Gemeinde Ein Tag in der - Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag von Kirchengemeinden - Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck

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Gemeinde Ein Tag in der - Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag von Kirchengemeinden - Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
Februar 2019

      Ein Tag in der
        Gemeinde

       IN DER STADT UND AUF DEM LAND
       Ungewöhnliche Einblicke in den
       Alltag von Kirchengemeinden
Foto: medio.tv/Schauderna
Gemeinde Ein Tag in der - Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag von Kirchengemeinden - Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
THEMA

                                                    Was ist für Sie eine
Inhalt                                              gute Kirchengemeinde?

                                                                                                                            Foto: M. Siegk
THEMA                                                         Begegnungen mit ande-
                                                              ren, auch abseits der ei-

4         er hätte das gedacht?
         W
         Wie es in evangelischen Kirchenge-
         meinden zugeht
                                                              genen Milieus, sollten in
                                                              Kirchengemeinden vor-
                                                              behaltlos möglich sein.

6        Matthäuskirche Kassel:                              Wir sind keine geschlos-
          Von gelangweilten Eseln und einer                   sene Gesellschaft, das
          Königin im Vorstand                                 erleben wir täglich aufs
                                                              Neue. Von der Kirchen-

9        Kirchengemeinde Wallroth:                           gemeinde erwarte ich einen Beitrag für ein

                                                                                                                                                              Umfrage: Matthias Siegk, Sontra
          Puppentaufe, Gnadenhochzeit                         gelingendes Miteinander – Solidarität im hu-
          und Konfibasteln                                    manitären wie im christlichen Sinn. Vielleicht
                                                              braucht es beim Blick auf die Gemeinschaft

12  	Interview mit Prof. Bude: Eine Art
      von Aufgehobenheitsgefühl
                                                              und die Frage, was diese für jeden Einzelnen
                                                              bedeutet, gelegentlich ein Update.

14       CROSS Jugendkulturkirche
                                                         Bernd Helbach (67), Rentner und Filmemacher in
                                                         Waldkappel-Kirchhosbach

15       Gebärdensprachgemeinde Fulda

                                                                                                                                             Foto: M. Siegk
16       Das kann doch nicht wahr sein ...                                 Auf dem Dorf verbindet
                                                                           das Engagement in der
                                                                           Kirchengemeinde über

24   	Kirchenglocken: „Wenn es
       bimmelt, kommt ihr rein!”
                                                                           Generationen hinweg.
                                                                           Das erlebe ich in meiner
                                                                           Familie: Meine Frau Hei-
LANDESKIRCHE                                                               drun war im Kirchenvor-
                                                                           stand aktiv und leitete

18       Mitmachen im Kirchenvorstand                                      15 Jahre den Kindergot-
                                                                           tesdienst. Unsere Töchter Kathrin und Kirsten
                                                                           führen diese Familientradition fort. Ich erwarte
                                                                           von meiner Gemeinde, dass sie in Zeiten gro-
RATGEBER
                                                                           ßer Sparzwänge an Traditionen und christli-
                                                                           chen Werten festhält und dafür sorgt, dass
19       Im Miteinander liegt die Kraft
                                                                           es bei kirchlichen Anlässen wie Trauung oder
                                                                           Konfirmation auch zukünftig festlich zugeht.

UNTERWEGS                                                             Erhard Franke (60), Betriebsschlosser aus
                                                                      Weißenborn-Rambach

20       Langeoog lockt: Ab auf die Insel!

                                                     IMPRESSUM
RÄTSEL                                               Herausgeber: Landeskirchenamt der
                                                     Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck

22
                                                     Wilhelmshöher Allee 330, 34131 Kassel
         Die Basis der Kirche
                                                     Redaktion: Lothar Simmank (Ltg.), Olaf Dellit
                                                     Heinrich-Wimmer-Straße 4, 34131 Kassel          Beirat: Dr. Anja Berens, Christian Fischer,

23
                                                     Telefon 0561 9307–152, Fax –155                 Carmen Jelinek, Eckhard Lieberknecht,
     	Zu gewinnen:                                                                                  Petra Schwermann, Detlev Wolf
                                                     redaktion@blick-in-die-kirche.de
       Ausflug nach Langeoog                         www.blick-in-die-kirche.de                      Gestaltung: Lothar Simmank, Olaf Dellit

2    blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019
Gemeinde Ein Tag in der - Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag von Kirchengemeinden - Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
EDITORIAL

                                                                                                         Liebe Leserinnen,

                                                                       Foto: M. Siegk
   Meine Kirchengemeinde
   sollte mich aufnehmen –
   egal, wie ich mein Leben
                                                                                                         liebe Leser,
   führe. Sie sollte offen
   sein für Neues und an                                                                                 Martin Luther hätte das Wort „Kir-
   Modernität wachsen.                                                                                   che“ am liebsten abgeschafft und
   Gleichzeitig freue ich                                                                                stattdessen das Wort „Gemeinde“

                                                                                                                                                                           Foto: medio.tv/Schauderna
   mich, wenn sich aus der                                                                               benutzt. Auch Dietrich Bonhoeffer
   Gemeinde heraus Neu-                                                                                  lenkte den Blick von der „Kirche“
   es entwickelt – ein Gospel-Chor, Akteure für‘s                                                        weg auf die Gemeinde, wenn er
   Krippenspiel, Zusammenschluss mit anderen                                                             sagt: „Christus existiert als Gemein-
   Gemeinden, wenn die eigenen Ressourcen                                                                de.“ In der biblischen Tradition ist
   für attraktive Angebote nicht reichen. Ich bin                                                        es vor allem der Apostel Paulus, der
   dankbar, dass ich eine Kirchengemeinde habe,                                                          diesen Gedanken stark macht: Die
   in der ich mich gut aufgehoben fühle.                                                                 Gemeinde ist der Leib Christi, zusammengesetzt aus vielen
                                                                                                         verschiedenen Gliedmaßen.
Katja Strohschein (29), selbstständige Fotografin
in Sontra                                                                                                Das Gemeindeleben ist vielfältig – so vielfältig, wie wir
                                                                                                         Menschen eben sind. Es ergibt keinen Sinn, alles über ei-
                                                                                                         nen Kamm scheren zu wollen. Immer war es eine Stärke der
                                                                                                         evangelischen Kirche, so wenig „Kirche“ wie nötig zu sein
                                                                                        Foto: M. Siegk

                 Johannes: „Bunt und                                                                     und so viel „Gemeinde“ wie möglich.
                 lebendig soll es sein in
                 einer Kirchengemeinde.                                                                  Ich glaube, wir müssen neu lernen, den Blick darauf zu
                 Ich freue mich, wenn                                                                    richten, was „vor Ort“ geschieht: Welche Menschen bilden
                 alles, was in der Kirche                                                                die Gemeinde – und wie leben, arbeiten und beten sie mit-
                 passiert, viel lebendiger                                                               einander? Als evangelische Kirche wissen wir, dass Vielfalt
                 wird. Wenn ich dort ei-                                                                 Ausdruck des Glaubens ist und nicht von allzu viel Organi-
                 nen Freund treffe, möch-                                                                sation erdrückt werden darf.
                 te ich den begrüßen
                 können und nicht immer nur still sitzen und to-                                         Dieses Heft will den Blick auf zwei exemplarische Kirchen-
                 tal ruhig sein müssen. Mehr Farbe, mehr Licht                                           gemeinden lenken – als Ermutigung und Anregung. Es
                 in der Kirche wären gut. Wenn Gott die Welt                                             stimmt: In der Gemeinde begegnen wir nicht nur anderen
                 so gewollt hätte, wie unsere Pfarrer immer an-                                          Menschen, sondern Christus selbst.
                 gezogen sind, hätte er sie ja gleich in nur die-
                 ser einen Farbe erschaffen können.“                                                     Herzlichst
                 Hanna: „Ich wünsche mir, dass man in der                                                Ihr
                 Kirche Spaß hat!“

             Johannes (9) und Hanna-Marie Volz (5) besuchen
             die Wiesenschule und den Kindergarten Wiesenwichtel                                         Prof. Dr. Martin Hein
             in Sontra-Ulfen                                                                             Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck

 Herstellung:
 Dierichs Druck + Media GmbH & Co KG, Kassel
 Vertrieb: HNA, Kassel u. a.

 Mehr Informationen über die vielfältigen Angebote der Evangelischen Kirche von
 Kurhessen-Waldeck finden Sie im Internet:      www.ekkw.de

                                                                                                                      blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019     3
Gemeinde Ein Tag in der - Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag von Kirchengemeinden - Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
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                                                                                                     Wer hätte das
                                                                                                     		 
                                Foto: pixabay

                                                                                                        Wie geht es wirklich zu in
                                                    Pfarrer arbeiten nur sonntag-                                           Mit dem Geld aus dem Klingelbeutel
                                                    morgens und können sich ihre                                            werden die Pfarrer bezahlt.
                                                      Zeit sonst frei einteilen.

