MUSIKFREUNDEFEBRUAR - Wien - Berlin - Wien DIE BERLINER PHILHARMONIKER MIT KIRILL PETRENKO - Musikverein
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MUSIKFREUNDE Inhalt 4 Wien – Berlin – Wien 24 Die „organisirte Trompete“ Die Berliner Philharmoniker Joseph Haydns mit Kirill Petrenko Trompetenkonzert 8 „Ich bin wirklich sehr kreativ, aber 28 Immer mit gutem Humor nur ein Diener des Stücks“ Marin Alsop Sir András Schiff 32 Chiffren des Wunderbaren 14 Die Stimme als Brücke zur Seele Beethovens „Geistertrio“ Alexia Chrysomalli und das „Geisterreich“ des E.T.A. Hoffmann 16 Musikalischer Sprachenreichtum 36 Auf dem Grat Sakina Teyna Jewgenij Kissin und das sogenannte Virtuose 18 AB–BA Anton Bruckner und Alban Berg Standards 3 Editorial 22 Alla breve 41 Kalendarium Februar 46 Preludio 48 Vorschau März
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MUSIKFREUNDE Editorial Liebe Musikfreundinnen und Musikfreunde, welch ein Glück, wieder in einem Konzertsaal zu sitzen Auch wenn sie nicht im Sprachlichen aufgeht, will sie und das Erlebnis der Musik mit anderen zu teilen! Sir doch etwas mitteilen – das schließt Teilnahme und Teil- András Schiff sprach davon, als wir uns ausführlich zu habe notwendig mit ein. Kann man, so gesehen, überhaupt den Konzerten seines Musikverein-Porträts unterhalten von „absoluter Musik“ sprechen? Marin Alsop, Chefdiri- konnten. Dieses Gespräch fand im Sommer statt. Dass im gentin des RSO Wien, meldet im Interview für diese Aus- späteren Herbst ein weiterer Lockdown kommen würde, gabe Zweifel daran an. „Ich weiß nicht, ob es absolute war damals noch nicht zu erwarten. Nun liegt auch diese Musik überhaupt gibt. Nur weil zu einem Stück kein neuerliche Schließzeit hinter uns – glücklicherweise. Wir Programm existiert, heißt das nicht, dass es nichts erzählt. alle freuen uns, mit einem dichtgefüllten Konzertkalender Ich glaube, ohne irgendeine Art von Geschichte oder Bot- ins Jahr 2022 starten zu können. schaft ist es schwer, ein Stück zum Leben zu bringen.“ Gern möchte ich die Gelegenheit nützen, Ihnen, liebe Diese Geschichte, diese Botschaft lässt sich nicht wirklich Musikfreundinnen und Musikfreunde, herzlich für Ihr in Worte fassen. Darum sollte es auch nicht gehen, wenn Verständnis, Ihre Kooperationsbereitschaft und Ihr Ver- die Musik zur Sprache gebracht wird. Was also bleibt der trauen in den Musikverein zu danken. Danke dafür, dass Sprache, was kann sie leisten? Sie kann dazu einladen, Sie uns über die schwierigen Zeiten eines stillgelegten sich von der Musik erzählen zu lassen. In diesem Sinn Spielbetriebs hinweg die Treue gehalten haben! Nun soll wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen dieser Aus- die Musik wieder so klingen dürfen, wie sie gedacht ist. gabe. Lassen Sie sich einladen zur Begegnung mit der András Schiff sagt es in dem Gespräch, das Sie in dieser Musik: live im Musikverein. Ausgabe nachlesen können. „Das Gemeinsame ist wich- tig. Wir können zu Hause an den besten Anlagen Musik Herzlich hören, aber es ist nicht das Gleiche.“ Musik ist Kommu- nikation. Sie braucht das lebendige Gegenüber, die Präsenz der Hörenden, die fühlbare Schwingung im Austausch zwischen den Musizierenden und dem Publikum. Dr. Stephan Pauly Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 3
WIEN – BERLIN – WIEN Fotos: Monika Rittershaus Die Porträtkonzerte der Berliner Philharmoniker im Musikverein sind Chef sache. Selbstverständlich! Kirill Petrenko dirigiert, und Wien freut sich auf eine langersehnte Premiere: Erstmals ist der gefeierte Maestro hier mit den Berlinern zu erleben. Freilich: Ins Herz geschlossen hat ihn Wien schon lange. Wilhelm Sinkovicz erinnert an eine Beziehungsgeschichte, die vor bald 25 Jahren im Musikverein begann. 4
