MAGAZIN - Zuse Institute Berlin
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www.bbaw.de/jahresmagazin Jahres MAGAZIN 2020 der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften PROJEKTE Verantwortung: Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz Epigraphik im Wandel Zentrum für digitale Lexikographie THEMEN Open Science Akademienprogramm Jahresthema Junge Akademie Naturgemälde PERSONEN Friedhelm von Blanckenburg Katharina Holzinger Friederike Krippner
Liebe Leserinnen und Leser, das von Bund und Ländern gemeinsam getragene Akade- mienprogramm ist eine einzigartige Form der Förderung exzellenter geisteswissenschaftlicher Forschung. Es freut mich außerordentlich, dass Hanns Hatt, der Präsident der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, für Foto: BBAW, Judith Affolter uns in seinem Beitrag „Eines wie keines“ auf 40 Jahre Akademienprogramm schaut. Längst etabliert ist auch die von der BBAW mitbegründete Junge Akademie. Sie feiert ihr 20-jähriges Bestehen mit einem umfangreichen Programm unter dem Motto „Perspektiven wechseln“. Ein großes Spektrum neuer Möglichkeiten öffnet das Aber lernen Sie nicht nur BBAW-Projekte kennen, sondern von Wolfgang Klein und Julia Naji beschriebene „Zen- auch die Menschen in unserer Akademie: Friedhelm von trum für digitale Lexikographie der deutschen Sprache“. Blanckenburg spricht im Interview über „Geochemie, Ero- Gemeinsam mit unseren Projektpartnern ist es gelungen, sion und den Klimawandel“. Unser kürzlich hinzugewähl- dafür eine Finanzierung vom Bundesministerium für Bil- tes Mitglied Katharina Holzinger erforscht traditionale dung und Forschung zu erhalten. Nicht nur die Wissen- Strukturen in Afrika – „Könige, Chiefs und Demokraten“. schaft, sondern die Gesellschaft insgesamt geht mit dem In der neuen Rubrik „Im Büro besucht …“ treffen Sie großen Bereich des Digitalen und der Künstlichen Intelli- Friederike Krippner. genz einen neuen Weg – voller Chancen, aber auch Risi- ken. Und so fragt eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe Zu den vielen spannenden Themen der Akademie gehört mit ihrem Sprecher Christoph Markschies „Wer trägt auch ein jeweils zweijähriger Schwerpunkt, dem wir uns eigentlich die Verantwortung?“. Birte Fähnrich und Peter mit der Initiative „Jahresthema“ widmen. Von Alexander Weingart schreiben in „Antworten auf Rezo & Co.“ über von Humboldt inspiriert und von Matthias Steinmetz Wissenschaftskommunikation in einer digitalen Welt. geleitet, ist dies jetzt das „Naturgemälde“. Es soll anregen, aktuelle wissenschaftliche Fragen zu diskutieren. Unter dem Begriff „Open Science“ versammeln sich, wie Sie in meinem Beitrag lesen können, komplexe Heraus- Vielen Dank, dass Sie uns mit Ihrem Interesse begleiten! forderungen bei der Offenlegung aller Bereiche des wis- senschaftlichen Erkenntnisprozesses. Die BBAW hat sich mit der Verabschiedung ihres „Leitbildes Open Science“ Ihr hierzu Maßstäbe für die eigene Arbeit gesetzt und geht damit voran. Auch unsere traditionsreichen epigraphi- schen Projekte stellen sich dem Wandel der Zeit. Ulrike Ehmig formuliert dies programmatisch. Martin Grötschel 5
INH A LT OFFENE WISSENSCHAFT 8 NICHT IN STEIN Die BBAW geht bei Open Science voran GEMEISSELT Von Martin Grötschel Die Arbeit mit Inschriften wandelt sich EINES WIE KEINES 16 Von Ulrike Ehmig Das Akademienprogramm besteht seit 40 Jahren Von Hanns Hatt 40 EIN SPEKTRUM NEUER 46 MÖGLICHKEITEN Das „Zentrum für digitale Lexikographie der deutschen Sprache“ (ZDL) VON KÖNIGEN, CHIEFS Von Wolfgang Klein UND DEMOKRATEN und Julia Naji Aktuelle Forschungsthemen eines neuen Akademiemitglieds Iris Johanna Bauer im Gespräch mit Katharina Holzinger 24 WER TRÄGT EIGENTLICH DIE 32 VERANTWORTUNG? Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Verantwortung: »OHNE BEISPIEL IN Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz“ DER ERDGESCHICHTE« Von Christoph Markschies Über Geochemie, Erosion und den Klimawandel PROJEKTPORTRÄT 38 Andreas Schmidt im »ZUKUNFT DER MEDIZIN: ›GESUNDHEIT FÜR ALLE‹ « Gespräch mit Friedhelm 52 von Blanckenburg 6
JA HRESM AG A ZIN WIE DIE WELT IM BILD ENTSTEHT Das Jahresthema 2019|20 „Naturgemälde“ 2020 Von Friederike Krippner und Matthias Steinmetz IM BÜRO B 60 TRANSFORMATIONEN 80 Max von Laue, IM BÜRO BESUCHT … 66 ein Transformator und die FRIEDERIKE KRIPPNER Akademie der Wissenschaften im 20. Jahrhundert PERSPEKTIVEN 68 Von Iris Johanna Bauer WECHSELN Die Junge Akademie DIE GESTOHLENEN BÜCHER 84 wird 20 NS-Raubgut von Heinrich Stahl Von Laura Forstbach in der Akademiebibliothek entdeckt und Anne RohloffJ Von Jana Madlen Schütte EKTPORTRÄ COLLEGIUM PRO ACADEMIA 86 T PROJEKTPORTRÄT 74 VERANSTALTUNGSZENTRUM, HERMANN UND ELISE 87 »WANDEL DER UNIVERSITÄTEN UND GEBORENE HECKMANN WENTZEL-STIFTUNG IHRES GESELLSCHAFTLICHEN UMFELDS: FOLGEN FÜR DIE WISSENSCHAFTSFREIHEIT?« IMPRESSUM 90 ANTWORTEN AUF REZO & CO. 76 Wissenschaftskommunikation in einer digitalen Welt Von Peter Weingart und Birte Fähnrich 7
OFFENE WISSENSCHAFT DIE BBAW GEHT BEI OPEN SCIENCE VORAN Von Martin Grötschel Der Begriff „Open Science“ erfährt derzeit durch viel- fältige Initiativen nationaler und internationaler För- dereinrichtungen und Wissenschaftsorganisationen eine inhaltliche Klärung und technische Schärfung. Ganz kurz: In Open Science geht es darum, alle Bestandteile des wis- senschaftlichen Prozesses offenzulegen und transparent – über das Internet – darzustellen. Und etwas präziser: In Open Science soll der gesamte Weg wissenschaftlicher Erkenntnis von der Formulierung des Untersuchungs- gegenstandes, der Datenerhebung, dem Einsatz von Software, der Art der algorithmischen Bearbeitung und Ergebnisfindung bis hin zur Interpretation nachvollzieh- bar dokumentiert und nachnutzbar öffentlich zugänglich gemacht werden. 8
