JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN

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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N

37. JAHRGANG / NR. 148                                  â“ôùú äðùä ùàø                                              22. SEPTEMBER 2022

                                   åáúëú äáåè äðùì

                                   Schana Towa 5783

                                                                                                      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022   1
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Der Landesverband
                                                  Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern
                                                                   wünscht

                                                    zum Neujahrsfest 5783

                                                  dem Staat Israel,
                             seiner diplomatischen Vertretung in der Bundesrepublik,
                                   der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland,
                                                 den Rabbinern und
                                          allen Mitgliedern der Gemeinden
                                     ein gesundes Jahr voll Frieden und Segen!

                                                           Dr. Josef Schuster
                                                                  Präsident
                  Ilse Danziger                                                               Anna Zisler
                    Vizepräsidentin                                                           Vizepräsidentin
                                                              Karin Offman
                                                              Geschäftsführerin

                        ST OL PE R ST E I N E M E M M E L SD OR F ( U F R .)
                                                  Gemeinde Untermerzbach, Landkreis Haßberge
                                                          In der Judengasse wohnten

          MANFRED KAHN                                           PAULA FRANK                      HULDA LAUCHHEIMER
             JG. 1926                                          GEB. NORDHEIMER                       GEB. FRIEDSAM
         DEPORTIERT 1941                                            JG. 1890                            JG. 1883
             KAUNAS                                             DEPORTIERT 1941                     DEPORTIERT 1941
       ERSCHOSSEN 25.11.1941                                  ERMORDET NOV. 1941                   ERMORDET 1941 IN
                                                                     RIGA                                 RIGA

Unser Titelblatt: MaRe, Zeichnung, 2021. „Dass der Granatapfel für Juden eine besondere Bedeutung hat, ist altbekannt. Wer löffelt
an Rosch Haschana nicht Kern um Kern, um so viele Wünsche wie möglich in Erfüllung gehen zu lassen? Granatäpfel, hebräisch Rimo-
nim, gehören zu den ältesten einheimischen Früchten.“ Sabine Brandes, zitiert aus: www.juedische-allgemeine.de, 26.10.2006.

Bilder Rückseite: (alle Beiträge dazu im Heft), Nr. 1: Dankte Margot Friedländer für die ausgestreckte Hand: Berlins Wissenschafts-
senatorin Ulrike Gote, Foto: Bernd Wannenmacher. Nr. 2: Rabbiner-Konferenz in München mit der israelischen Generalkonsulin
Carmela Shamir und Bayerns Staatsminister Dr. Florian Herrmann, Foto: Bayerische Staatsregierung. Nr. 3: Im Offenburger „Salmen“
beschlossen: Die Forderungen des Volkes in Baden, Repro: LZB Baden-Württemberg. Nr. 4: Nach der Unterzeichnung des Memoran-
dums stellen sich die beteiligten Partner dem Fotografen, Foto: Uwe Dettmar. Nr. 5: Gemeindeausflug nach Regensburg. Nr. 6: Jüdi-
sche Jugend Bayern. Nr. 7: Biermarke.

2      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
EDITOR I A L

Liebe Leserinnen, liebe Leser,                                                                                              Keine „Einigung“ gibt es leider im uner-
                                                                                                                            träglichen Antisemitismus-Streit um die
in diesen Septembertagen des alten jüdi-                                                                                    Kasseler Kunstausstellung Documenta. In
schen Jahres, noch vor Rosch Haschana                                                                                       dem Zusammenhang finde ich es uner-
und Jom Kippur, konnte ein ganz schwie-                                                                                     träglich, dass dort noch bis zum 25. Sep-
riges Problem, das Olympia-Attentat von                                                                                     tember dieser mörderische Hass auf Juden
1972 und der Umgang der deutschen Seite                                                                                     bei den „Tokyo Reels“ ungefiltert und affir-
mit den Familien der ermordeten israeli-                                                                                    mativ reproduziert wird. Die Macher las-
schen Sportler, endlich „befriedet“ wer-                                                                                    sen Propagandamaterial linker und paläs-
den. Die Tagespresse hat darüber, auch                                                                                      tinensischer Terrororganisationen unkom-
über die historischen Hintergründe, aus-                                                                                    mentiert in Dauerschleife laufen. Insofern
führlich berichtet.                                                                                                         sollte man nicht unbedingt glauben, dass
Wie genau es zu dem Attentat kommen                                                                                         man heute durchgehend viel weiter ist in
konnte, wird wohl nie ganz geklärt wer-                                                                                     der Beurteilung von Antisemitismus, zu-
den können. Dass die deutschen Behör-                                                                                       mal sich verantwortliche Kulturmanager
den in Sachen Transparenz ein weiteres                                                                                      und Politiker erlauben, Antisemitismus
unrühmliches Kapitel schrieben, gehört zur                                                                                  nach eigenen Interessen selbst zu definie-
Wahrheit dazu. Anstatt für Aufklärung zu                                                                                    ren.
sorgen, Dokumente und Archive freizu-                                                                                       Unsere heftige Kritik daran ist durch
geben, entschlossen sich die Verantwort-                                                                                    die Meinungsfreiheit gedeckt. Aber darf
lichen zu vertuschen und zu mauern.                                                                                         „Kunst“ alles? Geht die Freiheit der Kunst
Ich erinnere mich gut an den September                                                                                      auch so weit, dass Antisemitismus in der
1972. Eine meiner prägendsten Erinne-                                                                                       Kunst toleriert werden muss? Darüber
rungen ist dabei eine Begegnung bei Kaf-                                                                                    werden wir wohl noch reden müssen!
fee und Kuchen. In den ersten September-                       Terroristen als Geiseln genommen worden                      Nicht mehr unbedingt über die Docu-
tagen 1972 waren einige der israelischen                       waren. Der Versuch der Geiselbefreiung                       menta, denn sie ist mit dem Ablauf des
Sportler zu Besuch in meiner Heimatge-                         war misslungen.                                              alten jüdischen Jahres „Antisemitismus-
meinde in Würzburg gewesen. Ich saß als                        Die Schüsse und Explosionen waren bis                        Geschichte“.
18-Jähriger mit ihnen am Tisch und ge-                         weit in die Stadtmitte hörbar, wie mir                       Bleiben Sie gesund und achten Sie auf
noss den Kuchen und das olympische                             einer meiner Mitarbeiter, der aus Fürsten-                   sich, auf Ihre Familie und auf alle Men-
Fieber. Es hätte als wunderbare Begeg-                         feldbruck kommt, aus den Erzählungen                         schen in Ihrer Umgebung.
nung aus Jugendtagen so in Erinnerung                          seiner Verwandtschaft berichtete.                            Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und
bleiben können.                                                Ich habe mich sehr gefreut, dass die Fa-                     Leser, ein gutes und gesundes neues Jahr
Doch es kam anders. Nur wenige Tage                            milien der getöteten Sportler, und auch                      5783.
später schmeckte die Erinnerung an den                         der israelische Präsident Isaac Herzog,                                  SC H A N A T OWA
Kaffee und den Kuchen schal. Einige der                        trotz allem doch noch zu der Zeremonie                       Ihr
Menschen, die eben noch neben mir ge-                          Anfang September nach München und                                    Dr. Josef Schuster
sessen hatten, waren nun tot. Ermordet                         Fürstenfeldbruck gekommen waren. Die                                           Präsident
in Fürstenfeldbruck, nachdem sie zuvor                         Einigung mit ihnen war ein wichtiges                         des Zentralrats der Juden in Deutschland und
auf grausame Weise von palästinensischen                       Zeichen.                                                        des Landesverbandes der IKG in Bayern