WIEN – BERLIN – WIEN Wien – Berlin – Wien Die Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko Es hat im Großen Musikvereinssaal begonnen. Die Saison Dieser Auftritt am 9. Juni 1997 war die Geburtsstunde war schon beinah zu Ende und die Musikfreunde berei- einer Karriere, die in unseren Tagen beinah ohne Vergleich teten ihre Sommerfrische-Aufenthalte vor. Ein Häuflein ist – und zwar paradoxerweise, weil sie so verlief, wie Aufrechter verirrte sich aber noch ins Abschlusskonzert früher einmal solide Dirigentenkarrieren unbedingt ver- der Dirigentenklassen der Wiener Musikuniversität. Das laufen sind. Heutzutage ist ja alles ganz anders geworden. ORF Radio-Symphonieorchester spielte unter der Leitung Wird ein Talent dieses Kalibers entdeckt, steht es wenig der jüngsten Absolventen, und da ließ ein schmächtiger später am Pult der großen philharmonischen Orchester junger Mann aufhorchen: Er hieß Kirill Petrenko, stamm- in Europa und Amerika, erntet Jubel und hymnische te aus Omsk, war in Vorarlberg aufgewachsen und galt Kritiken für Aufführungen von Mahler- und Schostako- seit seinem Erscheinen in Wien unter den Lehrkräften witsch-Symphonien und dirigiert Tschaikowskijs „Eugen der Universität als echter Geheimtipp. Onegin“ an wichtigen Opernhäusern. Dass die von solchen Davon wusste das Publikum im Saal aber noch nichts. Es Hypes zu Berühmtheit gelangten Maestri meist enorme staunte zunächst vor allem darüber, dass dieser angehen- Schwierigkeiten bekommen, wenn sie irgendwann einmal de Kapellmeister, der so gar nicht arrogant-großspurig gezwungen sind, Mozart, Beethoven oder gar Haydn zu aufgetreten war, in dem Moment, in dem er den Taktstock dirigieren, bleibt in der Regel unbemerkt. Manch einer hob, ungeheures Charisma entfaltete. Der Orchesterklang kommt viele Jahre lang ohne das klassische Repertoire schien plötzlich verwandelt, lebendig in allen Stimmen, aus. flexibel, atmend … 5
WIEN – BERLIN – WIEN Petrenko wollte keine solche Karriere machen. Er ver- Für Petrenko kam dann das Angebot des Staatstheaters schwand nach seinem Universitäts-Abschlusskonzert. Meiningen gerade recht: Er akzeptierte, wurde General- Zumindest verschwand er aus der vordersten Linie, in die musikdirektor und realisierte, was niemand für möglich ihn einige Veranstalter gern sogleich gestellt hätten. Er gehalten hätte: einen „Ring des Nibelungen“ an vier auf- zog es vor, alle größeren Angebote auszuschlagen und einanderfolgenden Abenden – mit einem um viele Musi- sich in Wien zunächst einmal an der Volksoper vorzu- ker aus der Region vergrößerten Orchester und in einer stellen. Und das mit einer Aufgabe, die einer schweren Inszenierung von Christine Mielitz in Bühnenbildern von Aufnahmeprüfung gleichkam: Er dirigierte eine Wieder- Alfred Hrdlicka. Schon war die Welt wieder aufmerksam aufnahme von Oscar Straus’ „Ein Walzertraum“. Wer eine geworden, und der Ruhm des jungen Dirigenten verbrei- leise Ahnung vom Kapellmeisterhandwerk hat, weiß, dass tete sich umso rascher. An der Volksoper wandte sich eine solch kleinteilige Operettenpartitur in der Praxis Petrenko mit wachsender Sicherheit den unterschied- anspruchsvoller ist als, sagen wir, eine „Walküre“. lichsten, immer aber heiklen Aufgaben zu und enttäusch- te nie, ob Mozarts „Così fan tutte“, Mussorgskijs „Boris Godunow“ oder Orffs „Bernauerin“ auf dem Programm Dienstag, 15. Februar 2022 stand. Mit diesen Erfahrungen und jenen aus Meiningen im Köcher ging es nach Berlin. Das erste Mal, wie man Berliner Philharmoniker jetzt weiß, damals aber noch nicht ahnen konnte. Die Damen des Wiener Singvereins Komische Oper rief – und die Kritiker suchten von Pre- Kirill Petrenko | Dirigent miere zu Premiere nach Vokabeln des verbalen Lobpreises. Sir András Schiff | Klavier Johannes Brahms Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur, op. 83 Josef Suk Zrání. Symphonische Dichtung, op. 34 6