Benutzeroberfläche des edoc-Servers der Akademie Es ist klar, dass aufgrund rechtlicher Rahmenbedingungen, Wenn man aber nicht „im Kleinen“ anfängt, wird auch Datenschutzvorgaben etc. die generellen Ziele von Open „im Großen“ nichts vorangehen. Deshalb konzentriert Science fachbezogen eingeschränkt werden müssen. Eine sich die Akademie zunächst ausschließlich auf die für sie vollkommene Offenheit ist aus vielfältigen Gründen nicht besonders relevanten Aspekte von Open Science. erreichbar. Dennoch ist es wichtig, die grundsätzliche Ziel- setzung zu formulieren und auf eine schritt weise Verwirk- lichung des Machbaren hinzuarbeiten. DIE VERABSCHIEDUNG DES OPENSCIENCELEITBILDES DER BBAW Open Science umfasst insbesondere die Themenbereiche Open Access, Open Research Data und Open Research „Das Leitbild Open Science der Berlin-Brandenburgischen Software, die jeweils für sich allein bereits große Heraus- Akademie der Wissenschaften“ (kurz OS-Leitbild) – online forderungen für das Wissenschaftssystem sind. Die BBAW zu finden unter urn:nbn:de:kobv:b4-opus4-31360 – wurde gibt sich nicht der Illusion hin, diese in ihrer Allgemeinheit am 23. Mai 2019 vom Rat der BBAW verabschiedet und spürbar beeinflussen oder gar bewältigen zu können. am 24. Mai 2019 von der Versammlung der Akademie- Foto: istockphoto.com 9
mitglieder zustimmend zur Kenntnis genommen. Die und Produkte ergeben und dadurch die Forschung beflü- damit erfolgte konkrete Benennung von Absichten, Zie- gelt wird. len, Plänen und die Formulierung von Maßnahmen ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Digitalisierung der Akade- Im Vergleich zu anderen Akademien und – insbesondere mie-Aktivitäten. geisteswissenschaftlichen – Forschungseinrichtungen hat sich die BBAW schon sehr früh auf den Digitalisie- Die BBAW bündelt darin ihre Bemühungen, das wissen- rungspfad begeben. Die Gründung der TELOTA-Initiative schaftliche Arbeiten in der Akademie offen und transpa- im Jahr 2001 war der Startpunkt dafür. Fortan wurde rent zu gestalten, zu fachnaher und fächerübergreifen- die Digitalisierung der Forschungs-, Kommunikations- der Kooperation einzuladen sowie die aus ihrer Arbeit und Präsentationsprozesse zu einem Kernanliegen der resultierenden Ergebnisse nachhaltig zu sichern und für BBAW-Arbeit. Die TELOTA-Steuerungsgruppe und der eine breite Öffentlichkeit nutzbar zu machen. Diese Ziele ebenfalls 2001 gegründete Publikationssauschuss haben sollen in einem langfristig ausgelegten, kontinuierlichen zusammen mit dem Vorstand der BBAW die Leitplanken Prozess, der mehrere inhaltlich und technisch-organisato- dafür gesetzt. So wurde unter anderem mit der Verab- risch unterschiedliche Komponenten enthält, verwirklicht schiedung einer Leitlinie zur Lizenzierung gedruckter und werden. digitaler Publikationen ein wichtiger Schritt zu einer noch stärkeren Öffnung der Akademieforschung für Wissen- schaft und Gesellschaft getan. Die seinerzeit gesetzten Die Akademie konzentriert sich zunächst Ziele sind nun erreicht. Das OS-Leitbild ist der Beginn der Weiterentwicklung dieser Aktivitäten. auf die für sie besonders relevanten Aspekte von Open Science. Die BBAW wird sich bei der Umsetzung ihres OS-Leitbildes – mit der TELOTA-Steuerungsgruppe als hierbei treiben- der Kraft – insbesondere mit Open Access, Open Research Data und Open Research Software befassen. Zu diesen Die Akademie folgt dabei ihrer Überzeugung, dass alle drei Aspekten folgen nun knappe Erklärungen der Pro- Elemente öffentlich geförderter Forschung – von den blemstellungen sowie kurze Zusammenfassungen zum Werkzeugen über die Forschungsdaten bis hin zu den gegenwärtigen Stand und Skizzen der Zielsetzungen. Ergebnissen – „öffentliche Güter“ sind, d. h. der wissen- schaftlichen Gemeinschaft und allen interessierten gesellschaftlichen Akteuren frei und kostenlos zur wei- OPEN ACCESS teren Bearbeitung und Nutzung zur Verfügung gestellt werden sollen, soweit keine rechtlichen Regelungen, Der wichtige erste Schritt auf dem Weg zu Open Science vertraglichen Beschränkungen oder besonderen Gefähr- ist die Umsetzung der Ziele des Open Access: freie elektro - dungslagen entgegenstehen. Dies gilt für „analoge“ wie nische Verfügbarkeit wissenschaftlicher Publikationen. „digitale“ Ergebnisse gleichermaßen. Die BBAW tut das Damit hat die BBAW bereits vor zwanzig Jahren begon- auch in der Hoffnung, dass sich durch die fortschreitende nen. Die BBAW war auch instrumentell bei der Formulie- digitale Methodik ganz neue Möglichkeiten der Koopera- rung der Open-Access-Strategie des Landes Berlin betei- tion, der Öffnung und Nutzung der entstehenden Daten ligt, welche im Dezember 2015 vom Abgeordnetenhaus 10
Grafik und Konzept: Stefan Dumont, Tobias Kraft, CC BY 4.0 Übersicht über die Verknüpfungsstrukturen der „edition humboldt digital“ 11
verabschiedet wurde und den Berliner wissenschaftlichen der Textauszeichnungen, Verlinkungen etc. nutzen. Diese Einrichtungen das Ziel vorgab, dass im Jahr 2020 der Anteil können hier nicht im Detail beschrieben werden. Als an Open-Access-Publikationen 60 Prozent erreichen solle. Musterbeispiel dafür, wie sich die BBAW elektronisches Publizieren im Open Access vorstellt, sei auf die „edition Kurze Bilanz: In der Akademiebibliothek wurde 2006 ein humboldt digital“ des BBAW-Akademienvorhabens „Ale- edoc-Server eingerichtet, der einen freien Zugang zu xander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der den BBAW-Publikationen ermöglicht. Der Vorstand der Bewegung“ verwiesen, welche in vorbildlicher Weise von BBAW hat 2013 eine Lizenzierungsleitlinie für gedruckte den elektronischen Werkzeugen Gebrauch macht und im und digitale Publikationen sowie Forschungsdaten und Jahr des 250. Geburtstags von Alexander von Humboldt Forschungssoftware verabschiedet. Die Akademie stellt von vielen Interessierten intensiv genutzt wird. Die Kom- Mittel für die Publikation von Forschungsergebnissen im plexität eines solchen Systems ist hoch. Die Abbildung der Gold Open Access bereit. Die Akademieleitung hat einen Verknüpfungsstrukturen deutet an, dass die freie Verfüg- Open-Access-Beauftragten ernannt, der unter anderem barkeit von Briefsammlungen, Geo-Daten, Datenbanken in dem durch die Landesregierung eingesetzten Arbeits- über Pflanzennamen und vielen weiteren, von anderen kreis der Berliner Open-Access-Beauftragten mitwirkt. erstellten Datenbanken den Wert der „edition humboldt digital“ für die vielfältigen Nutzerinteressen durch die im Projekt vorgenommene Vernetzung erheblich erhöht. Alle Elemente öffentlich geförderter Dies führt uns zum zweiten Aspekt von Open Science. Forschung sind „öffentliche Güter“. OPEN RESEARCH DATA Durch die genannten Maßnahmen ist sichergestellt, dass Seit dem Ende der neunziger Jahre sammelt die Akade- die Akademie den Anforderungen des Landes für 2020 mie in zunehmendem Umfang digitale Forschungsdaten genügt. Weitere Schritte zum konsequenten Ausbau aus der geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung des offenen Zugangs zu den Publikationen der Akade- und stellt diese der Wissenschaft zur Verfügung. Die in mie werden in den kommenden Jahren unternommen. diesem Zeitraum eingetretenen technologischen Umbrü- Hierzu gehören etwa die DINI-Zertifizierung des edoc- che lassen erwarten, dass sich auch in Zukunft in schnel- Servers, die Verbesserung der Einbindung des Servers ler Folge Veränderungen vollziehen, die für eine nach- in die nationalen und internationalen Nachweissysteme haltige Nutzbarkeit der gesammelten Forschungsdaten sowie die Einführung eines jährlichen, qualitativen und Herausforderungen darstellen. Daher müssen dauerhaft quantitativen Monitorings der Publikationsprozesse zur Anstrengungen zur weiteren langfristigen Bereitstellung Beobachtung von Fortschritten bzw. Desideraten. existierender digitaler Forschungsdaten unternommen werden. Unter Verfügbarmachung im Open Access versteht die BBAW keineswegs nur die Bereitstellung von PDF- Die Quantität der entstehenden Forschungsdaten ist sig- Dateien. Das ist besser als nichts, aber greift viel zu kurz. nifi kant gewachsen. Ihr inzwischen erreichter Umfang Das Ziel muss die Zugriffsmöglichkeit auf „genuin digi- macht es notwendig, die Bereitstellung und Kuratierung tale Editionen“ sein, die die vielfältigen Möglichkeiten digitaler Forschungsdaten als eigenständige Aufgabe zu 12
DTA-Basisformat: Dokumentation, Übersicht zum Tagset und formale Beschreibung im TEI-ODD; http://deutschestextarchiv.de/doku/basisformat begreifen. Diese muss bereits während des Forschungs- Entscheidung der Gemeinsamen Wissenschaftskonfe- prozesses bearbeitet werden. Die bisherige Praxis, die renz (GWK) hierzu wird im Juni 2020 gerechnet. offene Bereitstellung von Forschungsdaten und -ergeb- nissen erst nach Abschluss der Forschungsvorhaben als Add-On zu betreiben, ist nicht mehr tragbar. Die hierfür erforderliche Grundlage kann nur im Verbund mit den Das Ziel muss die Zugriffsmöglichkeit in der Akademienunion zusammengeschlossenen Aka- auf „genuin digitale Editionen“ sein. demien und vor allem im Rahmen der NFDI-Initiative zur Einrichtung einer nationalen Forschungsdateninfra- struktur geschaffen werden. Deswegen beteiligt sich die BBAW an der Beantragung eines NFDI-Konsortiums (mit Die BBAW wird in den kommenden Jahren eine nach- dem Akronym TEXT+), das den Aufbau einer verteilten haltige Datenkuratierung etablieren. Ein neuer Aspekt auf Text- und Sprachdaten ausgerichteten Forschungsda- wird dabei sein, dass die Projekte ihre Forschungsdaten teninfrastruktur beabsichtigt, die sich speziell auf digi- nicht nur für die unmittelbare Nutzungsintention verfüg- tale Sammlungen, lexikalische Ressourcen (einschließlich bar machen, sondern auch für nicht antizipierte Nach- Wörterbücher) und Editionen konzentriert. Mit einer nutzungen bereitstellen sollen. 13
Es wird in naher Zukunft keine universelle technische Mit derartigen Aktivitäten geht die Bereitschaft der BBAW Lösung für eine standardisierte Behandlung der ver- einher, für einen dauerhaften Betrieb und die Weiter- schiedenen Typen von Forschungsdaten und für die tech- ent wicklung dieser Forschungsdateninfra strukturen zu nologisch heterogenen Präsentationsformen geben. So sorgen. Alle digitalen Ressourcen, d. h. alle heterogenen besteht die Herausforderung im Umgang mit Forschungs- digitalen Forschungsdaten der BBAW, sind im „Digitalen daten weiterhin darin, bei dauerhaftem technologischem Wissensspeicher“ der BBAW verzeichnet und dort zentral Wandel für eine inhaltlich korrekte Bereitstellung zu sor- recherchierbar. gen. Die Akademie wird sich aktiv an der Gestaltung und dem Betrieb von Forschungsdateninfrastrukturen betei- ligen, die es unter anderem ermöglichen, die einzigar- OPEN RESEARCH SOFTWARE tigen und nicht-reproduzierbaren Daten-Publikationen der Akademienvorhaben langfristig einem breiten Nut- Bei der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die zerkreis zur Verfügung zu stellen. Bedeutung von Open Access und Open Data wird häu- fig übersehen, wie wichtig zuverlässige und langfristig Die BBAW verfügt seit Beginn der Digitalisierung über verfügbare Software ist. Natürlich wird in der Forschung digitale Forschungsdaten und zugehörige Präsentations- marktgängige kommerzielle Software auf vielfältige systeme, die (noch) hauptsächlich als Daten-Publikatio- Weise genutzt, aber sie deckt selten alle Bedürfnisse nen für eine spezielle Nutzung konzipiert und bereitge- der Wissenschaft ab. So wird es notwendig – auch in der stellt werden. Derzeit präsentiert die Akademie ca. 20 geistes wissenschaftlichen Grundlagenforschung –, spezi- dieser Daten-Publikationen mit dazugehörigem Präsen- elle Forschungssoftware für einen relativ kleinen, kom- tationssystem. Darunter sind so umfangreiche Systeme merziell nicht relevanten Nutzerkreis zu entwickeln, der wie die „Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit“ wiederum stark von der langfristigen Verfügbarkeit der (PMBZ) und, seit mehr als 20 Jahren, der „Thesaurus Lin- Software abhängt. guae Aegyptiae“ (TLA). Hier kommt es nicht nur in Ausnahmefällen zu prekären Situationen, wenn eine Entwicklergruppe ihre Arbeit ein- stellt, die Software veraltet, nicht mehr einsetzbar ist und Die Bereitstellung und Kuratierung dadurch Forschungsprojekte Daten- und Software-Ruinen digitaler Forschungsdaten ist eine hinterlassen. Da Forschungsdaten und Forschungssoft- ware in vielen Fällen als Einheit gedacht werden müssen eigenständige Aufgabe. und Forschungsdaten in einigen Fällen an eine bestimmte Software gebunden sind, ist eine nachhaltige und freie Bereitstellung für die wissenschaftliche Gemeinschaft ein Die BBAW beteiligt sich auch in nationalen und interna- dringliches Desiderat. Im internationalen Kontext gibt es tionalen Gremien zur Weiterentwicklung von Datenstan- verschiedene Bemühungen, Empfehlungen hierzu zu for- dards; als Beispiel sei hier der Auszeichnungsstandard des mulieren und Lösungsansätze für das Problem der Soft- „Deutschen Textarchives“ (DTA), das sogenannte DTA- warenachhaltigkeit zu entwickeln. In Deutschland hoffen Basisformat, erwähnt. viele, dass dieses Thema auch im Rahmen der Entwicklung der NFDI-Initiative aufgegriffen wird. Wir auch! 14