                                                                                                      Foto: Fotolia
                                  Schön wär‘s für die Betroffenen – aber Gemeindepfarre-                                                        Wenn dem so wäre, müssten
                                 rinnen und -pfarrer sind die ganze Woche über im Einsatz.                                                         viele Pfarrer und ihre Famili-
                                  Auf dem Land halten viele sonntags sogar zwei oder drei                                                            en weit unter dem
                                Gottesdienste hintereinander weg. Auch sonst ist der Termin-                                                         Sozialhilfeniveau leben.
                                kalender voll: Beerdigungen, Trauungen, Besuche, Predigtvor-                                                       Nein, die Verwendung der
                                 bereitung, Konfistunden, Sitzungen – und immer mehr Ver-                                                      Kollektengelder ist für viele di-
                                   waltungsarbeit. Montags ist Pfarrersonntag, da haben                       akonische Zwecke eingeplant oder für Gemeindeangebote wie
                                                     sie (theoretisch) frei.                                  zum Beispiel Kirchenmusik vorgesehen. Pfarrer werden in etwa
                                                                                                              so bezahlt wie Lehrer und erhalten ihr tarifliches Gehalt, das aus
                                                                                                              Mitteln der Kirchensteuer stammt, unabhängig von der Gemein-
                                                                                                              degröße monatlich aufs Konto.
Foto: medio.tv/Schauderna

                                                                                 Heutzutage
                                                                                gibt es mehr                   Pfarrer oder
                                                                               Pfarrerinnen                    Pfarrerin sind

                                                                                                                                                                                               Foto: Fotolia
                                                                             als Pfarrer.                      die Chefs der
                                                                                                               Kirchen-
                                Die Frauen werden mehr, aber die Männer in der Pfar-                           gemeinden.
                               rerschaft der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Wadeck
                               sind immer noch in der Überzahl. Die aktuelle Statistik der                            Manchmal ja, manchmal nein. Denn evangelische Kirchenge-
                              Landeskirche weist 524 Männer und 411 Frauen aus. Es gibt                               meinden werden von Kirchenvorständen (KV) geleitet. Vorsitzen-
                               auch eine ganze Reihe von Pfarrerehepaaren, die sich eine                               der eines KV ist in der Regel der Gemeindepfarrer, es kann aber
                                               Gemeindepfarrstelle teilen.                                            auch ein anderes gewähltes oder berufenes KV-Mitglied sein, wie
                                                                                                                      dies bei etwa einem Drittel der Gemeinden in Kurhessen-Waldeck
                                                                                                                       der Fall ist. Die landeskirchliche Grundordnung legt fest: Wenn
                                                                                                                      ein Pfarrer Vorsitzender ist, muss sein Stellvertreter ein Laie sein –
                                                                                                                        und umgekehrt. Übrigens: 2019 sind KV-Wahlen (s. Seite 18).

                                                Die meisten
     Foto: medio.tv/Simmank

                                                Kirchentüren sind                                                       Veranstaltungen
                                                die Woche über                                                          in Kirchengemeinden
                                                verschlossen.                                                           sind nur für Mitglieder.

                                 Offene Kirchen findet man immer häufiger: Nicht wenige                                  Geschlossene Gesellschaft? Das gibt es eigent-
                                Gemeinden in den Innenstädten, auf Dörfern oder oft auch an                             lich nicht in evangelischen Kirchengemeinden. Grundsätz-
                               Wander- oder Radwegen gelegen öffnen ihre Türen tagsüber für                             lich sind alle Veranstaltungen öffentlich – und selbstverständ-
                               Besucher. Sie laden zu Besinnung und Begegnung ein. Etwa 130                                lich können nicht nur Kirchensteuerzahler am Gottesdienst
                                Gebäude in Kurhessen-Waldeck tragen das Signet für „Offene                                teilnehmen. Natürlich gibt es Veranstaltungen, die Eintritts-
                               Kirchen”. An den blauen Schildern erkennen Gäste: Hier ist eine                          geld kosten – Konzerte, Aufführungen oder Vorträge. Und weil
                                   Kirche verlässlich geöffnet. Hier sind Gäste willkommen.                              es in Kirchenvorstandssitzungen oft um Personalfragen geht,
                                                                                                                                           sind diese nicht öffentlich.

                                                4     blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019
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                                                                                                                            Vorurteil
                                                                                                                            trif ft auf
                                                                                                                            Realität
evangelischen Kirchengemeinden?
                                                	       Diese Kirchenglocken                                                 Man kann

                                                                                                                                                                                              Foto: medio.tv/Socher
                                                            sind echt nervig!                                                in der
                                                                                                                              Kirche nur
                                                                     Beschwerden sind                                         Babys taufen
                                                                       äußerst selten,                                        lassen.
 Foto: medio.tv/Schauderna

                                                                       berichten die vier
                                                                      Glockensachverstän-                                      Durch die Taufe wird ein Kind in die Gemeinschaft der Chris-
                                                                     digen in Kurhessen-                                         ten aufgenommen und es wird deutlich, dass das Leben ein
                                                                    Waldeck. Meist findet                                       Geschenk Gottes ist. Für viele Eltern und Paten ist es wichtig,
                                                                  man einvernehmliche                                           dass sie mit der Verantwortung für ein Neugeborenes nicht al-
                                                                   Lösungen. Das Glo-                                           leine sind. Aber natürlich können nicht nur Säuglinge getauft
                                                                    ckengeläut ist gesell-                                       werden. In den vergangenen Jahren ist das durchschnittliche
                                                                  schaftlich erwünscht.                                          Alter der Täuflinge gestiegen, viele lassen sich während der
                               Es wirkt wie ein „Geländer durch das Leben“, sagt Landes-                                      Konfirmandenzeit taufen oder als Erwachsene. Es gibt sogar die
                              kirchenmusikdirektor Uwe Maibaum. Glocken können nach                                             Möglichkeit, ein Kind taufen zu lassen, dessen Eltern gar nicht
                               Heimat klingen. Sie sind für Kirchengemeinden identitäts-                                       in der Kirche sind. Die Bandbreite bei der Taufe zeigt sich auch
                             stiftend und verleiten zum Innehalten. Das tägliche Glocken-                                     in neuen Formen wie Taufen in Flüssen oder einem Tauffest wie
                             geläut um 12 Uhr beispielsweise ruft zum Frieden auf. Klang                                         2012 in Kassel, als 72 Taufen mit mehr als 1.000 Besuchern
                                 und Impuls – unabhängig von der religiösen Prägung.                                               gemeinsam im Bergpark Wilhelmshöhe gefeiert wurden.

                                                                                                                             Jugendliche heißen
                                                                                                                             in der Kirche
                                                                                                Foto: medio.tv/Schauderna

    Für eine Hochzeit                                                                                                        Konfirmanden.
    muss ich die
    Kirche mieten.                                                                                                            Konfirmanden sind Jugendli-
                                                                                                                             che, aber Jugendliche nicht unbe-
   Eine Hochzeit in der Kirche ist ein                                                                                       dingt Konfirmanden. Mit dem Fest
     besonders festlicher Gottesdienst, in                                                                                     der Konfirmation werden junge
  dem das Paar seine Verbindung unter                                                                                        Christen vollwertige Mitglieder der
  Gottes Segen stellt. Und selbstverständlich können Christen in ih-                                                         Gemeinde. Davor steht der Konfir-

                                                                                                                                                                                                                  Foto: medio.tv/Schauderna
  rer Kirche heiraten, sie müssen nur den Termin rechtzeitig abstim-                                                          mandenunterricht, in dem sie sich mit Fragen des Lebens und
  men. Allerdings ist eine Kirche auch keine Event-Location, die für                                                          des Glaubens befassen. Die Konfirmation wurde im 16. Jahr-
   jeglichen Anlass gemietet werden kann. Für eine kirchliche Trau-                                                          hundert in Kurhessen-Waldeck erfunden. Im Streit, ob man Kin-
  ung muss mindestens ein Ehepartner Mitglied der evangelischen                                                              der oder Erwachsene taufen sollte, fand der Reformator Martin
         Kirche sein. Mehr Antworten auf Fragen zur Trauung:                                                                 Bucer einen Kompromiss: Mit der Konfirmation („Bestätigung“)
                 www.ekkw.de/ratgeber/trauung.html                                                                            entschieden sich getaufte Christen bewusst für den Glauben,
                                                                                                                             in den sie als unmündige Kinder hineingetauft worden waren.

                                         Niemand weiß, was mit
                                       den Kirchensteuern passiert.                                                          In der Kirchengemeinde geht es
                                                                                                                             noch genauso zu wie vor 50 Jahren.
                              Die Haushalte – also Ein- und Ausgaben der Evangelischen
                              Kirche von Kurhessen-Waldeck werden von der Synode (dem                                          Wenn Sie das glauben, sollten Sie zunächst einmal dieses
                                Kirchenparlament) in öffentlicher Sitzung beraten und be-                                    Heft ganz genau lesen. Sie werden sich wundern, was Kirchen-
                               schlossen, sie sind kein Geheimnis. Auch im Internet gibt es                                  gemeinden alles zu bieten haben und auf welche Ideen Haupt-
                             viele Informationen: www.ekkw.de/unsere_kirche/zahlen.html                                       und Ehrenamtliche in der Kirche so kommen. Und das ist nur
                             Übrigens: Nur rund ein Drittel der Mitglieder zahlt Kirchensteu-                                ein kleiner Ausschnitt vom großen Ganzen. Noch viel besser als
                             er, weil Menschen mit geringem oder ohne Einkommen davon                                         lesen ist aber: Gehen Sie doch – ganz unverbindlich – einfach
                                                    ausgenommen sind.                                                                mal hin und überzeugen Sie sich. Vom Gegenteil.

