JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N 37. JAHRGANG / NR. 148 â“ôùú äðùä ùàø 22. SEPTEMBER 2022 åáúëú äáåè äðùì Schana Towa 5783 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022 1
Der Landesverband Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern wünscht zum Neujahrsfest 5783 dem Staat Israel, seiner diplomatischen Vertretung in der Bundesrepublik, der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, den Rabbinern und allen Mitgliedern der Gemeinden ein gesundes Jahr voll Frieden und Segen! Dr. Josef Schuster Präsident Ilse Danziger Anna Zisler Vizepräsidentin Vizepräsidentin Karin Offman Geschäftsführerin ST OL PE R ST E I N E M E M M E L SD OR F ( U F R .) Gemeinde Untermerzbach, Landkreis Haßberge In der Judengasse wohnten MANFRED KAHN PAULA FRANK HULDA LAUCHHEIMER JG. 1926 GEB. NORDHEIMER GEB. FRIEDSAM DEPORTIERT 1941 JG. 1890 JG. 1883 KAUNAS DEPORTIERT 1941 DEPORTIERT 1941 ERSCHOSSEN 25.11.1941 ERMORDET NOV. 1941 ERMORDET 1941 IN RIGA RIGA Unser Titelblatt: MaRe, Zeichnung, 2021. „Dass der Granatapfel für Juden eine besondere Bedeutung hat, ist altbekannt. Wer löffelt an Rosch Haschana nicht Kern um Kern, um so viele Wünsche wie möglich in Erfüllung gehen zu lassen? Granatäpfel, hebräisch Rimo- nim, gehören zu den ältesten einheimischen Früchten.“ Sabine Brandes, zitiert aus: www.juedische-allgemeine.de, 26.10.2006. Bilder Rückseite: (alle Beiträge dazu im Heft), Nr. 1: Dankte Margot Friedländer für die ausgestreckte Hand: Berlins Wissenschafts- senatorin Ulrike Gote, Foto: Bernd Wannenmacher. Nr. 2: Rabbiner-Konferenz in München mit der israelischen Generalkonsulin Carmela Shamir und Bayerns Staatsminister Dr. Florian Herrmann, Foto: Bayerische Staatsregierung. Nr. 3: Im Offenburger „Salmen“ beschlossen: Die Forderungen des Volkes in Baden, Repro: LZB Baden-Württemberg. Nr. 4: Nach der Unterzeichnung des Memoran- dums stellen sich die beteiligten Partner dem Fotografen, Foto: Uwe Dettmar. Nr. 5: Gemeindeausflug nach Regensburg. Nr. 6: Jüdi- sche Jugend Bayern. Nr. 7: Biermarke. 2 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022
EDITOR I A L Liebe Leserinnen, liebe Leser, Keine „Einigung“ gibt es leider im uner- träglichen Antisemitismus-Streit um die in diesen Septembertagen des alten jüdi- Kasseler Kunstausstellung Documenta. In schen Jahres, noch vor Rosch Haschana dem Zusammenhang finde ich es uner- und Jom Kippur, konnte ein ganz schwie- träglich, dass dort noch bis zum 25. Sep- riges Problem, das Olympia-Attentat von tember dieser mörderische Hass auf Juden 1972 und der Umgang der deutschen Seite bei den „Tokyo Reels“ ungefiltert und affir- mit den Familien der ermordeten israeli- mativ reproduziert wird. Die Macher las- schen Sportler, endlich „befriedet“ wer- sen Propagandamaterial linker und paläs- den. Die Tagespresse hat darüber, auch tinensischer Terrororganisationen unkom- über die historischen Hintergründe, aus- mentiert in Dauerschleife laufen. Insofern führlich berichtet. sollte man nicht unbedingt glauben, dass Wie genau es zu dem Attentat kommen man heute durchgehend viel weiter ist in konnte, wird wohl nie ganz geklärt wer- der Beurteilung von Antisemitismus, zu- den können. Dass die deutschen Behör- mal sich verantwortliche Kulturmanager den in Sachen Transparenz ein weiteres und Politiker erlauben, Antisemitismus unrühmliches Kapitel schrieben, gehört zur nach eigenen Interessen selbst zu definie- Wahrheit dazu. Anstatt für Aufklärung zu ren. sorgen, Dokumente und Archive freizu- Unsere heftige Kritik daran ist durch geben, entschlossen sich die Verantwort- die Meinungsfreiheit gedeckt. Aber darf lichen zu vertuschen und zu mauern. „Kunst“ alles? Geht die Freiheit der Kunst Ich erinnere mich gut an den September auch so weit, dass Antisemitismus in der 1972. Eine meiner prägendsten Erinne- Kunst toleriert werden muss? Darüber rungen ist dabei eine Begegnung bei Kaf- werden wir wohl noch reden müssen! fee und Kuchen. In den ersten September- Terroristen als Geiseln genommen worden Nicht mehr unbedingt über die Docu- tagen 1972 waren einige der israelischen waren. Der Versuch der Geiselbefreiung menta, denn sie ist mit dem Ablauf des Sportler zu Besuch in meiner Heimatge- war misslungen. alten jüdischen Jahres „Antisemitismus- meinde in Würzburg gewesen. Ich saß als Die Schüsse und Explosionen waren bis Geschichte“. 18-Jähriger mit ihnen am Tisch und ge- weit in die Stadtmitte hörbar, wie mir Bleiben Sie gesund und achten Sie auf noss den Kuchen und das olympische einer meiner Mitarbeiter, der aus Fürsten- sich, auf Ihre Familie und auf alle Men- Fieber. Es hätte als wunderbare Begeg- feldbruck kommt, aus den Erzählungen schen in Ihrer Umgebung. nung aus Jugendtagen so in Erinnerung seiner Verwandtschaft berichtete. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und bleiben können. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Fa- Leser, ein gutes und gesundes neues Jahr Doch es kam anders. Nur wenige Tage milien der getöteten Sportler, und auch 5783. später schmeckte die Erinnerung an den der israelische Präsident Isaac Herzog, SC H A N A T OWA Kaffee und den Kuchen schal. Einige der trotz allem doch noch zu der Zeremonie Ihr Menschen, die eben noch neben mir ge- Anfang September nach München und Dr. Josef Schuster sessen hatten, waren nun tot. Ermordet Fürstenfeldbruck gekommen waren. Die Präsident in Fürstenfeldbruck, nachdem sie zuvor Einigung mit ihnen war ein wichtiges des Zentralrats der Juden in Deutschland und auf grausame Weise von palästinensischen Zeichen. des Landesverbandes der IKG in Bayern Rosch Haschana 5783 Dokumentation IMPRESSUM Sukkot Margot Friedländer . . . . . . . . . . . . . . . 17 JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4 authentisch bayerisch jüdisch Nachrichten aus Frankreich Redaktionsleitung: Benno Reicher, Jona prophezeite in Ninive Vorländerweg 25, 48151 Münster, Von Yizhak Ahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Jüdische Wurzeln Telefon 0251-7475546 Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 20 www.bayerisch-jüdisch.de Grußworte zu Rosch Haschana . . . . 6 redaktion@berejournal.de Bayern Kultur Wir erscheinen im April zu Pessach, Gedenkkoffer Kleinsteinach . . . . . . . . 28 im September zu Rosch Haschana und Wiege der Demokratie im Dezember zu Chanukka Von Renatus Schenkel . . . . . . . . . . . . . . 8 Am Echad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 In dieser Ausgabe mit Beiträgen von Grüß ich mein liebes Bayernland Nürnberg – Hadera . . . . . . . . . . . . . . . 29 Rabbiner Joel Berger, Yizhak Ahren, Angela Von Ellen Presser . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Spaenle: Ein bewegtes Jahr . . . . . . . . 29 Genger, Daniel Hoffmann, Regina Kon, Gaby Juden in der Ukraine . . . . . . . . . . . . . . 30 Pagener-Neu, Ellen Presser, Benno Reicher, Unser Gastbeitrag Carmen Reichert, Renatus Schenkel, Josef von Carmen Reichert . . . . . . . . . . . . . . 12 Aus den jüdischen Gemeinden Schuster, Frank-Walter Steinmeier und Jüdische Akademie . . . . . . . . . . . . . . . 14 in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Priska Tschan-Wiegelmann Exil Istanbul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Herausgeber: Landsverband Israelitischer Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 40 Kultusgemeinden in Bayern Cem Özdemir erhält Leo-Baeck-Preis 16 Gesamtherstellung: Druckerei Höhn, B. Honigmann ausgezeichnet . . . . . . . 16 Russischer Beitrag . . . . . . . . . . . . . 47 Gottlieb-Daimler-Str. 14, 69514 Laudenbach Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022 3