  Rosch Haschana 5783                                          Dokumentation                                                IMPRESSUM
  Sukkot                                                       Margot Friedländer . . . . . . . . . . . . . . . 17          JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4                                                                                  authentisch bayerisch jüdisch
                                                               Nachrichten aus Frankreich                                   Redaktionsleitung: Benno Reicher,
  Jona prophezeite in Ninive                                                                                                Vorländerweg 25, 48151 Münster,
  Von Yizhak Ahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5       Jüdische Wurzeln                                             Telefon 0251-7475546
                                                               Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 20              www.bayerisch-jüdisch.de
  Grußworte zu Rosch Haschana . . . . 6
                                                                                                                            redaktion@berejournal.de
                                                               Bayern
  Kultur                                                                                                                    Wir erscheinen im April zu Pessach,
                                                               Gedenkkoffer Kleinsteinach . . . . . . . . 28                im September zu Rosch Haschana und
  Wiege der Demokratie                                                                                                      im Dezember zu Chanukka
  Von Renatus Schenkel . . . . . . . . . . . . . . 8           Am Echad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
                                                                                                                            In dieser Ausgabe mit Beiträgen von
  Grüß ich mein liebes Bayernland                              Nürnberg – Hadera . . . . . . . . . . . . . . . 29
                                                                                                                            Rabbiner Joel Berger, Yizhak Ahren, Angela
  Von Ellen Presser . . . . . . . . . . . . . . . . . 10       Spaenle: Ein bewegtes Jahr . . . . . . . . 29                Genger, Daniel Hoffmann, Regina Kon, Gaby
                                                               Juden in der Ukraine . . . . . . . . . . . . . . 30          Pagener-Neu, Ellen Presser, Benno Reicher,
  Unser Gastbeitrag
                                                                                                                            Carmen Reichert, Renatus Schenkel, Josef
  von Carmen Reichert . . . . . . . . . . . . . . 12
                                                               Aus den jüdischen Gemeinden                                  Schuster, Frank-Walter Steinmeier und
  Jüdische Akademie . . . . . . . . . . . . . . . 14           in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31   Priska Tschan-Wiegelmann
  Exil Istanbul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15                                                                Herausgeber: Landsverband Israelitischer
                                                               Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 40               Kultusgemeinden in Bayern
  Cem Özdemir erhält Leo-Baeck-Preis 16                                                                                     Gesamtherstellung: Druckerei Höhn,
  B. Honigmann ausgezeichnet . . . . . . . 16                  Russischer Beitrag . . . . . . . . . . . . . 47              Gottlieb-Daimler-Str. 14, 69514 Laudenbach

                                                                                                                                   Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022   3
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
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                                                              SUKKOT
                                                  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger

                                                  einem Balkon, einem Hinterhof oder im         Bachweidenzweig. Diese werden wäh-
                                                  Garten. In diesen Landesteilen ist das        rend aller Tage des Festes in einem feier-
                                                  Verweilen und Speisen in der Hütte eine       lichen Umzug mit mit Gesängen durch
                                                  sehr wetterabhängige Art des Begehens         die Synagoge getragen; dabei ertönt als
                                                  dieses Festes. Häufig hat man aber Glück,     Refrain wieder und wieder das hebräi-
                                                  dank der noch wärmenden Strahlen des          sche Wort, das seinen Weg sogar in die
                                                  Spätsommers.                                  Liturgie der Kirche fand: Hoscha na, O
                                                                                                hilf doch Herr, das viele als Hosianna
                                                  Die konkreten Gebote der Tora, die uns        kennen. Was, außer der Erinnerung an
                                                  befehlen, Hütten zu bauen, um dort zu         Erntedank, dieser Strauß genau zu be-
                                                  verweilen, und uns damit die Zeit der         deuten hat, darüber schweigt die Tora.
                                                  Wüstenwanderung zu vergegenwärtigen,
                                                  haben aber auch Mystiker, Ethiker und         Daher geizt die nachbiblische jüdische
                                                  Philosophen inspiriert. An einer Stelle las   Literatur nicht mit mannigfaltigen Erklä-
                                                  ich diese Erläuterung: Wenn der Land-         rungen und Deutungen. Dieser Strauß,
                                                  wirt im Herbst die Ernte des ganzen           meint der Midrasch, ist ein treffendes
                                                  Jahres einbringt, neigt er dazu zu sagen,     Symbol der Notwendigkeit für die Einheit
                                                  wie die Tora ihn zitiert: (5.B.M. 8:17):      des jüdischen Volkes. Der Strauß wird ge-
                                                  „Allein meine Kraft und die meiner Hän-       nauestens analysiert: der Etrog, die Zitrus-
            Rabbiner Joel Berger                  de haben zu diesem Erfolg geführt.“           frucht, besitzt sowohl einen guten Ge-
                                                  Wenn du so stolz bist, meint die Tora,        schmack, als auch einen guten Duft. Die
Zwei Wochen nach Rosch Haschana, un-              dann verlasse gerade an diesem Tag dein       Frucht der Dattelpalme ist wohl ge-
serem Neujahrsfest, und wenige Tage               Haus, verlasse den bequemen, gemüt-           schmackvoll, besitzt jedoch keinen Duft.
nach Jom Kippur, dem Versöhnungstag,              lichen Hof und tausche deine feste Woh-       Die Myrte dagegen duftet, schmeckt aber
begehen wir Sukkot, das Laubhüttenfest.           nung gegen eine provisorische aus, die        nach nichts. Und zum Schluss haben wir
Die Heilige Schrift nennt es auf Hebräisch        dem Wind und den Launen des Wetters           noch die Bachweide, die weder Duft noch
Chag, das Fest. Diese Auszeichnung trifft         ausgesetzt ist. Denke daran, dass unser       Geschmack aufweist.
das dritte der biblischen Wallfahrtsfeste         ganzes Leben wie diese Hütte ist: Nur ein
zu Recht. Es ist reich an farbigen Zeremo-        Provisorium. Heute blüht es, um morgen        Wie die vier Pflanzen in einem Bündel auf
nien und malerischen Symbolen. Außer-             zu verwelken.                                 Geheiß der Tora der Lobpreisung Gottes
dem fällt es in die Erntezeit und liegt so-                                                     dienen, nämlich die Geschmackvollen,
mit nach der Vollendung der mühsamen              Der einzige wertvolle Besitz ist, setzt der   die Duftenden und auch die, welche diese
Arbeit der Landwirte des Heiligen Lan-            Moralist fort, das Erfüllen der Gebote des    Eigenschaften nicht besitzen, so sollen
des. Die Quelle der Freude dieses Festes          Herrn und das Durchdringen deiner Per-        die Israeliten gemeinsam dem Herrn die-
ist vergleichbar mit den vielen Winzer-           sönlichkeit mit geistigen Werten. Kaum        nen. Damit aber nicht genug der Erklä-
festen in unserer Gegend. Weinlese zu             anders dachte darüber der moderne jüdi-       rungen: Man weist darauf hin, dass drei
feiern bedeutet Freude und Dankbarkeit            sche Philosoph Emmanuel Levinas: „Der         Pflanzen des Straußes im Heiligen Lande
zugleich. Daher verkündete die Tora               Mensch beginnt in der Wüste, wo er in         zu Hause sind: Etrog, Lulaw und die
wessamachta bechagecha, freue Dich an             Zelten wohnt und wo er Gott in einem          Myrte. Die Bachweide dagegen ist in der
Deinem Fest. (5.B.M. 16:14)                       Tempel anbetet, den man von Ort zu Ort        ganzen Welt verbreitet, wie die Juden in
                                                  versetzen kann. Solche Existenz ist frei      der Diaspora. Der Strauß erinnert also
Im Mittelpunkt der Gedankenwelt dieses            von der Gebundenheit an Landschaften          auch an die Liebe der Israeliten zur bib-
biblischen Pilgerfestes steht ursprünglich        und Bauwerke und all den schweren und         lischen Heimat.
die Natur des Heiligen Landes. Wir wer-           gefestigten Dingen, die uns so leicht dazu
den in unserem urbanisierten Dasein an            verführen, sie dem Menschen überzuord-        Vor dem Ende der Sukkot-Feiertage
die nomadische Existenz der Ahnen wäh-            nen. Solcher Form der Existenz erinnert       schwenkt die ausgelassen-fröhliche Stim-
rend ihrer Wüstenwanderung erinnert.              sich das Judentum immerfort, während          mung des Laubhütten-Festes vorüberge-
Diese Erinnerung verbindet unsere Gene-           seiner ganzen Geschichte. Das Fest der        hend um. Der siebente Tag wird Hoscha-
rationen über die Zeiten hinweg. Wenn             Hütten ist die liturgische Form dieser Er-    na Rabba genannt. Darunter verstehen
wir am Pessachabend, anlässlich des Fes-          innerung.“                                    wir noch eine letzte Ehrerweisung gegen-
tes der Befreiung aus der Sklaverei Ägyp-                                                       über der Einkehr des Jom-Kippur-Tages.
tens erklären: „Ein jeder von uns ist ver-        Das mit besonders reichen Traditionen         Der Grund liegt im mystisch-kabbalisti-
pflichtet sich zu betrachten, als wäre er         ausgestattete Sukkot-Fest besitzt noch        schen Glauben.
selbst aus Ägypten, aus der Gefangen-             weitere Symbole: nämlich den aus vier
schaft gezogen ...“, ja, dann ist die Wüs-        Pflanzen und Früchten bestehenden Fest-       Das göttliche Urteil ist über unsere Taten
tenwanderung auch ein gemeinsames                 strauß (3. B. M. 23; 40 ff). Da finden wir    und Handlungen am Rosch Haschana ge-
Volkserlebnis – durch alle Zeiten hin-            sehr unterschiedliche „vier Arten“. Eine      schrieben und am Jom Kippur besiegelt
durch. Daher bauen wir bis heute am               Zitrusfrucht, auch Paradiesapfel genannt,     worden. Jedoch der Vollzug könnte nach
Sukkot immer wieder unsere Laubhütten             den Etrog, einen Dattelpalmzweig, den         Meinung unserer Mystiker erst jetzt be-
auf – sogar inmitten der Großstädte, auf          Lulaw, ferner den Myrtenzweig und einen       ginnen. Diese Vorstellung hat Hoschana

