichtige Anteile. Für die Professur Bewegung an der HfMDK Spannung dauerhaft hoch. sind nun besonders die nicht-bewusstseinspflichtigen Anteile Was zunächst wie ein reines Gesundheitsproblem wirkt, wichtig. Sie bilden ein zentrales Feld der Körper- und Bewe ist aber bei näherer Betrachtung auch ein ästhetisches Mal gungsarbeit und spielen auch im Hinblick auf die Kategorie heur. Denn die Zunahme an tiefliegender Muskelspannung geht „Tempo“ eine entscheidende Rolle: Jede Steigerung des Bewe einher mit einer Abnahme an differenzierter Wahrnehmungs gungstempos vermindert den Anteil der bewusstseinsfähigen fähigkeit. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit wird aus Anteile. Je intensiver und schneller Reize auf uns einwirken oder dieser Perspektive zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für die wir uns bewegen, umso weniger sind wir in der Lage, Details Feinarbeit an den künstlerischen Wahrnehmungen. zu spüren. Denken Sie daran, wie in Pianissimo-Stellen beim Orchester → rof. Dr. Ulf Henrik Göhle hat seit dem Sommersemester P 2020 die Professur für Bewegung in der Abteilung konzert plötzlich jedes Rascheln zu hören ist, während beim Gesang/Musiktheater inne. Zuvor war er Professor Fortissimo komischerweise anscheinend nie jemand hustet. Im für Gesundheitspädagogik an der IB-Hochschule in stillen Wald, das wäre der erste Fall, an der vielbefahrenen Straße Stuttgart. Göhle ist Diplom-Musiklehrer und Motologe der zweite. Dieser Zusammenhang wurde im Weber-Fechner- (M.A./Dr. phil.). Die Motologie beschäftigt sich als Gesetz beschrieben. Dies besagt, dass der Zusammenhang zwi Wissenschaft mit der Verbindung zwischen Psyche schen einem Stimulus und seiner Wahrnehmung logarithmisch und Bewegung. Seit Januar ist er auch Vorstand der ist: Je größer das Grundrauschen, desto stärker muss sich ein Wissenschaftlichen Vereinigung Psychomotorik Reiz davon abheben, damit wir ihn wahrnehmen können. und Motologie. Was für „langsames Üben“ jeder Kunstform selbstver ständlich ist, um feinste Nuancen zu erfassen, wird in der Be wegungsarbeit konsequent weitergedacht, um so mit unserer Wahrnehmung in die Tiefen unseres Körpers vordringen zu können. Kleinste Bewegungsaufgaben, gezielte Reizarmut und Wahrnehmungsübungen in Entspannung sind die Wege, um an mehr bewusstseinsfähige Bewegungsmuster zu kommen und dann überhaupt erst damit ästhetisch arbeiten zu können. Bemerkenswert dabei ist, dass die Profis der Bewegung immer ökonomischer werden und unnötige Spannungen (= unnötige Reize) nach und nach abbauen. Fotografie: Tayfun Selcuk „Je größer das Grundrauschen, desto stärker muss sich ein Reiz davon abheben, damit wir ihn wahrnehmen können“ Wahrnehmung 23
Berichte aus dem Bühnenalltag Hochbetrieb Rastlos im Rampenlicht TEXT: JULIAN VON HANSEMANN Schauspiel Ein befreundeter Regisseur hat einmal zu mir gesagt, er bräuchte eigentlich mindestens ein halbes Jahr Zeit, um ein Theaterstück zu erarbeiten. Eine wirklich tiefergehende Beschäftigung mit der Materie sei ihm sonst kaum möglich. Gemessen an der Realität des deut schen Stadttheaters ist das natürlich eine nahezu utopische Vorstellung. Sechs bis acht Wochen von der Konzeptionsprobe bis zur Premiere, mehr Zeit haben Schauspielerinnen und Schauspie ler in aller Regel nicht, um einen Hamlet, eine Antigone, einen Faust darstellerisch zu erarbeiten. Das kann eine unglaubliche intellektuelle, körperliche und nicht zuletzt psychische Kraftanstren gung und ein beinahe wahnwitziges Arbeitstempo bedeuten. Nach der Abendprobe um 22 Uhr noch den Text zu lernen, der für die Probe am nächsten Morgen erwartet wird, gewaltige szeni sche Änderungen von der Hauptprobe am Donnerstag zur Generalprobe am Freitag umzuset zen, drei, vier verschiedene Vorstellungen in einer Woche zu spielen (parallel zu den laufenden Proben), sind keine seltenen Vorgänge. Als ich im vergangenen Jahr Premiere mit „Leonce und Lena“ hatte, hatte ich am Folgetag um 10 Uhr eine Übernahmeprobe für einen erkrankten Kolle gen. Der Abend, den ich zu übernehmen hatte, dauerte drei Stunden, ich musste in den letzten Probentagen für „Leonce“ also ganze Textberge auswendig lernen und mir ständig die Videoauf zeichnung der Aufführung ansehen, damit ich überhaupt eine Idee davon bekam, was ich da tun würde. Denn am Tag nach der Übernahmeprobe stand ich mit dem Stück schon vor Publikum auf der Bühne. Gleichzeitig kann es passieren, dass ich mit einer kleineren Rolle besetzt werde oder die Premiere des einen und der Probenbeginn des anderen Stücks ein paar Wochen auseinan derliegen – und dann ist plötzlich viel Zeit da. Drei, vier Wochen mit einer Handvoll Proben und Illustration: Jan Buchczik Vorstellungen, fast Urlaub. Bevor dann wieder alle Kräfte gespannt werden, um wie ein Hundert meterläufer zu explodieren. → ulian von Hansemann, Absolvent der HfMDK (2018), ist seit der Spielzeit J 2017/ 2018 Ensemblemitglied am Staatstheater Mainz. 