Die BBAW sieht sich zur langfristigen Pfl ege und Wei- von wissenschaftlichen und nachhaltigen Software-Publi- terentwicklung zentraler in der Akademie entstandener kationsworkflows sowie der Verbesserung des Supports Software und Dienste verpflichtet. Hierzu gehört die publizierter Forschungssoftware mitwirken. Schließlich digitale Arbeitsumgebung „ediarum“, für die bereits wird sie gemeinsam mit weiteren Wissenschaftseinrich- ein Helpdesk eingerichtet wurde. „ediarum“ besteht aus tungen die Implementierung geeigneter Maßnahmen mehreren Softwarekomponenten, die es Wissenschaft- fördern, die der Anerkennung der Entwicklung von For- lern erlauben, Transkriptionen von Manuskripten zu schungssoftware als wissenschaftliche Leistung dienen. bearbeiten, mit einem Text- und Sachapparat zu versehen und anschließend – ohne weiteren größeren Aufwand – im Druck und im Web zu veröffentlichen. Als zweites SCHLUSSBEMERKUNG Beispiel sei der Webservice „correspSearch“ genannt, mit dem Verzeichnisse verschiedener digitaler und gedruck- Die Akademieleitung ist sich bewusst, dass die Umsetzung ter Briefeditionen nach Absender, Empfänger, Schreibort ihres Open-Science-Leitbildes eine dauerhafte, verlässli- und Datum durchsucht werden können. „correspSearch“ che und adäquate finanzielle und personelle Ausstattung stellt die Ergebnisse der wissenschaftlichen Gemeinschaft erfordert. Sie sieht es als Verpflichtung an, gegenüber für die Nutzung frei zur Verfügung. den Zuwendungsgebern von Bund und Ländern auf des- sen Realisierung hinzuwirken. Eine nachhaltige und freie Bereitstellung für die wissenschaftliche Gemeinschaft ist ein dringliches Desiderat. Die BBAW unterhält auch verschiedene Repositorien auf dem Online-Dienst „Github“, auf denen regelmäßig For- schungssoftware entwickelt bzw. unter einer offenen Lizenz publiziert wird. Durch aktive Unterstützung der Open-Source-Community trägt die Akademie dazu bei, zentrale Softwareprodukte, die in den Forschungsvorha- ben und Digital-Humanities-Projekten zum Einsatz kom- men, in Teilen zu finanzieren und weiterzuentwickeln. Zukünftig wird sich die BBAW vor allem für die Etablie- rung von Standards für nachhaltige Softwareentwicklung und -publikation einsetzen; sie wird am Aufbau eines Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Martin Grötschel ist Mathematiker und Nachweissystems für Forschungssoftware (Research Soft- Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der ware Catalog) für die Digital Humanities, der Entwicklung Wissenschaften. 15
EINES WIE KEINES DAS AKADEMIENPROGRAMM BESTEHT SEIT 40 JAHREN
Von Hanns Hatt KULTURGESCHICHTLICHE VIELFALT IN ZAHLEN UND FAKTEN Im Jahr 2019 feiert das Akademienprogramm, das gemein- same Forschungsprogramm der deutschen Wissenschafts- akademien, 40. Geburtstag. Es stellt seit vier Jahrzehnten signifikante Mittel für große Forschungsthemen bereit, die nur in langfristigen Zeitfenstern bewältigt werden können. Deutschlands größtes geisteswissenschaftliches Langfrist- »Mit dem Akademienprogramm forschungsprogramm, paritätisch finanziert von Bund und aktuell insgesamt 15 Bundesländern, bietet einen fördern und bewahren wir die gesicherten Rahmen für unverzichtbare Grundlagenfor- schung in einem breiten disziplinären Spektrum. Die im kulturellen Wurzeln unserer Akademienprogramm geförderten Forschungen werden etwa in Form von Wörterbüchern, historisch-kritischen Editionen von Texten und Kompositionen oder umfas- Gesellschaft seit nunmehr sender Korpora von Inschriften oder archäologischen Funden gesichert, erfasst, dokumentiert und sowohl den 40 Jahren. Das Akademienprogramm unterschiedlichen Fachwelten als auch einer interessierten Öffentlichkeit für zahlreiche Nachnutzungen zugänglich hat sich damit als einzigartiger gemacht. Alle diese Projekte tragen mit ihren Forschun- gen zum Verständnis des reichen kulturellen Erbes bei. Wissensspeicher unseres kulturellen Derzeit werden 117 Editionen, 21 Wörterbücher sowie Gedächtnisses etabliert.« zwei Projekte aus der sozial- und kulturwissenschaft- lichen Grundlagenforschung im Akademienprogramm Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin gefördert. Sein Fokus liegt seit 2009 explizit auf den Geisteswissenschaften, was geeignete Vorhaben aus den Rechts-, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften sowie den Grenzgebieten zwischen Geistes- und Natur- wissenschaften ausdrücklich einschließt. Die Projekte dieses Forschungsprogramms werden durch exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler umgesetzt, auch unter starker internationaler Beteili- gung. Sie sind strategisch bestens mit nationalen und internationalen Archiven und Bibliotheken vernetzt und kooperieren eng mit Forschungseinrichtungen im Inland sowie auf der ganzen Welt. 17
Das Akademienvorhaben „Prize Papers“ Das Projekt „Prize Papers. Erschließung – Digita- lisierung – Präsentation“ der Akademie der Wis- senschaften zu Göttingen erforscht erstmals auf Kaperungen zurückgehende Prisenpapiere aus der Frühen Neuzeit, die in den National Archi- Foto: Image reproduced by permission of The National Archieves, London, England ves in London in über 4.000 Archivkisten lagern und nun sukzessive erschlossen, digital erfasst und für vielfältigste wissenschaftliche Nachnut- zungen aufbereitet werden. Die Erschließung des international bedeutenden kulturellen Erbes der „Prize Papers“ erlaubt einzigartige Einblicke in vergangene Lebenswelten und Kos- mologien, historische Selbstverständnisse und zwischenmenschliche Beziehungen, politische und wirtschaftliche Praktiken und Prozesse der Verrechtlichung im Kontext der globalen Ver- netzung Europas und der Welt. Projektleiterin des Vorhabens ist Dagmar Freist, die an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg die Profes- sur für Geschichte der Frühen Neuzeit leitet.