4      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Rabba in die Reihe der Tage gehoben, an       letzte Möglichkeit, unsere unredlichen         Zweigen abfallen, der Herr unsere Sün-
denen wir erneut um Vergebung unserer         Handlungen zu bereuen. Vielerorts wird         den vertilgen möge.
Verfehlungen bitten. Am Hoschana Rab-         am Vorabend von Hoschana Rabba eine
ba geschieht die Vollendung der Sühne.        Wachnacht gehalten, während man das            Die Religionshistoriker vergleichen und
Es zeigt sich vor allem in der Liturgie des   fünfte Mosebuch liest und studiert.            erläutern diese Sitte mit der Lustration,
Tages, die eine ernste wehmütige Stim-                                                       die in der römischen Religion die Be-
mung verbreitet. Der Vorbeter steht vor       Eine Sitte dieses Tages kann man beim          zeichnung der feierlichen Reinigungen
seinem Pult in der gleichen Totentracht,      Morgengottesdienst beobachten. Bereits         und Sühnungen war und einen wichtigen
auch Kittel oder Sargenes genannt, wie        der Talmud erwähnt, dass man am Ende           Teil des römischen Kultus ausmachten.
am Rosch Haschana oder am Jom Kip-            des Gebetes ein Bündel Bachweiden-
pur. Die Melodien der Gebete gleichen         zweige nimmt und es auf den Boden              Es scheint mir, dass wir Menschen öfters
denen der vergangenen Hohen Feiertage.        schlägt. Vielleicht soll diese Handlung        abstrakte, spirituelle Inhalte in konkre-
Die Hoffnung auf Vergebung durch Um-          nach der mystischen Vorstellung andeu-         tere Handlungen umwandeln, um sie vor
kehr verkündet der Tag und gibt uns eine      ten, dass, ebenso wie die Blätter von den      der Gemeinschaft sichtbarer zu machen.

                                         Jona prophezeite in Ninive
                                   Eine Betrachtung zu Jom Kippur von Yizhak Ahren

Schon im Babylonischen Talmud (Megilla        soll uns vielmehr die naheliegende Frage,      Ewige: Dir ist es leid um den Wunder-
31a) ist vermerkt, dass im Mincha-Gebet       warum Jona, statt wie ihm befohlen in          baum, um den du keine Mühe hattest und
von Jom Kippur das Buch Jona nach der         Richtung Osten zu gehen, den Weg in den        den du nicht großgezogen hast, der über
Toralesung als Haftara vorgetragen wird.      Westen einschlug.                              Nacht ward und über Nacht verging. Und
Das Thema der Umkehr zu Gottes Wegen                                                         mir, mir sollte es nicht leid sein um Ninive,
(hebr. Teschuwa) spielt in diesem kleinen     Den Grund, warum Jona Gottes Wort              die große Stadt, darin mehr als zwölfmal
Buch mit insgesamt nur 48 Versen eine         nicht in Ninive verkünden wollte, können       zehntausend Menschen sind, die nicht zwi-
zentrale Rolle, und daher passt diese         wir zunächst nicht einmal ahnen. Erst          schen rechts und links zu scheiden wissen,
Haftara sehr gut zum letzten der zehn         nachdem er, im Bauch eines Fisches ge-         und viel Vieh?“ (4, 10 und 11).
Tage der Teschuwa.                            fangen, seine negative Einstellung zum
                                              göttlichen Auftrag änderte, doch noch          Eine ganz andere Deutung der Erklärung
In seinem deutschsprachigen Buch „Ja-         nach Ninive ging und dort sehr erfolg-         des Propheten Jona für seine Flucht in
mim Noraim“ machte Rabbiner B. S. Ja-         reich prophezeite („Noch vierzig Tage,         Richtung Tarschisch besagt, dass er gera-
cobson eine interessante Bemerkung:           dann ist Ninive zerstört“, Kap. 3,4), erfah-   de den Erfolg seiner Mission befürchtete:
„Die Absicht der Weisen, gerade diesen        ren wir, was ihn ursprünglich zur Flucht       die Assyrer werden Teschuwa tun, und
Abschnitt zu wählen, mag auch darin be-       bewegt hatte: „Und er betete zum Ewigen        Gott werde deshalb Ninive nicht zerstören
gründet sein: Das jüdische Volk soll vor      und sprach: Bitte, o Ewiger, war das nicht     – ihn aber werde man dann als einen Lüg-
nationalem Hochmut geschützt werden.          meine Rede, solange ich noch auf meinem        ner ansehen und verfolgen! Über diese
Die Umkehr eines fremden Volkes zu Gott       Boden war? Deswegen kam ich ja zuvor,          Rechtfertigung der Flucht schreibt Men-
wird uns daher gekündet.“ Mendel Hirsch       nach Tarschisch zu flüchten, weil ich wuss-    del Hirsch in seinem Buch über die zwölf
sah in der Tatsache, dass es götzendienen-    te, dass du ein gnädiger und barmherziger      Propheten: „Der wahre Gottesprophet
de Heiden sind, deren Besserung uns am        Gott bist, langmütig und liebreich und dich    darf allerdings keinen Augenblick anste-
Jom Kippur als Vorbild für die eigene         bedenkend wegen des Unheils“ (4,2).            hen, zum Heile der Menschenbrüder im
Besserung vorgeführt wird, einen Beweis                                                      Auftrage Gottes jedes Martyrium auf sich
für die „wahrhaft freie Universalität des     In diesem Gebet hat der Prophet zwar           zu nehmen, er darf auch vor dem Opfer
Judentums“.                                   seine Überlegungen mitgeteilt, aber wir        seiner Ehre nicht zurückschrecken. Die
                                              verstehen sein Motiv immer noch nicht:         Höhe hatte Jona noch nicht erreicht.“
Bedenkenswert ist aber nicht nur, was in      Wie hängt die Tatsache, dass der Ewige
Ninive, der Hauptstadt des damals mäch-       gnädig, barmherzig, langmütig und zur          Gabriel H. Cohn hat in einem lesenswer-
tigen assyrischen Reiches, passiert ist,      Änderung seines Sinnes bereit ist, mit sei-    ten Aufsatz mit dem Titel „Die vergebliche
sondern ebenfalls, wie es zur außerge-        ner Weigerung, den Auftrag zu erfüllen         Flucht vor dem Selbst“ (Jüdische Rund-
wöhnlichen Teschuwa der unmoralischen         und nach Ninive zu gehen, zusammen? In         schau Maccabi, 9. Oktober 1997) die The-
Götzendiener kam. Einen israelitischen        Kommentaren zum Buch Jona findet man           se vertreten, dass das Buch Jona zwar von
Propheten, Jona Ben Amittai, forderte         verschiedene Erklärungen für den Gedan-        einem biblischen Propheten spricht, aber
Gott auf: „Auf, gehe nach Ninive, der gro-    kengang des Propheten.                         eigentlich jeden von uns meint: „Jeder
ßen Stadt, und rufe aus über sie, dass ihr                                                   von uns steht in gewissen Lebensphasen
Frevel emporgestiegen ist vor meinem          Einige Interpreten erklären, Jona sei der      vor den existentiellen Problemen des
Angesicht“ (1,2).                             Ansicht gewesen, dass Übeltäter unbe-          Jona, und das Buch will uns lehren, wie
                                              dingt eine angemessene Strafe bekom-           wir diese Lebensaufgabe lösen sollen.“
Wie reagierte der angesprochene Pro-          men müssen. Es störte ihn mächtig, dass        Jom Kippur ist ein von der Tora bestimm-
phet? Ohne Gott zu antworten, ergriff er      Gott nach erfolgter Teschuwa die wohl-         ter Tag, an dem wir Juden fastend und be-
sofort die Flucht: „Da machte sich Jona       verdiente Bestrafung aussetzt. Am Bei-         tend unseren Lebensweg neu überden-
auf, um vor dem Ewigen nach Tarschisch        spiel eines Wunderbaums musste Gott            ken. Ebenso wie Jona kann jeder Mensch
zu flüchten“ (1,3). Die Stationen seiner      Jona deutlich machen, dass neben Ge-           Irrwege verlassen, eine neue Richtung
vergeblichen Flucht wollen wir an dieser      rechtigkeit auch Mitleid und Milde von         einschlagen und dann den für ihn richti-
Stelle nicht nachzeichnen. Beschäftigen       großer Bedeutung sind: „Da sprach der          gen Weg gehen.