                  Texte: Lothar Simmank, Olaf Dellit                                                                               blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019      5
Gemeinde Ein Tag in der - Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag von Kirchengemeinden - Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
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                                                   Von gelangweilten Eseln und
                                                   einer Königin im Vorstand
                                             Ein ganz normaler Mittwoch: Was passiert in einer evange-
                                            lischen Kirchengemeinde in der Großstadt – in diesem Fall in
                                           der Matthäuskirchengemeinde im Kasseler Stadtteil Nieder-
                                          zwehren?

                                                    09:15 Uhr Im Gemeinderaum müssen               schienen. Der Anrufbeantworter gibt Aus-
                                                    noch Stühle gestellt werden, gut 30 Frau-      kunft: Röder ist krank. Hering ruft ihn an
8:30 Uhr Der Computer im Gemeinde-                  en sind zum Stadtteilfrühstück gekommen.       und sichert Unterstützung zu, falls der Kol-
büro springt nicht an, der Monitor hat              Für vier Euro dürfen sie das Büffet, das von   lege auch an den Weihnachtstagen noch
keinen Strom. Tatsächlich ist nur ein Ste-          Ehrenamtlichen liebevoll angerichtet wird,     krank sein sollte; dann, wenn ein Gottes-
cker lose: Der Arbeitstag kann beginnen.            genießen – und vor allem Gemeinschaft          dienst den nächsten jagt.
Pfarrer Dietrich Hering sitzt mit Sekretärin        finden. Das Frühstück gehört zum Projekt           Es hätte einiges zu besprechen gege-
Gabriele Günther zu einer Besprechung               FÄN (Fachkoordination Älterwerden in Nie-      ben, denn die beiden Gemeinden haben
im Büro. Küsterin Claudia Meyer ist auch            derzwehren), an dem sich die Kirchenge-        ihre Fusion im Jahr 2020 beschlossen
schon da. Pfarrer Hering hat den kompak-            meinde intensiv beteiligt.                     und wollen bis dahin langsam zusam-
ten Pfarramtskalender, dunkelgrün, in der               Armut und Einsamkeit im Alter seien        menwachsen. Pfarrer Hering verspricht
Hand. Ein Blick über seine Schulter zeigt:          Probleme, sagt Pfarrer Hering, daher sei       sich viele Vorteile von einer gemeinsamen
Da steht viel drin. Im Gespräch mit Gabri-          diese Gemeinwesenarbeit so wichtig. Das        Gemeinde: mehr zeitliche Flexibilität und
ele Günther geht es jetzt um Termine, um            Frühstücksangebot spreche sich herum,          neue Formen bei den Gottesdiensten, aber
Absprachen und um die Prüfung von ein-              auch diesmal sind neue Gesichter im Ge-        auch die Entlastung eines der beiden Pfar-
gereichten Rechnungen.                              meindehaus dabei. Und für Hering ist es        rer von der Geschäftsführung.
                                                    ein Segen, dass die Ehrenamtlichen sich            Jetzt nutzen Hering, Sekretärin Gün-
DIE FAKTEN                                          um das Frühstück kümmern und er einfach        ther und Küsterin Meyer die gewonnene
                                                    da sein kann: als Pfarrer und Seelsorger. Zu   Zeit, um große und kleine Dinge zu bespre-
    Dietrich Hering (55) ist seit 19 Jahren
                                                    Beginn hält er, mit Blick auf den 24-Ker-      chen: Wann wird der Weihnachtsbaum –
    Pfarrer der Matthäuskirchengemeinde
                                                    zen-Adventskranz, eine kurze Andacht.          in diesem Jahr „nur“ vier statt wie sonst
    in Kassel. Hering hat in Göttingen und
                                                        Für das Frühstück wie für viele Angebo-    sieben Meter hoch – aufgestellt und ge-
    München Theologie studiert, später
    zusätzlich Diakonie-Management. Unter           te in der Gemeinde gilt: „Begegnung und        schmückt? Welcher Mitwirkende bekommt
    anderem ist er Vorsitzender des Diakonie-       Gemeinschaft sind unser Anliegen.“             Blumen nach dem Heiligabend-Gottes-
    ausschusses im Stadtkirchenkreis Kassel                                                        dienst? Und die Sekretärin organisiert per
    und sitzt im Aufsichtsrat der Baunataler        10:00 Uhr Wo ist Pfarrer-Kollege Winfried      Telefon gleich schon mal die Organistin
    Diakonie Kassel. Hering ist geschieden          Röder von der Lukaskirche? Zur gemeinsa-       für den Ostersonntag. Unterdessen schiebt
    und hat zwei erwachsene Kinder. Zu              men Dienstbesprechung ist er nicht er-         Küsterin Meyer Tische für den Nachmittag.
    seiner Gemeinde gehören mehr als 2.000
    Christen. 2020 will sich die Matthäus- mit
    der benachbarten Lukaskirchengemeinde
    zusammenschließen, die neue Gemeinde
    wird mehr als 5.000 Mitglieder haben. Zu
    den zahlreichen Angeboten der Mat-
    thäus- und Lukaskirche gehören neben
    Gottesdiensten, Gottesdiensten für Kinder
    und Andachten diverse Gruppen, darunter
    Kleinkindergruppen, Männer- sowie Frau-
    entreff, Flöten- und Kirchenchor, Stadtteil-
                                                                                                                                                  Fotos: medio.tv/Dellit

    frühstück, Mittagstisch, Salongespräche,
    Flüchtlingscafé, Tanzgruppen, Senioren-
    kreis, Computerkurse für Ältere, Besuchs-
    dienst, Gedächtnistraining, Konfirmanden-
    unterricht. Neben den Hauptamtlichen
    arbeiten 150 Menschen ehrenamtlich mit.
         www.matthaeuskirche-kassel.de              Im Gemeindebüro: Sekretärin Gabriele Günther im Gespräch mit Pfarrer Dietrich Hering

6         blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019
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                         Probe für das Krippenspiel: von links Leonard, Mia, Frieda, Anton, Sarah, Dalia, Filip, Luisa und Henry, hinten Erzieherin Friederike Helmbold
Fotos: medio.tv/Dellit

                         12:00 Uhr Es gibt Nudeln. Direkt neben          14:00 Uhr Pfarrer Hering führt ein Beer-        Spaß macht, vermutlich. Chaos also – aber
                         der Matthäuskirche liegt die größte evan-       digungs-Nachgespräch. Wenn möglich, so          das muss bei Krippenspielproben eigent-
                         gelische Kindertagesstätte Kassels, wo          erzählt er, besucht er Angehörige einige        lich so sein. „Irgendwie“, sagt Helmbold,
                         jetzt das Essen auf den Tisch kommt. Sie-       Wochen nach der Beerdigung noch einmal          „wird es schon.“
                         ben Gruppen – eine für Krippenkinder, drei      und spricht mit ihnen über ihre Trauer.
                         im Kindergarten und drei im Hort – finden                                                       15:00 Uhr Im Gemeinderaum ist schon
                         dort Platz, insgesamt fast 150 Kinder. „Wir     14:00 Uhr Zeitgleich ist dem Esel ein           wieder Leben – das „Café Matthäus Inter-
                         sind über die Jahre gewachsen“, erzählt Ki-     wenig langweilig, jedenfalls schaut er –        national“ öffnet. Seit gut drei Jahren fin-
                         ta-Leiterin Gudrun Okulla.                      dargestellt von einem Kind – gelangweilt        den Flüchtlinge, die in einer Unterkunft
                             Nicht nur räumlich liegen Kita und          in die Luft und ignoriert das Getöse. Frie-     auf dem Gemeindegebiet wohnen, hier
                         Kirche dicht beieinander. Für die Kinder        derike Helmbold und ihre Mitstreiterinnen       einen Raum für Beratung und Geselligkeit.
                         ist die Kirche auch, wie Okulla sagt, ein       haben Kinder aus Kita und Gemeinde zur              „Mittlerweile sind Freundschaften
                         Erlebnisraum: Begrüßungen neuer Kinder          ersten Krippenspielprobe in der Kirche zu-      entstanden“, sagt Barbara König, die von
                         und Feiern zu christlichen Festen werden        sammengetrommelt.                               Anfang an dabei war. Renate Müller freut
                         dort begangen. Und die Hortkinder dürfen            Das mit dem Trommeln ist dabei wört-        sich, als drei ältere afghanische Frauen
                         das relativ kleine Gelände direkt an der        lich zu nehmen, denn das Krippenspiel hat       hereinkommen, die sie lange nicht gese-
                         Kita auch verlassen und rund um die Kir-        viele musikalische Elemente. Xylophon,          hen hat. Die Begrüßung ist herzlich. Mül-
                         che spielen, etwa an der Tischtennisplatte.     Flöte, Schlagwerk, Pauke – und dann sin-        ler berät und vermittelt in einem Neben-
                             Elf Kinder in der Einrichtung hätten        gen die Kinder aus vollem Hals: „Ein Kind       raum – es geht um Jobs und Wohnungen.
                         Erfahrungen mit Flucht machen müssen,           kam heute auf die Welt und hat die dunk-        Das, sagt sie, sei besonders schwierig, weil
                         sagt die Kita-Leiterin. Nach drei Jahren        le Nacht erhellt.“ Es ist laut und trubelig.    bis zu 400 Menschen sich auf eine kleine
                         hätten sie sich gut eingelebt und integ-        Wer gibt wem wann das Mikrofon? Warum           Wohnung bewürben. Rundfunkgebühren,
                         riert, sodass viele für ihre Eltern dolmet-     liegt ein Engel unter dem Xylophon? Und         Wassergeld – alles Dinge, die in vielen
                         schen könnten.                                  wieso erklingt jetzt die Trommel? Weil's        Ländern unbekannt sind und hier plötz-

