Housing First Wir holen Obdachlose von der Straße - Straßenkreuzer eV
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28. Jahrgang · Ausgabe Oktober 2021 · www.strassenkreuzer.info 2,20€ davon 1,10 € für den/die Verkäufer/in First Housing von der Straße Wir holen Obdachlose
wbg_LebensRäume2021_92x132 mit Outline_RZ.qxp_92x132 11.01.21 08:59 Wohl und geborgen fühlen LebensRäume Als kommunal-verbundenes, wirtschaftlich stabiles Unternehmen mit einer über 100-jährigen Tradition ist die wbg ein Garant für Kompetenz und Sicherheit Vorankommen bei Immobilien. In Sachen Miete oder Kauf ist Ihre Lebensentscheidung bei uns in guten Händen. Die WBG KOMMUNAL realisiert im Auftrag der Stadt Schulen, Horte, Kindergärten und -krippen. ist einfach. Liebe Leserinnen, liebe Leser, Das finden wir vom Netzwerk Anlauf, zu dem der Stra- wbg Mietwohnungen WBG KOMMUNAL ßenkreuzer, die mudra und Lilith gehören, so entsetzlich, als kleine Kinder haben wir uns oft Häuser gebaut: Zwei dass wir nun handeln werden. Unser Projekt lässt sich kurz Stühle in gut einem Meter Abstand mit den Lehnen zuei- so beschreiben: Erst braucht der Mensch eine Wohnung, nander gestellt, möglichst große Decken darüber, die fast dann bieten wir bei Bedarf weitere Hilfen und sind An- Auch wenn’s um Bildung und Soziales wbg Bauträger bis zum Boden reichten – fertig war unser Heim, wir fühlten sprechpartner für alle Beteiligten. Das Ganze nennt sich geht, sind wir mit uns wohl und geborgen darin. Als Erwachsene haben wir schlicht Housing First, weil die Idee in New York entstan- dem Herzen dabei. einen Schlüssel zu einer richtigen Wohnung, hoffen oder den ist. Wir hoffen fünf, zehn, gern mehr Wohnungen zu gehen davon aus, dass wir immer ein gutes, bezahlbares finden für Menschen, die draußen oder unter schlechten www.wbg.nuernberg.de Zuhause haben werden. Wohnen ist elementar wichtig. Bedingungen leben. Wenn’s um Geld geht Schon Menschen der Urzeit suchten sich eine Höhle, woll- Wir sind nicht allein. Housing First funktioniert nachweis- s Sparkasse ten nicht schutzlos draußen leben und vor allem nicht lich an vielen Orten der Welt, die Stadt Nürnberg ist offen schlafen. für unser Projekt, erste Unternehmen signalisieren Un- sparkasse-nuernberg.de Nürnberg Wir gestalten LebensRäume. Und heute? Es regt kaum jemanden auf, dass allein in terstützung. Und das Wichtigste: Es gibt sie, die Vermie- Nürnberg weit über 2000 Frauen, Männer und Kinder terinnen und Vermieter, die Wohnungen an Obdachlose keine eigene Wohnung haben, in ganz Deutschland sind vermieten. 05578_A_strassenkreuzer_Vorankommen_92x132.indd 1 06.06.16 12:11 es 680.000. Mehr als 40.000 Menschen leben sogar ohne jede Unterkunft auf der Straße. Viele Obdachlose werden Viel Freude beim Lesen dieser Ausgabe wünschen verBiNduNG iNNiG BETREUUNG körperlich und seelisch krank, trinken, verwahrlosen, ver- Ilse Weiß und das Straßenkreuzer-Team lieren sich. VORSORGE Titelthema Seite 4—23 SCHREIBWERKSTATT Sie möchten Ihre Vorsorge regeln? CURT*in 24—Der Meister erscheint nicht mehr Wir beraten Sie persönlich und kostenfrei bei Erstellung von Housing First Die Schreibwerkstatt nimmt Abschied von ihrem Kollegen Waldemar Graser BERATUNG WAS UNS BEWEGT yoUR › (Vorsorge-) Vollmacht 27—Wir trauern um Waldemar Graser › Patientenverfügung 4—Acht Mal ein erfreulicher Start 14—Was sind das nur für Leute?! und Helmut Nill • Unterstützung durch die Schon mittendrin, bevor es Das Ehepaar Preuß vermietet Sparda-Bank · Spenden • Willkommen an › Betreuungsverfügung eigentlich losgeht bewusst auch an Obdachlose der Kreuzerbude • Leserpost loCals VORTRÄGE 6—Nicht mehr auf dem Holzweg 16—Wissen, wo man abends 30—Straßenkreuzer Uni BERATUNGSTELEFON Schlafen unter Bäumen kann schön schlafen kann 0911 59 05 88 08 sein – wenn man nicht muss Volker Wolfrum von der Stadt geht 31—Kulturgut [ ] neue Wege Mo bis Fr 9 – 12 Uhr 10—Glück auf 25 Quadratmetern MOMENTAUFNAHME Di 13 – 16 Uhr SCHULUNG Eigenes Bett, eigene Wohnung – 20—„ Es stimmt, dass 33—Mir gefallen die Kontrollen ein großes Geschenk Verdrängung stattfindet“ der Polizei hier Wie ein Wohnbau-Unternehmen zu c u r t # 251 Die Betreuungsvereine von AWO, Caritas, LiV, 12—„ So wie jeder irgendwie“ sozialem Wohnungsbau steht Straßenkreuzer-Verkäufer László Filipszki e r h ä lt l i c h d o r t , curt Lebenshilfe, SKF und Stadtmission in Zusammen Ein Ort ohne Angst und Gewalt – KOPF UND TOPF your arbeit mit der Betreuungsstelle der Stadt Nürnberg. MAGAZIN kein ungewöhnlicher Wunsch 21—Weg von der Straße 34—Unser Rätsel und Kirschkuchen wo e s s c h ö n i s t. locals Wie sich Housing First auf der Welt seit 30 Jahren entwickelt hat 32—Impressum www.curt.de / N B G www.gesetzliche-betreuung-nbg.de
Max Hopperdietzel war bis zu seiner Pensi- Mut macht uns besonders die bewunderungswürdige onierung im Frühjahr 2021 Leiter der beruf- Bereitschaft von privaten Vermietern, sich auf das lichen Integration bei mudra e.V. Schon seit 2017 engagiert sich der Sozialpädagoge beim Abenteuer Housing First einzulassen. Verein Straßenkreuzer, kümmert sich um Verkäufer mit besonders herausfordernden und komplexen Anliegen und Problemen. Die enge Vernetzung auch mit Lilith e.V. kommt über Anlauf, das Netzwerk für Qualifizierung und Beschäftigung, zustande. Sobald die Finanzierung für die gemeinsame Organisation eines Housing-First-Projekts in Nürnberg geklärt ist, wird Max Hopperdietzel dessen Koordinator. S eit einigen Jahren laufen Planungen, auch in Nürnberg Genossenschaften bieten weitere Möglichkeiten, die Präsenz ein Housing-First-Projekt zu beginnen. Im Oktober in sozialen Medien muss kontinuierlich aktualisiert werden, 2019 fand ein vielbeachtetes Fachgespräch statt, unter die Kommunikation mit Jobcentern und Sozialämtern ist er- anderem mit Vorträgen aus bereits existierenden Initiativen, forderlich. Nicht zuletzt benötigen nicht nur die Bewohner an dem zahlreiche interessierte Menschen aus sozialen Ins- Betreuung, auch der persönliche Kontakt zu Vermietern hilft titutionen, Wohnungswirtschaft und Politik teilnahmen und zur Beilegung etwaiger auftretender Konflikte und anderen über das auch in der lokalen Presse ausführlich berichtet Problemen. Hier ist eine zuverlässige, schnelle Erreichbar- wurde. Während die weitere Planung, vor allem durch die keit und Reaktionszeit ein wichtiges Kriterium. Und natürlich Corona-bedingten Einschränkungen, eher schleppend vor- fungiert ein eigenständiges Housing-First-Projekt als An- ankam, zeigte sich ein unerwarteter Effekt: Vermieterinnen sprechstation für Interessenten, die nicht an die beteiligten und Vermieter aus dem privaten Sektor boten von sich aus Institutionen angebunden sind. Acht Mal ein geeignete Wohnungen für die Zielgruppe von Housing First Die bisherigen Erfolge spornen uns an, die Entwicklung an. Zwei Vermittlungen waren auf Artikel im Straßenkreuzer von Housing First in Nürnberg weiter voranzutreiben. Mut zurückzuführen, in denen Betroffene vorgestellt wurden. Zu- macht uns besonders