                                                                                                    Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022   5
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
G R U S S W O R T E Z U R O S C H H A S C H A N A 57 8 3

                    Zum Neujahrsfest geht         Mitte unserer Gesellschaft. Ihre Gemein-      und humanistischen Traditionen unseres
                    ein herzlicher Gruß an        den leisten einen unverzichtbaren Beitrag     Landes, aber auch die besondere Verant-
                    die Juden in Bayern           zum religiösen und kulturellen Leben          wortung angesichts unserer Geschichte.
                    und in aller Welt!            Bayerns. Umso erschreckender ist, dass        Wir werden alles dafür tun, dass sich die
                    Es ist ein Fest der in-       der Antisemitismus, in unterschiedlichen      Juden auch künftig in Bayern frei, geach-
                    neren Einkehr und Be-         Formen und aus verschiedensten Quellen        tet und sicher fühlen!
                    sinnung, um sich für          gespeist, immer weiter um sich greift. Die-
                    die Herausforderun-           ser Entwicklung entschlossen entgegen-
                    gen des kommenden             zutreten, ist Aufgabe und Verpflichtung
                    Jahres zu stärken und         aller gesellschaftlichen Gruppen. Die
festen Halt im Glauben zu finden. Es soll         Bayerische Staatsregierung nimmt diese
aber auch Gesundheit, persönliches Glück          Pflicht sehr ernst, schützt die Juden und
und viel Erfolg bringen.                          steht unmissverständlich für Toleranz
Die jüdischen Bürgerinnen und Bürger              und Achtung der Menschenwürde. Dazu           Dr. Markus Söder
haben einen unverrückbaren Platz in der           verpflichten die christlichen, jüdischen      Bayerischer Ministerpräsident

                    Der jüdische Jahres-          Herausforderungen nicht kleiner. Mir per-     cumenta 15“ zunächst ungehindert aus-
                    wechsel fällt in eine         sönlich macht der Zusammenhalt Mut,           toben durften. Und auch muslimischer
                    herausfordernde Zeit.         den ich erlebe. Diejenigen, die Hass und      Antisemitismus darf nicht als Folklore
                    Der Angriffskrieg auf         Spaltung vorantreiben – oft antisemitisch     verharmlost, sondern muss vielmehr kom-
                    die Ukraine hat die           motiviert oder konnotiert – treffen auf       promisslos geächtet werden. Antisemitis-
                    Nachkriegszeit in Eu-         eine couragierte Zivilgesellschaft, die un-   mus muss in all seinen Formen benannt
                    ropa beendet. Auch in         sere freiheitlich-demokratischen Werte        und bekämpft werden. Nur dann können
                    der großen ukraini-           verteidigt.                                   jüdische Menschen sicher und geborgen
                    schen jüdischen Ge-           Die jüdische Religion, die Traditionen        leben.
                    meinschaft, in der es         und Bräuche sind fester Bestandteil unse-     In der Hoffnung auf bessere und un-
noch viele Schoa-Überlebende gibt, ha-            rer Heimat. Mit diesem Rosch Haschana         beschwertere Zeiten, wünsche ich allen
ben viele ihre Heimat verloren. Nicht             verbinde ich auch die Hoffnung, dass die      jüdischen Bürgerinnen und Bürgern:
wenige sind nach Bayern gekommen, ha-             Jubiläumsfeierlichkeiten der letzten ein-     Schana tova – ein glückliches und süßes
ben in den jüdischen Gemeinden Schutz             einhalb Jahre nachhaltig wirken. Dazu         neues Jahr!
gefunden. Die enorme Hilfsbereitschaft            gehört, dass antijüdische Ressentiments,
zeugt von großer Menschlichkeit. Mein             wie sie rechts und links und in der Mitte
Dank gilt allen, die sich in dieser schreck-      unserer Gesellschaft wahrnehmbar sind,
lichen Zeit so großartig engagieren!              auf harten Widerspruch treffen – wo und
Vor dem Hintergrund des Krieges, der              wann immer sie getätigt werden! Auch
Pandemie, der Energieknappheit und der            im vermeintlich intellektuellen, künst-       Ilse Aigner MdL, Präsidentin
Inflation werden die gesellschaftlichen           lerischen Milieu, wo sie sich bei der „do-    des Bayerischen Landtags

                    Das letzte Jahr stand         dabei auch an die Israelitische Kultus-       schrecken, sondern auch schon dann,
                    bei uns im Zeichen            gemeinde München und Oberbayern, die          wenn wir judenfeindliche Übergriffe
                    der Feierlichkeiten zu        sich ebenfalls intensiv um die aus der        auch unterhalb der Schwelle zur Straf-
                    „1700 Jahre jüdisches         Ukraine geflüchteten Jüdinnen und Ju-         barkeit wahrnehmen. Da müssen wir
                    Leben in Deutsch-             den kümmert und ihnen hier ein Zuhause        ganz besonders sensibel sein, aufmerk-
                    land“. Mit einer Fülle        gibt.                                         sam bleiben und sofort dazwischenge-
                    von Festen und Veran-                                                       hen, wenn krude Theorien geäußert oder
                    staltungen haben wir          Gleichzeitig sehen wir uns konfrontiert       billige Klischees verbreitet werden.
                    dabei den Reichtum            mit einer abscheulichen russischen Kriegs-
                    jüdischen Lebens und          propaganda, die auch vor übelsten Nazi-       Mit diesem Versprechen wünsche ich allen
jüdischer Kultur in unserem Land ge-              Vergleichen und antisemitischer Hetze         Jüdinnen und Juden in München und da-
feiert. Mit dem brutalen russischen An-           nicht haltmacht. Aber auch bei uns sind       rüber hinaus zum Neujahrsfest Rosch Ha-
griffskrieg gegen die Ukraine sehen wir           geschichtsverfälschende und judenfeind-       schana ein gutes, glückliches, friedliches
uns jetzt aber auch ganz neuen Heraus-            liche Einstellungen auf dem Vormarsch         und Frieden bringendes Jahr 5783!
forderungen gegenüber. So suchen viele            und antisemitische Straftaten in Deutsch-
Kriegsgeflüchtete bei uns Schutz, darun-          land haben einen neuen Höchststand er-
ter auch Jüdinnen und Juden. Mit der er-          reicht. Auch in München kommt es leider
leichterten Aufnahme jüdischer Geflüch-           immer wieder zu entsprechenden Delik-
teter hat die Bundesregierung hier bereits        ten. Und genau deshalb müssen und wer-
ein klares Zeichen gesetzt. Genauso wie           den wir den Kampf gegen Antisemitismus
die jüdischen Gemeinden in Deutschland,           konsequent weiterführen. Dabei gilt es,
die viele Geflüchtete selbst versorgen und        nicht nur dann aktiv zu werden, wenn          Dieter Reiter, Oberbürgermeister
betreuen. Mein ausdrücklicher Dank geht           uns entsprechende Gewaltexzesse auf-          der Landeshauptstadt München

6      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Liebe jüdische            unzählige Tote, Verstümmelte, Trauma-         und zeigen wir gemeinsam durch unsere
                   Schwestern und            tisierte, zerstörte Städte und Landstriche,   Solidarität, dass wir Menschen sind und
                   Brüder,                   stehen wir plötzlich vor ungeahnten glo-      Verantwortung füreinander überneh-
                                             balen Herausforderungen und Krisen.           men.
                   wieder geht für Sie ein
                   Jahr zu Ende und ein      Auch viele Tausende Jüdinnen und Juden        Ich wünsche Ihnen und allen Jüdinnen
                   neues beginnt. Der Jah-   in der Ukraine mussten flüchten und           und Juden weltweit Frieden, Hoffnung,
                   reswechsel nach dem       haben ihre Heimat verloren. Die jüdi-         Gottes Segen für das neue Jahr – Schana
                   jüdischen Kalender        schen Gemeinden hierzulande zeigen eine       tova!
                   steht diesmal ganz un-    große Solidarität und Hilfsbereitschaft,
ter dem Eindruck des furchtbaren und         die Flüchtlinge aufzunehmen und den           Ihr
völkerrechtswidrigen Angriffskrieges ge-     Menschen in der Ukraine mit Hilfsgütern
gen die Ukraine. Krieg mitten in Europa –    und Geld zu helfen. Diese Hilfe geschieht
wer von uns hätte das vor einem Jahr         ohne Ansehen der Person, es geht um Mit-
gedacht? Wie sehnten wir uns nach den        menschlichkeit, die im Anderen, im Lei-
Jahren der Pandemie nach etwas mehr          denden Gottes Ebenbild erkennt.
Normalität, nach mehr Lockerheit und                                                       Reinhard Kardinal Marx
Zuversicht? Und nun haben wir wieder         Beten wir alle um den Frieden in der          Erzbischof von München und
Millionen von Flüchtlingen in Europa,        Ukraine, in der Welt, in unseren Herzen       Freising