R O S C H H A S C H A N A 57 8 3 SUKKOT Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger einem Balkon, einem Hinterhof oder im Bachweidenzweig. Diese werden wäh- Garten. In diesen Landesteilen ist das rend aller Tage des Festes in einem feier- Verweilen und Speisen in der Hütte eine lichen Umzug mit mit Gesängen durch sehr wetterabhängige Art des Begehens die Synagoge getragen; dabei ertönt als dieses Festes. Häufig hat man aber Glück, Refrain wieder und wieder das hebräi- dank der noch wärmenden Strahlen des sche Wort, das seinen Weg sogar in die Spätsommers. Liturgie der Kirche fand: Hoscha na, O hilf doch Herr, das viele als Hosianna Die konkreten Gebote der Tora, die uns kennen. Was, außer der Erinnerung an befehlen, Hütten zu bauen, um dort zu Erntedank, dieser Strauß genau zu be- verweilen, und uns damit die Zeit der deuten hat, darüber schweigt die Tora. Wüstenwanderung zu vergegenwärtigen, haben aber auch Mystiker, Ethiker und Daher geizt die nachbiblische jüdische Philosophen inspiriert. An einer Stelle las Literatur nicht mit mannigfaltigen Erklä- ich diese Erläuterung: Wenn der Land- rungen und Deutungen. Dieser Strauß, wirt im Herbst die Ernte des ganzen meint der Midrasch, ist ein treffendes Jahres einbringt, neigt er dazu zu sagen, Symbol der Notwendigkeit für die Einheit wie die Tora ihn zitiert: (5.B.M. 8:17): des jüdischen Volkes. Der Strauß wird ge- „Allein meine Kraft und die meiner Hän- nauestens analysiert: der Etrog, die Zitrus- Rabbiner Joel Berger de haben zu diesem Erfolg geführt.“ frucht, besitzt sowohl einen guten Ge- Wenn du so stolz bist, meint die Tora, schmack, als auch einen guten Duft. Die Zwei Wochen nach Rosch Haschana, un- dann verlasse gerade an diesem Tag dein Frucht der Dattelpalme ist wohl ge- serem Neujahrsfest, und wenige Tage Haus, verlasse den bequemen, gemüt- schmackvoll, besitzt jedoch keinen Duft. nach Jom Kippur, dem Versöhnungstag, lichen Hof und tausche deine feste Woh- Die Myrte dagegen duftet, schmeckt aber begehen wir Sukkot, das Laubhüttenfest. nung gegen eine provisorische aus, die nach nichts. Und zum Schluss haben wir Die Heilige Schrift nennt es auf Hebräisch dem Wind und den Launen des Wetters noch die Bachweide, die weder Duft noch Chag, das Fest. Diese Auszeichnung trifft ausgesetzt ist. Denke daran, dass unser Geschmack aufweist. das dritte der biblischen Wallfahrtsfeste ganzes Leben wie diese Hütte ist: Nur ein zu Recht. Es ist reich an farbigen Zeremo- Provisorium. Heute blüht es, um morgen Wie die vier Pflanzen in einem Bündel auf nien und malerischen Symbolen. Außer- zu verwelken. Geheiß der Tora der Lobpreisung Gottes dem fällt es in die Erntezeit und liegt so- dienen, nämlich die Geschmackvollen, mit nach der Vollendung der mühsamen Der einzige wertvolle Besitz ist, setzt der die Duftenden und auch die, welche diese Arbeit der Landwirte des Heiligen Lan- Moralist fort, das Erfüllen der Gebote des Eigenschaften nicht besitzen, so sollen des. Die Quelle der Freude dieses Festes Herrn und das Durchdringen deiner Per- die Israeliten gemeinsam dem Herrn die- ist vergleichbar mit den vielen Winzer- sönlichkeit mit geistigen Werten. Kaum nen. Damit aber nicht genug der Erklä- festen in unserer Gegend. Weinlese zu anders dachte darüber der moderne jüdi- rungen: Man weist darauf hin, dass drei feiern bedeutet Freude und Dankbarkeit sche Philosoph Emmanuel Levinas: „Der Pflanzen des Straußes im Heiligen Lande zugleich. Daher verkündete die Tora Mensch beginnt in der Wüste, wo er in zu Hause sind: Etrog, Lulaw und die wessamachta bechagecha, freue Dich an Zelten wohnt und wo er Gott in einem Myrte. Die Bachweide dagegen ist in der Deinem Fest. (5.B.M. 16:14) Tempel anbetet, den man von Ort zu Ort ganzen Welt verbreitet, wie die Juden in versetzen kann. Solche Existenz ist frei der Diaspora. Der Strauß erinnert also Im Mittelpunkt der Gedankenwelt dieses von der Gebundenheit an Landschaften auch an die Liebe der Israeliten zur bib- biblischen Pilgerfestes steht ursprünglich und Bauwerke und all den schweren und lischen Heimat. die Natur des Heiligen Landes. Wir wer- gefestigten Dingen, die uns so leicht dazu den in unserem urbanisierten Dasein an verführen, sie dem Menschen überzuord- Vor dem Ende der Sukkot-Feiertage die nomadische Existenz der Ahnen wäh- nen. Solcher Form der Existenz erinnert schwenkt die ausgelassen-fröhliche Stim- rend ihrer Wüstenwanderung erinnert. sich das Judentum immerfort, während mung des Laubhütten-Festes vorüberge- Diese Erinnerung verbindet unsere Gene- seiner ganzen Geschichte. Das Fest der hend um. Der siebente Tag wird Hoscha- rationen über die Zeiten hinweg. Wenn Hütten ist die liturgische Form dieser Er- na Rabba genannt. Darunter verstehen wir am Pessachabend, anlässlich des Fes- innerung.“ wir noch eine letzte Ehrerweisung gegen- tes der Befreiung aus der Sklaverei Ägyp- über der Einkehr des Jom-Kippur-Tages. tens erklären: „Ein jeder von uns ist ver- Das mit besonders reichen Traditionen Der Grund liegt im mystisch-kabbalisti- pflichtet sich zu betrachten, als wäre er ausgestattete Sukkot-Fest besitzt noch schen Glauben. selbst aus Ägypten, aus der Gefangen- weitere Symbole: nämlich den aus vier schaft gezogen ...“, ja, dann ist die Wüs- Pflanzen und Früchten bestehenden Fest- Das göttliche Urteil ist über unsere Taten tenwanderung auch ein gemeinsames strauß (3. B. M. 23; 40 ff). Da finden wir und Handlungen am Rosch Haschana ge- Volkserlebnis – durch alle Zeiten hin- sehr unterschiedliche „vier Arten“. Eine schrieben und am Jom Kippur besiegelt durch. Daher bauen wir bis heute am Zitrusfrucht, auch Paradiesapfel genannt, worden. Jedoch der Vollzug könnte nach Sukkot immer wieder unsere Laubhütten den Etrog, einen Dattelpalmzweig, den Meinung unserer Mystiker erst jetzt be- auf – sogar inmitten der Großstädte, auf Lulaw, ferner den Myrtenzweig und einen ginnen. Diese Vorstellung hat Hoschana 4 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022