die bewunderungswürdige Bereitschaft dem führten gute Kontakte des Tagesjobs-Projekts der mudra von privaten Vermietern, sich auf das Abenteuer Housing Drogenhilfe (Wohnungsauflösungen, Entrümpelungen und First einzulassen und durchaus nicht immer einfachen Men- Umzüge) zu Wohnungsbesitzern dazu, dass diese einige ihrer schen eine Chance für eine Wohnung zu geben. Die Auswer- erfreulicher Start Objekte zur Verfügung stellten. So konnten mittlerweile acht tung schon länger bestehender Initiativen ergab, dass in der Mietverhältnisse abgeschlossen werden, von denen keines Folge der Projektteilnahme oft auch ein Wiedereinstieg in außerordentlich beendet werden musste. Ein Bewohner ist den Arbeitsmarkt erfolgte. Wir werden daher die bestehen- leider nach langer Krankheit verstorben, der Vermieter bot den Arbeitsangebote von Lilith, Straßenkreuzer und mudra uns die Wohnung sofort wieder an, was sicher kein schlechtes als natürlich unverbindliche Ergänzung von Housing First Zeichen für die bisherigen Erfahrungen darstellt. anbieten („Housing First – Job second“) und freuen uns auf Wie bei Housing First üblich, werden die Mietkosten durch die Weiterführung dieser spannenden Initiative. Lilith, mudra und der Straßenkreuzer wollen Menschen von der Straße holen. Seit mehreren Jahren Jobcenter oder Sozialamt gesichert. Die Mietverträge werden Max Hopperdietzel | Koordinator Housing First Nürnberg laufen Planungen für ein Nürnberger Housing-First-Projekt. Parallel dazu zeigen ehemals Wohnungs- mit den Bewohnerinnen und Bewohnern geschlossen, nicht Foto: Sebastian Lock | sebastianlock.de mit den sozialen Trägern. Die Betreuung, soweit gewünscht lose längst, wie gut Wohnen ganz praktisch wirkt. Nun gehen die beteiligten Vereine den nächsten und notwendig, ist Bestandteil einer Anbindung an mudra, Schritt: Sozialpädagoge Max Hopperdietzel wird Ansprechpartner für Vermieter und Mieter, spätes- Straßenkreuzer oder Lilith. tens im Frühjahr 2022 soll das Projekt dann ganz offiziell starten. Hier schildert Max, was bisher Wir können uns nicht zur ück lehnen erreicht wurde und wie es gut weitergehen kann. Hier zeigen sich auch die Grenzen der ansonsten sehr erfreuli- chen Entwicklung: Menschen ohne Kontakt zu den beteiligten Trägern bleiben erstmal außen vor. Die Betreuung, die sich im Einzelfall als sehr zeitintensiv gezeigt hat, ist sonst nicht gewährleistet. Insofern können wir uns nicht zurücklehnen und erleichtert feststellen, dass Housing First ja ganz von alleine läuft. Für eine Fortführung und Verstetigung der er- freulichen Anfänge bleibt ein Mindestmaß an fester Struk- tur unerlässlich. Die Akquise weiteren Wohnraums erfordert nicht unerheblichen Zeitaufwand, Kontakte auch zu institu- tionellen Vermietern wie Wohnungsbaugesellschaften und 4 HOUSING FIRST HOUSING FIRST 5
Nicht mehr auf dem Holzweg Im Wald gewohnt hat Stefan Rosenzweig nie, darauf legt er Wert – alle paar Tage mal zu duschen, das sei schließlich schon nötig. Im Wald übernachtet hat er dagegen schon oft. 15 Jahre lang hatte der gebür- tige Nürnberger keine eigene Wohnung, und wenn er abends nirgendwo anders unterkam, ging er in den Wald. Doch seit einem Jahr kann Rosenzweig jetzt wieder in seinem eigenen Bett schlafen. S tefan Rosenzweig sitzt auf seinem Bett. Das blau-weiß gestreifte Stoffsofa bleibt für die Gäste. „Das kommt eigentlich von einer Firma am Spittlertor, die hätten das entsorgt“, weiß er. Auch die anderen Möbel, die in der Ein- Zimmer-Wohnung stehen, hat Stefan gebraucht übernom- men: den Kleiderschrank von seiner Chefin bei der mudra, die Kommode von seinem Nachbarn, ein Schränkchen von seinem Arbeitgeber. Die mudra war es auch, die dem hageren Mann das Zuhause über den langjährigen Kontakt zu einem aufgeschlossenen Vermieter vermittelte. Und obwohl Stefan alle Möbel einfach übernommen hat, passt alles zusammen: Die gesamte Einrichtung ist aus naturbelassenem Holz. Denn mit Holz hat Rosenzweig sich immer schon gern umgeben. Als er in verschiedene handwerkliche Ausbildun- gen hineinschnuppern durfte, entschied er sich für Schreiner, begann mit 15 Jahren eine Ausbildung beim SOS-Kinderdorf. für ein paar Wochen oder sogar Jahre. Immer mal wieder war Und auch heute arbeitet der 53-Jährige täglich mit dem Roh- er inhaftiert – immer nur wenige Monate, immer für Kleinig- stoff. Seit 2014 ist er bei der mudra im Projekt „Wald & Holz“ keiten: Wiederholtes Schwarzfahren, Trunkenheit im Verkehr und stellt Brennholz her. Kürzlich erst wurde sein Vertrag mit dem Rad, Sachbeschädigung an der Haustür. „Entweder wieder verlängert, jetzt läuft er über drei Jahre. 500 Euro zahlen oder zwei Monate Haft“ seien es zum Beispiel für die Tür gewesen. Er nahm die zwei Monate Haft. Die Fichte kennt er seit Ja hr zehnten Und immer, wenn es dunkel wurde und er nicht wusste, Er hat eine Arbeit und eine Wohnung: Damit sei er eigent- wo er unterkommen sollte, ging er wieder in den Wald. Den lich wieder in die Gesellschaft integriert, erzählt Rosenzweig. Abschnitt am Nürnberger Stadtrand kennt er seit seiner Kind- „Denn man muss ja mitspielen, irgendwie.“ Doch bis er zu die- heit, und noch heute ist er fast jedes Wochenende da. Der ser Erkenntnis kam, machte er einige Umwege. In den 90ern Wald habe ihn schon vor vielen Dummheiten bewahrt. Gleich arbeitete er ein paar Jahre als DJ und Barkeeper, wohnte über am Sonntag will er gerne zeigen, wo sein Platz zwischen den der Kneipe. Später erfuhr er bei einem Gelegenheitsjob von Bäumen ist, wo er seine Ruhe findet. einer freien Wohnung, in der er bis 2005 wohnte. Doch dann Am Wochenende ist man hier nicht alleine, Spaziergänger, seien sich Vermieter und Jobcenter einig gewesen, dass er Jogger und Mountainbiker nutzen das Naherholungsgebiet. gehen solle, berichtet Rosenzweig, das war’s. Rosenzweig grüßt alle freundlich, alle grüßen zurück. An ei- Daraufhin kam er unter, wo es gerade ging: Er schlief bei ner Stelle verlässt er den Weg, tritt über das dichte Moos, Freunden oder in verschiedenen Pensionen. Oft in Mehrbett- hebt einige tiefhängende Äste an, „wie eine Pforte ist das zimmern mit unterschiedlichen Mitbewohnern, später in WGs, hier“, meint er. Auf einer wenige Quadratmeter großen, leicht 6 HOUSING FIRST HOUSING FIRST 7