                   Ein gutes und geseg-      Wir können nicht wissen, wohin uns die        die eine schmerzende Lücke hinterlassen
                   netes neues Jahr wün-     angespannte weltpolitische Lage und           haben.
                   sche ich Ihnen im Na-     diese Pandemie noch führen wird. Wir          Die Schwelle zum neuen Jahr lädt ein zur
                   men der Evangelisch-      können aber in unseren Religionsgemein-       Besinnung und zum Rückblick. Mich be-
                   Lutherischen Kirche       schaften Solidarität und Hilfe üben. Wir      eindruckt die Haltung von ernster inne-
                   in Bayern und auch        werden weiter Kraft brauchen, auf Anti-       rer Sammlung, die die ersten Schritte im
                   persönlich zu Rosch       semitismus hinzuweisen, wo er nicht er-       neuen Jahr vom Klang des Schofars bis
                   Haschana und den          kannt werden will. Die Documenta-De-          zum Versöhnungstag hin prägt. Wir alle
                   Hohen Feiertagen.         batte ist nur ein Beispiel dafür, dass es     leben vom Erbarmen dessen, von dem der
                                             ständig Aufmerksamkeit und Klarheit           Prophet Micha sagt: „Er wird sich unser
Im vergangenen Juni feierten wir das         braucht. Es ist Aufgabe aller, darauf hin-    wieder erbarmen.“ Dass Sie die Freude
Finale des Festjahrs „1700 Jahre jüdisches   zuwirken, dass antisemitische Bildspra-       darüber erfahren, das wünsche ich Ihnen
Leben in Deutschland“. Mir wird die wun-     che und Gedanken keinen Raum haben            von Herzen. Im Vertrauen auf IHN wün-
derbare Stimmung des Sommerfests auf         dürfen. Und nicht zuletzt wird auch das       sche Ihnen ein glückliches, erfülltes, ja
dem Jakobsplatz mit den fröhlichen Ge-       neue Jahr unsere Gedanken zurückfüh-          ein süßes neues Jahr.
sichtern, der heiteren Musik und mit sei-    ren an die traumatischen Ereignisse in
                                                                                                  SHANA TOVA UMETUKA
ner ganzen Leichtigkeit in Erinnerung        unserer Stadt vor 50 Jahren. Das laufende
bleiben. Es ist so wichtig, das Leben zu     Gedenkjahr „Zwölf Monate – Zwölf Na-          Christian Kopp
feiern mit Freundinnen und Nachbarn, ge-     men. 50 Jahre Olympia-Attentat Mün-           Regionalbischof für München und
nau wie an diesem Tag. Denn es gibt uns      chen“ stellt Persönlichkeiten in ihrer gan-   Oberbayern der Evangelisch-Luthe-
Kraft auch das Schwere zu tragen.            zen Lebendigkeit in die Mitte. Menschen,      rischen Kirche in Bayern

                   Sehr geehrte Damen        Arbeit geleistet und den Menschen Trost       ler bei den Olympischen Spielen 1972 in
                   und Herren,               und Wärme gegeben. Das Signal, dass Sie       München von palästinensischen Terroris-
                                             damit in die Welt senden, reicht weit über    ten ermordet wurden. Unser besonderes
                    ein neues Jahr steht     humanitäre Hilfe hinaus und zeigt Ihre        Gedenken gilt den Sportlern und allen
                    bevor! Da ist es Zeit,   Hingabe zu der Idee von Tikun Olam.           Terroropfern in Israel.
                    für einen kurzen Mo-
                    ment zurückzublicken:    Passend dazu konnten wir uns im vergan-       Die kommenden Monate werden heraus-
                    Während Corona mo-       genen Jahr über „1700 Jahre jüdischen         fordernde Momente, aber auch so man-
                    natelang unseren All-    Lebens in Deutschland“ freuen. Ein hohes      che ermutigende Begegnung mit sich
                    tag prägte, wurde das    Jubiläum und Zeugnis der vielseitigen         bringen. Ich wünsche Ihnen deshalb ein
 Virus über Nacht in den Schatten gestellt   Geschichte des deutschen Judentums.           erfolgreiches Jahr 5783. Auf dass Sie zu-
und von dem Krieg in der Ukraine über-       Nachdem die lange Tradition durch Holo-       sammen mit Ihren Liebsten viele glück-
schattet. Seither haben zahlreiche ukrai-    caust und Krieg ein plötzliches Ende fand,    liche Tage erleben.
nische Flüchtlinge ihr Land verlassen;       hat der Neuanfang nach 1945 Früchte
vielen Menschen haben wir in Israel eine     getragen: Heute steht im Herzen von           Schana tova!
sichere Heimat geschenkt. Wiederum           München das israelische Generalkonsu-
sind ukrainische Juden nach Deutschland      lat, dessen zehnjähriges Jubiläum wir im
geflohen.                                    letzten Jahr begehen durften. Doch in all
                                             den Jahren des Wachstums israelisch-          Carmela Shamir
Sie, verehrte Damen und Herren, haben        deutscher Beziehungen gab es einen tra-       Generalkonsulin des Staates Israel
dafür in Ihren Gemeinden großartige          gischen Einschnitt, als elf unserer Sport-    für Süddeutschland

                                                                                                  Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022   7
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
K U LT U R

                                                  Wiege der Demokratie
                                                         Von Renatus Schenkel