Rabba in die Reihe der Tage gehoben, an letzte Möglichkeit, unsere unredlichen Zweigen abfallen, der Herr unsere Sün- denen wir erneut um Vergebung unserer Handlungen zu bereuen. Vielerorts wird den vertilgen möge. Verfehlungen bitten. Am Hoschana Rab- am Vorabend von Hoschana Rabba eine ba geschieht die Vollendung der Sühne. Wachnacht gehalten, während man das Die Religionshistoriker vergleichen und Es zeigt sich vor allem in der Liturgie des fünfte Mosebuch liest und studiert. erläutern diese Sitte mit der Lustration, Tages, die eine ernste wehmütige Stim- die in der römischen Religion die Be- mung verbreitet. Der Vorbeter steht vor Eine Sitte dieses Tages kann man beim zeichnung der feierlichen Reinigungen seinem Pult in der gleichen Totentracht, Morgengottesdienst beobachten. Bereits und Sühnungen war und einen wichtigen auch Kittel oder Sargenes genannt, wie der Talmud erwähnt, dass man am Ende Teil des römischen Kultus ausmachten. am Rosch Haschana oder am Jom Kip- des Gebetes ein Bündel Bachweiden- pur. Die Melodien der Gebete gleichen zweige nimmt und es auf den Boden Es scheint mir, dass wir Menschen öfters denen der vergangenen Hohen Feiertage. schlägt. Vielleicht soll diese Handlung abstrakte, spirituelle Inhalte in konkre- Die Hoffnung auf Vergebung durch Um- nach der mystischen Vorstellung andeu- tere Handlungen umwandeln, um sie vor kehr verkündet der Tag und gibt uns eine ten, dass, ebenso wie die Blätter von den der Gemeinschaft sichtbarer zu machen. Jona prophezeite in Ninive Eine Betrachtung zu Jom Kippur von Yizhak Ahren Schon im Babylonischen Talmud (Megilla soll uns vielmehr die naheliegende Frage, Ewige: Dir ist es leid um den Wunder- 31a) ist vermerkt, dass im Mincha-Gebet warum Jona, statt wie ihm befohlen in baum, um den du keine Mühe hattest und von Jom Kippur das Buch Jona nach der Richtung Osten zu gehen, den Weg in den den du nicht großgezogen hast, der über Toralesung als Haftara vorgetragen wird. Westen einschlug. Nacht ward und über Nacht verging. Und Das Thema der Umkehr zu Gottes Wegen mir, mir sollte es nicht leid sein um Ninive, (hebr. Teschuwa) spielt in diesem kleinen Den Grund, warum Jona Gottes Wort die große Stadt, darin mehr als zwölfmal Buch mit insgesamt nur 48 Versen eine nicht in Ninive verkünden wollte, können zehntausend Menschen sind, die nicht zwi- zentrale Rolle, und daher passt diese wir zunächst nicht einmal ahnen. Erst schen rechts und links zu scheiden wissen, Haftara sehr gut zum letzten der zehn nachdem er, im Bauch eines Fisches ge- und viel Vieh?“ (4, 10 und 11). Tage der Teschuwa. fangen, seine negative Einstellung zum göttlichen Auftrag änderte, doch noch Eine ganz andere Deutung der Erklärung In seinem deutschsprachigen Buch „Ja- nach Ninive ging und dort sehr erfolg- des Propheten Jona für seine Flucht in mim Noraim“ machte Rabbiner B. S. Ja- reich prophezeite („Noch vierzig Tage, Richtung Tarschisch besagt, dass er gera- cobson eine interessante Bemerkung: dann ist Ninive zerstört“, Kap. 3,4), erfah- de den Erfolg seiner Mission befürchtete: „Die Absicht der Weisen, gerade diesen ren wir, was ihn ursprünglich zur Flucht die Assyrer werden Teschuwa tun, und Abschnitt zu wählen, mag auch darin be- bewegt hatte: „Und er betete zum Ewigen Gott werde deshalb Ninive nicht zerstören gründet sein: Das jüdische Volk soll vor und sprach: Bitte, o Ewiger, war das nicht – ihn aber werde man dann als einen Lüg- nationalem Hochmut geschützt werden. meine Rede, solange ich noch auf meinem ner ansehen und verfolgen! Über diese Die Umkehr eines fremden Volkes zu Gott Boden war? Deswegen kam ich ja zuvor, Rechtfertigung der Flucht schreibt Men- wird uns daher gekündet.“ Mendel Hirsch nach Tarschisch zu flüchten, weil ich wuss- del Hirsch in seinem Buch über die zwölf sah in der Tatsache, dass es götzendienen- te, dass du ein gnädiger und barmherziger Propheten: „Der wahre Gottesprophet de Heiden sind, deren Besserung uns am Gott bist, langmütig und liebreich und dich darf allerdings keinen Augenblick anste- Jom Kippur als Vorbild für die eigene bedenkend wegen des Unheils“ (4,2). hen, zum Heile der Menschenbrüder im Besserung vorgeführt wird, einen Beweis Auftrage Gottes jedes Martyrium auf sich für die „wahrhaft freie Universalität des In diesem Gebet hat der Prophet zwar zu nehmen, er darf auch vor dem Opfer Judentums“. seine Überlegungen mitgeteilt, aber wir seiner Ehre nicht zurückschrecken. Die verstehen sein Motiv immer noch nicht: Höhe hatte Jona noch nicht erreicht.“ Bedenkenswert ist aber nicht nur, was in Wie hängt die Tatsache, dass der Ewige Ninive, der Hauptstadt des damals mäch- gnädig, barmherzig, langmütig und zur Gabriel H. Cohn hat in einem lesenswer- tigen assyrischen Reiches, passiert ist, Änderung seines Sinnes bereit ist, mit sei- ten Aufsatz mit dem Titel „Die vergebliche sondern ebenfalls, wie es zur außerge- ner Weigerung, den Auftrag zu erfüllen Flucht vor dem Selbst“ (Jüdische Rund- wöhnlichen Teschuwa der unmoralischen und nach Ninive zu gehen, zusammen? In schau Maccabi, 9. Oktober 1997) die The- Götzendiener kam. Einen israelitischen Kommentaren zum Buch Jona findet man se vertreten, dass das Buch Jona zwar von Propheten, Jona Ben Amittai, forderte verschiedene Erklärungen für den Gedan- einem biblischen Propheten spricht, aber Gott auf: „Auf, gehe nach Ninive, der gro- kengang des Propheten. eigentlich jeden von uns meint: „Jeder ßen Stadt, und rufe aus über sie, dass ihr von uns steht in gewissen Lebensphasen Frevel emporgestiegen ist vor meinem Einige Interpreten erklären, Jona sei der vor den existentiellen Problemen des Angesicht“ (1,2). Ansicht gewesen, dass Übeltäter unbe- Jona, und das Buch will uns lehren, wie dingt eine angemessene Strafe bekom- wir diese Lebensaufgabe lösen sollen.“ Wie reagierte der angesprochene Pro- men müssen. Es störte ihn mächtig, dass Jom Kippur ist ein von der Tora bestimm- phet? Ohne Gott zu antworten, ergriff er Gott nach erfolgter Teschuwa die wohl- ter Tag, an dem wir Juden fastend und be- sofort die Flucht: „Da machte sich Jona verdiente Bestrafung aussetzt. Am Bei- tend unseren Lebensweg neu überden- auf, um vor dem Ewigen nach Tarschisch spiel eines Wunderbaums musste Gott ken. Ebenso wie Jona kann jeder Mensch zu flüchten“ (1,3). Die Stationen seiner Jona deutlich machen, dass neben Ge- Irrwege verlassen, eine neue Richtung vergeblichen Flucht wollen wir an dieser rechtigkeit auch Mitleid und Milde von einschlagen und dann den für ihn richti- Stelle nicht nachzeichnen. Beschäftigen großer Bedeutung sind: „Da sprach der gen Weg gehen. Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022 5