Gesichter der Gemeinde: von links Kindertagesstättenleiterin Gudrun Okulla, Pfarrer Dietrich Hering und Küsterin Claudia Meyer – am Fair-Trade-Stand

                                                                                                                blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019         7
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lich erledigt werden müssen. Gut, dass                                                      ten, danach soll es Suppe und Glühwein

                                                                                                                                            Fotos: medio.tv/Dellit
Mohammed Diab mit am Tisch sitzt, der                                                        geben – als Dank für die ehrenamtliche
vor Jahren aus dem Libanon kam und                                                             Arbeit. Doch wie man so sagt: Erst die
als Dolmetscher bei den Gesprächen                                                              Arbeit, dann das Vergnügen. Pfarrer
hilft. Auch beim Flüchtlingscafé kann                                                            Hering glaubte vor der Sitzung noch,
die Kirchengemeinde auf das Engage-                                                              man könne nach 20 Minuten fertig
ment ihrer Ehrenamtlichen setzen, die                                                            sein. Das klappt nicht ganz, denn es
sichtlich mit Herz und Spaß bei der Sa-                                                         gibt doch einige Themen abzuarbeiten.
che sind. Pfarrer Hering formuliert den                                                        Ein Hängesessel für die Kita und neue
Anspruch so: „Christlicher Glaube muss                                                      Stühle für das Kirchenfoyer werden bewil-
sich in den Taten widerspiegeln.“                                                           ligt, es wird Bilanz des Weihnachtsmarktes
    Als die afghanischen Frauen, das Ehe-                                                   und -konzerts gezogen, Vikar Björn Henkel
paar mit dem Baby, die Kinder und die                                                       stellt sein Konzept für ein Wintergrillen für
anderen gegangen sind, wird abgedeckt         werden gesungen und Pfarrer Hering lei-       Neubürger vor. Wer bekommt Spenden aus
und aufgeräumt, Tische werden gestellt        tet eine Meditation an. Jeder kann eine       dem Klingelbeutel? Wer hilft beim Küche-
und Kartons verstaut. Hering trägt noch       Kerze entzünden für einen Menschen, an        Ausräumen für die Renovierung? Und der
Becher, Gläser und Teller rüber ins Pfarr-    den er denkt, oder für ein Anliegen, das      nächste Sitzungstermin muss auch festge-
haus, dann kann er eine Pause einlegen.       ihn bewegt. In der Andacht ist viel Raum      legt werden.
                                              für Stille. „In der Stille begegnen wir uns
17:50 Uhr Küsterin Meyer und Kita-            selber und wo wir uns begegnen, begeg-        21:10 Uhr Die Königin von Niederzweh-
Leiterin Okulla zünden Kerzen an, die in      nen wir Gott.“                                ren legt ihre Unterlagen beiseite, der offi-
Gläsern stehen und den Weg zum Kir-                                                         zielle Teil der Sitzung endet, jetzt kann es
chenraum beleuchten. Jeden Abend im            »Jeder Mensch ist von Gott                   vorweihnachtlich gemütlich werden.
Advent steht die Matthäuskirche von 18
                                               geliebt und ist es wert, dass
bis 20 Uhr Menschen offen, die Stille und                                                   23:30 Uhr Es ist spät geworden im Pfarr-
vielleicht ein Gebet suchen. Eine große        man sich um ihn kümmert.«                    haus. Draußen ist es seit Stunden dunkel,
Laterne mit Kerze und ein Schild an der                                                     als sich die letzten Kirchenvorsteher auf
Eingangstür weisen darauf hin.                20:00 Uhr Barbara König, augenzwin-           den Heimweg machen und ein langer, er-
                                              kernd auch „Königin von Niederzwehren“        eignisreicher Tag im Leben der Matthäus-
19:00 Uhr In den Turmraum der Kirche          genannt, hat im Kreis der heute 13 Män-       Kirchengemeinde zu Ende geht. Wenn
müssen noch Stühle geholt werden. Es ist      ner und Frauen das Sagen. Sie ist Vorsit-     man einen roten Faden für den Tag und
voll geworden für die wöchentliche Ad-        zende des Kirchenvorstands, dem wichtigs-     die Arbeit der Gemeinde suchen will, könn-
ventsandacht. Der Kranz mit den 24 Ker-       ten Gremium einer Kirchengemeinde. Zu         te es der Satz sein, den Pfarrer Hering ge-
zen – die ursprüngliche, vom Theologen        Beginn fordert sie den Protokollanten der     sagt hat: „Jeder Mensch ist von Gott ge-
und Erzieher Johann Hinrich Wichern in        voherigen Sitzung auf, sein Werk vorzutra-    liebt und ist es wert, dass man sich um
den 1830er-Jahren erfundene Variante          gen. „Nu’ lass ma’ hören, was du da so zu-    ihn kümmert.“ Hering sagt das allerdings
– steht jetzt hier. 25 Besucher sitzen auf    sammengekritzelt hast!“ Der Ton ist locker.   nicht, ohne hinzuzufügen, wie viel man
den Hockern, die im Rund stehen. Es er-           Die letzte Sitzung des Jahres wird in     von den Menschen zurückbekomme. l
klingt Musik von Cello und Violine, Lieder    gemütlicher Runde im Pfarrhaus abgehal-                                        Olaf Dellit

Menschen im Mittelpunkt: Barbara König leitet die Kirchenvorstandssitzung (linkes Bild) und Renate Müller berät geflüchtete Menschen
zum Beispiel bei der Job- und Wohnungssuche (rechtes Bild)

8      blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019
Gemeinde Ein Tag in der - Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag von Kirchengemeinden - Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
THEMA

     Puppentaufe, Gnadenhochzeit
     und Konf ibasteln
     Ein ganz normaler Dienstag: Was passiert in einer evangelischen
     Kirchengemeinde auf dem flachen Land – in diesem Fall in Wall-
     roth, Breitenbach und Kressenbach im Kirchenkreis Schlüchtern?

     DIE FAKTEN
                                                     8:30 Uhr Pfarrer Eisenbach liefert seinen       und Eigenleistungen
      Die Pfarrstelle in der evangelischen           kleinen Sohn Erik im Evangelischen Kin-         haben geholfen. Jetzt
      Kirchengemeinde Wallroth – Breitenbach –       dergarten „Unterm Regenbogen” ab. Und           sollen die Handwerker     Die Kirche im Zentrum
      Kressenbach (kurz WBK) teilen sich Stefan      weil er schon mal da ist, führt er gleich ein   ihr Geld bekommen.         des 1.000-Einwohner-
      und Marie Eisenbach. Beide sind 33 Jahre                                                                                     Stadtteils Wallroth
                                                     Dienstgespräch mit der Kita-Leiterin. Der
      alt, sie haben zwei kleine Söhne. Seit 2013    Pfarrer ist nämlich auch Geschäftsführer        11:00 Uhr Im Gänsemarsch kommen 14
      ist das Pfarrerehepaar in seiner ersten        der Einrichtung und als solcher zum Bei-        Kinder von der Kita über die Straße zur
      Stelle tätig. Sie teilen sich ein Gehalt. In
                                                                                                     Kirche hinüber. Vorneweg wird die Puppe
      jedem der drei Dörfer findet sonntagsmor-
                                                                                                     Anna im langen Taufkleid von ihrer Pup-
      gens ein Gottesdienst statt: um 9 Uhr, um
                                                                                                     penmutti getragen. Ein feierlicher Anlass,
      10 und um 11 Uhr. Wochenweise wechseln           »Der Platz vor der Kirche                     denn Anna soll heute probegetauft wer-
      sich die beiden Pfarrer in diesem Dienst
      ab. Andere Gemeindeaufgaben haben sie
                                                     wurde umgestaltet: Eine neue                    den, damit die Kinder erleben, was das
      nach Neigung unter sich aufgeteilt.             Dorfmitte ist entstanden.«                     bedeutet. Alles ist stilecht wie bei einer
      Zur WBK-Gemeinde, die im Kirchenkreis                                                          richtigen Taufe: Die Kinder dürfen vorge-
      Schlüchtern liegt und 2005 fusioniert                                                          wärmtes Wasser in die Taufschale gießen,
      wurde, gehören rund 1.300 Mitglieder.          spiel für Personalfragen zuständig. 50 Kin-     Paten stehen bereit. Höhepunkt für den
      110 von ihnen sind in irgendeiner Weise        der werden hier in zwei Gruppen betreut         kleinen Oskar: Er drückt auf die Fernbe-
      ehrenamtlich aktiv für ihre Kirchenge-         – ein kleines Sozialunternehmen, getragen       dienung, und die Glocken beginnen im
      meinde. Außerdem gibt es neun haupt-           von der Kirchengemeinde.                        richtigen Moment zu läuten.
      amtlich Beschäftigte (Erzieherinnen
                                                                                                         Pfarrer Eisenbach erklärt geduldig je-
      und Reinigungspersonal in der Kita) und
                                                     9:30 Uhr Der Besuch im Kirchenkreisamt          de Frage: Wozu das Wasser? Warum wird
      15 nebenamtlich Tätige (Organisten,
      Küster, Reinigungskräfte, Hausmeister,
                                                     Schlüchtern gehört zu den Standard-Ver-         überhaupt getauft? „Damit wir wissen,
      Friedhofsgärtner, Hauswirtschaftskräfte).      waltungsaufgaben. Pfarrer Eisenbach muss        dass das Kind zu Gott gehört.” Am Schluss
      Ein besonderes Angebot in Wallroth ist         Baumaßnahmen abrechnen – gerade wur-            gibt es noch ein Geschenk für jedes Kind:
      das Kirchenkino, zu dem im Jahr 550            de der Platz vor der Kirche neu gestaltet       Ein kleiner Fisch, der so ausieht wie der
      Besucher kommen.                               und eine gelungene Dorfmitte ist entstan-       große Holzfisch in der Kirche, an dem die
           www.kirche-wbk.de                         den. Spenden, Fördergelder, Rücklagen           Bilder der getauften Kinder hängen.