Der Unterschlupf ist nicht getarnt, er soll allen dienen können, die im Wald von einem Unwetter überrascht werden. abschüssigen Lichtung bleibt er stehen. Vom Weg aus ist sie lächelt: Die hätten auch gedacht, dass er im Wald wohne. nicht zu sehen, ein großer, moosbewachsener Stein steht an Er steckt sich eine dünne Zigarre an. „Früher habe ich drei ihrem oberen Rand – der einzige in der Umgebung, weiß der Sixpacks Bier am Tag getrunken, auch beim Arbeiten“, be- Waldkenner. ginnt er zu erzählen. „Ich bin einer der wenigen, der wegen „Die Fichte dahinten, deren Stamm sich direkt an der Erd- Alkoholismus bei der mudra ist.“ Doch dort gilt bei der Arbeit oberfläche spaltet, kenne ich seit ihrer Kindheit“, erzählt er an den schweren Maschinen, die das Brennholz sägen und und deutet mit der flachen Hand auf Kniehöhe, als würde er transportieren, eine strikte 0,0-Promille-Politik. „Und ich bin die Größe eines Kindes zeigen. 21 Jahre alt ist sie mittlerweile, imstande, das Trinken sein zu lassen. Aber ich freue mich kann er nach kurzem Nachdenken erzählen. „Und da“, deutet dann schon auf mein Bier am Abend.“ er auf eine andere Stelle, „schläft man optimal, auf dem Moos, Ob er, seit er die Wohnung habe, nochmal im Wald über- mit dem Kopf zwischen den zwei Steinen.“ nachtet hat? „Ja“, gibt Rosenzweig unumwunden zu. Aber eben dann, wenn er Lust darauf hatte und nicht dann, wenn „Geregeltes Le b e n du rc h L i e b e z u m W a l d“ er etwas getrunken hatte und in dem Zustand nicht mehr bei Meistens jedoch ging er zum Übernachten noch etwa einen Ki- Freunden um eine Übernachtungsmöglichkeit bitten wollte. lometer weiter. Nur wenige Meter entfernt von einem schma- „Eine Wohnung ist eine Wohnung. Ich bin froh, dass ich sie len Pfad, der vor einigen Jahrzehnten ein bloßer Wildwechsel habe.“ Und er glaubt nicht, dass er die nochmal verlieren war und von Mountainbike-Reifen in einen sandigen Tram- wird. „Das, was ich früher so gemacht hab, Schwarzfahren, pelpfad verwandelt wurde, hat er in einer Sandkuhle einen einfach einsteigen, wird schon gut gehen und wenn nicht, Unterschlupf gebaut. „Aber nur so mit Holz, das rumlag. Das ist wurst, das mach’ ich nicht mehr. Das ist ein Gschmarri. Im habe ich in den Sand gesteckt und eine Plane drüber. Man schlimmsten Fall würde ich die Wohnung verlieren.“ darf das ja im Wald eigentlich gar nicht, aber wenn man es Ein paar Tage später kommt Stefan Rosenzweig nochmal so macht, dass man es nicht fest baut, sagt der Förster ja in die Redaktion des Straßenkreuzers. Er möchte die Bilder nix.“ In der Stadt auf einer Bank oder unter einer Brücke zu anschauen, die im Wald entstanden sind. Die Überschrift für schlafen, kam für ihn nie in Frage. Zu groß war für ihn die seinen Artikel fehlt da noch. Rosenzweig überlegt mit und Gefahr, beklaut zu werden. schlägt schließlich vor: „Geregeltes Leben durch Liebe zum Ein Jahr schon wohnt Stefan Rosenzweig jetzt Der Unterschlupf ist nicht getarnt, er soll allen dienen Wald.“ Ein bisschen zu lange ist das leider – aber es trifft in der Ein-Zimmer-Wohnung, die zentral in können, die im Wald von einem Unwetter überrascht werden. den Kern. der Nähe der Fürther Straße liegt. Er hat sie Unter der großen Zeltplane, die das Dach bildet, hat Rosen- mit gebrauchten Holzmöbeln eingerichtet. Text: Alisa Müller | strassenkreuzer.info zweig eine Bank aus Holzbrettern gebaut. In einer Ecke unter Fotos: Anika Maaß | anikamaass.de, Kilian Reil | kilianreil.com der Plane hängt ein Mobile aus Holz. „Das hat eine Frau mit ihren Kindern für mich gebastelt“, erklärt Rosenzweig und 8 HOUSING FIRST HOUSING FIRST 9
Glück auf 25 Quadrat- metern Nur ein großer, zerschlissener Koffer hinter der Tür seines Wohn- und Schlafzimmers erinnert heute noch daran, dass Andreas S. im Winter einmal drei Monate lang in einem Dachbodenabteil lebte. Dass er diese Geschichte heute erzählen kann, während er in seiner eigenen Wohnung sitzt, ist für den 58-Jährigen ein großes Geschenk. für ihn frei, in einem Einzelzimmer. In ein Mehrbettzimmer eine gebrauchen könnte. Die Wohnung gehört einem Ver- Im größeren Kontext betrachtet, ist sein eigenes Schicksal wollte Andreas S. nicht dauerhaft einziehen, dafür war und mieter, für den die mudra lange regelmäßig Wohnungsent- für S. nicht relevant: Natürlich hat er Glück gehabt, so sieht ist ihm seine Privatsphäre zu wichtig. rümpelungen übernahm und der daraufhin angeboten hatte, er es, doch viel wichtiger ist ihm, dass viele Obdachlose in Sechs Jahre lebte er in dem Acht-Quadratmeter-Zimmer dass Klienten der mudra in einige seiner Wohnungen ziehen Deutschland nie die Chance bekommen, die sich ihm geboten der Pension und verdiente sich in dieser Zeit mit dem Verkauf könnten. hat. „Ich habe früher auch neue Autos gefahren, zweimal im des Straßenkreuzers ein wenig hinzu. Dann kam auch noch Für Andreas S. ging dann alles ganz schnell: Nach einer Jahr Urlaub gemacht, viel Geld verdient, aber das Leben ist die Pandemie. Doch die erwies sich für Andreas S. unverhofft Wohnungsbesichtigung sagte er zu, die kleine Ein-Zimmer- halt nicht so“, sagt der 58-Jährige und meint damit: Es kann als Glücksfall: Denn im Frühling 2020 bildete das Team des Wohnung in Bahnhofsnähe nehmen zu wollen. Nur zwei Tage jeden treffen. Er hat am eigenen Leib erfahren, dass Wohnen Straßenkreuzers Telefonketten zwischen den Verkäuferin- später unterschrieb er den Mietvertrag und reichte ihn zur „genauso ein Grundbedürfnis ist wie essen, schlafen und ge- nen und Verkäufern und dem Ehrenamtlichen-Team, um im Genehmigung beim Jobcenter ein, das die Miete seitdem liebt oder gebraucht zu werden. Man braucht nicht viel Geld Lockdown in Kontakt zu bleiben. Der Gesprächspartner von direkt dem Vermieter überweist. Noch am selben Tag hol- zum Glücklich sein, aber ’ne Wohnung brauchst du schon.“ Andreas S. hörte bei den Telefonaten schnell heraus, dass S. te Andreas S. den Schlüssel zu seiner Wohnung ab und nur Sein Traumjob wäre es, mit einer kleinen Agentur Wohnungen sich nichts mehr wünschte als eine eigene Wohnung. Nament- acht Tage nach der Besichtigung auf dem Land, wo sie leer stehen, an Obdachlose in der Stadt „Du brauchst A lich genannt werden will der langjährige ehrenamtliche Helfer zog er ein. zu vermitteln, wo günstiger Wohnraum dringend gebraucht ndreas S. hatte seine letzte Arbeitsstelle verloren – er beim Straßenkreuzer in diesem Artikel nicht. Die Sache und Von dem Ehrenamtlichen und wird und selten vorhanden ist. doch minimale arbeitete unter anderem im Callcenter, als Selbst- nicht seine Person solle im Vordergrund stehen, betont er. Er dem Sozialarbeiter sagt Andreas In dem Zimmer seiner neuen Wohnung hat Andreas S. ständiger und bei einer Unternehmensberatung, bis beschreibt sich selbst als absolut positiv denkenden Mensch, Sicherheit.“ S.: „Die haben mich gerettet.“ Die gemeinsam mit Bekannten einen Schrank aufgebaut, der sich er die geforderte Leistung nicht mehr erbringen konnte. Die der es liebt, Probleme zu lösen. Und die Wohnsituation von Wohnung ist für ihn wie ein Ge- über die ganze Längsseite erstreckt und fast bis zur Zimmer- Miete für seine damalige Wohnung war so teuer, dass das Andreas S. war für ihn eben das: ein Problem, das mit genug schenk. „Das sind 25 Quadratmeter, da kann ich wunderbar decke reicht. „Der ist absichtlich groß, weil ich viele Sachen Jobcenter sie nicht übernahm, und er musste sie räumen. Anstrengung und Geduld gelöst werden könnte. glücklich leben.“ Ausschlaggebend sei nicht die Größe, son- unterbringen will. Ich brauche jetzt die Hälfte, mehr nicht, Andreas S. fand keinen Ersatz und ein Platz in einer Obdach- dern die Sicherheit, dass ihm diese kleine Wohnung so leicht die andere ist frei für das, was in Zukunft noch kommt. Lieber losenpension war auch nicht frei. Deshalb zog er mit dem „ D ie habe n mich ge re tte t “ niemand mehr wegnehmen kann. Pensionsplätze und Not- zu groß als zu klein.