G R U S S W O R T E Z U R O S C H H A S C H A N A 57 8 3 Zum Neujahrsfest geht Mitte unserer Gesellschaft. Ihre Gemein- und humanistischen Traditionen unseres ein herzlicher Gruß an den leisten einen unverzichtbaren Beitrag Landes, aber auch die besondere Verant- die Juden in Bayern zum religiösen und kulturellen Leben wortung angesichts unserer Geschichte. und in aller Welt! Bayerns. Umso erschreckender ist, dass Wir werden alles dafür tun, dass sich die Es ist ein Fest der in- der Antisemitismus, in unterschiedlichen Juden auch künftig in Bayern frei, geach- neren Einkehr und Be- Formen und aus verschiedensten Quellen tet und sicher fühlen! sinnung, um sich für gespeist, immer weiter um sich greift. Die- die Herausforderun- ser Entwicklung entschlossen entgegen- gen des kommenden zutreten, ist Aufgabe und Verpflichtung Jahres zu stärken und aller gesellschaftlichen Gruppen. Die festen Halt im Glauben zu finden. Es soll Bayerische Staatsregierung nimmt diese aber auch Gesundheit, persönliches Glück Pflicht sehr ernst, schützt die Juden und und viel Erfolg bringen. steht unmissverständlich für Toleranz Die jüdischen Bürgerinnen und Bürger und Achtung der Menschenwürde. Dazu Dr. Markus Söder haben einen unverrückbaren Platz in der verpflichten die christlichen, jüdischen Bayerischer Ministerpräsident Der jüdische Jahres- Herausforderungen nicht kleiner. Mir per- cumenta 15“ zunächst ungehindert aus- wechsel fällt in eine sönlich macht der Zusammenhalt Mut, toben durften. Und auch muslimischer herausfordernde Zeit. den ich erlebe. Diejenigen, die Hass und Antisemitismus darf nicht als Folklore Der Angriffskrieg auf Spaltung vorantreiben – oft antisemitisch verharmlost, sondern muss vielmehr kom- die Ukraine hat die motiviert oder konnotiert – treffen auf promisslos geächtet werden. Antisemitis- Nachkriegszeit in Eu- eine couragierte Zivilgesellschaft, die un- mus muss in all seinen Formen benannt ropa beendet. Auch in sere freiheitlich-demokratischen Werte und bekämpft werden. Nur dann können der großen ukraini- verteidigt. jüdische Menschen sicher und geborgen schen jüdischen Ge- Die jüdische Religion, die Traditionen leben. meinschaft, in der es und Bräuche sind fester Bestandteil unse- In der Hoffnung auf bessere und un- noch viele Schoa-Überlebende gibt, ha- rer Heimat. Mit diesem Rosch Haschana beschwertere Zeiten, wünsche ich allen ben viele ihre Heimat verloren. Nicht verbinde ich auch die Hoffnung, dass die jüdischen Bürgerinnen und Bürgern: wenige sind nach Bayern gekommen, ha- Jubiläumsfeierlichkeiten der letzten ein- Schana tova – ein glückliches und süßes ben in den jüdischen Gemeinden Schutz einhalb Jahre nachhaltig wirken. Dazu neues Jahr! gefunden. Die enorme Hilfsbereitschaft gehört, dass antijüdische Ressentiments, zeugt von großer Menschlichkeit. Mein wie sie rechts und links und in der Mitte Dank gilt allen, die sich in dieser schreck- unserer Gesellschaft wahrnehmbar sind, lichen Zeit so großartig engagieren! auf harten Widerspruch treffen – wo und Vor dem Hintergrund des Krieges, der wann immer sie getätigt werden! Auch Pandemie, der Energieknappheit und der im vermeintlich intellektuellen, künst- Ilse Aigner MdL, Präsidentin Inflation werden die gesellschaftlichen lerischen Milieu, wo sie sich bei der „do- des Bayerischen Landtags Das letzte Jahr stand dabei auch an die Israelitische Kultus- schrecken, sondern auch schon dann, bei uns im Zeichen gemeinde München und Oberbayern, die wenn wir judenfeindliche Übergriffe der Feierlichkeiten zu sich ebenfalls intensiv um die aus der auch unterhalb der Schwelle zur Straf- „1700 Jahre jüdisches Ukraine geflüchteten Jüdinnen und Ju- barkeit wahrnehmen. Da müssen wir Leben in Deutsch- den kümmert und ihnen hier ein Zuhause ganz besonders sensibel sein, aufmerk- land“. Mit einer Fülle gibt. sam bleiben und sofort dazwischenge- von Festen und Veran- hen, wenn krude Theorien geäußert oder staltungen haben wir Gleichzeitig sehen wir uns konfrontiert billige Klischees verbreitet werden. dabei den Reichtum mit einer abscheulichen russischen Kriegs- jüdischen Lebens und propaganda, die auch vor übelsten Nazi- Mit diesem Versprechen wünsche ich allen jüdischer Kultur in unserem Land ge- Vergleichen und antisemitischer Hetze Jüdinnen und Juden in München und da- feiert. Mit dem brutalen russischen An- nicht haltmacht. Aber auch bei uns sind rüber hinaus zum Neujahrsfest Rosch Ha- griffskrieg gegen die Ukraine sehen wir geschichtsverfälschende und judenfeind- schana ein gutes, glückliches, friedliches uns jetzt aber auch ganz neuen Heraus- liche Einstellungen auf dem Vormarsch und Frieden bringendes Jahr 5783! forderungen gegenüber. So suchen viele und antisemitische Straftaten in Deutsch- Kriegsgeflüchtete bei uns Schutz, darun- land haben einen neuen Höchststand er- ter auch Jüdinnen und Juden. Mit der er- reicht. Auch in München kommt es leider leichterten Aufnahme jüdischer Geflüch- immer wieder zu entsprechenden Delik- teter hat die Bundesregierung hier bereits ten. Und genau deshalb müssen und wer- ein klares Zeichen gesetzt. Genauso wie den wir den Kampf gegen Antisemitismus die jüdischen Gemeinden in Deutschland, konsequent weiterführen. Dabei gilt es, die viele Geflüchtete selbst versorgen und nicht nur dann aktiv zu werden, wenn Dieter Reiter, Oberbürgermeister betreuen. Mein ausdrücklicher Dank geht uns entsprechende Gewaltexzesse auf- der Landeshauptstadt München 6 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022