Der Arbeitstag beginnt mit einem Dienstgespräch im Ev. Kindergarten         Wie geht das mit der Taufe? Pfarrer Eisenbach erklärt‘s der Kita-Gruppe
                                                                                                                                                         Fotos: medio.tv/Simmank

                                                                                           blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019        9
Gemeinde Ein Tag in der - Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag von Kirchengemeinden - Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
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     11:45 Uhr Hausbesuch im Nachbardorf          ren frisch sanierten Pfarrhaus nun weiter-   feiern Gnadenhochzeit. Vor genau 70 Jah-
     Breitenbach: Persönlich möchte sich der      geht, weiß niemand. Für Eisenbachs ist       ren, am 4. Dezember 1948, fand die Trau-
     Pfarrer bei einem Spender bedanken, der      klar: Sie wollen so bald wie möglich an      ung in Wallroth statt.
     sich in besonders großzügiger Weise an       den angestammten Platz zurück. Allein die          Das Jubelpaar sitzt heute etwas auf-
     der „Aktion Klingelbeutel” beteiligt hat.    zusätzlichen Wege zwischen ihren Einsatz-    geregt in der Wohnstube und wartet auf
     Bis sich die Haustür öffnet, dauert es ein   orten und der Wohnung summieren sich         den Pfarrer. Tische und Stühle sind beisei-
     Weilchen, denn Familie Lotz sitzt bereits    auf viele Kilometer und viel Zeit.           te geschoben, so dass ein Dut-
     beim Mittagessen.                                                                         zend Gäste Platz findet.
         Der Pfarrer, der seinen Dankesbrief      13:00 Uhr Mittagspause. Marie Eisen-         „Ein seltenes Fest”,
     übergeben will, wird aber trotzdem ins       bach empfängt mit Söhnchen Arne Mann         betont der Pfar-
     Wohnzimmer gebeten. Dort freut sich          und Kindergartenkind im ersten Stock in      r e r, n i m m t
     der 90-jährige Spender, dass er mit sei-     der Dreibrüderstraße in Schlüchtern. Sie     in seiner
     nem Geld Gutes für die Kirche bewirken                                                    Andacht
     konnte. „Die Kirche ist für mich wie ein                                                  den Trau-
     Magnet”, lächelt er. 125 Gemeindemitglie-       »Fliegender Wechsel vorm                  spruch
     der haben sich an der Aktion beteiligt. In                                                auf und
                                                    Gemeindehaus: Marie Eisen-
     der Nachbarschaft werden noch ein paar                                                    feiert
     Briefe eingeworfen, auch im nächsten Ort       bach unterrichtet die Konfis.«             mit der
     Kressenbach wird Pfarrer Eisenbach seine                                                  kleinen
     Dankespost in verschiedenen Häusern los.                                                  Hausge-
                                                  hat eine leckere Pizza gemacht, und es ist   meinde das
     12:30 Uhr Nachdem der Pfarrer seinen         Zeit für eine gute halbe Stunde am Famili-   Abendmahl.
     kleinen Sohn Erik im Kindergarten von        enesstisch. Die Gespräche drehen sich um     Johannes Müller
     Wallroth wieder eingesammelt hat, geht‘s     Organisatorisches, um die Gemeinde und       (95) ist ein treues Kir-
     mit dem Auto nach Schlüchtern, denn dort     natürlich um die Kinder. Mit dem Küchen-     chenmitglied, das           Derzeit unbewohnbar:
     wohnt Familie Eisenbach seit einigen Wo-     dienst wechselt sich das Ehepaar ab – ei-    seit Jahr zehnten das Pfarrhaus in Wallroth
     chen. Dabei steht eigentlich in Wallroth     nen Tag ist sie mit dem Kochen dran, am      alle Kollekten und
     direkt neben Kita, Gemeindehaus und          nächsten er. Das sorgt für einen abwechs-    Friedhofsgebühren akkurat auflistet und
     Kirche ein schmuckes Pfarrhaus. Doch zur-    lungsreichen Speiseplan, denn er liebt es    abrechnet. Anschließend ist noch Zeit für
     zeit ist das Gebäude unbewohnbar – der       süß und sie eher herzhaft.                   Kaffee und Kuchen – das muss an einem
     Hausschwamm hat sich breitgemacht,                                                        solch besonderen Dienstag sein!
     die vierköpfige Familie musste wegen Ge-     14:00 Uhr Im schwarzen Anzug setzt sich
     sundheitsgefährdung ziemlich überstürzt      Stefan Eisenbach gleich nach dem Esssen      16:00 Uhr Fliegender Wechsel vorm Ge-
     ausziehen und fand vorübergehend ei-         ins Auto und parkt zehn Minuten später       meindehaus in Wallroth: Marie Eisenbach
     ne Pfarrwohnung, die im benachbarten         in Breitenbach. Dort läuten bei seiner An-   fährt mit den Kindern vor. Ihr Mann Ste-
     Schlüchtern freigemacht werden konnte.       kunft schon die Kirchenglocken – unge-       fan übernimmt Auto und Kinder, während
         Dazu setzte noch eine Krankheit Ste-     wöhnlich um diese Zeit, aber der Pfarrer     die Pfarrerin jede Menge Material für den
     fan Eisenbach für mehrere Monate außer       hat das Läuten für ein besonderes Ereignis   Konfirmandenunterricht ins Haus trägt.
     Gefecht. Wie es mit dem erst vor fünf Jah-   inszeniert: Elisabeth und Johannes Müller    Heute sollen die Konfis, die aus den ver-

Hausandacht zur Gnadenhochzeit von Ehepaar Müller     Konfirmandenstunde: Ein Nachmittag mit kreativer Arbeit, Lachen und gemeinsamem Beten       Fotos: medio.tv/Simmank

     10    blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019
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                          schiedenen Orten pünktlich im Ge-                                                                   18:00 Uhr Auf dem Nachhauseweg
Fotos: medio.tv/Simmank