“ Der große schwarze Koffer, der hinter großen schwarzen Koffer vor sechs Jahren auf dem Dachbo- Ein dreiviertel Jahr lang klapperte er vergeblich sozialpäda- unterkünfte, aus denen man bei Fehlverhalten herausfliegt, der Tür steht, kommt dagegen bald zu den anderen Sachen den eines Freundes ein. gogische Fachdienste, die Wohnungsvermittlungsstelle des könnten das nicht bieten. „Das ist das gleiche, wie wenn du seiner alten Wohnung in ein Lager. Andreas S. hat sich schon Drei Monate lang entsorgte der gelernte Elektroingenieur Sozialamts und eine Pfarrgemeinde ab und begann trotz aller einen befristeten Arbeitsvertrag mit einer Klausel hättest, einen kleinen Trolley-Reisekoffer bestellt. Der reicht jetzt aus. damals seinen Urin über die Dachrinne, ging in Fastfood- positiver Gedanken schon fast, daran zu zweifeln, dass er dass du gleich rausgeschmissen wirst, wenn du einmal zu spät Text: Alisa Müller | strassenkreuzer.info Restaurants oder Bibliotheken auf die Toilette und zum Du- Erfolg haben könnte. Doch dann meldete sich im Mai diesen kommst. Das heißt, du musst immer Angst haben: Hoffent- Foto: Kilian Reil | kilianreil.com schen ins Schwimmbad. Das Geld für einen guten Schlafsack Jahres Sozialarbeiter Max Hopperdietzel, damals noch Leiter lich bin ich rechtzeitig in der Arbeit, hoffentlich bin ich nicht fehlte ihm. Nachts, wenn es richtig kalt wurde, packte er sich der Arbeitsprojekte bei der mudra, inzwischen in Rente und krank. Aber das ist unmenschlich, du brauchst doch minimale mit allen Sachen ein, die ihm zur Verfügung standen, erinnert nun erster Ansprechpartner für das geplante Housing-First- Sicherheit. Wenn du von heute auf morgen deine Arbeit ver- er sich. „Es ging trotzdem, irgendwie geht’s immer. Aber was Projekt in Nürnberg. Ein möglicher Kandidat für eine freie lieren kannst, dann ist das eine extreme Stresssituation, und ist das für ein Leben?“ Dann wurde ein Platz in einer Pension Wohnung hätte ihm abgesagt, ob jemand vom Straßenkreuzer bei einem Pensionsplatz ist das im Prinzip ebenso.“ 10 HOUSING FIRST HOUSING FIRST 11
„Aber habe ich wirklich eine Chance, eine Wohnung zu finden? Die potentiellen Vermieter lesen meine Adresse und wissen schon Bescheid.“ E ine Knastzelle ist größer“, glaubt Dijane M. Zwar war Dijane M. mag es sauber. Sie mag es aber auch ruhig und was vor, mache mich dann selber klein und lege mir Steine sie noch nie in einem Gefängnis, aber sie stellt es sich sicher. Die Wände sind hellhörig. Zwar kann man die Zim- in den Weg“, sagt sie, während sie ihre Hände in den Ärmeln dort weniger beengend vor. Das mag kaum verwun- mertüren aus Holz im Gegensatz zu den Duschen absperren, ihres Hoodies versteckt. „Es scheitert schon daran, dass ich dern: Ihr Zimmer ist winzig. So richtig winzig. Links ein Tisch, dennoch ebenso leicht eintreten. „Wer sich Zutritt verschaffen nichts Schönes, Elegantes für eine Besichtigung anzuziehen daneben das Bett, rechts ein Regal, ein Minikühlschrank und will, macht das“, meint sie. Und das passiere öfter, als ihr habe.“ Nach dem Feuer im Frühjahr hatte sie kaum noch Kla- ein ausrangierter Polizeispind. Alles dicht aneinandergereiht. lieb ist. Vorwiegend von Männern, die in der Etage darunter motten und sich die paar wenigen bei der Kleiderkammer Damit ist der Raum gefüllt. residieren, von Ex-Partnern der Bewohnerinnen oder auch besorgt. Dijane M. wohnt in einer Obdachlosenpension in der von Wildfremden. Die kaputte Haustür zur Straße sei immer Dijane M. versucht, ihr Leben zu ordnen. „Wenn ich nur Nürnberger Weststadt. Etwas, das sie nie wollte, wie sie sagt. offen. Geschrei, Schlägereien, Messerangriffe – auch unter eine eigene Wohnung hätte, dann würde vieles besser wer- „Besser als kein Dach überm Kopf, dachte ich.“ Tatsächlich den Bewohnerinnen – davor flüchtet Dijane M. Die meiste den“, ist sie überzeugt. Sie redet überlegt, teilt ihre klugen wäre gar kein Dach vielleicht besser, das kennt sie bereits. Zeit verbringt sie draußen. „Die Unterkunft erinnert mich an Gedanken, kennt sich auf dem schwierigen Wohnungsmarkt Dazu später mehr. Die Pension soll eine der besseren in der diese Psychofilme aus den 70ern.“ Der Polizei sei die Pension aus, weiß um ihre Rechte als Bezieherin von Arbeitslosengeld Stadt sein. Flur, Gemeinschaftsküche und -sanitäranlagen bekannt. Manchmal isst Dijane M. tagelang nicht, weil auch II. „Aber habe ich wirklich eine Chance, eine Wohnung zu wirken noch recht neu. Doch das trügt. Der Flur riecht muffig. in der Küche manchmal fremde, betrunkene Männer sitzen. finden? Die potentiellen Vermieter lesen meine Adresse und Dusche, Toilette und Küche versucht Dijane M. so oft es geht Nein, sicher fühlt sie sich nicht – trotz Hausmeister und So- wissen schon Bescheid.“ Da sind sie wieder, die Selbstzweifel. zu meiden, so sehr ekelt sie sich davor. zialarbeiter vom Krisendienst. „Bei den Duschen haben sie den schwarzen Schimmel an Bei der Stadt hat sie nach einer anderen Pension gefragt. Keine illega len Drogen m ehr der Decke einfach überstrichen. Als Toilette wurden sie auch Hat man allerdings einen Platz, sei ein Wechsel fast unmög- Dabei war sie nur in Berlin obdachlos, in Nürnberg hat sie schon missbraucht und damit meine ich nicht Pipi“, erzählt lich. Die Betten sind rar, Einzelzimmer begehrt. Ein Brand in zunächst bei den Eltern gelebt, einen Entzug und eine Sozio- die 38-Jährige. „Auch in den Zimmern gibt es Schimmel.“ ihrem Zimmer im März dieses Jahres war wohl kein triftiger therapie gemacht und seither keine illegalen Drogen mehr zu Ihre schwarzbraunen Haare und dunklen Augen bilden einen Grund. Während der „Sanierung“ zog sie in ein anderes Zim- sich genommen. Bei Lilith e.V. bekommt sie Unterstützung. schönen Kontrast zu ihrem hellen Teint. Sie ist sportlich und mer. Der Boden wurde neu gemacht, die Wände überstrichen. Der Verein betreut Frauen, die illegale Substanzen konsumie- dunkel gekleidet, wirkt sehr gepflegt. „Wirklich sauber fühlt Der Ruß hinter dem Heizkörper erinnert sie noch an das Feuer, ren oder in der Vergangenheit konsumiert haben. Dijane M. man sich nach dem Duschen nicht.“ Die Küche sei ständig das vermutlich von einem Kabelkurzschluss ausgelöst wurde. trifft sich regelmäßig mit ihrer Betreuerin. Diese würde auch schmutzig. Bei 22 Frauen auf einer Etage passiert das schnell, Dreht sie die Heizung an, stinkt es verbrannt. zu möglichen Wohnungsbesichtigungen mitkommen. Über vor allem wenn sich nur wenige an den Putzplan halten. „Stellen Sie sich mal vor: Ich bin 38 und habe noch nie in das Jobcenter nimmt sie die Hilfe einer Sozialarbeiterin in einer eigenen Wohnung gewohnt“, sagt Dijane M. sichtlich Anspruch. Dijane M. agiert, soweit sie kann. frustriert. „Andere ziehen nach der Schule aus, das Leben Ihre Eltern waren zwischenzeitlich in eine kleinere Woh- beginnt.