OFFENBURG. Der Gasthof „Salmen“ im                In zwei Räumen des Salmen wird mit           toriker Wolfgang Mommsen schildert das
badischen Offenburg ist einer der zentra-         Dokumenten und Ausstellungsstücken           eindrucksvoll in seiner Studie „1848. Die
len Orte in der Geschichte der deutschen          neben der Entwicklung der Demokratie-        ungewollte Revolution“.
Demokratie. Dort wurden erstmals im               geschichte auch die Geschichte der Jüdi-     Doch es blieb nicht nur bei Forderungen
deutschen Sprachraum von deutschen                schen Gemeinde Offenburgs dargestellt.       in Offenburg. Badische Bürger setzten
Revolutionären wie Friedrich Hecker und           Unter der Woche dient der Salmen als         zum Beispiel die Forderung in Artikel 7
Gustav Struve zentrale Forderungen zur            Tagungsstätte und ist auch beziehungs-       nach „Volksbewaffnung“ direkt in die Tat
Einführung einer Demokratie aufgestellt.          reich Tagungsort des Offenburger Stadt-      um. Mit Volksmilizen, einem Ranzen auf
Sie wurden ein Jahr später von der Frank-         rats.                                        dem Rücken und einem Gewehr über der
furter Paulskirche übernommen und ha-             Versammlungs- und Gewissensfreiheit,         Schulter marschierten sie von Konstanz
ben Eingang ins deutsche Grundgesetz              Meinungs- und Pressefreiheit, Bildung für    über Offenburg bis zum Herrschaftssitz
gefunden. Lange Zeit diente der Versamm-          alle, Steuergerechtigkeit und Volksbe-       des badischen Adels der „Durlacher“ in
lungssaal des Salmen auch der Jüdischen           waffnung, aber auch völlige Gleichbe-        der badischen Residenzstadt Karlsruhe.
Gemeinde in Offenburg als Synagoge.               rechtigung der Juden, das waren die          Sie vertrieben sie aus dem Karlsruher
Im großen Wirtssaal des Salmen tagte              „Forderungen des Volkes“, die badische       Schloss und riefen die Republik aus. Das
1847 die berühmte „Offenburger Versamm-           Revolutionäre wie Friedrich Hecker und       blieb leider die einzige erfolgreiche demo-
lung“. Er erlebte bis heute eine wechsel-         Gustav Struve in der Offenburger Ver-        kratische Revolution im deutschen Sprach-
volle Geschichte, denn in der Reichspo-           sammlung verabschiedet und mit der           raum.
gromnacht vom 9. November 1938 wurde              badischen Bevölkerung in die Tat umge-       Der Ausstellungsteil über die jüdische
die Synagoge wie viele andere jüdische            setzt haben. Ein erhaltenes Original ihrer   Gemeinde zeigt eindringlich, wie die
Einrichtungen und Geschäfte in Offen-             dreizehn Forderungen bildet die ein-         integrierten Juden in der Ortenau wäh-
burg geplündert und zerstört.                     drucksvolle Mitte eines der Ausstellungs-    rend der Naziherrschaft von 1933 bis
Am 9. Juni wurde der restaurierte Sal-            räume. Die „Forderungen des Volkes“ von      1945 Schritt für Schritt in die Illegalität
men als repräsentative Ausstellungsstätte         Offenburg gelten „als der erste öffentlich   gedrängt und ihrer Lebensgrundlagen
wiedereröffnet. Unter den Ehrengästen             verkündete Grund- und Menschenrechts-        beraubt wurden. Die heute 91-jährige Eva
war auch Dr. Josef Schuster, Präsident            katalog in der deutschen Geschichte“, so     Mendelssohn etwa entkam mit ihrer jün-
des Zentralrats der Juden in Deutschland.         die Landeszentrale für Politische Bildung    geren Schwester Myriam während der
In seiner Rede würdigte er den Kampf              in Baden-Württemberg.                        Deportation nur durch glückliche Um-
von Friedrich Hecker und weiteren Re-             Die Forderungen der Offenburger Ver-         stände und ist jetzt die letzte Überleben-
volutionären für Gleichheit, Freiheit und         sammlung waren auch die direkte Vor-         de der Shoa aus Offenburg. Als bedeu-
andere Grundrechte wie Religionsfreiheit.         lage für eine weitere Fassung, die im Jahr   tendster Gast nahm die 91-jährige in
Gerade angesichts des 1938 an diesem              darauf, 1848, in der Frankfurter Pauls-      Begleitung ihres Sohnes David, seiner
Ort geschehenen Unrechts mahnte er, ak-           kirche als Manifest zur bürgerlichen Re-     Ehefrau Dalia sowie ihrem Enkel Otto
tuellem Judenhass entschieden entgegen-           volution in Deutschland verabschiedet        Mendelssohn an der Eröffnung des Sal-
zutreten. Er wünsche der Stadt Offen-             wurde. Allerdings scheiterte auch die Be-    men teil und erhielt später für ihr lang-
burg, „dass möglichst viele Menschen die-         wegung der Paulskirche kurze Zeit später     jähriges Engagement als Zeitzeugin das
sen Ort besuchen, über seine Geschichte           an restaurativ-monarchistischen Kräften.     Bundesverdienstkreuz am Bande.
lernen – auch über den jüdischen Teil.“           Der renommierte, 2004 verstorbene His-       Es werden auch Täter gezeigt, ‚ganz nor-
                                                                                               male‘ Männer, keineswegs alles fanati-
                                                                                               sche Nazis, wie aus ihren Lebensumstän-
                                                                                               den ersichtlich ist. Die entscheidenden
                                                                                               hochrangigen Verbrecher der Offenbur-
                                                                                               ger Gestapo, SS und SA, die auch die
                                                                                               Deportation und Verhöhnung der jüdi-
                                                                                               schen Offenburger organisierten, werden
                                                                                               aus Tabugründen ausgespart. Denn der
                                                                                               damalige SA-Chef von Offenburg zum
                                                                                               Beispiel hat es doch nach dem Krieg tat-
                                                                                               sächlich noch zum Amt des Bürgermeis-
                                                                                               ters gebracht. Und ein nach dem Krieg
                                                                                               wieder arbeitender Gymnasiallehrer wur-
                                                                                               de als harmloser Mitläufer eingestuft,
                                                                                               obwohl er in Offenburg während der
                                                                                               Nazizeit die „Brand“-Rede zur Bücherver-
                                                                                               brennung gehalten hatte.
                                                                                               Eine sehr gute Idee ist in beiden Haupt-
                                                                                               räumen verwirklicht. Kleine Kärtchen mit
                                                                                               der Überschrift „Denkzettel“ in je einem
                                                                                               Regal können mitgenommen werden. Auf
Der „Salmen“ in Offenburg.                                           Fotos: Renatus Schenkel   ihrer Vorderseite sind dort in Frageform

8      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
die gängigsten Urteile und Vorurteile zu       Sicht das wichtigste Gebäude in unserer      der Gegenwart. Denn wir alle müssen
den ausgestellten Themenkomplexen an-          Stadt. Er ist auf den ersten Blick relativ   Verantwortung übernehmen.“
gesprochen, auf der Rückseite wird eine        unscheinbar, aber er erzählt aus der Ge-     Dieser kritische Umgang zeigt sich auch
fachkundige Antwort gegeben.                   schichte der europäischen Demokratie-        im Ausstellungsteil zur jüdischen Ge-
                                               bewegung. Er erzählt auch davon, dass        schichte der Stadt. Die Ausstellungsstätte
Carmen Lötsch sieht als verantwortliche        die jüdische Bevölkerung Teil der Gesell-    ist jetzt ebenso wie die bekannte Offen-
Fachbereichsleiterin Kultur der Stadt Of-      schaft war und dass sie nach 1933 sys-       burger Mikwe (siehe dazu auch JÜDI-
fenburg die Gedenkstätte Salmen als ein        tematisch diskriminiert, verfolgt und er-    SCHES LEBEN IN BAYERN vom 25. 9.
deutliches Signal für den bewussten und        mordet wurde. Uns ist es wichtig, dass die   2019) zu einem kulturellen Hauptan-
offenen Umgang ihrer Heimatstadt mit           Besucher anknüpfen können an eigene          ziehungspunkt für auswärtige Besucher
dem schweren Erbe ihrer Geschichte.            Erfahrungswelten, an die eigene Fami-        geworden. Eine Broschüre ist in Vorberei-
„Der Salmen in Offenburg ist aus meiner        liengeschichte wie auch an Ereignisse in     tung. www.der-salmen.de.