WIEN – BERLIN – WIEN Die Berliner Philharmoniker waren nach eini gen Begegnungen überzeugt, hier den Mann für die Zukunft entdeckt zu haben. Mittwoch, 16. Februar 2022 Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko | Dirigent Bernd Alois Zimmermann Photoptosis. Prélude für großes Orchester Witold Lutosławski Symphonie Nr. 1 Johannes Brahms Apropos Raritäten: Franz Schmidts Vierte hatte den in Symphonie Nr. 2 D-Dur, op. 73 Wien ausgebildeten Maestro als Anleihe bei einer längst auch „daheim“ verschütteten Tradition durch die ersten Jahre seiner Karriere begleitet. Er verlangte das grandio- se, aber kaum bekannte Werk für sein Debüt beim WDR in Köln ebenso, wie es sich später im Programm seiner ersten Auftritte bei den Salzburger Festspielen fand. Auch Was das Repertoire anlangte, gab es bei Petrenko immer bei seinem ersten offiziellen Musikvereinskonzert in Wien wieder Überraschungen. Auch bei den kurzen, aber stets mit dem RSO stand diese Symphonie auf dem Programm, effektvollen Gastspielen im Theater an der Wien, wo sich gekoppelt – heikler geht es nicht – mit einer Haydn-Sym- der Dirigent immer wieder Werken widmete, die allseits phonie. Das Wiener Publikum feierte bald jeden Auftritt als zumindest undankbar, wenn nicht als völlig wirkungs- dieses Künstlers als Fest. Und wie das Feste so an sich los gelten. Es kommt, man erfuhr es bei dieser Gelegenheit haben: Sie werden nicht alle Tage gefeiert. Mit jeder Wie- wieder, immer nur darauf an, wer am Dirigentenpult steht. derkehr in die Stadt seiner musikalischen Studien hat Das erkannten auch die Berliner Philharmoniker, die den Kirill Petrenko einen weiteren großen Karriereschritt aufsteigenden jungen Mann gern am Pult sahen und von absolviert. Nun kommt er erstmals als Chefdirigent der denen er sich schon bei den ersten Begegnungen die er- Berliner Philharmoniker in den Großen Musikvereinssaal. staunlichsten Stücke wünschte. Edward Elgars Zweite Und wie nicht anders zu erwarten, werden die Musiker Symphonie zum Beispiel, die Vierte von Franz Schmidt nebst Johannes Brahms’ Zweiter Symphonie und dessen oder Konzertmusiken von Rudi Stephan, dem im Ersten B-Dur-Klavierkonzert (mit Sir András Schiff) auch Werke Weltkrieg gefallenen Hindemith-Zeitgenossen, von dem wie Bernd Alois Zimmermanns „Symphonie in einem die meisten Musikfreunde bestenfalls den Namen kennen. Satz“ oder Witold Lutosławskis Erste Symphonie im Ge- In allen Fällen war das Publikum so überrascht wie die päck haben. Das erste der beiden Programme endet mit Kenner, welche Schätze ihnen da über Jahrzehnte vor- einem Werk, das vermutlich selbst geeichte Konzertbe- enthalten worden waren und welch grandioser Interpret sucher noch nie gehört haben, Josef Suks symphonischer hier zu entdecken war. Und die Berliner Philharmoniker Dichtung „Zrání“, dem Opus 34 des Dvořák-Schwieger waren nach einigen Begegnungen überzeugt, hier den sohns, das jenseits der tschechischen Grenze selten Mann für die Zukunft entdeckt zu haben. Der zweite Ruf gespielt wird, in der böhmischen Heimat des Komponis- nach Berlin folgte, und Petrenko, der seit 2003 als Gene- ten jedoch als ein musikalisches Nationalheiligtum verehrt ralmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper für wird. Václav Talich küsste die Partitur des Werks, nachdem Furore sorgte, nahm ihn an – wenn auch nach einigem er die Uraufführung dirigiert hatte … Zögern. Das Orchester musste ein zweites Mal nach- Es wäre nicht Kirill Petrenko, wenn er sein Wiener Publi- fragen … kum nicht mit einer veritablen Entdeckung überraschte. Wilhelm Sinkovicz Dr. Wilhelm Sinkovicz ist Erster Musikkritiker und leitender Redakteur der Tageszeitung „Die Presse“ in Wien. 7