2019 stehen dem Akademienprogramm rund 68 Mio. KLEINE GESCHICHTE DER AKADEMIENUNION UND Euro für Forschungen an den betreuenden acht Wissen- DES AKADEMIENPROGRAMMS schaftsakademien sowie der Akademie der Naturforscher Leopoldina zur Verfügung. In den 140 Projekten und rund Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es Überle- 200 Arbeitsstellen des Programms arbeiten derzeit rund gungen zur Einrichtung akademischer Langzeitvorha- 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. ben. So entstanden große Projekte in den historischen und philologischen Wissenschaften, wie die Erstellung lateinischer oder griechischer Textkorpora, die Erschlie- DIE AK ADEMIEN UND DIE UNION DER DEUTSCHEN ßung von Quellen zur Geschichte des Mittelalters oder AKADEMIEN DER WISSENSCHAFTEN Sammlungen zur Antike und zur Geschichte des Orients. Diese Vorhaben wurden außerhalb der Universitäten Die Projekte werden getragen und betreut von den acht in den forschungsorientierten Akademien begonnen. Wissenschaftsakademien, die in der Union der deutschen Die bis 1940 Schritt für Schritt geknüpften Kooperatio Akademien der Wissenschaften zusammengeschlossen nen der Akademien festigten sich nach dem Zweiten sind und die sowohl durch ihre Mitglieder als auch die Weltkrieg und mündeten Ende der 1960er-Jahre in die Zusammenarbeit mit einer Vielzahl in- und ausländischer Konferenz der Delegierten der bundesdeutschen Aka- Expertinnen und Experten eine umfassende Qualitätssi- demien. Wesentliche Ziele dieser Konferenz waren ein cherung für die Projekte darstellen. Die Akademien in gemeinsam koordiniertes Forschungsförderprogramm Berlin, Düsseldorf, Göttingen, Hamburg, Heidelberg, und die Übertragung von langfristigen Forschungsvor- Leipzig, Mainz und München ermöglichen Langzeitfor- haben der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in schungen, die an anderer Stelle in der bundesdeutschen die wissenschaftliche Betreuung der Akademien der Wis- Förderlandschaft nicht oder nur schwer realisiert werden senschaften. Bund und Länder einigten sich schließlich können. 1979 auf das Akademienprogramm, das langfristige und überregionale Projekte in den Geistes- und Sozialwissen- Die Akademienunion koordiniert das jährlich ausgeschrie- schaften fördert. Wichtigstes Anliegen dieses Programms bene Akademienprogramm und berät ihre Mitglieds war und ist es seither, kulturelles Erbe zu erschließen, zu akademien, die die Vorhaben des Programms betreuen, sichern und zu vergegenwärtigen. ausgehend vom Prozess der Antragstellung über die erste Evaluierung bis hin zum Abschlussbericht. In den von der Akademienunion koordinierten Gremien arbeiten die Bund und Länder einigten sich 1979 Akademien eng zusammen mit dem Ziel, Kooperationen untereinander zu fördern und gemeinsame Strategien zu auf das Akademienprogramm. erarbeiten, um das Akademienprogramm inhaltlich und methodisch weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck wer- den etwa gemeinsame digitale Erschließungsstandards Ein erster wichtiger Schub für den Ausbau des Akademien festgelegt, Forschungscluster gebildet und die Fächer- programms erfolgte bereits 1980, als eine größere vielfalt des Programms gesichert. Gruppe von Musikeditionen aus der Förderung der Stif- tung Volkswagenwerk übernommen werden konnte. 19
Nach der Wiedervereinigung erfuhr das Akademienpro- buch oder das elektronische Wörterbuch zur deutschen gramm eine erneute Ausweitung durch die Übernahme Gebärdensprache. Das Akademienprogramm bildet die von Langzeitprojekten der ehemaligen Deutschen Aka- gesamte Entwicklung der deutschen Sprache ab, bietet demie der Wissenschaften der DDR und der Sächsischen aber nicht nur für die deutschsprachige Lexikographie Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 2000 wurden die und Linguistik zentrale Werkzeuge. Zusätzlich werden im gesamte Durchführung und die Koordination des Aka- Akademienprogramm Regionalsprachen, Dialekte sowie demienprogramms in die Hände der Akademienunion Ortsnamen erforscht. gelegt. Heute ist das Akademienprogramm in der deut- schen Wissenschaftslandschaft das (!) Förderprogramm für Grundlagenforschungen in den Geisteswissenschaf- AKTUELL UND ZUKUNFTSWEISEND – DIGITALISIERUNG, ten und leistet insbesondere für den Erhalt und die Wei- C HA NC ENGLE I CHHE I T, N ACHWUC HSFÖ RDERUNG , terentwicklung der „Kleinen Fächer“ einen unschätzba- INTERNATIONALISIERUNG ren Beitrag. Die Aus- und Weiterbildung von in- und ausländischen Spezialistinnen und Spezialisten, die Unterstützung von GROSSE NAMEN, SCHÖNE KLÄNGE, VIELFALT Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissen- DER SPRACHE – DIE SCHÄTZE DES AKADEMIEN schaftlern durch die Schaffung von Karrieremöglichkei- PROGRAMMS ten auf allen wissenschaftlichen Qualifikationsstufen, die gezielte Förderung von Frauen in der Wissenschaft sowie Editionen und Werkausgaben im Akademienprogramm die internationale Zusammenarbeit sind fest verankerte widmen sich unter anderem herausragenden Theologen Bestandteile in den Projekten des Akademienprogramms. und Philosophen wie Leibniz, Kant und Schleiermacher Erfreulicherweise ist es gerade durch diese Maßnahmen oder dem großen Naturforscher Alexander von Humboldt. in den letzten Jahren gelungen, innerhalb der Projekte Einen weiteren Schwerpunkt stellen die historisch-kriti- des Akademienprogramms die Anzahl von Wissenschaft- schen Editionen der Werke bedeutender Komponisten lerinnen in Leitungsfunktionen deutlich zu erhöhen. dar, wie beispielsweise Felix Mendelssohn Bartholdy, Zahlreiche Forschungsprojekte des Akademienpro- gramms sind mittlerweile führend in den digitalen Zahlreiche Forschungsprojekte sind führend Geisteswissenschaften. Die Sicherstellung des digitalen Zugriffs auf wichtige Quellen und deren langfristige in den digitalen Geisteswissenschaften. Verfügbarkeit sind Voraussetzung für moderne Wissen- schaft, ebenso wie die Sicherung der Forschungsergeb- nisse und ihre Nachnutzbarkeit. Daher werden stetig Carl Maria von Weber oder Arnold Schönberg. Mehr als mehr Programmmittel für die Digitalisierung der For- 20 Wörterbücher werden momentan im Akademien schungsergebnisse verwendet. Die dafür notwendige programm gefördert: alt-, neu- oder fremdsprachige personelle und technische Infrastruktur wird an den Aka- Wörterbücher, Wörterbücher zur althochdeutschen und demien und durch immer intensivere Kooperationen der frühneuhochdeutschen Sprache, das digitale Wörterbuch Akademien untereinander sowie mit Universitäten und zu deutschen Familiennamen, das Tibetische Wörter- Rechenzentren beständig vorangetrieben. 20
Das Akademienvorhaben „Bernd Alois Zimmermann Gesamtausgabe“ Das von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaf- ten und der Literatur | Mainz gemeinsam getragene Vorhaben „Bernd Alois Zimmermann-Gesamtaus- gabe. Historisch-kritische Ausgabe seiner Werke, Schriften und Briefe“ ist das erste musikwissenschaft- liche Editionsvorhaben im Akademienprogramm für die Musik nach 1945. Gegenstand des in enger Zusammenarbeit mit dem Musikarchiv der Akade- mie der Künste Berlin entwickelten Projektes ist eine der markantesten Komponistenpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, dessen Werke weltweit aufgeführt werden. Die Verwirklichung der Gesamtausgabe im Akademienprogramm bietet eine derzeit einmalige Chance zur Entwicklung innovativer philologischer Methoden im Bereich der Musik. Bernd Alois Zimmer- manns gesamtes Schaffen wird gemeinsam mit dem Verlag Schott Music in einer hybriden Edition vorge- legt, in der eine digitale, internetbasierte Version auf die Ansprüche eines vertieften, quellenorientierten Forschungsinteresses ausgerichtet ist. Die Druckaus- gabe stellt vor allem Informationen für die musika- Foto: Schott Promotion lische Aufführungspraxis bereit. Das Vorhaben wird geleitet durch Dörte Schmidt, Professorin für Musik- wissenschaft an der Universität der Künste Berlin.