                        Grußwort des Zentralratspräsidenten Dr. Josef Schuster
                       anlässlich der Wiedereröffnung des „Salmen“ in Offenburg
Ich komme viel herum in Deutschland.           ses Landes, für die das nur in einge-        gionsfreiheit. Und das im demokratischen
Aber selten komme ich an Orte wie die-         schränktem Maße gilt. Denn die Freiheit,     Deutschland des Jahres 2022.
sen, die im Laufe der Geschichte so viele      seinen Glauben frei leben zu können, ist     Damit Sie mich nicht falsch verstehen:
Verwendungen und Transformationen er-          zwar auf dem Papier garantiert. Das          Ich übe hier keine Kritik an den staat-
fahren haben wie der Salmen hier. Ein          Grundgesetz ist eindeutig, das Bundes-       lichen Institutionen. Aber ich frage mich,
Gasthaus. Ein Tanzsaal. Ein Ort, an dem        verfassungsgericht in seiner Auslegung       ob sich die Gesamtgesellschaft bewusst
die Demokratie in Deutschland ihre ers-        auch. Aber das allein reicht nicht.          ist, dass der Antisemitismus, der offen ge-
ten Atemzüge tat. Ein jüdisches Gottes-        Frei ist man bekanntlich nur dann, wenn      zeigte Judenhass, eine echte, eine spür-
haus, später von den Nationalsozialisten       einen die Mitmenschen auch frei sein las-    bare Bedrohung für viele Menschen ist.
zerstört. Nach dem Krieg ein Lagerhaus.        sen. Und da liegt noch einiges im Argen,     Halle hat auch gezeigt: Antisemitischer
Und heute eine Kultur- und Gedenkstätte.       auch heute noch – oder in mancherlei         Hass betrifft nicht nur Juden, er betrifft
Mit anderen Worten: Wir haben es hier          Hinsicht: heute wieder. Religionsfreiheit    alle. Die beiden Mordopfer von Halle, die
mit einem Monument zu tun, dessen              wird immer wieder in Frage gestellt. Wer     40-jährige Jana L. und der 20-jährige
Mauern die Höhen und Tiefen deutscher          in der Öffentlichkeit mit einer Kippa her-   Kevin S., waren nicht jüdisch. Sie waren
Geschichte miterlebt haben.                    umläuft, läuft leider mancherorts Gefahr,    nur zufällig zur falschen Zeit am falschen
Versuchen wir uns vorzustellen, wie es         angegriffen zu werden. Auf Schulhöfen        Ort. Der Attentäter wollte Juden ermor-
war, als sich am 12. September 1847 rund       ist „Du Jude“ wieder ein Schimpfwort ge-     den. Als er es nicht schaffte, in die voll-
900 Leute um Friedrich Hecker hier tra-        worden. Und Synagogen sind leider für        besetzte Synagoge einzudringen, brachte
fen und sehr vernehmlich für Mitbestim-        viele zur Zielscheibe ihres Judenhasses      er Jana und Kevin um.
mung und Demokratie, für Gleichheit,           geworden.                                    Der Hass auf Juden zeigt sich immer offe-
Freiheit und für andere unveräußerlichen       Ich bin der Polizei und den Sicherheits-     ner – bei den sogenannten Corona-Protes-
Grundrechte eintraten. Es muss laut ge-        behörden sehr dankbar, dass sie jüdische     ten haben wir das gesehen. Er zeigt sich
wesen sein, aber es war sicher auch ein        Einrichtungen – so gut es eben möglich       auch anderswo – man schaue nur auf die
feierlicher Moment. Die Resolution, die        ist – schützen. Nicht erst der Anschlag in   Äußerungen des russischen Außenminis-
damals beschlossen wurde, die „Forde-          Halle 2019 hat bewiesen, dass es notwen-     ters Lawrow, als er seinem Antisemitis-
rungen des Volkes in Baden“, sie war und       dig ist, jüdische Institutionen rund um      mus freien Lauf ließ und unterstellte, die
ist ein Meilenstein deutscher Zivilisa-        die Uhr zu bewachen. In gewisser Weise       schlimmsten Antisemiten seien doch Ju-
tionsgeschichte. Es war ein Aufstand ge-       ist auch das eine Einschränkung der Reli-    den gewesen. Der russische Krieg gegen
gen die Knechtschaft, die Unterdrückung,
die Entrechtung.
Auch wenn sich der Ruf nach Freiheit und
Demokratie anschließend jahrzehnte lang
nicht durchsetzen konnte: Das Samen-
korn war nun in der Erde, der Anfang war
gemacht. Lassen Sie mich stellvertretend
für den 13-Punkte-Katalog, der damals in
diesem Haus beschlossen wurde, den
Artikel 3 vorlesen: „Wir verlangen Gewis-
sens- und Lehrfreiheit. Die Beziehungen
des Menschen zu seinem Gotte gehören
seinem innersten Wesen an, und keine
äußere Gewalt darf sich anmaßen, sie
nach ihrem Gutdünken zu bestimmen.
Jedes Glaubensbekenntnis hat daher An-
spruch auf gleiche Berechtigung im Staa-
te.“
Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, staat-
liche Neutralität: Für viele von uns mag
das alles heute selbstverständlich sein.
Aber es gibt Bürgerinnen und Bürger die-       Täter und Überlebende in der Ausstellung.

                                                                                                   Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022   9
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
die Ukraine hat uns auch vor Augen ge-
führt, wie gefährdet unsere Demokratie
ist. Er hat gezeigt, wie schnell es gehen
kann. Dass wir wehrhaft sein müssen
nicht nur in Worten, sondern auch ganz
praktisch.
Der Krieg hat gezeigt, wie nicht nur die
Religionsfreiheit, sondern auch alle ande-
ren Grundfreiheiten von einem Tag auf
den anderen mit Füßen getreten werden.
Wie Propaganda die freie Presse ersetzt.
Wie Gotteshäuser plötzlich von Bomben
getroffen werden und Menschen um ihr
Leben und das ihrer Angehörigen fürch-
ten müssen und aus ihrer Heimat fliehen.
So schnell, wie es am 10. November 1938
hier an dieser Stelle zuging, als die Syna-
goge der Offenburger Juden von NS-Män-
nern innerhalb weniger Stunden ge-
schändet und völlig verwüstet wurde.                Die neue Ausstellung im „Salmen“.
Sie, sehr geehrte Frau Mendelssohn-
Cohn, haben das als Kind selbst noch mit-           das Glas ist sicher nicht halbleer, sondern   Hecker und seine Mitstreiter gehören un-
erlebt.                                             eher zwei Drittel voll.                       zweifelhaft zu den großen Deutschen. Ihr
Doch ich möchte nicht nur über das Nega-            Die jüdische Gemeinschaft schaut nach         hier vor 175 Jahren im Salmen beschlos-
tive sprechen, sondern auch das Positive            vorn, wie wir das trotz schwerer Zeiten       sener Grundrechtekatalog ist zeitlos ak-
hervorheben. Wir Juden sind freie Bürger            immer getan haben. Aber wir vergessen         tuell, denn der Schutz unserer Freiheiten,
dieses Landes wie andere auch. Wir ha-              nicht, denn, wie der spanische Philosoph      unseres demokratischen Gemeinwesens,
ben Sorgen, aber auch viele Hoffnungen.             und Schriftsteller Jorge Santayana das so     ist nicht nur Aufgabe staatlicher Institu-
Dass nach der Shoa wieder jüdisches Le-             treffend formuliert hat: „Wer sich nicht      tionen. Er ist unser aller Aufgabe. Jede und
ben in Deutschland auf diesem Niveau                seiner Vergangenheit erinnert, ist dazu       jeder Einzelne muss sich dem verpflichtet
existieren würde, hätte man sich in der             verdammt, sie zu wiederholen.“                fühlen. Ich wünsche der Stadt Offenburg,
Generation meiner Eltern nicht vorstellen           Das gilt nicht nur für die Erinnerung an      dass möglichst viele Menschen diesen Ort
können. Wir haben in den letzten Jahren             die negativen Aspekte der deutschen Ge-       besuchen, über seine Geschichte lernen –
zahlreiche neue Synagogen gebaut und                schichte, sondern auch für die Erinne-        auch über den jüdischen Teil natürlich –
alte instandgesetzt. Es geht voran, und             rung an die positiven Momente. Friedrich      und diese Botschaft von hier mitnehmen.

                                              Grüß ich mein liebes Bayernland
                                          Die Geschichte der jüdischen Brauerei-Familie Schülein
                                                             Von Ellen Presser

MÜNCHEN. „Bier ist der Wein dieses                                                                Tradition erzog, setzte darauf, mit dem
Landes“ – dieser Satz ist keine Anspielung                                                        Ersparten ins Bankwesen einzusteigen.
auf die Kultur des Bierbrauens und Bier-                                                          Ging es am Anfang um die Vergabe von
trinkens im Freistaat Bayern, sondern be-                                                         Kleinkrediten, so kam es später darauf
zieht sich auf einen Satz aus dem Schul-                                                          an, das Vertrauen von Sparern zu ge-
chan Aruch, wonach man Bier zum Kid-                                                              winnen. Ihre Bankgeschäfte durchwegs
dusch machen verwenden darf, wenn es                                                              seriös führend, erwarb die Familie be-
der Idee von hiddur mitzwa, der Verschö-                                                          scheidenen Wohlstand.
nerung des Gebots entspricht und damit                                                            Josef Schülein, Jahrgang 1854, seit 1873
die Zeremonie aufwertet.                                                                          in München ansässig, genügte die mit
Davon dürfte der 19-jährige Josef Schü-                                                           seinen Brüdern Jakob und Gustav aus-
lein, Sohn des Tuchhändlers Joel und                                                              geführte Banker-Tätigkeit nicht, obgleich
seiner Frau Nette, keine Ahnung gehabt                                                            sich nach dem Deutsch-Französischen
haben. Und vom Gewerbe des Vaters, der                                                            Krieg und der Gründung des Deutschen
sich den säkularen Namen Julius gegeben                                                           Reichs die Geschäfte gut entwickelten.
hatte, ebenfalls nichts. Als der Vater stirbt,                                                    Bereits zwölf Jahre später erwarb er von
nachdem er sich auf einer Einkaufsreise                                                           einem Kunden die Pleite gegangene Fü-
nach München mit Typhus infizierte, ist                                                           gerbräu-Brauerei im Münchner Stadtteil
es mit einem beschaulichen Leben der                                                              Haidhausen. Daraus machte er die Unions-
Witwe und ihrer vier Kinder Jakob, Josef,                         Josef Schülein                  brauerei Schülein und Companie, die 1903
Mali und Gustav, zu dem noch ein Baby,                   Foto: Jüdisches Museum München           in eine Aktiengesellschaft umgewandelt
nach dem Vater Julius benannt, hinzu-                                                             wurde.
kommt, vorbei. Die Familie folgt dem äl-            Mutter Nette, eine gläubige Jüdin, die        Josef Schülein war selbst kein Bierbrauer,
testen Sohn Jakob aus dem fränkischen               zeitlebens auf einen koscheren Haushalt       sondern Geschäftsmann, ein kreativer
Thalmässing nach München.                           achtete und ihre Kinder in der jüdischen      und sozialer noch dazu. Er beschäftigte