„ICH BIN WIRKLICH SEHR KREATIV, ABER NUR EIN DIENER DES STÜCKS“ „Ich bin wirklich sehr kreativ, aber nur ein Diener des Stücks“ Sir András Schiff Sir András Schiff setzt die Reihe seiner Musikverein-Porträtkonzerte mit auf sehenerregenden Debüts fort: Erstmals arbeitet er, an der Seite der Berliner Philharmoniker, mit dem Dirigenten Kirill Petrenko zusammen. Und endlich erfüllt er sich einen langgehegten Wunsch: gemeinsam mit dem Pianistenkol legen Jewgenij Kissin zu musizieren. András Schiff im Gespräch mit Musik vereinsintendant Dr. Stephan Pauly. 8
„ICH BIN WIRKLICH SEHR KREATIV, ABER NUR EIN DIENER DES STÜCKS“ Foto: Lukas Beck Ein ganz zentrales Konzert in deiner Porträt-Reihe im … und dazu hast du jetzt in dieser Richtung eine bemer- Musikverein, lieber András, ist das mit den Berliner Phil- kenswerte Aufnahme vorgelegt, mit dem Orchestra of harmonikern und dem Zweiten Klavierkonzert von the Age of Enlightenment, bei der du das Konzert selber Brahms, dirigiert von Kirill Petrenko. Brahms hat es so- leitest, vom Klavier aus. Wie hat diese Erfahrung deinen zusagen auch für sich selbst geschrieben und es als Pia- Zugang zu diesem Stück geändert – im Vergleich zu so nist auch selbst uraufgeführt, 1881 in Budapest. Was wird vielen Aufführungen, die du mit großen Dirigenten hat- denn vom Pianisten Brahms in dieser Partitur spürbar? test? Was für ein Pianistenkollege war das? … ja und mit hervorragenden Orchestern! Diese Er- Das B-Dur-Konzert von Brahms gilt für uns Pianisten fahrung, mit alten Instrumenten, also mit einem alten als das größte und das schwerste – es hat so einen Ruf. Zu Klavier aus der Brahms-Zeit – das war ein Blüthner aus Recht, es ist enorm. Ich finde aber, dass es oft missver- 1859 – und mit einem Orchester, das auf sogenannten standen wird als ein gewaltiges, sehr kräftiges Werk. Es Originalinstrumenten mit Darmsaiten und Naturhörnern ist viel „sonniger“ als das 1. Klavierkonzert, das d-Moll- gespielt hat, die hat gezeigt: Das Klangbild ist viel klarer, Konzert, das ist ein majestätisches Werk. Brahms hat sich und es ist gar nicht schwerfällig. Die Metronomzahlen gesagt: „Jetzt schreibe ich etwas ganz Leichtes“, und das von Brahms sind ja ziemlich lebhaft. Von Schwerfälligkeit wurde dieses B-Dur-Konzert, aber es wird meistens sehr kann, wenn ich die Partitur lese und diese Klangerleb- schwerfällig gespielt, und ich versuche, das ein bisschen nisse vom Originalklang im Ohr habe, eigentlich nicht zu entschlacken. die Rede sein. Da muss das moderne Instrumentarium dann auch mitkommen. Ich habe sehr viel studiert und nachgelesen. Brahms hat ja mit Hans von Bülow und dem Meininger Orchester gespielt: mit 49 Musikern, das war alles. Heute spielen doppelt so viele. 9
„ICH BIN WIRKLICH SEHR KREATIV, ABER NUR EIN DIENER DES STÜCKS“ Fotos: Wolf-Dieter Grabner „Das Gemeinsame ist wichtig. Wir können wunderbar zu Hause an den besten Anlagen Musik hören, und es ist nicht das Gleiche.“ Sir András Schiff 10