“ So war einst auch ihr Plan. Oder besser ihr Traum: nung und Dijane M. zu ihrem Lebensgefährten gezogen. Nach raus aus Nürnberg, weg aus Bayern. dessen Tod drohte sie erneut, obdachlos zu werden. Auch Als 19-Jährige ging sie mit ihrem damaligen Freund nach hier kümmerte sie sich und lebt seither in besagter Pension. Berlin, wollte dort ihr Abitur machen. Es kam anders. Ihr Part- Seit genau zwei Jahren. Der nächste Schritt wäre eine eigene „So wie jeder ner zahlte die Miete nicht – auf ihn lief der Vertrag, Dijane Wohnung: „Ein Rückzugsort, wo mir nichts passieren kann, M. stand plötzlich auf der Straße. Mit nichts. Sie sei dann wo ich mich wohlfühle“ sagt sie. Am liebsten eine 1,5- oder auf die schiefe Bahn geraten, sagt sie. Zog in den Berliner Zweizimmerwohnung, Hauptsache ein separater Raum zum Szenevierteln von Café zu Café, verkaufte Straßenzeitungen, Schlafen. „Ich wünsche mir Ruhe, ich will Sicherheit.“ Den schnorrte, bettelte. Fürs Überleben, für Drogen. Kopf freibekommen für die nächsten Schritte, nämlich eine irgendwie“ Traumatherapie, um ihre Ängste in den Griff zu bekommen, Sie leg t sich selbst Steine in den Weg um stabil für einen Job zu werden. „Ich möchte raus aus der Bei ihren Eltern meldete sie sich nicht mehr. Aus Scham, aus Abhängigkeit vom Arbeitsamt“, erklärt sie. „ Sobald Vermieter Angst. Ihre Mutter war herzkrank. Nein, Sorgen sollte diese hören, dass ich arbeitslos bin, kriegen sie Angst, dass sie ihre sich keine machen. Machte sie sich schließlich irgendwann Miete nicht bekommen.“ Dabei würde Dijane die Möglichkeit doch. „Vielleicht ist es der mütterliche Instinkt“, mutmaßt einer Abtretungserklärung nutzen. Heißt: Das Jobcenter über- Dijane M. im Nachhinein. „Meine Eltern versuchten, mich weist die Miete direkt an den Vermieter. ausfindig zu machen.“ Ihrem Vater gelang es letztendlich, „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als ein normales Le- Dijane M. lebt in einer Obdachlosenpension – für sie ein Ort der Angst und Gewalt. Ihr Albtraum. er holte seine erwachsene Tochter zurück nach Nürnberg. ben zu führen“, betont Dijane M. nochmals. „Ich will ganz Ihr größter Traum ist eine eigene Wohnung – ein Ort der Sicherheit und Ruhe. Der Weg dahin scheint Dahin, wo sie nicht mehr hinwollte. Sie wohnte erst einmal normal mich selbst versorgen können, eine eigene Wohnung wieder bei ihren Eltern. Aus der Traum vom eigenständigen haben und darauf halt aufbauen. So wie jeder irgendwie.“ kompliziert. Leben in der Metropole. Text: Severine Sand | freie Journalistin Das Leben von Dijane M. scheint nicht einfach: obdachlos, Fotos: Maria Bayer | mariabayer.de arbeitslos, einst drogenabhängig. Sie macht es sich aber auch nicht einfach. Ihre größte Hürde scheint sie selbst zu sein: ihre Selbstzweifel, Unsicherheit, Ängste. Das meiste rührt aus einer posttraumatischen Belastungsstörung. „Ich nehme mir 12 HOUSING FIRST HOUSING FIRST 13
„Als Vermieter ist man „Bittsteller“ bei den Ämtern, obwohl man die Lösung des Problems Obdachlosigkeit ist.“ Warum haben Sie keine Bedenken, Wohnungen an Men- weniger auf der Straße zu haben und etwas flexibler sein. schen zu vermieten, die in Notunterkünften oder auf der Es wäre gut, wenn schon beim Zustandekommen des Miet- Straße leben? verhältnisses eine Vereinbarung zwischen allen betroffenen Jeder hat eine Chance verdient, ob er sie nutzt, liegt an Parteien vorhanden wäre, um unendliche Diskussionen den ihm selbst. Wir bieten den Versuch. Manchmal gelingt er, Datenschutz betreffend zu lösen. Als Vermieter ist man manchmal nicht. Darauf muss man sich als Vermieter ein- „Bittsteller“ bei den Ämtern, obwohl man die Lösung des lassen. Auch bei „normalen“ Mietern kann man reinfallen. Problems Obdachlosigkeit ist. Das hat nichts mit der Herkunft zu tun. Ihre schönste und Ihre schlechteste Erfahrung mit Mietern Sind ehemals Wohnungslose andere Mieter als solche, die bisher, egal woher sie kamen? einfach umziehen – und wenn ja, inwiefern? Ein Mieter, langzeitarbeitslos, lebte in einer total „versiff- Nein! Was Mieter angeht, macht der soziale Hintergrund ten“ Schimmelbude, die auch noch unverschämt viel Miete nicht unbedingt den Ausschlag, wie sie sich letztendlich kostete. Diesem Mann haben wir eine kleine Wohnung zur verhalten. Es gibt sozial schwache Mieter, die ohne Pro- Verfügung gestellt. Die hat er sich jetzt sehr schön herge- bleme zum Beispiel die Mülltrennung ernst nehmen. Und richtet und er ist absolut stolz darauf. Das freut uns natür- es gibt sogenannte gebildete Leute, denen einfach alles lich besonders. egal ist. Das Gegenteil: Ein junges Pärchen, supernett, solange bis Der Straßenkreuzer, die mudra und Lilith starten ein sie eingezogen waren. Er entpuppte sich als drogenabhän- Was sind das nur Housing-First-Projekt, mit dem Obdachlose zu Mietern giger und extrem aggressiver Mann, der auch mal seine werden. Wie könnten wir Vermieter ermutigen, eine freie Partnerin schlägt, sie nachts im Keller oder auf dem Dach- Wohnung auch mal an jemanden zu vergeben, der schon boden übernachten lässt. Der in seiner Wut alles Mögliche lange keine eigene mehr hat? in der Wohnung kaputt macht und alle paar Wochen einen Die Vermieter haben immer Angst, dass ihnen die Woh- Polizeieinsatz produziert. Lärm, Grasgeruch, die armen für Leute?! nung ruiniert wird oder sie auf den Kosten sitzenbleiben. anderen Mieter! Und man kriegt sie nicht los. Da müsste man ansetzen und ihnen diese Sorge nehmen. Es Interview: Ilse Weiß |strassenkreuzer.info muss immer, also wirklich zuverlässig immer, ein Ansprech- Fotos: Giorgos Agelakis | giorgosagelakis.com partner da sein, der sich dann um die Probleme kümmert. Denn das können die ehemals Wohnungslosen oder andere Menschen in prekären Lagen meist nicht selbst. Da verlieren Vermieter dann auch schnell die Geduld, wenn was nicht Vor zehn Jahren hat Johanna Narius ein Mietshaus in Fürth gekauft. Seitdem kümmern sich ihre gleich klappt. Wenn mal was schiefläuft im Mietverhältnis: Wie gehen Tochter Martina Narius-Preuß (60) und deren gleichaltriger Mann Ralf Preuß um alles, was damit zu Sie damit um? tun hat. „Beim Kauf waren von 13 Mieteinheiten neun aus prekärem Umfeld. Die mussten wir natürlich Wir kontaktieren den jeweiligen Ansprechpartner und finden fast immer eine Lösung. Ganz ohne eigenes Enga- übernehmen. Das hat uns so manchen Nerv gekostet. Aber es hat sich gelohnt. Jetzt haben wir bewusst gement von uns, also von den Vermietern, geht so etwas gemischte Mieter“, sagen beide. Im Interview äußern sie sich deutlich, warum sie keine Angst vor natürlich nicht. Irgendwelche Immobilienverwalter mögen Armen und Obdachlosen haben. Und sie antworten knapp und präzise: Beide sind berufstätig – und im und machen so etwas bestimmt auch nicht, denn das ist manchmal etwas zeitintensiv. Haus an der Schwabacher Straße wollen sie auch noch vorbeischauen. Welchen Rückhalt, welche Sicherheiten würden Sie sich im Rahmen eines Housing-First-Projektes von den vermit- telnden Vereinen bzw. auch von Sozialamt oder Jobcenter wünschen? An sich ist es schon ziemlich gut, was die Leistung und das Engagement der Vereine anbelangt. Nur Jobcenter und Be- hörden verzögern manchmal und sind nicht sehr koopera- tiv, und da wird man auch mal als Vermieter blöd angeredet, wenn man sich kümmert. Das können wir nicht nachvoll- ziehen. Sollten sie doch lieber froh sein, einen Menschen 14 HOUSING FIRST HOUSING FIRST 15