24 Tempo
Ton in Ton TEXT: RAMON JOHN Tanz Tempo ist für uns keine Sache der Notation wie in der Musik, sondern der Dynamik, der Bewegungen und vor allem: der Choreographie. Von ihr hängt alles ab, auch, ob wir uns mit oder gegen die Musik bewegen. Da wir häufig mit Neukreationen arbeiten, haben wir beim Tempo auf der Bühne heute oft mehr Freiheiten. Das heißt: Wir können uns heute anders in Beziehung zur Musik setzen, müssen das durch die Notation vorgegebene Tempo nicht 1:1 übernehmen. Wie ich dabei das richtige Tempo treffe: Ich achte auf den Dirigenten. Er ist immer ein guter Refe renzpunkt, auch ohne direkten Blickkontakt. Stichwort Körpergedächtnis: Man spürt es einfach, wenn das Orchester anfängt, das Tempo schneller oder langsamer wird, entwickelt dafür eine Routine. Daraus erklärt sich auch, wieso es schwierig ist, wenn sich Routinen ändern – wie es 2019 beim „Nussknacker“ an den Staatstheatern Darmstadt und Wiesbaden der Fall war. Wir arbeiteten mit mehreren Dirigenten, da hat das Tempo doch sehr variiert, teilweise kam ich wirk lich an meine Grenzen. Zum Beispiel als es einmal so langsam wurde, dass ich für einen Sprung eigentlich hätte schweben können müssen. Generell ist es so: Vor einer Produktion einigen sich die Dirigenten, die musikalische Leitung und unsere Leitung auf eine Version der Musik, nach der dann geprobt wird. Zwischendurch erhalten die Dirigenten von uns ein Feedback – hier ist es zu schnell, dort zu langsam und so weiter –, und sie setzen das um. Kommt es später live, während einer Aufführung, dann doch zu Abweichungen, kann man nicht viel mehr tun, als inuitiv zu folgen – den anderen Tänzerinnen und Tänzern, der Musik. → amon John, Absolvent der HfMDK (2011) und Träger des Deutschen Theaterpreises R „Der Faust“ in der Kategorie Darstellerin/Darsteller Tanz (2018), ist derzeit Mitglied des Hessischen Staatsballetts. Wie Prof. Ralph Abelein gehörte er zum Ensemble des Ballets „Der Nussknacker“, das Ende 2019 an den Staatstheatern Darmstadt und Wiesbaden aufgeführt wurde (Choreographie: Tim Plegge). TEXT: RALPH ABELEIN Musik Bevor ich 2005 zur HfMDK kam, war ich Dirigent bei den Stuttgarter Musicalproduk tionen. Dass ein Tempo in der Musik und im Tanz zum Teil sehr unterschiedlich wahrgenommen wird, gehörte dort zu meinen Grunderfahrungen: In der Musik kann das Tempo zwar metrono misch genau festgelegt werden, doch schon kleine Abweichungen davon wirken sich auf Tänzer‑ innen und Tänzer unmittelbar aus. War eine Nummer aus Musikperspektive nur ein wenig schneller als sonst, vielleicht fünf, sechs Metronomklicks, konnte es passieren, dass sie die Musik als doppelt so schnell empfanden. Diese Erfahrung hat mich geprägt und als Musiker bereichert: Solche Situationen zeigen, wie diffizil Tempofragen sind, wenn es um das Miteinander von Tanz und Musik geht. Musikerinnen und Musiker, Tänzerinnen und Tänzer – alle haben ihre Tages form und setzen Noten und Choreographie nicht jeden Tag genau gleich um. Herausfordernd ist es, wenn ich die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne nicht sehen kann, wie zuletzt bei den „Nussknacker“-Aufführungen in Darmstadt und Wiesbaden: Ich saß an der Hammondorgel mit dem Rücken zum Bühnengeschehen und musste ein Tempo anbieten, ohne es visuell prüfen und anpassen zu können. Der Idealzustand für mich als Musiker ist: Wenn ich intuitiv das Tempo treffe – ohne aufs Metronom schauen zu müssen. Dieses Gefühl, dass der Körper einfach weiß, wie es geht, ist sehr befreiend, sehr positiv. → rof. Ralph Abelein ist Professor für Schulpraktisches Instrumentalspiel an der HfMDK P und als Jazzpianist, Arrangeur, Komponist und Dirigent aktiv. An der Hochschule initiierte er 2008 das jährlich stattfindende Projekt „Musik für Stummfilme“ und 2009 den HfMDK Jazz- und Popchor. Sein Lehrbuch „Liedbegleitung und Klavierimprovisation“ wurde bisher in vier Sprachen veröffentlicht. Protokolle 25