                          meindehaus eintreffen, nämlich nicht                                                                hält Pfarrerin Eisenbach noch zwei-
                          nur über ein Thema reden, sondern                                                                    mal an: kurze Geburtstagsbesuche
                          auch kreativ tätig werden – Bastel-                                                                 bei Gemeindemitgliedern – einer
                          stunde steht auf dem Programm. Da                                                                   wird 18, eine andere 40. „Beides sind
                          hilft es nichts, wenn Lasse schon gleich                                                          Einschnitte im Leben, an denen wir als
                          zu Beginn jammert: „Ich kann aber nicht                                                          Kirche signalisieren wollen: Die Gemein-
                          basteln!” Pfarrerin Eisenbach hat ihre                                                         de ist für euch da”, erklärt die Pfarrerin
                          Gruppe im Griff: Unterhaltungen am Ran-                                                        den Sinn ihres Besuchs, bei dem sie an
                          de werden nicht geduldet, Konfipass und                                                        der Haustür gratuliert und ein kleines Ge-
                          Gottesdienstbesuchskarten kontrolliert.                                                        schenk überreicht.
                                                                            Als Pfarrerin auch eine gute Pädagogin:
                          Die Regeln sind klar: 33 Mal muss man             Marie Eisenbach hat ihre Konfis im Griff
                          sich während der Konfirmadenzeit in der                                                        20:00 Uhr Um Geschenke geht es auch
                          Kirche sehen lassen, sonst wird es nichts                                                      am Abend noch mal, denn Feierabend ist
                          mit dem Fest.                                   gemeinde persönlich alten einsamen Men-        für das Pfarrerehepaar noch nicht. Stefan
                               Heute Nachmittag rücken die 14 Ju-         schen. „Hingehen, klingeln, abgeben!”,         Eisenbach macht sich auf zu einem kurzen
                          gendlichen zunächst im Stuhlkreis zu-           lautet die klare Anweisung. „Die Emp-          Besuch der Chöre: Der Gospelchor „New
                          sammen. „Diakonie – was bedeutet das            fänger sollen merken: Da denkt jemand          Spirit” probt am Dienstagabend in Wall-
                          eigentlich?”, fragt die Pfarrerin in die Run-   an mich.” Nun wird gesägt, geklebt, ge-        roth, der „Liederkranz 1842” in Breiten-
                          de und übersetzt aus dem Griechischen:          schrieben. Glocken, Sterne aus Sperrholz       bach. Insgesamt singen und spielen über
                          „Das kommt von ‚dienen‘”. Verschiedene          entstehen, bunte Karten aus Papier. Für        100 Menschen in diesen und drei weiteren
                          Antworten tragen diakonische Dienste aus        viele ist das Formulieren gar nicht einfach,   Musikgruppen. Ihnen will der Pfarrer ein-
                          der Gemeinde zusammen.                          denn schließlich ist das Briefeschreiben bei   mal im Jahr Dank sagen für die gute Zu-
                               „Besuchsdienst” ist ein Stichwort, das     14-Jährigen aus der Mode gekommen. Die         sammenarbeit. Sein Weihnachtsgruß ent-
                          Marie Eisenbach aufgreift. Denn darum           Zeit wird knapp. Aber bis 17:30 Uhr ist al-    hält eine Wachskerze zum Selbermachen.
                          soll es heute gehen: Die Konfirmanden           les geschafft: Aufräumen, fegen, Stühle        Wenn er nach Hause kommt, schlafen die
                          basteln eine weihnachtliche Karte und           und Tische wegstellen, der Raum muss für       Kinder wahrscheinlich längst. l
                          überbringen sie als Vertreter der Kirchen-      die nächsten Nutzer frei werden.                                       Lothar Simmank

                   Mittagspause in der Pfarrwohnung, die sich vorübergehend in Schlüchtern befindet: Pfarrerehepaar Stefan und Marie Eisenbach mit Arne (1) und Erik (3)

                                                                                                                blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019    11
THEMA

Eine Art von Aufgehobenheitsgefühl
Was bewirkt eine Kirchengemeinde aus Sicht des Soziologen? Prof. Heinz Bude im Interview

?    Eine Kirchengemeinde – was ist das
     aus Sicht des Soziologen?
     Prof. Dr. Heinz Bude: Die Gemeinde
                                                ?   In der „Gesellschaft der Angst“, die
                                                    Sie in einem Ihrer Bücher beschrei-
                                                ben, könnten Kirchengemeinden ei-
                                                                                              auch für die Frage der Migration. Viele
                                                                                              Leute haben Angst vor Migranten. Aber
                                                                                              wenn sie alleine damit bleiben, führt das
als eine Art wechselseitiger Kontrolle und      gentlich Orte des angstfreien Umgangs         zu nichts Gutem. Man kann sich zum Bei-
Sozialisation ist eigentlich ein protestan-     miteinander, Orte der Rettung sein.           spiel in einer Kirchengemeinde darüber
tisches Modell. Sie können das an den           Haben evangelische oder katholische           verständigen, dass es auch legitime Ängs-
evangelikalen Gemeinden sehen, die ja           Kirchengemeinden dieses Potenzial?            te gibt und im Gespräch einen Weg dazu
weltweit eine ungeheure Bedeutung ge-               Prof. Bude: Das Potenzial auf jeden       finden. Ich glaube, das ist die große Chan-
wonnen haben. Dort kann man Formen              Fall. Denn die Angst zermürbt einen,          ce der Kirchengemeinden: Sie haben durch
des sich wechselseitigen Fitmachens für         wenn man das Gefühl hat, nur man sel-         die Sprache der Bibel und der Art, sich zu
den sozialen Aufstieg beobachten. Wo es         ber habe Angst. Sie wird dann ertragbar,      verständigen, eine Angst-Thematisierungs-
darum geht, aus dem unteren Mittelklasse-       wenn man merkt, die anderen haben auch        Semantik.
teil der Gesellschaft in die mittlere Mittel-   Angst. Man kann sich gemeinsam darüber
klasse zu kommen, sind diese Gemeinden
sehr wichtig, weil sie sowohl eine lebens-
praktische wie eine spirituelle Disziplinie-
                                                verständigen, dass Angst nicht abzuschaf-
                                                fen ist. Die Angst, die man bekämpfen und
                                                überwinden will, ist das Schlimmste, denn
                                                                                              ?   In der Gemeinschaft lässt sich Angst
                                                                                                  in etwas Produktives umwandeln?
                                                                                                   Prof. Bude: Die christliche Botschaft,
rung mit sich bringen.                          die produziert hinterrücks noch viel mehr     das habe ich in meinem Buch mit Paul
     Das alles kann man für deutsche Ver-       Angst. Die Gemeinde kann eine Art Solida-     Tillich versucht zu sagen, ist Hoffnung,
hältnisse nicht so sagen – wir suchen in        rität der Angst hervorbringen, indem man      nicht Angstfreiheit. Angstfreiheit ist Be-
der Gemeinde eher eine zwischenmensch-          sich sagt: Du bist nicht alleine mit deiner   trug. Hoffnung meint, dass wir der Angst
liche Resonanz. Das heißt, die Gemeinde         Angst, ich habe sie auch. Und das ist die     nicht entkommen können, indem wir uns
selbst ist letztlich eine Art von Aufgeho-      große Chance der Gemeinde.                    der Resignation hingeben, sondern indem
benheitsgefühl für katholische oder protes-                                                   wir sagen, es ist das letzte Wort noch nicht
tantische Christen vor Ort, die aber auch
sozial praktischen Charakter haben kann.        ?   Der Anspruch der christlichen Ge-
                                                    meinde, ein angstfreier Ort zu sein,
                                                ist zumindest da. Denn Jesus sagt sei-
                                                                                              gesprochen. Die Angst ermöglicht mir wei-
                                                                                              terzugehen und nicht stehenbleiben zu
                                                                                              müssen.

?   Worin zeigt sich das?
       Prof. Bude: Das hat die Flüchtlings-
bewegung deutlich gezeigt. Auch Leute,
                                                nen Anhängern: „In der Welt habt ihr
                                                Angst; aber seid getrost, ich habe die
                                                Welt überwunden“ (Joh. 16,33). Wenn           ?   Sie sind Katholik. Wie muss eine
                                                                                                  Kirchengemeinde aussehen, in der
die den Kirchen gar nicht sonderlich na-        man das ernst nimmt, hat es doch ei-          Sie sich – zumindest ein bisschen –
hestehen, müssen im Nachhinein zugeste-         nen therapeutischen Effekt, oder?             wohlfühlen?
hen, dass es mit der Bewältigung der Pro-           Prof. Bude: Der christliche Glaube hat        Prof. Bude: Also, ich bin ein sehr kul-
bleme nicht so gut geklappt hätte, wenn         einen therapeutischen Affekt. Keinen the-     tisch veranlagter Mensch. Ich habe eine
man die kirchlichen Unterstützungsstruk-        rapeutischen Anspruch. Und wenn man           gewisse Neigung zu Wiederholungen. Neh-
turen nicht gehabt hätte. Kirchengemein-        an das andere große Wort denkt – „Fürch-      men wir mal das reiche Liederrepertoire,
den sollten sich nicht als sozialtherapeu-      tet euch nicht” – das ist natürlich extrem    das ja vor allen Dingen protestantisch ist:
tische Reservate verstehen, dann würden         angstlindernd.                                Wenn ich einmal in der Woche „Ein feste
sie ihren eigenen Charakter verlieren.                                                        Burg ist unser Gott” singen kann, bin ich

?   ... und der wäre?
         Prof. Bude: Die Gemeinde ist eine
                                                ?   Ihre Analyse zeigt den Verlust von
                                                    Sicherheit, Selbstwertgefühl und
                                                Orientierung auf vielen Ebenen. Welche
                                                                                              schon zufrieden.
                                                                                                  Ich habe keine große therapeutische
                                                                                              Erwartung an die Kirche. Ihre Existenz ist
Lebenswelt für Christen. Die Kirchen ins-       Rolle kann die Kirche in einer solchen        für mich Therapie genug. Es ist einfach die
gesamt sollten sich selbst sehr viel mehr       „Alles-ist-möglich-nichts-ist-sicher-Ge-      Bekräftigung einer langen Linie, die mir
aus den Gemeinden heraus verstehen,             sellschaft” spielen?                          das Gefühl vermittelt, ich bin nicht allein
mehr als das vielleicht von den Kirchenlei-         Prof. Bude: Die Kirchen müssten erken-    auf der Welt. Die Menschen haben sich
tungen gesehen wird. Nach meinem Ein-           nen, dass die Zeit, in der man glaubte, ei-   schon ewig zum Beispiel mit dem Flucht-
druck hat die Kirche als Institution mehr       ne gute Gesellschaft sei eine Gesellschaft    thema beschäftigt: Auszug aus Ägypten,
noch als vor zehn Jahren einen gewissen         starker Einzelner, vorbei ist. Denken Sie     Auszug von Flüchtlingen und Vertriebe-
Legitimitätsgewinn zu verzeichnen. Es gibt      an den Klimawandel: Man kann es nicht         nen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die lan-
jetzt mehr Leute, die ein Verständnis für       als Einzelner schaffen, das Überleben von     ge Geschichte des Christentums ist immer
die Institutionalität der Kirchen haben.        Gesellschaften hinzukriegen. Und das gilt     auch eine Thematisierung der Ängste ge-