Volker Wolfrum (43) hatte nach seinem Amtsantritt am 1. März 2020 genau „zwei normale Wochen“. Dann mussten der Leiter des Nürnberger Sozialamts und sein Team im Zuge der Pandemie weit über 100 wohnungslose Männer und Frauen in eigens angemieteten Häusern unterbringen. Ein Projekt, das sich in der Dianastraße inzwischen verstetigt hat, ausgebaut wurde und bundesweit ziemlich einzigartig sein dürfte. Der Blick auf die Ausgegrenzten ist damit für den Juristen nicht abgehakt. Im Interview spricht Volker Wolfrum über die Vorbehalte gegen Obdachlose und seine Vorstellungen von menschenwürdiger Unterbringung – Housing First eingeschlossen. Straßenkreuzer: Obdachlose werden ja meist gemieden haben im Jahr 2021 den bisherigen Höchststand mit 2400 wie die Pest. Wie erklären Sie sich diese Abwehrhaltung? Menschen erreicht. Vielfach steckt ja hinter dem Verlust Volker Wolfrum: Ich glaube, es gibt ein weit verbreitetes des Wohnraums eine Erkrankung, ein familiäres oder be- Bild von Obdachlosen als Personen, die zum Beispiel in rufliches Problem. In Nürnberg haben wir, wie in anderen Fußgängerzonen sitzen, Alkohol trinken, nicht gepflegt aus- Städten, zusätzlich das Problem, dass der Wohnungsmarkt sehen. Häufig wird nicht der Mensch oder seine Geschichte sehr angespannt ist. Es ist eine starke Konkurrenz da, Ver- wahrgenommen, sondern eine Situation, die so weit weg mieter können sich ihre Mieter aussuchen. Wenn da jemand ist von der eigenen Lebensrealität, dass Berührungsängste mal eine oder zwei Monatsmieten schuldig bleibt, wird nicht entstehen. Das macht vielleicht auch unsicher, wie man mehr unbedingt das Gespräch, ein Weg gesucht. Es geht auf so jemanden zugehen, ihn ansprechen könnte. Daher natürlich nicht nur um den Wohnungsmarkt, aber er ver- glaube ich, dass es bei diesem Vermeidungsverhalten im schärft die Situation. Wobei auch erwähnt werden muss, Wesentlichen um eigene Unsicherheiten und Ängste geht. dass es natürlich auch sehr viele verantwortungsbewusste Wissen, Und dann gibt es Organisationen, die Essen und Klei- Vermieter gibt. Das hat sich auch im Rahmen der Corona- dung sammeln und genau an diese Armen verteilen. Sie Pandemie gezeigt. Vielfach wurden hier in Notsituationen ersticken oft in milden Gaben. Inwieweit manifestiert die- etwa Stundungslösungen zwischen Mietern und Vermietern ses Handeln die Degradierung Obdachloser zu hilflosen gefunden. Objekten, für die es keinen Ausweg gibt? Wie sieht die Strategie der Stadt Nürnberg im Umgang mit wo man abends Vielleicht ist das auch eine Art Ersatzhandlung. Man kann Wohnungs- und Obdachlosigkeit aus? sich seines eigenen schlechten Gewissens entledigen, in- Wir haben bereits ein breit aufgestelltes Portfolio an Hilfen. dem man ja etwas tut, spendet, verteilt. Ich persönlich hab Prävention ist dabei die beste Hilfe, die gar nicht früh genug dann ein Problem, wenn das Bild von Armenspeisungen ansetzen kann. So bietet etwa die städtische Wohnungs- entsteht. Das wird den Menschen nicht gerecht. Aber bit- baugesellschaft eine Mieterberatung mit eigener Sozial- schlafen kann te nicht falsch verstehen: Ich finde es toll und unbedingt arbeit an. Wir beim Sozialamt haben das Instrument der nötig, dass sich Menschen hier engagieren. Wichtig wäre, präventiven Mietschuldenübernahme, das ist immer noch dass dieses Engagement in eine langfristige Hilfe münden besser, als den Wohnraum zu verlieren und dann einen oft würde, die die Menschen stabilisieren kann und ihnen er- langen Prozess der Unterbringung und Reintegration zu möglicht, wieder den Anschluss ans gesellschaftliche Le- starten. Es gibt aber auch Fälle, in denen wir zu spät von ben zu finden. Die Beseitigung der unmittelbaren Not ist einer Kündigung erfahren. Wenn erstmal eine Zwangsräu- natürlich unerlässlich, sie sollte und wird aber auch durch mung angesetzt ist, ist vorher schon viel passiert und nicht ein staatliches Hilfesystem erfolgen. Die Langfristigkeit des jeder Vermieter bereit, noch einzulenken. Wir übernehmen Engagements hin zu einer möglichen qualitativen Verän- Schulden ja nicht, um den Vermieter zu entlasten, sondern derung, das wäre wichtig. nur, um Wohnraum zu sichern. Dann haben wir natürlich die Dabei scheint die Entwicklung genau in die andere Rich- bekannten Unterbringungsformen, von Pensionen, statio- tung zu gehen. Der EU-Kommissar für Beschäftigung, nären Einrichtungen von Stadt und Wohlfahrtsorganisatio- Soziales und Integration sagt, Obdachlosigkeit habe sich nen bis hin zu Verfügungswohnungen, Sozialimmobilien mit zu einem großen europäischen Problem entwickelt. Wie Belegungsrecht und ambulant betreuten Wohnprojekten konnte es so weit kommen? (siehe Kasten). All diese Formen sind Ersatzunterbringun- Ich kann schwer etwas zu gesamteuropäischen Entwick- gen und unsere Strategie muss sein, eine Reintegration lungen sagen, dazu fehlt mir das Gesamtbild. Aber auch in den Wohnungsmarkt hinzubekommen. Die Kollegin- in Nürnberg haben wir seit Jahren steigende Zahlen von nen und Kollegen in der Fachstelle für Wohnungsfragen Menschen in der ordnungsrechtlichen Unterbringung, wir und Obdachlosigkeit gehen sicher manchmal mit einem 16 HOUSING FIRST HOUSING FIRST 17
„Solange das Gegenüber nur die Projektionsfläche für die eigenen Vorstellungen und Ängste ist, ist eine Distanz da, dann sieht man nur den Obdachlosen, den Geflüchteten, wie auch immer.“ schlechten Bauchgefühl nach Hause, wenn nachmittags Reinform ist oder nicht, sondern ob es hilft. Wie das Ganze nen Mietvertrag in einem geförderten Objekt erhalten. Nun nur wenige Freimeldungen von Schlafplätzen gekommen dann heißt, ist mir persönlich relativ egal. gleich den Sprung zu machen mit einem eigenen Vertrag, sind und keiner weiß, wie groß die Nachfrage am nächsten Vor allem ist kaum Wohnraum da, egal wie man das Ganze mit entsprechender Begleitung bei Bedarf, wäre ein wei- Tag sein wird. Es ist uns aber bislang immer gelungen, alle nennt. Sind wir damit schon am Ende der Diskussion? terer Schritt. Ich denke, dass es auch viele Vermieter gibt, Menschen unterzubringen. Die Angebotsmenge und vor allem der preisgünstige die die Problemlage sehen und sich engagieren würden. Es Obdachlosigkeit soll EU-weit bis 2030 abgeschafft wer- Wohnraum sind nur eine Seite des Themas. Es wird im- ist von daher richtig, hier auch gezielt den privaten Woh- den, so lautet eine Deklaration der 27 Mitgliedsländer. mer auch Personengruppen mit erschwertem Zugang zum nungsmarkt anzusprechen. Wie utopisch ist das denn? Wohnungsmarkt geben. Etwa aufgrund einer psychischen Welche politische und gesellschaftliche Unterstützung