Fotografie: Janine Bächle
Keine Bewegung ohne Stillstand, keine Beschleunigung – ohne abzubremsen: Über Tempowechsel und Körperarbeit im Tanz TEXT: MARTIN NACHBAR Von der Dynamik, Neues zu lernen Als Tänzer und Choreograph stehe ich immer wieder vor der Ruhe und Bedacht helfen dabei, diese Spannungsmuster Frage, wie ich einen neuen Bewegungsablauf lernen oder auch loszulassen und offen zu bleiben – mit Entschleunigung hat das lehren kann – über Nachahmung, technische Erklärung oder allerdings wenig zu tun. Das meine ich kritisch. Heute wird oft über Bilder und Metaphern? Oder über eine Mischung aus das Tempo neuer Technologien beklagt. Als Gegenmittel wer alldem? Aber nicht nur Bewegungsabläufe sind von Belang. Oft den Entschleunigung und Achtsamkeit gefordert. In Semina geht es auch um Bewegungsqualitäten, wie zum Beispiel „flie ren werden gestresste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so weit ßend“ oder „gebunden“. Oder das Lernen gilt der Verbindung vom Arbeitsstress heruntergefahren, dass sie nachher wieder von Körperhaltung, Bewegung, Emotion und Intention. Immer mit vollem Tempo der Umsatzsteigerung dienen können. Eine aber steht der Körper mit sei nen Bewegungen im Fokus. Diese solche Entschleunigung hat mit Lernen wenig zu tun. Sie öffnet Bewegungen behandeln Tanz als Handlung und zugleich als die Körpertechniken nicht zu neuen Handlungsmöglichkeiten in Technik, bei der die Handlung in ihre Einzelteile zerlegt, dazu in einer Welt voll neuer Technologien. Eher richtet sie Menschen ihrer Motorik verstanden und experimentell neu zusammenge darauf ab, noch produktiver zu werden und noch mehr zu kon setzt werden kann. sumieren. Sie macht Menschen für Algorithmen vorhersehbar. Man könnte sagen, Tanz behandelt Handlung als Körper Wir Menschen aber haben uns seit der Erfindung des technik, ganz im Sinne des französischen Soziologen und zweibeinigen Gehens mit jeder neuen (Körper)technik immer Ethnographen Marcel Mauss, für den der Körper das erste ein Stück weit desorientiert und schließlich immer wieder neu Instrument der Menschen ist. Tanz spielt und experimentiert erfunden. Wenn wir uns als Spezies also irgendwie auszeich mit diesen Körpertechniken und findet so immer wieder neue nen, dann dadurch, dass wir immer bereit waren, Neues zu Kombinationsmöglichkeiten von Bewegungen als Bezugnah lernen und für uns selber unvorhersehbar zu werden. me zur Welt. Dabei spielt auch das Tempo eine Rolle, allerdings Als Professor für szenische Körperarbeit im Theater stehe nicht so sehr als absolut messbare Geschwindigkeit, sondern ich vor der Frage, wie sich meine Bewegungsexpertise auf die als ein Verhältnis zwischen schnell und langsam. Fragen der Schauspielerei übertragen lässt. Und damit bin Im Tanz wird dieses Verhältnis als Dynamik bezeich- ich – in Zusammenarbeit mit den Studierenden und anderen net. Anders als in der Musik, wo der Begriff die Tonstärke Lehrenden – wieder beim Erlernen von Neuem. bezeichnet, geht es im Tanz um Ent- und Beschleunigung. Eine dynamische Tänzerin ist also kein lauter Mensch, sondern kann → rof. Martin Nachbar hat zum Sommersemester P die Professur Szenische Körperarbeit im Fachbereich 3 schnell das Tempo wechseln. Es geht um Schwung, Kraftent (Darstellende Kunst) übernommen. Er ist Tänzer, faltung, Beschleunigung – und Abbremsen. Um etwas Neues zu Choreograph und Performer, unterrichtet hat er bisher lernen, braucht es zunächst: Ruhe und Bedächtigkeit. Ohne sie u.a. an der Hollins University (USA), an den Performing Fotografie: Martin Nachbar wird man sich kaum in dem zu erkundenden Feld oder Bewe Arts Research and Training Studios P.A.R.T.S. (Belgien) gungsablauf orientieren können. Denn wir neigen dazu, im sowie am Trinity Laban Conservatoire of Music and Umgang mit etwas Unbekanntem Angst oder Stress zu verspüren. Dance (Großbritannien). Die damit einhergehenden körperlichen Spannungsmuster sind nicht gerade hilfreich, um sich auf Neues einzulassen. 28 Tempo
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