Das Akademienvorhaben „Deutsche Gebärdensprache“ Das Projekt „Entwicklung eines korpusbasier- ten elektronischen Wör terbuchs Deutsche Gebärdensprache (DGS) – Deutsch“ der Akade- mie der Wissenschaften in Hamburg erfasst und dokumentiert die Deutsche Gebärdensprache in ihrer lebendigen Vielfalt und erstellt hier- für ein elektronisches Wörterbuch. Dieses soll ein wichtiges Nachschlagewerk für alle wer- den, die die Gebärdensprache als Kommunika- tionsmittel nutzen, aber auch für das Erlernen der DGS sowie für Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler. Etwa 350 Stunden Videomaterial werden hierzu von dem aus Foto: DGS-Korpus, Universität Hamburg Gehörlosen und Hörenden bestehenden Pro- jektteam bearbeitet und analysiert. Das auf 15 Jahre angelegte Vorhaben wird in enger Kooperation mit der Universität Hamburg durch geführt und von Annika Herrmann und Thomas Hanke gemeinsam geleitet.
Das Akademienprogramm ist somit sowohl strukturell als im Akademienprogramm auch in Zukunft unverzicht- auch finanziell unvergleichlich. Selbst große europäische bare wissenschaftliche und kulturvermittelnde Beiträge Länder mit langer Wissenschaftstradition kennen ein zu Prozessen von Einigung sowie zu Grenzen überwin- solch langfristiges Förderformat nicht, das in der Lage dender Identitätsbildung bereitstellen. Sie strahlen damit ist, auch weit verstreute Quellen zusammenzuführen weit über unser nationales Wissenschaftssystem hinweg und zugänglich zu machen. Die Forschungserträge des auf kulturelle wie gesellschaftliche Bereiche aus. Akademienprogramms bereiten für viele Fachdisziplinen nicht nur grundlegende Quellen und Materialien auf, sondern setzen auch international zitierfähige Standards. Und nicht zuletzt der hohe Grad an internationaler wis- senschaftlicher Verflechtung und Kooperation verschaf- fen ihm auch im globalen Maßstab seit nunmehr 40 Jah- ren Rang und Geltung. In seiner Geschichte hat das Akademienprogramm bis heute unter Beweis gestellt, dass es in der Zusammen- arbeit der Akademien unter dem Dach der Akademien- union, im Verbund seiner Projekte und deren intensiver nationaler wie internationaler Kooperationsbeziehun- gen, der engen Anbindung der Vorhaben an die Universi- täten, der starken Einbeziehung der Projektmitarbeiterin- nen und Projektmitarbeiter in die wissenschaftliche Lehre und nicht zuletzt durch die ehrenamtliche Unterstützung zahlreicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu kontinuierlicher Innovation auf höchstem qualitativem Niveau fähig ist. Diese Stärken zu sichern und die konti- nuierliche Erweiterung des Akademienprogramms auch im europäischen Kontext zu fördern, stellen die wichtigs- ten Herausforderungen für die in der Akademienunion zusammengeschlossenen Wissenschaftsakademien in der nahen Zukunft dar. Wichtige Beiträge hierzu vermögen eine verstärkte thematische und methodische Vernet- zung einzelner Themenbereiche des Programms sowie die Sichtbarmachung und die verstärkte Vermittlung der Projektergebnisse in die Öffentlichkeit mittels moderner Wissenschaftskommunikation zu leisten. In einem zunehmend von nationalen Spannungen und Prof. Dr. Dr. Hanns Hatt ist Präsident der Union der deutschen Konflikten geprägten Europa können die Forschungen Akademien der Wissenschaften. 23
Iris Johanna Bauer: Frau Holzinger, Sie sind Professorin für internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität Konstanz. Eines Ihrer aktuellen Forschungs- themen sind traditionale Herrschaftsstrukturen im subsa- harischen Afrika. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen und was finden Sie daran besonders spannend? VON KÖNIGEN, CHIEFS UND DEMOKRATEN AKTUELLE FORSCHUNGSTHEMEN EINES NEUEN AKADEMIEMITGLIEDS Iris Johanna Bauer im Gespräch mit Katharina Holzinger: In vielen subsaharischen Staaten – Katharina Holzinger nicht in allen – existieren traditionale Herrschaftsstruktu- ren neben staatlichen Herrschaftsstrukturen. Ich forsche zu diesen traditionalen Strukturen, mit den staatlichen beschäftige ich mich dabei nur am Rande. In Konstanz habe ich die Professur für internationale Politik und Kon- fliktforschung inne und bin über die Konfliktforschung auf das Thema gestoßen. Innerstaatliche Konflikte waren ab Mitte der 1990er Jahre sehr häufig und sehr massiv im subsaharischen Afrika zu finden. Häufig sind das Kon- flikte zwischen ethnischen Gruppen. Die traditionalen Herrschaftsstrukturen beziehen sich immer auf ethni- sche Gruppen. Die Frage war: Haben sie etwas mit den 24
Konflikten zu tun? Sie sind mit »Traditionale Strukturen sind mit Sicherheit ein Identitätsfaktor – und ethnische Identität kann Sicherheit ein Identitätsfaktor – zu großen Konflikten zwischen den Ethnien führen. Eine andere und ethnische Identität kann zu Frage ist, wie demokratieverträg- lich die traditionalen Strukturen großen Konflikten führen.« sind. In den subsaharischen Staa- ten haben wir moderne staatli- Katharina Holzinger che Strukturen und parallel die informellen traditionalen Strukturen. Das kann zwischen Staat und traditionalen Herrschern zu Konflikten führen. Dieses Nebeneinander von politischen Strukturen finde ich besonders spannend. Wie demokratieverträglich ist das? Stimuliert es Konflikte oder hilft es sogar bei deren Lösung? Iris Johanna Bauer: Wie dominant sind die traditionalen Strukturen in den einzelnen Staaten? Gibt es innerhalb einzelner Staaten verschiedene traditionale Herrscher, die sich gegenüberstehen, und wie groß ist deren Rück- halt in der Bevölkerung? Katharina Holzinger: Ein relativ bekanntes Beispiel ist Uganda. Dort gibt es ein autokratisches Regierungssys- tem mit Präsident Museveni, der schon sehr lange im Amt ist, zusätzlich gibt es stark ausgeprägte traditionale Strukturen: sieben Königtümer und zahlreiche ethnische Gruppen, die als Häuptlingstümer organisiert sind. Das bekannteste Königtum in Uganda ist Buganda. Buganda ist das Gebiet rund um die Hauptstadt Kampala. Unge- fähr 20 Prozent der ugandischen Bevölkerung gehören zu Buganda und haben einen eigenen König. Das Königreich Foto: Universität Konstanz hat formale Strukturen wie Parlament und Ministerien, ist aber relativ autokratisch organisiert. Die Bevölkerung ist absolut loyal zu ihrem König. Bei der Audienz, wenn der König im Autokonvoi vorbeifährt, oder wenn er öffent- lich eine Rede hält, fallen sie auf die Knie. Das sind sozial fest verankerte Strukturen.