12     blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019
Foto: Dawin Meckel
                                                                                                                                                           THEMA

                       Heinz Bude (64) ist Professor für Makrosoziologie an der Univer-        heruntergeschluckten Wut
                       sität Kassel. Nach dem Studium der Soziologie, Philosophie und          und der stillen Verbitterung.
                       Psychologie promovierte er und habilitierte sich an der Freien Uni-     Das betrifft die Arbeitswelt
                       versität Berlin. Bis 2014 war er am Hamburger Institut für Sozialfor-   genauso wie die Intimbezie-
                       schung tätig, im Jahr 2000 folgte er dem Ruf an die Uni Kassel. Mit     hungen, das Verhältnis zur
                       Frau und Tochter lebt er in Berlin.                                     Politik oder den Finanzsektor.
                       Als einer der führenden deutschen Soziologen beschäftigt er sich        Kann Solidarität unsere Ge-
                       mit Themen wie Armut und Exklusion, der Macht von Stimmungen,           sellschaft vor dem Auseinan-
                       der Rolle der Kirchen oder dem Bildungsstand. Seine Diagnosen           derbrechen bewahren, fragt
                                                                                                                                Heinz Bude:        Heinz Bude:
                       finden ein großes Echo in der Öffentlichkeit.                           Bude in seinem jüngsten
                                                                                                                                Gesellschaft       Solidarität. Die
                       Zu seinen wichtigen letzten Publikationen gehören „Adorno für           Buch, das im März auf den
                                                                                                                                der Angst.         Zukunft einer
                       Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968” (2018), „Das Gefühl der         Markt kommt. Er appel-
                                                                                                                                Hamburger          großen Idee.
                       Welt. Über die Macht von Stimmungen” (2016) und „Gesellschaft           liert an eine neue Art des
                                                                                                                                Edition 2014,      Hanser Verlag
                       der Angst” (2014). Darin beschreibt Bude Angst als „Ausdruck für        Zusammenlebens, das an den
                                                                                                                                16 Euro            2019, 18 Euro
                       einen Gesellschaftszustand mit schwankendem Boden”. Die Mehr-           alten Begriff der Solidarität
                       heitsklasse fühle sich in ihrem sozialen Status bedroht und im Blick    anknüpft. „Wir sollten uns nicht damit begnügen, materielle Not zu
                       auf ihre Zukunft gefährdet. Man sei von dem Empfinden beherrscht,       lindern, sondern im Anderen uns selbst als Mensch wiedererkennen.
                       in eine Welt geworfen zu sein, die einem nicht mehr gehöre. Bude        Erst durch diese freie Entscheidung zur Mitmenschlichkeit findet
                       beschreibt eine Gesellschaft der verstörenden Ungewissheit, der         eine Gesellschaft wieder zusammen.”

                     wesen – im Blick auf eine Hoffnung, die          dings ein Riesenproblem, nämlich die Zu-         zu sein, Ausdruck verleihen wollen. Die
                     auf Gott ausgerichtet ist. Das gemeinsam         sammenlegung der Gemeinden, die Entste-          wollen nicht einfach einen Klick im Netz
                     zu erfahren und mit Leuten zusammenzu-           hung von Großgemeinden. Damit habe ich           machen, sondern sich körperlich irgendwo
                     kommen, die mit dieser Idee etwas anfan-         ganz große Probleme, wenn diese Großge-          versammeln. Und dieses Gefühl des Ver-
                     gen können, dass wir auf den Schultern           meinden ihr kultisches Zentrum verlieren.        sammelns und des Gewinnens von Stärke
                     von Riesen stehen und wirklich nicht al-                                                          ist, glaube ich, auch ein ganz wesentliches
                     leine auf der Welt sind – das ist das Aller-
                     wichtigste.                                      ?   Es droht also in der Kirche der Verlust
                                                                          von Nähe?
                                                                          Prof. Bude: Genau – und zwar in ei-
                                                                                                                       Element bei den Kirchengemeinden.
                                                                                                                            Und wenn wir die Kirchengemeinden
                                                                                                                       größer machen zu großen Flächengemein-

                     ?    Natürlich ist es nicht Ihr Job als
                          Soziologe, Lösungen aus der Krise
                     zu weisen. Aber kann die Kirche, gesell-
                                                                      nem körperlichen Sinn. In der politikwis-
                                                                      senschaftlichen und sozialphilosophischen
                                                                      Literatur ist „Versammlung” heute einer
                                                                                                                       den, müssen wir darauf achten, dass es
                                                                                                                       weiter Orte des sich Versammelns gibt –
                                                                                                                       einen kultischen Bezugspunkt, um den he-
                     schaftlich gesehen, eine Art Hoffnungs-          der ganz großen Begriffe. Tahir-Platz, Gelb-     rum man sich versammeln kann. Das, glau-
                     agentur der Zukunft sein?                        westen – die Menschen, die sich an einem         be ich, ist sehr, sehr wichtig. Sonst wird die
                          Prof. Bude: Ich glaube schon. Ich weiß      bestimmten Ort versammeln, um ihrem              Kirche einfach zu einer dezentralen Glau-
                     nicht, wie es in der evangelischen Kirche        Protest, ihrem Leiden, ihrem Gefühl, aus         bensunterweisung, und das macht keinen
                     ist, in der katholischen haben wir aller-        dem Gesichtsfeld der Mächtigen geraten           Sinn. l             Fragen: Lothar Simmank

                                                                                                              blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019            13
THEMA

CROSS Jugendkulturkirche –
eine Gemeinde, die keine ist                                                                                 Kircheng
                                                                                                             mal gan

                                                                                                                                            Foto: medio.tv/Schauderna
     Konzert in der CROSS Jugendkulturkirche Kassel beim Jugendempfang der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck

H
        ungrig im Gottesdienst zu sitzen, ist   Sara Hering, die Mitglied im Vorstand ist.   gab es einen Boxring in der Kirche, in dem
        nie gut. Umso besser, wenn hinter-      Als Gemeinde würde sie ihre Kirche aber      sich die Kandidaten der Stadt Kassel den
        her eine große Portion Nudeln auf-      eigentlich nicht bezeichnen. „Wir haben      schmetternden Fragen der Erstwähler stel-
getischt wird. Beim Essen kann man viel         schon eine Art Gemeinschaft. Aber es gibt    len mussten. Bei „start up!“ gibt es die
besser über Gott und die Welt diskutieren.      auch Leute, die kommen nur ab und zu.        Möglichkeit, sich zum Teamer oder Grup-
Und deshalb schuf das Team der Jugend-          Wir sind offen für alle.“                    penleiter ausbilden zu lassen. „Hier hat
kulturkirche CROSS in Kassel „Basta. Pas-           Diese Offenheit führt dazu, dass viele
ta!“. Erst gibt’s Gottesdienst, dann wird ge-   Kirchenferne in die CROSS kommen. Fest                                                     Foto: Julian Lorenbeck
gessen. „Wir essen gerne miteinander und        ins Programm gehören Poetry-Slam-Aben-
dabei haben wir oft sehr intensive Gesprä-      de. Dort können junge Erwachsenen ihre
che über Tod, Verlust und Freundschaft“,        eigenen Texte einem Publikum vortragen,
erklärt die evangelische Stadtjugendpfar-       dazu gibt es Live-Musik. Kirche mal ganz
rerin Uta Feußner.                              anders: „Hier ist es einfach lockerer und
    Seit Sommer 2007 gibt es die Jugend-        ungezwungener. Man kann über alles dis-
kulturkirche, seit 2013 hat sie ihren Stand-    kutieren“, findet Sara.                       Pfarrerin Uta Feußner (l.) mit Sara Hering
ort in der Lutherkirche. Ein zentraler Ort          Gern erinnert sie sich an den gemein-
in Kassel, damit er für die Jugendlichen        samen Auftritt von Samuel Harfst und         alles auf seine Art und Weise etwas Schö-
aus den Gemeinden in Kassel und Umland          Samuel Koch, der bei „Wetten, dass …?“       nes“, sagt Sara. Deshalb kommt sie gerne
gut erreichbar ist. Denn die Jugendkultur-      schwer verunglückte. Während Harfst den      in die CROSS. Und wenn es auch nur für
kirche sieht sich als geistliches, aber auch    Abend musikalisch begleitete, las Koch       einen Gottesdienst mit anschließendem
als kulturelles Zentrum für die Kasseler Ju-    aus seinem Buch vor. „Er hat über das Le-    Nudelessen ist. l        Julian Lorenbeck
gend. Das Programm der Kirche wird von          ben gesprochen und dass er seinen Glau-
Jugendlichen für Jugendliche gestaltet.         ben nicht verloren hat. Das war super“.      Termine: Basta-Pasta-Gottesdienst 8.3.2019,
„Hier kann sich jeder mit seinen Talen-             Bei der Programmauswahl stehen die       19:30 Uhr; Poetry-Slam 23.2.2019, 19:30
ten einbringen und hat die Möglichkeit,         Wünsche und Ideen der Jugendlichen im        Uhr; Anmeldung start up! bis 30.5.2019
sich auszuprobieren“, sagt die 18-jährige       Vordergrund. Zur Landtagswahl im Herbst          www.jugendkulturkirche-kassel.de