10       Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022
Fachleute, gab seinen Mitarbeitern sieben                                                   Auf seine Mitarbeit im Hintergrund konn-
Urlaubstage und ließ Frauen nicht länger                                                    te man noch nicht verzichten. Löwenbräu
als acht Stunden pro Tag arbeiten. Solch                                                    entwickelte sich 1934/1935 – unter seiner
eine Haltung war für Unternehmer kei-                                                       praktisch fortgeführten Leitung – sogar
neswegs selbstverständlich. Doch das                                                        zum „NS-Musterbetrieb“. Schülein selbst
soziale Engagement der Schüleins sollte                                                     ging, wie es auch seinen fünf Geschwis-
sich durch ihr ganzes Leben und bis in die                                                  tern gelang, 1936 in die USA. In New York
nächste Generation durchziehen.                                                             brachte er sein berufliches Können in die
Zunächst aber ging es um den Ausbau                                                         „Liebmann-Rheingold-Brauerei“ ein.
der Firma. 1905 übernahm Schülein die                                                       Weder die Arisierung der Schlossbrauerei
Münchner-Kindl-Brauerei. Zum Ende des                                                       Kaltenberg 1938 noch das Verhalten des
Ersten Weltkriegs erwarb er Schloss Kal-                                                    Reichswirtschaftsministeriums 1939/1940
tenberg mit dazugehöriger Brauerei und                                                      konnte die Liebe zur bayerisch-münchne-
landwirtschaftlichem Gut. Diesen Firmen-                                                    rischen Heimat vergällen.
zuwachs verwaltete er gemeinsam mit                                                         Hermann Schülein konnte die Behand-
seinem jüngsten Sohn Dr. Fritz Schülein.                                                    lung der familiären Entschädigungsan-
Sein privates Glück hatte Josef Schülein                                                    sprüche durch die deutsche Ministerial-
mit Ida Baer aus Oberdorf und ihren            Grabstätte von Ida und Josef Schülein auf    bürokratie nicht verstehen. Und doch
gemeinsamen sechs Kindern gefunden.            dem Neuen Israelitischen Friedhof München.   blieb er seinem sozialen Gewissen und
Sein ältester Sohn wurde zum Gedenken                         Foto: Evergreen68 Wikimedia   München treu. Er schickte aus New York
an seinen Großvater Julius genannt. 1921                                                    in großer Menge Care-Pakete für die not-
fusionierte Unionsbräu mit Löwenbräu           merzienrat ausgezeichnet hatte, nicht.       leidende Münchner Bevölkerung, ver-
und wurde unter diesen bekannten Na-           Nach seinem von den Nationalsozialisten      zichtete auf Rückabwicklung von Grund-
men fortgeführt. Diesen Coup hatte der         bereits im Mai 1933 erzwungenen Rück-        besitz, beteiligte sich finanziell sogar am
Sohn Dr. Hermann Schülein maßgeblich           tritt aus dem Aufsichtsrat von „Löwen-       Wiederaufbau des kirchlichen Wahrzei-
betreut und er wurde Direktor und Vor-         bräu“ zog Josef Schülein sich auf sein Gut   chens in der Münchner Altstadt, „Alter
standsvorsitzender von „Löwenbräu“.            Kaltenberg bei Geltendorf zurück, wo er      Peter“ genannt, und des Nationaltheaters
Hinzu kam bald das Bürgerliche Brau-           am 9. September 1938 starb. Er ruht auf      am Max-Joseph-Platz. Er wurde mit dem
haus München. Jeder Ankauf bedeutete           dem Neuen Israelitischen Friedhof neben      Großen Verdienstkreuz der Bundesrepu-
Zugewinn an Grundstücken. Das soziale          seiner bereits 1929 verstorbenen Frau Ida.   blik Deutschland 1954, dem Bayerischen
Engagement der Schüleins führte durch          Mit der geballten Niedertracht aus Neid,     Verdienstorden 1961 und der Medaille
Grundstücksstiftungen zum Bau einer            Habgier und Rücksichtslosigkeit war Sohn     „München leuchtet“ in Gold 1969 ausge-
Siedlung von Sozialwohnungen in Berg           Hermann (1884, München – 1970, New           zeichnet. 1964 hat Schülein, der nur mehr
am Laim, einem Stadtteil im Münchner           York) konfrontiert. Seit 1924 General-       besuchsweise zurückkehrte, ein Gedicht
Osten. Schon zu Lebzeiten des „alten“          direktor der Löwenbräu AG hatte er die       verfasst, in dem es am Ende heißt:
Schülein waren dort 1920 eine Straße           Zeichen der Zeit von Anfang an begriffen.
und ein Platz mit einem Brunnen, den           Sein Versuch, am 30. März 1933 in die        „Nun bleib die Weltstadt mit dem Herz
seit 1928 ein „Mälzjunge“, Symbol des          Schweiz auszureisen, endete in „Schutz-      Du ‚München‘ fortan immerwärts
Bierbrauens, krönt, nach ihm benannt           haft“-Gewahrsam. Üble Verleumdungen          Wie man der Mutter stets verzeiht
worden. Im Dezember 1933 hatte man             hatte es schon lange vorher gegeben. Im      Verzeih’ der Mutterstadt ich heut’,
nichts Eiligeres zu tun, als beides in Hal-    Völkischen Beobachter vom 23. Septem-        Stolz, dass meine Wiege dorten stand
serspitzstraße und Halserspitzplatz um-        ber 1922 war auf der Titelseite von der      Grüß ich mein liebes Bayernland!“
zubenennen, was allerdings im August           „Verjudaisierung der bayer. Brauindustrie“
1945 wieder zurückgenommen wurde.              die Rede. Hitler selbst verbreitete am       Elisabeth Schinagl: Der Bierkönig von München,
Josef Schülein, den man den Bierkönig          21. März 1928 bei einer NSDAP-Versamm-       Romanbiografie, 276 S., Allitera Verlag, Mün-
von Haidhausen nannte, war ein Origi-          lung die Lüge, „Herr Schülein ist Besitzer   chen 2022.
nal, stets gut erkennbar an seinem gewal-      einer großen Brauerei, von der die Wirts-
tigen Schnauzer und breitkrempigen Hut.        pächter abhängig sind, und man beab-
Wenn er zur Arbeit kam, erwarteten ihn         sichtigt, die Wirte zu veranlassen, dass
schon Kinder aus dem Haidhausener              sie nur das Brot von dieser Fabrik bezie-
Viertel. Für jedes hatte er ein Fünferl oder   hen, die dem Herrn Schülein gehört.“
Zehnerl, das sie in Süßigkeiten umsetz-        Da ging es noch gegen den Vater Joseph,
ten. Jedes Jahr ließ er bis zu vierzig Firm-   später mit dem Boykott gegen das „Juden-
linge einkleiden und bewirten; begabten        bier“ von Löwenbräu und mit der Direk-
Kindern ermöglichte er durch finanzielle       tive des im März 1933 als kommissari-
Unterstützung eine bessere Schulbildung.       scher Münchner Oberbürgermeister an-
Während andernorts Freikorps-Anhänger          getretenen NS-Schergen Karl Fiehler,
rechtsradikal schäumten und mordeten,          keine Aufträge mehr an „nichtdeutsche“
eröffnete Ida Schülein nach dem Ersten         Unternehmen zu vergeben, war die „Ari-
Weltkrieg im Münchner-Kindl-Keller und         sierung“ von Löwenbräu faktisch er-
im Bürgerbräu-Keller eine Armenspei-           zwungen. Die jüdischen Mitglieder des
sung, wo täglich an die tausend Mahlzei-       Aufsichtsrats Josef Schülein, Martin Auf-
ten ausgegeben wurden.                         häuser, Richard Kohn und Friedrich Pas-
Gut vergolten hat man es der Familie und       ternak mussten zurücktreten. Am selben
ihrem Patriarchen, den man für seinen          Tag, dem 1. Mai 1933, trat auch Hermann
unternehmerischen Erfolg und sein sozia-       Schülein von seinen Ämtern als Generaldi-
les Wirken mit dem Titel Geheimer Kom-         rektor und Vorstandsvorsitzender zurück.

                                                                                                  Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 148/2022   11
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