Iris Johanna Bauer: Wie ausgeprägt sind moderne staat- liche Strukturen im subsaharischen Afrika? Wie sind sie »Welche Erklärung haben Sie für aufgebaut? Wie verbreitet ist Demokratie? die Entwicklungsschwierigkeiten Katharina Holzinger: Mit Ausnahme von Swasiland dieser Staaten?« haben wir im subsaharischen Afrika überall moderne staatliche Strukturen. Modern heißt vor allem säkular Iris Johanna Bauer und nicht durch einen Gott, sondern durch den Willen der Bevölkerung legitimiert. Es gibt eine Verwaltung, ein Parlament, ein Justizsystem, aber all das ist mal mehr und mal weniger demokratisch. Demokratische Staaten sind In den 45 Staaten, die zu Subsahara-Afrika zählen, gibt zum Beispiel Benin und Ghana in Westafrika; Südafrika, es jedoch große Unterschiede. Einige kleine Inselstaaten Botswana und Namibia im südlichen Afrika; im östlichen haben überhaupt keine indigene Bevölkerung mehr. In Afrika ist Kenia einigermaßen demokratisch, aber viele den meisten afrikanischen Staaten stellt die indigene subsaharische Staaten sind sehr autokratisch. Alle verfü- Bevölkerung mit etwa 90 Prozent die Mehrheit. Wir gen jedoch über moderne staatliche Strukturen. gehen davon aus, dass weltweit noch etwa 30 Prozent der Foto: Helmut Mittermaier Bevölkerung in traditionalen Strukturen leben, im subsa- Iris Johanna Bauer: Gibt es Bereiche, in denen die tradi- harischen Afrika sind es 70 Prozent. Aber das variiert sehr tionalen Strukturen und Herrscher, wie zum Beispiel die stark von Staat zu Staat. Einem Staat wie Uganda mit den sieben ugandischen Könige, in das staatliche Regierungs- sieben Königtümern und noch anderen ethnischen Grup- system eingebunden sind? Wie sind die Kompetenzen pen steht etwa Tansania gegenüber, wo in der Phase der generell verteilt? sozialistischen Herrschaft nach der Unabhängigkeit die traditionalen Strukturen ausgemerzt wurden. In Tansania Katharina Holzinger: Auch das variiert sehr stark, wenn gibt es allenfalls noch ein paar kulturelle Funktionen, die auch die Anerkennung traditionaler Strukturen in Verfas- Chiefs innehaben. Swasiland hingegen, und das ist ein sungen seit 1960 stark zugenommen hat und inzwischen Einzelfall, ist komplett traditional. In diesem kleinen Land die Hälfte aller Staaten betrifft (siehe Diagramm). Das gibt es überhaupt keine moderne staatliche Struktur. Der Nebeneinander von traditionalen und modernen staatli- König ist der Regierungschef und auf lokaler und regio- chen Strukturen ist zunächst auch ein Nebeneinander in naler Ebene herrschen die Chiefs, die das Beratergremium den Köpfen. Es ist für Afrikaner im Normalfall kein Ent- für den König sind. weder-Oder, kein Widerspruch. Man geht zur Wahl und gleichzeitig ist man loyal seinem Chief oder König gegen- Iris Johanna Bauer: Kann man also sagen, die traditiona- über. Es gibt Aufgaben, die die traditionalen Autoritäten len Strukturen sind eher regional und auf lokaler Ebene typischerweise erfüllen. Auf einer niedrigen Ebene ist das verankert? die Konfliktregelung zwischen Individuen, aber auch zwi- schen ethnischen Gruppen. Es gibt zum Beispiel das soge- Katharina Holzinger: Ja, auf lokaler und regionaler nannte Cattle Raiding. In diesen Fällen von gegenseitigem Ebene, weil sie an die ethnischen Gruppen gebunden Viehraub obliegt den Traditionalen die Konfliktschlichtung. sind, die sich lokal und regional organisieren. Außerdem sind sie sehr stark in der Landvergabe tätig, 26
Chief eines Dorfes im Norden der Elfenbeinküste im Oktober 2019 denn die modernen staatlichen Strukturen sind vielfach nicht so funktional, wie bei uns. Dass das Grundeigentum – wie in Deutschland – in einem Katasteramt registriert »Es gibt Aufgaben, die die traditionalen ist, ist in Afrika nur zu einem sehr geringen Prozentsatz der Fall. Landvergabe ist oft die faktische Kompetenz der Autoritäten typischerweise erfüllen.« Traditionalen. Sie kann aber auch integriert sein: Namibia und Botswana haben zum Beispiel sogenannte Land Com- Katharina Holzinger missions, in denen traditionale und staatliche Vertreter zusammensitzen und Entscheidungen über Eigentums- rechte treffen. In Uganda steht seit 1992 in der Verfassung, dass die Könige nur kulturelle Funktionen haben, bestimmte Feste 27
Verfassungsrechtliche Anerkennung von traditionalen Strukturen über die Zeit 100 Staaten mit verfassungsrechtlicher Anerkennung 80 Alle 60 Rechte indigener Gruppen Traditionales Gewohnheitsrecht Gewohnheitsrecht 40 20 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 feiern und Ähnliches. Rechtlich haben sie also keine politi- Es gibt also große Unterschiede in der Integration der sche Funktion, faktisch stimmt das aber nicht. Andere Staa- traditionalen Herrschaft in die staatlichen Verfassungen ten schaffen innerhalb der staatlichen Verfassung Gremien oder in das einfache Recht. Namibia kennt zum Beispiel für die Traditionalen. Botswana hat ein House of Chiefs, als erste Gerichtsstufe den traditionalen Chief. Erst wenn ein beratendes Gremium, das praktisch wie in einem Zwei- eine Streitpartei damit nicht zufrieden ist, folgt die erste Kammer-System funktioniert, ähnlich dem House of Lords Stufe des staatlichen Gerichtssystems. Diese Form der Ein- in England. Auch in Namibia, Ghana und Sambia gibt es bindung gibt es nur in Namibia. Auch diese Unterschiede Vergleichbares, aber längst nicht in allen Ländern. in der Integration interessieren mich besonders. 28
Iris Johanna Bauer: Welche Erklärung haben Sie für die Entwicklungsschwierigkeiten dieser Staaten? »Weltweit leben etwa 30 Prozent Katharina Holzinger: Ich bin keine Entwicklungsökono- der Bevölkerung in traditionalen min, ich forsche auch nicht zur Entwicklungspolitik. Aber natürlich habe ich dazu Ideen. Bildung ist für mich ein Strukturen, im subsaharischen Afrika wesentliches Element. In vielen afrikanischen Staaten gibt es Universitäten, auch wenn diese oft mit westli- sind es 70 Prozent.« chen Universitäten in der Forschung nicht konkurrieren können, und damit eine Bildungselite. Bildung ist aber Katharina Holzinger in der Breite der Bevölkerung nicht gut verankert. Die allgemeine Schulpflicht kann sehr kurz sein oder es gibt sie gar nicht. Mädchen werden manchmal nicht zur Schule geschickt. Also Bildung ist ein wesentliches Element. Bil- Sie haben mehr mit Armut zu kämpfen als sozusagen dung schafft Anreize für Individuen und treibt die Öko einer „Freiheitslust“ der Bevölkerung, die sie unterdrü- nomie an. Außerdem fehlt ein duales Ausbildungssystem, cken müssten. Es gibt selbstverständlich auch andere wie wir es in Deutschland haben, in diesen Staaten ganz Staaten in Afrika, insbesondere von dort kommen viele stark. Der gut ausgebildete Handwerker fehlt, und das Flüchtlinge zu uns: Äthiopien und Eritrea hatten und bringt mich zu einem weiteren Punkt: fehlende Infra- haben hochrepressive Systeme. Auch in Ruanda wird die strukturinvestitionen als Kollektivgüter. Über eine lange Bevölkerung sehr stark kontrolliert. Aber in den