Man setzt sich da ein ehrgeiziges Ziel, was ja prinzipiell Erkrankungen, wegen Zuschreibungen, die andere machen. wünschen Sie sich beim Thema Obdachlosigkeit? gut ist. Aber das Thema muss man in einem größeren Zu- Aber die Stadt Nürnberg tut natürlich gut daran, am ge- Dass man die Menschen wahrnimmt und ihre Schicksale. sammenhang sehen. Das Armutsgefälle innerhalb Euro- förderten Wohnungsbau festzuhalten und diesen auszu- Dass man dann die angstgeprägte Distanz abbaut. Dann pas, unterschiedliche Lebensstandards, kombiniert mit der weiten. Das Thema betrifft ja sehr viele Menschen, die auf glaub ich schon, dass wir einen großen Schritt nach vorne Möglichkeit der Freizügigkeit ist ein Problem, das sich nicht günstigen Wohnraum angewiesen sind, bis in die Mitte der machen können. Vielleicht bin ich da auch naiv, aber wir so einfach lösen lässt. Wir als Stadt Nürnberg können uns Gesellschaft hinein. haben auch im Rahmen der Pandemie erlebt, dass die Hilfs- um die Situation hier vor Ort gut kümmern, das kriegen An welche Zuschreibungen in Bezug auf Obdachlosigkeit bereitschaft da ist. Nun müssen wir sie auch beim Thema wir hin und machen Schritte nach vorne. Auf europäischer denken Sie? Wohnen wecken und in die richtigen Bahnen lenken, dann Ebene bin ich nicht so zuversichtlich. Aber ich täusche mich Das Merkmal, obdachlos zu sein, betrifft ja Urängste: nicht kann etwas Gutes geschehen. Ich würde mich freuen, wenn hier gerne. zu wissen, wo man abends schlafen kann. Von daher wird das Modellprojekt gut funktioniert und wir uns dann über Im deutschen Hilfssystem, sagen Kritiker, würden viele in der Wahrnehmung dieses Merkmal dominant. Wenn ein die nächsten Schritte unterhalten. Ich bin überzeugt, dass Betroffene an den Hürden der sogenannten Wohnfähigkeit Mensch seine Wohnung verliert, tritt oft die ganze Biografie es auch weitere Instrumente braucht, auch da wollen wir scheitern. Was bedeutet das konkret? dahinter zurück. Die gesamte Wahrnehmung des Menschen vorankommen. Mit Einzelzimmern als Standardunterbrin- Ich möchte den Begriff nicht in dem Sinn verstanden wissen, verengt sich dann allein auf das Merkmal Obdachlosigkeit. gung zum Beispiel. Das wären starke Signale. dass es dabei um die Fähigkeit einer Person geht, überhaupt Dabei ist es spannend, die Geschichte hinter den Menschen Wann wird es keine Schlafsäcke mehr unter Nürnberger wohnen zu können, also eine Art Zugangsbarriere. Wir su- kennenzulernen. Mir ging es so in der Wärmestube, als ich Brücken geben? chen vielmehr pragmatische Lösungen. Es geht darum, ein mit Besuchern ins Gespräch kam und feststellte, dass da Wenn’s nach uns geht, am liebsten natürlich sofort. Wir momentan bestehendes Defizit auszugleichen, damit man jemand sitzt, der Schreiner war, oder Elektriker, und dann machen Angebote und hoffen, dass sie ausreichend sind, sich dann wieder um einen Haushalt kümmern, sich stabi- ist das Leben irgendwann falsch abgebogen. Es wäre gut, dass sie wahrgenommen und angenommen werden. Wir Alles belegt: Das jüngste Projekt des Sozialamts in lisieren kann. Das kann ein entsprechendes Hilfsangebot miteinander zu reden. Das ist wie immer im Leben. Solange werden aber vermutlich nicht jeden erreichen. Zusammenarbeit mit der wbg bietet Einzelapartments sein, etwa Coaching, um die Selbsthilfekräfte zu fördern. Da das Gegenüber nur die Projektionsfläche für die eigenen Sie kennen sicher die Kritik vieler Obdachloser, die lieber mit Dusche und Kochgelegenheit. fehlt oft nur ein kleines Stück, und wir wollen das passende Vorstellungen und Ängste ist, ist eine Distanz da, dann draußen als in einer heruntergekommenen Pension, dazu Angebot machen. Die materielle Sicherheit, die Mietüber- sieht man nur den Obdachlosen, den Geflüchteten, wie noch mit Fremden in einem Zimmer, schlafen wollen. nahme vor allem, lässt sich ja mit am einfachsten herstellen, auch immer. Deshalb brauchen wir eben durchgehend einen Standard, auch wenn dies für den kommunalen Haushalt natürlich Kurz zur Dianastraße. Was hat die Unterkunft beim der akzeptiert wird. Wir wollen in Nürnberg hier qualita- eine Belastung darstellt. Auf jeden Fall sollte man nicht Thema Obdachlosigkeit bislang verändert? tiv weiterkommen und noch eine Schippe drauflegen. Und unterschiedliche Unterbringungsformen durchlebt haben Die eigene Wahrnehmung und die Rückmeldung der Street- nicht mehr wie jetzt über 1000 Personen allein in Pensio- müssen, um erst dann wieder in der Lage zu sein, über ei- work-Teams und der Polizei zeigen: Obdachlosigkeit im nen mit teils Mehrbettzimmern unterbringen. Lieber zum genen Wohnraum zu verfügen. Wichtig ist, das man nach öffentlichen Raum hat abgenommen. Das ist ein großer Beispiel in Mikroapartments wie etwa in unserem Objekt dem Verlust einer Wohnung schnell wieder eine bekommt, Gewinn. Nun muss es gelingen, Kontakt zu den Menschen „Hinterm Bahnhof 28“, das durch die städtische Wohnungs- ansonsten entfernt man sich vielleicht auch ein Stück weit im Haus aufzubauen, über Perspektiven zu sprechen, zu baugesellschaft errichtet wurde und Einzelapartments mit Obdachlosigkeit in Nürnberg von dieser Lebensform. Und rein fiskalisch gedacht: Eine intervenieren. Was zuerst als reine Nothilfe gedacht war, eigener Dusch- und Kochgelegenheit bietet. Alle sind be- 1201 Personen in Obdachlosenpensionen längerfristige ordnungsrechtliche Unterbringung ist immer hat sich nun verstetigt. Mit Tagesaufenthalt, Beratung, Not- legt, und es funktioniert richtig gut. 583 Personen in (209) Obdachlosen die teuerste Form. schlafstelle. Die Grundbedürfnisse sind befriedigt, jetzt Interview: Ilse Weiß | strassenkreuzer.info wohnungen Finnland ist das einzige Land in Europa, das Housing geht es um individuellen Hilfebedarf. Fotos: Anika Maaß | anikamaass.de 700 Plätze in Obdachlosenheimen/ First konsequent umsetzt, und dort sinken die Obdachlo- Lilith, mudra und der Straßenkreuzer wollen ein Housing- Betreutes Wohnen senzahlen tatsächlich. Warum lässt sich diese Methode First-Projekt anschieben – am liebsten in Zusammen- 206 Plätze in Notschlafstellen (Auslastung nicht übertragen? arbeit mit der Stadt. Denn wir sind sicher, zusammen bei ca. 70% im Sommer) Finnland wählt einen nationalstaatlichen Ansatz, die Bun- stärker und überzeugender zu sein. Wie stehen Sie diesem desebene. Das würde es hier auch erleichtern. Denn rein Vorhaben gegenüber? (Stand 30. Juni 2021) kommunale Angebote sind natürlich singulär, schwieriger Wir alle, da kann ich fürs gesamte Team sprechen, waren umzusetzen und zu tragen. Ein nationaler Ansatz wäre schnell überzeugt, dass das eine gute und wichtige Ini- wünschenswert. Ich glaube aber auch, dass es eine Kom- tiative ist. Wir haben ja mit den Verfügungswohnungen bination braucht: ambulante Hilfe, individuelle Betreuung, und den Sozialimmobilien einen leicht anderen Ansatz, ohne ideologische Diskussion. Für mich und unser Team indem wir Wohnraum zur Verfügung stellen ohne eigenen hier ist nicht entscheidend, ob etwas nun Housing First in Mietvertrag bzw. von uns vorgeschlagene Haushalte ei- 18 HOUSING FIRST HOUSING FIRST 19