14     blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019
THEMA

                                       Ausdrucksstark und lebendig:
gemeinde                               Gebärdensprachgemeinde Fulda
 z anders

   H
             ier sind viele Hände unablässig in
             Bewegung. Der helle Raum vermit-
             telt gemütliche Wohnzimmeratmo-
   sphäre. Es wird oft und laut gelacht, die
   Stimmung ist gelöst, die Menschen sind
   sichtlich miteinander vertraut. 14 gehör-
   lose Besucher sitzen im Gebärdensprach-
   gottesdienst von Pfarrerin Melanie Keller-

                                                                                                                                                 Fotos: Jens Brehl
   Stenzel im Haus Oranien in Fulda.
        Während die Pfarrerin mittels Gebär-
   den predigt, bewegt sie lautlos die Lippen.
   Die gesamte Klaviatur der Körpersprache
   ist im Einsatz: Augenbrauen, Mundwin-            Ein Gottesdienst in lebendiger Klarheit mit gehörlosen Besuchern in Fulda
   kel, Schultern, ein entschlossener Blick. In
   welcher Höhe sie die Gebärden macht, ist         bei konzentriert sie sich auf die Kernaus-
   ebenfalls bedeutsam. Nach wenigen Se-            sagen und wie sie diese verständlich ver-
   kunden sprüht die Pfarrerin vor Energie.         mitteln kann. Geschwurbel gibt es nicht,
   Einen Text herunterzuleiern, ist unmöglich.      stattdessen klare Botschaften. Zudem se-
   „Gebärdensprache ist besonders lebendig          hen sich alle an, nehmen den Menschen in
   und ausdrucksstark“, sagt sie.                   seiner Gesamtheit wahr. Es heißt, wach im
        Während sie auf jedes Detail ihrer          Hier und Jetzt zu sein.
   Kommunikation achtet, bindet sie die Be-
   sucher aktiv mit ein. Es geht um die Jahres-     Eine sprachliche Minderheit
   losung aus Psalm 34,15: „Suche Frieden!              Nach dem Gottesdienst findet der Ge-
   Suche ihn mit deiner ganzen Kraft.“ Wozu         meindenachmittag bei Kaffee und Kuchen
   brauchen die Teilnehmer Kraft? Was be-           statt. Sebastian Sonntag ist aus Hanau
   deutet ihnen Frieden? Ganz bewusst lo-           angereist, da ihm die Gemeinde in Ful-
   ckert die Predigerin ihren Gottesdienst auf,     da besser gefällt. Hier trifft er Menschen
   lässt andere zu Wort kommen. Denn sich           von Jung bis Alt. Ein Ehepaar aus Bayern
   über längere Zeit auf Gebärden zu konzen-        findet regelmäßig den Weg ins Haus Ora-
   trieren, strengt an. Um blendendes Gegen-        nien, auch Katholiken nehmen teil. Der
   licht zu vermeiden, rückt sie den Altar vom      hörende Journalist in der Runde wird in        Pfarrerin Melanie Keller-Stenzel predigt in
   Fenster an die Wand. Für Hörende muss es         Gespräche verwickelt, ist Teil der Gruppe      Fulda und in Hanau. Insgesamt gibt es acht
   still, für Gehörlose gut sichtbar sein.          und kein Fremdkörper. „Statistisch ist etwa    Gehörlosengemeinden in der Evangelischen
        Nun stehen alle auf und beten. Ein          jeder tausendste Mensch von Gehörlosig-        Kirche von Kurhessen-Waldeck sowie eine
   Gottesdienstbesucher spricht das Vater-          keit betroffen. Sie bilden eine sprachliche    Beratungsstelle in Kassel.
   unser laut mit und ist erstaunlich gut zu        Minderheit, leben zerstreut und suchen Ge-         www.gehoerlosenseelsorge-ekkw.de
   verstehen – ein unvermittelter Gänsehaut-        meinschaft“, erklärt Keller-Stenzel.
   moment für Hörende inmitten der lebhaf-              Aufgewachsen im Pfarrhaus in Hom-
   ten Stille. Andere im Raum bewegen die           berg/Efze erlebte sie als Jugendliche Tref-    griff „Gebärdensprachgottesdienst”. Ihre
   Lippen, manche geben Geräusche von sich.         fen der dortigen Gemeinde. Seit 2012 ist       Begründung: Die Menschen definieren sich
        Die Gebärdensprache bietet auch Vor-        sie in der Gehörlosenseelsorge aktiv und       nicht über das fehlende Gehör, sondern
   teile, erklärt Keller-Stenzel später. Für ihre   für die Regionen Fulda und Main-Kinzig         über die gemeinsame Sprache. l
   Predigt muss sie Bibeltexte übersetzen. Da-      zuständig. Ganz bewusst nutzt sie den Be-                                   Jens Brehl

                                                                                          blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019      15
Das kann doch n
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                                                                       Kurioses aus hessischen
Bibelgenuss mal anders
               Wie man die Bibel am besten genießt?
               Mit einem Glas Hochprozentigem beim
                      biblischen Whisky-Tasting in der                Pfarrer als Punkrocker
                       Klosterkirche, findet Pfarrer Mar-
                        kus Himmelmann aus Kassel. Das                Wer drei Akkorde greifen kann,
                         Wort Whisky komme schließlich                der kann auch Punkrock spielen.
                          aus dem Gälischen und bedeute               Ob deshalb Armin Beck Punkro-
                           „Wasser des Lebens“. Passender-            cker wurde, ist nicht überliefert.
                           weise servierte der Pfarrer kleine         Auf jeden Fall war der heutige
                         Häppchen aus der Bibel – aus                 Pfarrer Gründungsmitglied und
                     Psalm 23, wo es heißt: „Er führet mich           Solo-Gitarrist der international
            zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele.            bekannten Eschweger Punkband
(…) Du schenkest mir voll ein.“ Klingt nach einem schönen             „The Bates“. Punkrock hat für den
Motto für den Abend, bei dem 21 Männer und Frauen                     Pfarrer aber viel mit Kirche gemeinsam:
vier verschiedene schottische Single Malts verkosteten.               „Rockmusik geht tief in die Gefühle, das
Dazwischen gab es biblische Geschichten und kulinari-                 hat auch was mit Religion zu tun.“ Für
sche Leckereien. Ein Abendmahl, das bestimmt allen                    Pfarrer Beck gehören Christsein und Musik-
Besuchern geschmeckt hat.                                             machen zusammen. Deshalb steht er auch heute noch auf der
                                                                      Bühne. Zwar verließ er die Band vor dem großen Durchbruch
                                                                      1991, bei Revival-Auftritten mit den Ex-Kollegen ist der Pfarrer
                                                                      aber wieder an der Gitarre im Einsatz.

Auf blutiger Spur
                                                                              Schöner lieben
Pfarrer Matthias Fischer aus Wächtersbach mag es sehr blutig.
In seiner Freizeit erhöht er die Mordrate im Main-Kinzig-Kreis.               Damit das Ehebett nicht zum Krisengebiet wird, hat
       Denn der Pfarrer schreibt nebenberuflich Krimis. Sein al-              der Bielefelder Wellington Estevo „Deutschlands ersten
               lererstes literarisches Werk war eine Kurzgeschich-            Sexshop mit christlichen Werten” gegründet. Unter
                       te, danach hatte er Blut geleckt und ging              www.schoenerlieben.de findet man online alles, um
                            zu dickeren Büchern über. Sein Alter              wieder für Frieden in den Kissen zu sorgen. Denn Sex
                               Ego, Kriminaldirektor Dr. Christoph            in der Ehe sei wichtig, so der Shop-
                                    Caspari, macht sich in Werken             Gründer. Jedoch gehe es trotz
                                     wie „Die Farben des Zorns“,              Sex-Spielzeug nicht ohne Liebe,
                                      Das Gift des Propheten“ und             Vertrauen und offene Kom-
                                         aktuell „Die Bestie vom              munikation. Der Shop verzichtet
                                          Kinzigtal“ auf die Jagd             komplett auf Nacktheit, Fäkal-
                                           nach Serienmördern.                sprache und billigen Humor.
                                          Sechs Krimis pflastern              Okay, Bielefeld liegt nicht
                                          bereits den blutigen Pfad           in Hessen, und der Shop ist
                                         des Pfarrers durchs hessi-           keine Kirchengemeinde.
                                        sche Kinzigtal.                       Aber durchaus möglich ist,
                                                                              dass er dankbare Kunden
                                                                              auch hierzulande findet.

16     blick in die kirche | MAGAZIN | Februar 2019
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