Liebe jüdische unzählige Tote, Verstümmelte, Trauma- und zeigen wir gemeinsam durch unsere Schwestern und tisierte, zerstörte Städte und Landstriche, Solidarität, dass wir Menschen sind und Brüder, stehen wir plötzlich vor ungeahnten glo- Verantwortung füreinander überneh- balen Herausforderungen und Krisen. men. wieder geht für Sie ein Jahr zu Ende und ein Auch viele Tausende Jüdinnen und Juden Ich wünsche Ihnen und allen Jüdinnen neues beginnt. Der Jah- in der Ukraine mussten flüchten und und Juden weltweit Frieden, Hoffnung, reswechsel nach dem haben ihre Heimat verloren. Die jüdi- Gottes Segen für das neue Jahr – Schana jüdischen Kalender schen Gemeinden hierzulande zeigen eine tova! steht diesmal ganz un- große Solidarität und Hilfsbereitschaft, ter dem Eindruck des furchtbaren und die Flüchtlinge aufzunehmen und den Ihr völkerrechtswidrigen Angriffskrieges ge- Menschen in der Ukraine mit Hilfsgütern gen die Ukraine. Krieg mitten in Europa – und Geld zu helfen. Diese Hilfe geschieht wer von uns hätte das vor einem Jahr ohne Ansehen der Person, es geht um Mit- gedacht? Wie sehnten wir uns nach den menschlichkeit, die im Anderen, im Lei- Jahren der Pandemie nach etwas mehr denden Gottes Ebenbild erkennt. Normalität, nach mehr Lockerheit und Reinhard Kardinal Marx Zuversicht? Und nun haben wir wieder Beten wir alle um den Frieden in der Erzbischof von München und Millionen von Flüchtlingen in Europa, Ukraine, in der Welt, in unseren Herzen Freising Ein gutes und geseg- Wir können nicht wissen, wohin uns die die eine schmerzende Lücke hinterlassen netes neues Jahr wün- angespannte weltpolitische Lage und haben. sche ich Ihnen im Na- diese Pandemie noch führen wird. Wir Die Schwelle zum neuen Jahr lädt ein zur men der Evangelisch- können aber in unseren Religionsgemein- Besinnung und zum Rückblick. Mich be- Lutherischen Kirche schaften Solidarität und Hilfe üben. Wir eindruckt die Haltung von ernster inne- in Bayern und auch werden weiter Kraft brauchen, auf Anti- rer Sammlung, die die ersten Schritte im persönlich zu Rosch semitismus hinzuweisen, wo er nicht er- neuen Jahr vom Klang des Schofars bis Haschana und den kannt werden will. Die Documenta-De- zum Versöhnungstag hin prägt. Wir alle Hohen Feiertagen. batte ist nur ein Beispiel dafür, dass es leben vom Erbarmen dessen, von dem der ständig Aufmerksamkeit und Klarheit Prophet Micha sagt: „Er wird sich unser Im vergangenen Juni feierten wir das braucht. Es ist Aufgabe aller, darauf hin- wieder erbarmen.“ Dass Sie die Freude Finale des Festjahrs „1700 Jahre jüdisches zuwirken, dass antisemitische Bildspra- darüber erfahren, das wünsche ich Ihnen Leben in Deutschland“. Mir wird die wun- che und Gedanken keinen Raum haben von Herzen. Im Vertrauen auf IHN wün- derbare Stimmung des Sommerfests auf dürfen. Und nicht zuletzt wird auch das sche Ihnen ein glückliches, erfülltes, ja dem Jakobsplatz mit den fröhlichen Ge- neue Jahr unsere Gedanken zurückfüh- ein süßes neues Jahr. sichtern, der heiteren Musik und mit sei- ren an die traumatischen Ereignisse in SHANA TOVA UMETUKA ner ganzen Leichtigkeit in Erinnerung unserer Stadt vor 50 Jahren. Das laufende bleiben. Es ist so wichtig, das Leben zu Gedenkjahr „Zwölf Monate – Zwölf Na- Christian Kopp feiern mit Freundinnen und Nachbarn, ge- men. 50 Jahre Olympia-Attentat Mün- Regionalbischof für München und nau wie an diesem Tag. Denn es gibt uns chen“ stellt Persönlichkeiten in ihrer gan- Oberbayern der Evangelisch-Luthe- Kraft auch das Schwere zu tragen. zen Lebendigkeit in die Mitte. Menschen, rischen Kirche in Bayern Sehr geehrte Damen Arbeit geleistet und den Menschen Trost ler bei den Olympischen Spielen 1972 in und Herren, und Wärme gegeben. Das Signal, dass Sie München von palästinensischen Terroris- damit in die Welt senden, reicht weit über ten ermordet wurden. Unser besonderes ein neues Jahr steht humanitäre Hilfe hinaus und zeigt Ihre Gedenken gilt den Sportlern und allen bevor! Da ist es Zeit, Hingabe zu der Idee von Tikun Olam. Terroropfern in Israel. für einen kurzen Mo- ment zurückzublicken: Passend dazu konnten wir uns im vergan- Die kommenden Monate werden heraus- Während Corona mo- genen Jahr über „1700 Jahre jüdischen fordernde Momente, aber auch so man- natelang unseren All- Lebens in Deutschland“ freuen. Ein hohes che ermutigende Begegnung mit sich tag prägte, wurde das Jubiläum und Zeugnis der vielseitigen bringen. Ich wünsche Ihnen deshalb ein Virus über Nacht in den Schatten gestellt Geschichte des deutschen Judentums. erfolgreiches Jahr 5783. Auf dass Sie zu- und von dem Krieg in der Ukraine über- Nachdem die lange Tradition durch Holo- sammen mit Ihren Liebsten viele glück- schattet. Seither haben zahlreiche ukrai- caust und Krieg ein plötzliches Ende fand, liche Tage erleben. nische Flüchtlinge ihr Land verlassen; hat der Neuanfang nach 1945 Früchte vielen Menschen haben wir in Israel eine getragen: Heute steht im Herzen von Schana tova! sichere Heimat geschenkt. Wiederum München das israelische Generalkonsu- sind ukrainische Juden nach Deutschland lat, dessen zehnjähriges Jubiläum wir im geflohen. letzten Jahr begehen durften. Doch in all den Jahren des Wachstums israelisch- Carmela Shamir Sie, verehrte Damen und Herren, haben deutscher Beziehungen gab es einen tra- Generalkonsulin des Staates Israel dafür in Ihren Gemeinden großartige gischen Einschnitt, als elf unserer Sport- für Süddeutschland Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022 7
K U LT U R Wiege der Demokratie Von Renatus Schenkel OFFENBURG. Der Gasthof „Salmen“ im In zwei Räumen des Salmen wird mit toriker Wolfgang Mommsen schildert das badischen Offenburg ist einer der zentra- Dokumenten und Ausstellungsstücken eindrucksvoll in seiner Studie „1848. Die len Orte in der Geschichte der deutschen neben der Entwicklung der Demokratie- ungewollte Revolution“. Demokratie. Dort wurden erstmals im geschichte auch die Geschichte der Jüdi- Doch es blieb nicht nur bei Forderungen deutschen Sprachraum von deutschen schen Gemeinde Offenburgs dargestellt. in Offenburg. Badische Bürger setzten Revolutionären wie Friedrich Hecker und Unter der Woche dient der Salmen als zum Beispiel die Forderung in Artikel 7 Gustav Struve zentrale Forderungen zur Tagungsstätte und ist auch beziehungs- nach „Volksbewaffnung“ direkt in die Tat Einführung einer Demokratie aufgestellt. reich Tagungsort des Offenburger Stadt- um. Mit Volksmilizen, einem Ranzen auf Sie wurden ein Jahr später von der Frank- rats. dem Rücken und einem Gewehr über der furter Paulskirche übernommen und ha- Versammlungs- und Gewissensfreiheit, Schulter marschierten sie von Konstanz ben Eingang ins deutsche Grundgesetz Meinungs- und Pressefreiheit, Bildung für über Offenburg bis zum Herrschaftssitz gefunden. Lange Zeit diente der Versamm- alle, Steuergerechtigkeit und Volksbe- des badischen Adels der „Durlacher“ in lungssaal des Salmen auch der Jüdischen waffnung, aber auch völlige Gleichbe- der badischen Residenzstadt Karlsruhe. Gemeinde in Offenburg als Synagoge. rechtigung der Juden, das waren die Sie vertrieben sie aus dem Karlsruher Im großen Wirtssaal des Salmen tagte „Forderungen des Volkes“, die badische Schloss und riefen die Republik aus. Das 1847 die berühmte „Offenburger Versamm- Revolutionäre wie Friedrich Hecker und blieb leider die einzige erfolgreiche demo- lung“. Er erlebte bis heute eine wechsel- Gustav Struve in der Offenburger Ver- kratische Revolution im deutschen Sprach- volle Geschichte, denn in der Reichspo- sammlung verabschiedet und mit der raum. gromnacht vom 