meisten Zeit ist zu wenig beispielsweise in Schulen und das Ver- anderen subsaharischen Staaten ist die Kontrolle nicht kehrssystem investiert worden. Und dort, wo Gelder flie- so ausgeprägt. Teilweise ist aber auch die nötige Infra ßen, etwa durch die Entwicklungshilfe oder durch chine- struktur nicht vorhanden. Internetzugang gibt es in den sische Investitionen, ist anschließend die Erhaltung der Städten und auch immer an den Universitäten, auf dem Strukturen das Problem. Neben dem Bildungssystem und Land wird es schwieriger. Handys sind unglaublich weit Infrastruktur ist der Mangel an Demokratie und Rechtssi- verbreitet, Smartphones noch nicht so stark, aber das cherheit ein wesentliches Problem. Es gibt zu viele auto- kommt in ein paar Jahren. Mobile Money ist zum Beispiel kratische Systeme und das bedeutet Herrschaft, die mehr viel weiter verbreitet als bei uns. Im Bereich moderner am eigenen Wohl als an dem der Bevölkerung interessiert Technik werden also auch Entwicklungsstufen übersprun- ist. Es gibt sehr viel Korruption im politischen System. gen. Unterdrückung von Informationen gilt aber nur für wenige Staaten in Afrika. Iris Johanna Bauer: Wie repressiv sind die autokratischen Staaten im subsaharischen Afrika? Gibt es dort starke Frei- Iris Johanna Bauer: Auf welche Schwerpunkte muss sich heitsbeschränkungen, wie etwa in China eine Begren- die europäische und deutsche Politik in Bezug auf Afrika zung des Internets? fokussieren? Katharina Holzinger: Eine allgemeine Antwort ist auch Katharina Holzinger: Die Frage ist mir zu politisch. Die hier schwierig. Die meisten dieser Autokratien haben nicht Politik muss entscheiden, was sie machen will – ich habe diesen totalitären Anspruch, der in China deutlich wird. aber eine Meinung. Wenn es um Entwicklung geht, 29
»Wie interdisziplinär ist das Exzellenzcluster ausgerichtet?« Iris Johanna Bauer würde ich immer sagen: Bildung unterstützen. Aber die- ser Aspekt ist den Entwicklungsinstitutionen bewusst. Die Politik müsste natürlich stärker gegenüber Autokraten auftreten. Wenn Deutschland etwa die Fluchtursachen an der Quelle bekämpfen möchte, ist es wenig sinnvoll Foto: Franziska Urban Plakate aufzuhängen, auf denen in etwa steht: „Kommt nicht nach Deutschland, es ist nicht so toll, wie ihr euch das vorstellt!“. Man müsste den Autokraten stärker Paroli bieten, doch das ist im internationalen System anerkann- ter souveräner Staaten sehr schwierig. Eine Einmischung von außen ist nur erlaubt, wenn es Menschenrechts- verletzungen gibt. Iris Johanna Bauer: Ich würde gern noch über ein ande- res Thema sprechen: Sie befassen sich in einem neuen Abbau von Ungleichheit sorgen. Weil zu erwarten ist, dass Exzellenzcluster in Konstanz mit der politischen Dimen- bei Wahlen Politiker für diese Entwicklung abgestraft wer- sion der Ungleichheit. Was ist dort Ihr Ansatzpunkt? Und den. Wachsende Ungleichheit bedeutet, dass ein ganz welche Staaten untersuchen Sie? geringer Prozentsatz der Bevölkerung über sehr hohe Ein- kommen und sehr große Vermögen verfügt und die Mit- Katharina Holzinger: Die Forschung im Exzellenzclus- telschicht immer kleiner wird. Die Angehörigen der Mittel- ter konzentriert sich stark auf die OECD-Länder. Der schicht müssten eigentlich bei Wahlen darauf reagieren, Ansatzpunkt des Clusters ist, dass wir in den modernen aber diese Reaktion ist nur schwach ausgeprägt. Demokratien in der letzten Zeit eine Zunahme an sozio- ökonomischer Ungleichheit beobachten. Wir haben sehr In dem Exzellenzcluster geht es um die Grundsatzfragen: ungleiche Staaten wie die USA oder im europäischen Wie setzt sich objektiv messbare Ungleichheit zusam- Kontext auch Deutschland mit einer hohen sozioökono- men und wie wird sie politisch wahrgenommen? Wel- mischen Ungleichheit – einer Ungleichheit, die über die che Ansprüche an die Politik entstehen und wie reagiert letzten Dekaden gewachsen ist. Als Politikwissenschaft- die Politik darauf? Welche Wirkungen haben politische lerinnen und Politikwissenschaftler fragen wir, wieso das Änderungen und wie werden sie wahrgenommen? Es ist passiert. Denn die Demokratie müsste eigentlich für den dieser Kreislauf, den wir untersuchen wollen. 30
Im Wesentlichen schauen wir auf Einkommens- und Katharina Holzinger: Nachdem ich im Sommer 2019 Vermögensungleichheit, auf Bildungsungleichheit und aufgenommen wurde, bin ich zur ersten Klassensitzung auf etwas, das wir „Rechte und Privilegien“ nennen. gegangen und das war ein bisschen wie Heimkommen Wir untersuchen bestimmte Gruppen – und das sind für mich. Die meisten anderen Mitglieder kenne ich durch zum Beispiel Frauen oder ethnische Gruppen, auch Mig- meine wissenschaftliche Karriere an verschiedensten ranten –, die vielleicht rechtlich besser oder schlechter Stationen in Deutschland. Eine Schwierigkeit ist für mich gestellt sind, und wie Ungleichheiten zwischen diesen natürlich die räumliche Distanz. Ich finde das Angebot an Gruppen verhandelt werden. Einkommen/ Vermögen, Veranstaltungen sehr verlockend und es ist sehr bedauer- Bildung und Gruppenp rivilegien – das sind unsere drei lich, dass ich nicht für eine Veranstaltung mal schnell nach Themenkomplexe. Berlin fahren kann. Iris Johanna Bauer: Warum reagiert die Mittelschicht Iris Johanna Bauer: Vielen Dank für das Gespräch! nicht? Was sind ihre Ansätze, Vermutungen, Thesen? Katharina Holzinger: Das ist tatsächlich eine entschei- dende Frage. Warum werden beispielsweise die Sozial- demokraten nicht mehr gewählt, obwohl sie das Thema Ungleichheit doch am ehesten in ihren Wahlprogram- men haben? Wir wissen es nicht, wir fangen mit dem Cluster gerade erst an. Für einen Teil der Kolleginnen und Kollegen ist es ein Schwerpunkt der Forschung, her- auszufinden, warum wir in Deutschland und Europa oder allgemein im Westen so duldsam in Bezug auf Ungleich- heit sind. Iris Johanna Bauer: Wie interdisziplinär ist das Exzellenz- cluster ausgerichtet? Welche Disziplinen sind beteiligt? Katharina Holzinger: Neben der Politikwissenschaft sind die Ökonomie und die Soziologie beteiligt. Außer- dem – das ist wichtig, wenn es um die Wahrnehmung von Prof. Dr. Katharina Holzinger ist Professorin für internationale Ungleichheit geht – die Psychologie und – bezogen auf das Politik und Konfliktforschung an der Universität Konstanz. Framing von Ungleichheit – auch die Linguistik. Das Clus- Sie ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der ter ist aber offen für weitere Mitglieder und Disziplinen. Wissenschaften. Iris Johanna Bauer: Sie sind ein neues Mitglied der Berlin- Iris Johanna Bauer hat Geschichte, Kulturgutsicherung und Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Was Kunstgeschichte in Bamberg und Neuere Geschichte in Köln bedeutet für Sie die Mitgliedschaft in der Akademie? studiert. Sie ist Volontärin im Referat Presse- und Öffentlichkeits arbeit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 31
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