„Es stimmt, dass Weg von Verdrängung stattfindet“ der Straße Seit mehreren Jahren unterstützen Bernd Hahn und Marc Riedl, Geschäftsführer des Nürnberger Seit fast 30 Jahren engagieren sich weltweit verschiedenste Organisationen für das Menschenrecht Wohnbau-Unternehmens Hahn & Riedl, die Arbeit des Straßenkreuzers mit Spenden. Weil sie es auf Wohnen. Festgeschrieben ist es in Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, „richtig finden, Menschen zu ermutigen, ihr Leben möglichst selbst in die Hand zu nehmen“. Beim soziale und kulturelle Rechte. Wenn eine geeignete Unterkunft fehlt, dann sind auch viele andere Wohnen hört die Selbstbestimmung aufgrund des Mangels an bezahlbaren vier Wänden schnell auf. Menschenrechte bedroht, zum Beispiel das Recht auf Gesundheit und Leben, das Recht auf Teil- Wie die Firmenchefs zu sozialem Wohnungsbau stehen, sagt Marc Riedl im Interview. habe und das Recht auf Familie. Bestandswohnungen bleiben heutzutage oft Mietwohnun- 1992 gen, aber die Mieten werden nach einer Sanierung erhöht. Start in New York City Da entsteht natürlich ebenfalls eine gewisse Verdrängung. Dann war Mietenstopp in Berlin doch eine gute Idee? Der Psychologe Sam Tsemberis grün- Wenn’s aber keine Investitionen mehr gibt, dann ist es auch det „Pathways to Housing, Inc.“ Die sehr schwierig. Aber es stimmt, dass Verdrängung stattfin- Non-Profit-Organisation entwickelt det. An München sieht man das, da müssen viele Leute in „Housing First“ für Obdachlose mit die Peripherie ziehen, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen schweren psychiatrischen Erkrankun- können. In Nürnberg geht die Entwicklung wohl in eine gen – der Grundgedanke: zuerst die ähnliche Richtung. Schöne Wohnungen etwa in Gostenhof Wohnung, dann unterstützende Hilfe sind natürlich begehrt. je nach Bedarf. Nach vier Jahren waren Zigtausende Sozialwohnungen sind von Städten und 88 Prozent der Teilnehmer noch in ihrer Ländern verkauft worden, andere fallen aus der Bindung. Wohnung. Hätten Sie Ideen, wie dem Recht auf Wohnen wieder mehr Gerechtigkeit widerfahren könnte? 2005 Natürlich muss mehr gebaut werden, aber geförderter Woh- 600 Teilnehmer nungsbau funktioniert in Städten mit hohem Mietdruck nicht. Die Baukosten sind schon zu hoch, da ist man als jährlich in Kanada 2007 2008 Bauunternehmer oft schon raus aus den Förderkriterien. In Toronto, Kanada, startet das Projekt Mehr Zeit zu Hause Housing First für Die Summen sind so niedrig, das geht eigentlich gar nicht. „Streets to Homes“: Nach einem Jahr Eine Stadt allein kann da meiner Ansicht nach wenig än- sind 90% der Klienten noch in einer Das Alex Health Center in Alberta, Ka- Drogenabhängige dern, da müsste schon der Staat andere Impulse setzen Wohnung. In den ersten drei Jahren nada, startet ein Housing-First-Projekt. Die Organisation „Turning Point“ Die Grundstückspreise in Nürnberg steigen immer weiter, oder die Lücke finanziell schließen. Auch Mietwohnungen werden ca. 600 Personen pro Jahr in Im Vergleich zur Zeit davor waren die in Glasgow, Schottland, stellt ein Eigentumswohnungen werden immer teurer. Gleichzeitig sind schließlich ein Geschäft, niemand kann erwarten, dass Wohnungen untergebracht. Teilnehmer 66 Prozent weniger Tage im Housing-First-Programm vor allem für fehlen tausende bezahlbare Mietwohnungen. Wie positio- nur Idealisten bauen. Wenn aber eine Sozialwohnung eine Krankenhaus, 38 Prozent weniger Tage Drogenabhängige auf die Beine. Größtes nieren Sie sich in diesem Spannungsfeld? schlechtere Förderung hat als eine normal gebaute, wird 2006 in Notaufnahmen und 79 Prozent weni- Hindernis im Vorfeld ist ein Gesetz, das Die Preise werden wohl weiter steigen und dafür gibt es drei es von ersteren zu wenige geben. Was sich leider gar nicht Zum ersten Mal in ger Tage im Gefängnis. es Vermietern verbietet, Wohnungen an Gründe: Es gibt fast kein Bauland, die Baupreise steigen mehr reparieren lässt, ist das Handeln vieler Städte und auch wegen fehlenden oder teuren Materials. Etwa für Holz, Länder in der Vergangenheit bis in die letzten Jahre. Da Europa 2008 Menschen zu vermieten, von denen sie wissen, dass diese darin Drogen konsu- auch für Dämmstoffe. Ein Problem, das durch die Pande- wurden massiv die eigenen Bestände verkauft und damit In Amsterdam startet das Projekt In fünf Jahren zur mieren werden. mie verstärkt wurde. Staatliche Auflagen wie die immer die Möglichkeit der Einflussnahme vergeben. umfangreichere Energieeinsparverordnung machen das Sie unterstützen seit Jahren soziale Projekte wie den Stra- „Discus Housing First“. Die Teilnehmer nationalen Strategie zahlen einen Teil der Miete und erklären 2008 Bauen noch teurer. Wir selbst bauen keinen Luxus, aber wir ßenkreuzer. Was halten Sie vom Engagement des Vereins Beginnend mit den Olympischen Win- müssen diese Faktoren einkalkulieren. Man müsste mehr für ein Housing-First-Projekt in Nürnberg? sich damit einverstanden, an einem terspielen 2008 in Vancouver star- Ein Drittel weniger Programm zum Umgang mit Geld teil- Altbau sanieren, aber das ist auch sehr teuer. Man müsste es ausprobieren, warum nicht! Ich sehe natür- zunehmen – die Erfolgsrate bei einer tet die kanadische Regierung in fünf Langzeitwohnungslose Genau deswegen wird Ihre Branche zunehmend kritisch lich den Engpass an Wohnungen, aber wenn es Vermieter Evaluation 2013: 97 Prozent. 2014 gibt Städten das Housing-First-Projekt „At In Finnland startet „Paavo I“: Ob- gesehen. Vor allem wenn es um die Umwandlung von Alt- gibt, die mitmachen – umso besser. Der Straßenkreuzer es schon in 14 Städten in den Niederlan- Home/Chez Soi“. Wissenschaftler wei- dachlosenunterkünfte werden zu bestand in teures Eigentum und damit um die Verdrän- hilft mit seinen Arbeitsgelegenheiten beim Wiedereinglie- den Housing-First-Angebote. sen durch eine Kontrollgruppe nach, Housing-First-Angeboten umgebaut. gung alteingesessener Mieter geht. dern, das finde ich wichtig, um eine wirkliche Perspektive dass Housing First bei der Bekämpfung Das Programm hat zum Ziel, die Woh- Das frühere Aufteilungsgeschäft, bei dem man einen Alt- entwickeln zu können. Wohnen allein ist erst der Beginn. von Obdachlosigkeit erfolgreicher ist als nungslosigkeit im Land ganz zu been- bau gekauft, in Wohnungen aufgeteilt, saniert und verkauft traditionelle Ansätze. Fünf Jahre später den. Bis 2011 kann die Langzeitwoh- Interview: Ilse Weiß | strassenkreuzer.info hat, ist doch mittlerweile fast zum Erliegen gekommen. Es Fotos: Maria Bayer | mariabayer.de wird Housing First zur nationalen Poli- nungslosigkeit schon um 28 Prozent gibt fast keine Objekte mehr. Die sind schon im Ankauf so tik gegen Obdachlosigkeit in Kanada. gesenkt werden. teuer, dass es sich nicht lohnt, sie noch aufzuteilen und auf- wendig zu sanieren. Das kann nicht mehr bezahlt werden. 20 HOUSING FIRST HOUSING FIRST 21
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