9. November 1938 wurde badischen Bevölkerung in die Tat umge- Der Ausstellungsteil über die jüdische die Synagoge wie viele andere jüdische setzt haben. Ein erhaltenes Original ihrer Gemeinde zeigt eindringlich, wie die Einrichtungen und Geschäfte in Offen- dreizehn Forderungen bildet die ein- integrierten Juden in der Ortenau wäh- burg geplündert und zerstört. drucksvolle Mitte eines der Ausstellungs- rend der Naziherrschaft von 1933 bis Am 9. Juni wurde der restaurierte Sal- räume. Die „Forderungen des Volkes“ von 1945 Schritt für Schritt in die Illegalität men als repräsentative Ausstellungsstätte Offenburg gelten „als der erste öffentlich gedrängt und ihrer Lebensgrundlagen wiedereröffnet. Unter den Ehrengästen verkündete Grund- und Menschenrechts- beraubt wurden. Die heute 91-jährige Eva war auch Dr. Josef Schuster, Präsident katalog in der deutschen Geschichte“, so Mendelssohn etwa entkam mit ihrer jün- des Zentralrats der Juden in Deutschland. die Landeszentrale für Politische Bildung geren Schwester Myriam während der In seiner Rede würdigte er den Kampf in Baden-Württemberg. Deportation nur durch glückliche Um- von Friedrich Hecker und weiteren Re- Die Forderungen der Offenburger Ver- stände und ist jetzt die letzte Überleben- volutionären für Gleichheit, Freiheit und sammlung waren auch die direkte Vor- de der Shoa aus Offenburg. Als bedeu- andere Grundrechte wie Religionsfreiheit. lage für eine weitere Fassung, die im Jahr tendster Gast nahm die 91-jährige in Gerade angesichts des 1938 an diesem darauf, 1848, in der Frankfurter Pauls- Begleitung ihres Sohnes David, seiner Ort geschehenen Unrechts mahnte er, ak- kirche als Manifest zur bürgerlichen Re- Ehefrau Dalia sowie ihrem Enkel Otto tuellem Judenhass entschieden entgegen- volution in Deutschland verabschiedet Mendelssohn an der Eröffnung des Sal- zutreten. Er wünsche der Stadt Offen- wurde. Allerdings scheiterte auch die Be- men teil und erhielt später für ihr lang- burg, „dass möglichst viele Menschen die- wegung der Paulskirche kurze Zeit später jähriges Engagement als Zeitzeugin das sen Ort besuchen, über seine Geschichte an restaurativ-monarchistischen Kräften. Bundesverdienstkreuz am Bande. lernen – auch über den jüdischen Teil.“ Der renommierte, 2004 verstorbene His- Es werden auch Täter gezeigt, ‚ganz nor- male‘ Männer, keineswegs alles fanati- sche Nazis, wie aus ihren Lebensumstän- den ersichtlich ist. Die entscheidenden hochrangigen Verbrecher der Offenbur- ger Gestapo, SS und SA, die auch die Deportation und Verhöhnung der jüdi- schen Offenburger organisierten, werden aus Tabugründen ausgespart. Denn der damalige SA-Chef von Offenburg zum Beispiel hat es doch nach dem Krieg tat- sächlich noch zum Amt des Bürgermeis- ters gebracht. Und ein nach dem Krieg wieder arbeitender Gymnasiallehrer wur- de als harmloser Mitläufer eingestuft, obwohl er in Offenburg während der Nazizeit die „Brand“-Rede zur Bücherver- brennung gehalten hatte. Eine sehr gute Idee ist in beiden Haupt- räumen verwirklicht. Kleine Kärtchen mit der Überschrift „Denkzettel“ in je einem Regal können mitgenommen werden. Auf Der „Salmen“ in Offenburg. Fotos: Renatus Schenkel ihrer Vorderseite sind dort in Frageform 8 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022
die gängigsten Urteile und Vorurteile zu Sicht das wichtigste Gebäude in unserer der Gegenwart. Denn wir alle müssen den ausgestellten Themenkomplexen an- Stadt. Er ist auf den ersten Blick relativ Verantwortung übernehmen.“ gesprochen, auf der Rückseite wird eine unscheinbar, aber er erzählt aus der Ge- Dieser kritische Umgang zeigt sich auch fachkundige Antwort gegeben. schichte der europäischen Demokratie- im Ausstellungsteil zur jüdischen Ge- bewegung. Er erzählt auch davon, dass schichte der Stadt. Die Ausstellungsstätte Carmen Lötsch sieht als verantwortliche die jüdische Bevölkerung Teil der Gesell- ist jetzt ebenso wie die bekannte Offen- Fachbereichsleiterin Kultur der Stadt Of- schaft war und dass sie nach 1933 sys- burger Mikwe (siehe dazu auch JÜDI- fenburg die Gedenkstätte Salmen als ein tematisch diskriminiert, verfolgt und er- SCHES LEBEN IN BAYERN vom 25. 9. deutliches Signal für den bewussten und mordet wurde. Uns ist es wichtig, dass die 2019) zu einem kulturellen Hauptan- offenen Umgang ihrer Heimatstadt mit Besucher anknüpfen können an eigene ziehungspunkt für auswärtige Besucher dem schweren Erbe ihrer Geschichte. Erfahrungswelten, an die eigene Fami- geworden. Eine Broschüre ist in Vorberei- „Der Salmen in Offenburg ist aus meiner liengeschichte wie auch an Ereignisse in tung. www.der-salmen.de. Grußwort des Zentralratspräsidenten Dr. Josef Schuster anlässlich der Wiedereröffnung des „Salmen“ in Offenburg Ich komme viel herum in Deutschland. ses Landes, für die das nur in einge- gionsfreiheit. Und das im demokratischen Aber selten komme ich an Orte wie die- schränktem Maße gilt. Denn die Freiheit, Deutschland des Jahres 2022. sen, die im Laufe der Geschichte so viele seinen Glauben frei leben zu können, ist Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Verwendungen und Transformationen er- zwar auf dem Papier garantiert. Das Ich übe hier keine Kritik an den staat- fahren haben wie der Salmen hier. Ein Grundgesetz ist eindeutig, das Bundes- lichen Institutionen. Aber ich frage mich, Gasthaus. Ein Tanzsaal. Ein Ort, an dem verfassungsgericht in seiner Auslegung ob sich die Gesamtgesellschaft bewusst die Demokratie in Deutschland ihre ers- auch. Aber das allein reicht nicht. ist, dass der Antisemitismus, der offen ge- ten Atemzüge tat. Ein jüdisches Gottes- Frei ist man bekanntlich nur dann, wenn zeigte Judenhass, eine echte, eine spür- haus, später von den Nationalsozialisten einen die Mitmenschen auch frei sein las- bare Bedrohung für viele Menschen ist. zerstört. Nach dem Krieg ein Lagerhaus. sen. Und da liegt noch einiges im Argen, Halle hat auch gezeigt: Antisemitischer Und heute eine Kultur- und Gedenkstätte. auch heute noch – oder in mancherlei Hass betrifft nicht nur Juden, er betrifft Mit anderen Worten: Wir haben es hier Hinsicht: heute wieder. Religionsfreiheit alle. Die beiden Mordopfer von Halle, die mit einem Monument zu tun, dessen wird immer wieder in Frage gestellt. Wer 40-jährige Jana L. und der 20-jährige Mauern die Höhen und Tiefen deutscher in der Öffentlichkeit mit einer Kippa her- Kevin S., waren nicht jüdisch. Sie waren Geschichte miterlebt haben. umläuft, läuft leider mancherorts Gefahr, nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Versuchen wir uns vorzustellen, wie es angegriffen zu werden. Auf Schulhöfen Ort. Der Attentäter wollte Juden ermor- war, als sich am 12. September 1847 rund ist „Du Jude“ wieder ein Schimpfwort ge- den. Als er es nicht schaffte, in die voll- 900 Leute um Friedrich Hecker hier tra- worden. Und Synagogen sind leider für besetzte Synagoge einzudringen, brachte fen und sehr vernehmlich für Mitbestim- viele zur Zielscheibe ihres Judenhasses er Jana und Kevin um. mung und Demokratie, für Gleichheit, geworden. Der Hass auf Juden zeigt sich immer offe- Freiheit und für andere unveräußerlichen Ich bin der Polizei und den Sicherheits- ner – bei den sogenannten Corona-Protes- Grundrechte eintraten. Es muss laut ge- behörden sehr dankbar, dass sie jüdische ten haben wir das gesehen. Er zeigt sich wesen sein, aber es war sicher auch ein Einrichtungen – so gut es eben möglich auch anderswo – man schaue nur auf die feierlicher Moment. Die Resolution, die ist – schützen. Nicht erst der Anschlag in Äußerungen des russischen Außenminis- damals beschlossen wurde, die „Forde- Halle 2019 hat bewiesen, dass es notwen- ters Lawrow, als er seinem Antisemitis- rungen des Volkes in Baden“, sie war und dig ist, jüdische Institutionen rund um mus freien Lauf ließ und unterstellte, die ist ein Meilenstein deutscher Zivilisa- die Uhr zu bewachen. In gewisser Weise schlimmsten Antisemiten seien doch Ju- tionsgeschichte. Es war ein Aufstand ge- ist auch das eine Einschränkung der Reli- den gewesen. Der russische Krieg gegen gen die Knechtschaft, die Unterdrückung, die Entrechtung. Auch wenn sich der Ruf nach Freiheit und Demokratie anschließend jahrzehnte lang nicht durchsetzen konnte: Das Samen- korn war nun in der Erde, der Anfang war gemacht. Lassen Sie mich stellvertretend für den 13-Punkte-Katalog, der damals in diesem Haus beschlossen wurde, den Artikel 3 vorlesen: „Wir verlangen Gewis- sens- und Lehrfreiheit. Die Beziehungen des Menschen zu seinem Gotte gehören seinem innersten Wesen an, und keine äußere Gewalt darf sich anmaßen, sie nach ihrem Gutdünken zu bestimmen. Jedes Glaubensbekenntnis hat daher An- spruch auf gleiche Berechtigung im Staa- te.“ Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, staat- liche Neutralität: Für viele von uns mag das alles heute selbstverständlich sein. Aber es gibt Bürgerinnen und Bürger die- Täter und Überlebende in der Ausstellung. Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022 9
die Ukraine hat uns auch vor Augen ge- führt, wie gefährdet unsere Demokratie ist. Er hat gezeigt, wie schnell es gehen kann. Dass wir wehrhaft sein müssen nicht nur in Worten, sondern auch ganz praktisch. Der Krieg hat gezeigt, wie nicht nur die Religionsfreiheit, sondern auch alle ande- ren Grundfreiheiten von einem Tag auf den anderen mit Füßen getreten werden. Wie Propaganda die freie Presse ersetzt. Wie Gotteshäuser plötzlich von Bomben getroffen werden und Menschen um ihr Leben und das ihrer Angehörigen fürch- ten müssen und aus ihrer Heimat fliehen. So schnell, wie es am 10. November 1938 hier an dieser Stelle zuging, als die Syna- goge der Offenburger Juden von NS-Män- nern innerhalb weniger Stunden ge- schändet und völlig verwüstet wurde. Die neue Ausstellung im „Salmen“. Sie, sehr geehrte Frau Mendelssohn- Cohn, haben das als Kind selbst noch mit- das Glas ist sicher nicht halbleer, sondern Hecker und seine Mitstreiter gehören un- erlebt. eher zwei Drittel voll. zweifelhaft zu den großen Deutschen. Ihr Doch ich möchte nicht nur über das Nega- Die jüdische Gemeinschaft schaut nach hier vor 175 Jahren im Salmen beschlos- tive sprechen, sondern auch das Positive vorn, wie wir das trotz schwerer Zeiten sener Grundrechtekatalog ist zeitlos ak- hervorheben. Wir Juden sind freie Bürger immer getan haben. Aber wir vergessen tuell, denn der Schutz unserer Freiheiten, dieses Landes wie andere auch. Wir ha- nicht, denn, wie der spanische Philosoph unseres demokratischen Gemeinwesens, ben Sorgen, aber auch viele Hoffnungen. und Schriftsteller Jorge Santayana das so ist nicht nur Aufgabe staatlicher Institu- Dass nach der Shoa wieder jüdisches Le- treffend formuliert hat: „Wer sich nicht tionen. Er ist unser aller Aufgabe. Jede und ben in Deutschland auf diesem Niveau seiner Vergangenheit erinnert, ist dazu jeder Einzelne muss sich dem verpflichtet existieren würde, hätte man sich in der verdammt, sie zu wiederholen.“ fühlen. Ich wünsche der Stadt Offenburg, Generation meiner Eltern nicht vorstellen Das gilt nicht nur für die Erinnerung an dass möglichst viele Menschen diesen Ort können. Wir haben in den letzten Jahren die negativen Aspekte der deutschen Ge- besuchen, über seine Geschichte lernen – zahlreiche neue Synagogen gebaut und schichte, sondern auch für die Erinne- auch über den jüdischen Teil natürlich – alte instandgesetzt. Es geht voran, und rung an die positiven Momente. Friedrich und diese Botschaft von hier mitnehmen. Grüß ich mein liebes Bayernland Die Geschichte der jüdischen Brauerei-Familie Schülein Von Ellen Presser MÜNCHEN. „Bier ist der Wein dieses Tradition erzog, setzte darauf, mit dem Landes“ – dieser Satz ist keine Anspielung Ersparten ins Bankwesen einzusteigen. auf die Kultur des Bierbrauens und Bier- Ging es am Anfang um die Vergabe von trinkens im Freistaat Bayern, sondern be- Kleinkrediten, so kam es später darauf zieht sich auf einen Satz aus dem Schul- an, das Vertrauen von Sparern zu ge- chan Aruch, wonach man Bier zum Kid- winnen. Ihre Bankgeschäfte durchwegs dusch machen verwenden darf, wenn es seriös führend, erwarb die Familie be- der Idee von hiddur mitzwa, der Verschö- scheidenen Wohlstand. nerung des Gebots entspricht und damit Josef Schülein, Jahrgang 1854, seit 1873 die Zeremonie aufwertet. in München ansässig, genügte die mit Davon dürfte der 19-jährige Josef Schü- seinen Brüdern Jakob und Gustav aus- lein, Sohn des Tuchhändlers Joel und geführte Banker-Tätigkeit nicht, obgleich seiner Frau Nette, keine Ahnung gehabt sich nach dem Deutsch-Französischen haben. Und vom Gewerbe des Vaters, der Krieg und der Gründung des Deutschen sich den säkularen Namen Julius gegeben Reichs die Geschäfte gut entwickelten. hatte, ebenfalls nichts. Als der Vater stirbt, Bereits zwölf Jahre später erwarb er von nachdem er sich auf einer Einkaufsreise einem Kunden die Pleite gegangene Fü- nach München mit Typhus infizierte, ist gerbräu-Brauerei im Münchner Stadtteil es mit einem beschaulichen Leben der Haidhausen. Daraus machte er die Unions- Witwe und ihrer vier Kinder Jakob, Josef, Josef Schülein brauerei Schülein und Companie, die 1903 Mali und Gustav, zu dem noch ein Baby, Foto: Jüdisches Museum München in eine Aktiengesellschaft umgewandelt nach dem Vater Julius benannt, hinzu- wurde. kommt, vorbei. Die Familie folgt dem äl- Mutter Nette, eine gläubige Jüdin, die Josef Schülein war selbst kein Bierbrauer, testen Sohn Jakob aus dem fränkischen zeitlebens auf einen koscheren Haushalt sondern Geschäftsmann, ein kreativer Thalmässing nach München. achtete und ihre Kinder in der jüdischen und sozialer noch dazu. Er beschäftigte 10 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022
Fachleute, gab seinen Mitarbeitern sieben Auf seine Mitarbeit im Hintergrund konn- Urlaubstage und ließ Frauen nicht länger te man noch nicht verzichten. Löwenbräu als acht Stunden pro Tag arbeiten. Solch entwickelte sich 1934/1935 – unter seiner eine Haltung war für Unternehmer kei- praktisch fortgeführten Leitung – sogar neswegs selbstverständlich. Doch das zum „NS-Musterbetrieb“. Schülein selbst soziale Engagement der Schüleins sollte ging, wie es auch seinen fünf Geschwis- sich durch ihr ganzes Leben und bis in die tern gelang, 1936 in die USA. In New York nächste Generation durchziehen. brachte er sein berufliches Können in die Zunächst aber ging es um den Ausbau „Liebmann-Rheingold-Brauerei“ ein. der Firma. 1905 übernahm Schülein die Weder die Arisierung der Schlossbrauerei Münchner-Kindl-Brauerei. Zum Ende des Kaltenberg 1938 noch das Verhalten des Ersten Weltkriegs erwarb er Schloss Kal- Reichswirtschaftsministeriums 1939/1940 tenberg mit dazugehöriger Brauerei und konnte die Liebe zur bayerisch-münchne- landwirtschaftlichem Gut. Diesen Firmen- rischen Heimat vergällen. zuwachs verwaltete er gemeinsam mit Hermann Schülein konnte die Behand- seinem jüngsten Sohn Dr. Fritz Schülein. lung der familiären Entschädigungsan- Sein privates Glück hatte Josef Schülein sprüche durch die deutsche Ministerial- mit Ida Baer aus Oberdorf und ihren Grabstätte von Ida und Josef Schülein auf bürokratie nicht verstehen. Und doch gemeinsamen sechs Kindern gefunden. dem Neuen Israelitischen Friedhof München. blieb er seinem sozialen Gewissen und Sein ältester Sohn wurde zum Gedenken Foto: Evergreen68 Wikimedia München treu. Er schickte aus New York an seinen Großvater Julius genannt. 1921 in großer Menge Care-Pakete für die not- fusionierte Unionsbräu mit Löwenbräu merzienrat ausgezeichnet hatte, nicht. leidende Münchner Bevölkerung, ver- und wurde unter diesen bekannten Na- Nach seinem von den Nationalsozialisten zichtete auf Rückabwicklung von Grund- men fortgeführt. Diesen Coup hatte der bereits im Mai 1933 erzwungenen Rück- besitz, beteiligte sich finanziell sogar am Sohn Dr. Hermann Schülein maßgeblich tritt aus dem Aufsichtsrat von „Löwen- Wiederaufbau des kirchlichen Wahrzei- betreut und er wurde Direktor und Vor- bräu“ zog Josef Schülein sich auf sein Gut chens in der Münchner Altstadt, „Alter standsvorsitzender von „Löwenbräu“. Kaltenberg bei Geltendorf zurück, wo er Peter“ genannt, und des Nationaltheaters Hinzu kam bald das Bürgerliche Brau- am 9. September 1938 starb. Er ruht auf am Max-Joseph-Platz. Er wurde mit dem haus München. Jeder Ankauf bedeutete dem Neuen Israelitischen Friedhof neben Großen Verdienstkreuz der Bundesrepu- Zugewinn an Grundstücken. Das soziale seiner bereits 1929 verstorbenen Frau Ida. blik Deutschland 1954, dem Bayerischen Engagement der Schüleins führte durch Mit der geballten Niedertracht aus Neid, Verdienstorden 1961 und der Medaille Grundstücksstiftungen zum Bau einer Habgier und Rücksichtslosigkeit war Sohn „München leuchtet“ in Gold 1969 ausge- Siedlung von Sozialwohnungen in Berg Hermann (1884, München – 1970, New zeichnet. 1964 hat Schülein, der nur mehr am Laim, einem Stadtteil im Münchner York) konfrontiert. Seit 1924 General- besuchsweise zurückkehrte, ein Gedicht Osten. Schon zu Lebzeiten des „alten“ direktor der Löwenbräu AG hatte er die verfasst, in dem es am Ende heißt: Schülein waren dort 1920 eine Straße Zeichen der Zeit von Anfang an begriffen. und ein Platz mit einem Brunnen, den Sein Versuch, am 30. März 1933 in die „Nun bleib die Weltstadt mit dem Herz seit 1928 ein „Mälzjunge“, Symbol des Schweiz auszureisen, endete in „Schutz- Du ‚München‘ fortan immerwärts Bierbrauens, krönt, nach ihm benannt haft“-Gewahrsam. Üble Verleumdungen Wie man der Mutter stets verzeiht worden. Im Dezember 1933 hatte man hatte es schon lange vorher gegeben. Im Verzeih’ der Mutterstadt ich heut’, nichts Eiligeres zu tun, als beides in Hal- Völkischen Beobachter vom 23. Septem- Stolz, dass meine Wiege dorten stand serspitzstraße und Halserspitzplatz um- ber 1922 war auf der Titelseite von der Grüß ich mein liebes Bayernland!“ zubenennen, was allerdings im August „Verjudaisierung der bayer. Brauindustrie“ 1945 wieder zurückgenommen wurde. die Rede. Hitler selbst verbreitete am Elisabeth Schinagl: Der Bierkönig von München, Josef Schülein, den man den Bierkönig 21. März 1928 bei einer NSDAP-Versamm- Romanbiografie, 276 S., Allitera Verlag, Mün- von Haidhausen nannte, war ein Origi- lung die Lüge, „Herr Schülein ist Besitzer chen 2022. nal, stets gut erkennbar an seinem gewal- einer großen Brauerei, von der die Wirts- tigen Schnauzer und breitkrempigen Hut. pächter abhängig sind, und man beab- Wenn er zur Arbeit kam, erwarteten ihn sichtigt, die Wirte zu veranlassen, dass schon Kinder aus dem Haidhausener sie nur das Brot von dieser Fabrik bezie- Viertel. Für jedes hatte er ein Fünferl oder hen, die dem Herrn Schülein gehört.“ Zehnerl, das sie in Süßigkeiten umsetz- Da ging es noch gegen den Vater Joseph, ten. Jedes Jahr ließ er bis zu vierzig Firm- später mit dem Boykott gegen das „Juden- linge einkleiden und bewirten; begabten bier“ von Löwenbräu und mit der Direk- Kindern ermöglichte er durch finanzielle tive des im März 1933 als kommissari- Unterstützung eine bessere Schulbildung. scher Münchner Oberbürgermeister an- Während andernorts Freikorps-Anhänger getretenen NS-Schergen Karl Fiehler, rechtsradikal schäumten und mordeten, keine Aufträge mehr an „nichtdeutsche“ eröffnete Ida Schülein nach dem Ersten Unternehmen zu vergeben, war die „Ari- Weltkrieg im Münchner-Kindl-Keller und sierung“ von Löwenbräu faktisch er- im Bürgerbräu-Keller eine Armenspei- zwungen. Die jüdischen Mitglieder des sung, wo täglich an die tausend Mahlzei- Aufsichtsrats Josef Schülein, Martin Auf- ten ausgegeben wurden. häuser, Richard Kohn und Friedrich Pas- Gut vergolten hat man es der Familie und ternak mussten zurücktreten. Am selben ihrem Patriarchen, den man für seinen Tag, dem 1. Mai 1933, trat auch Hermann unternehmerischen Erfolg und sein sozia- Schülein von seinen Ämtern als Generaldi- les Wirken mit dem Titel Geheimer Kom- rektor und Vorstandsvorsitzender zurück. Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022 11
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