„ICH BIN WIRKLICH SEHR KREATIV, ABER NUR EIN DIENER DES STÜCKS“ Dienstag, 15. Februar 2022 Donnerstag, 10. März 2022 Berliner Philharmoniker Sir András Schiff Damen des Wiener Singvereins Klavier Kirill Petrenko Jewgenij Kissin Dirigent Klavier Sir András Schiff Klavier Wolfgang Amadeus Mozart Sonate für zwei Klaviere D-Dur, KV 448 Johannes Brahms Robert Schumann Konzert für Klavier und Orchester Andante und Variationen für zwei Nr. 2 B-Dur, op. 83 Klaviere B-Dur, op. 46 Josef Suk Bedřich Smetana Zrání. Symphonische Dichtung, op. 34 Die Moldau (Fassung für Klavier zu vier Händen vom Komponisten) Antonín Dvořák Slawische Tänze, op. 46 und op. 71 (Auswahl) Aber offenbar ist ein großer Anreiz für dich, diese Er- er zwölf Jahre alt war: Da hörte ich seine Aufnahme von fahrungen und Erkenntnisse in die Zusammenarbeit mit den Chopin-Klavierkonzerten. Ich war absolut hingerissen! großen Orchestern einzubringen. Denn „play conduct“ Es war bezaubernd! Dann – ich habe ihn damals nicht mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment ist natür- gekannt, lange nicht – haben wir uns kennengelernt. Es lich etwas ganz anderes, als mit Kirill Petrenko und den war gegenseitige Sympathie. Ich weiß jetzt nicht, ob er Berliner Philharmonikern zu musizieren. Das erzählt ja oder ich das war, der gesagt hat: „Warum versuchen wir viel von der großen, künstlerischen Souveränität und nicht, etwas zusammen zu machen?“ So kam das zustan- Freude, das Stück und dich als Interpreten in unterschied- de. Wir planen das schon seit Jahren. Es ist nicht einfach, liche Situationen zu bringen. man ist auf Jahre hin ausgebucht, aber wir haben Zeit Ja, das Stück ist heilig, und ich bin wirklich sehr krea- gefunden, und das wird sehr interessant. Ich weiß noch tiv, aber nur ein Diener dieses Stücks. Für mich ist ein gar nicht, wie das wird. Lassen wir uns überraschen! Stück so, dass es seine eigenen Gesetze hat. Innerhalb dieses Rahmens dürfen wir Interpreten uns bewegen, Wenn man so zum ersten Mal zusammenfindet, ist das davon bin ich sehr überzeugt, aber da gibt es noch sehr dann eigentlich irgendwie Gegenstand von Verhandlun- viel Spielraum und sehr viele Alternativen. Da bin ich sehr gen, wer welchen Part spielt? neugierig – und ich freue mich enorm, ich habe bis jetzt Das besprechen wir einfach. Wir werden abwechselnd noch nicht mit Maestro Petrenko musiziert, aber ich habe Primo oder Secondo spielen, das spielt keine Rolle. Wir sehr viel von ihm gehört, und ich freue mich enorm auf sind sicherlich sehr unterschiedlich, vom Klang her, von diese Zusammenarbeit. der Schulung her, obwohl auch ich eine gewisse Erfahrung mit der Russischen Schule habe. Ich habe früher, in mei- Eine weitere, sehr interessante Konstellation in deiner ner Jugendzeit, viele Kurse gemacht mit russischen Pia- Residenz im Musikverein ist ein Abend an zwei Klavieren nistinnen und Pianisten. Mit Tatiana Nikolayeva oder bzw. mit Klavier zu vier Händen. Das ist eine Situation, Bella Davidovich …, ich habe sehr viel von ihnen gelernt, in der man dich nicht so oft erleben konnte. Jetzt hast aber ich spiele heutzutage keine russische Musik. Ich habe du dich dazu mit einem Pianisten zusammengefunden, das früher viel gemacht. Interessanterweise erweitern an den wohl kaum jemand gedacht hätte: mit Jewgenij viele Leute ihr Repertoire, ich reduziere mein Repertoire, Kissin. Wie kam es dazu? weil ich schon so viel gespielt habe – und ich möchte jetzt Es stimmt, bei mir kam das selten vor im Konzert, ob- nicht unbedingt Neues lernen, sondern die alten Sachen wohl ich diese Literatur auch sehr schätze und seit der besser spielen. Kindheit pflege. Es ist heikel, es gibt ja natürlich einge- spielte Duos, die nur das machen. Jewgenij Kissin ist ein wunderbarer Mensch und Pianist. Ich erinnere mich, als 11
Wien: 107,3 Im Internet Graz: 94,2 via Livestream und www.radioklassik.at Radiothek
„ICH BIN WIRKLICH SEHR KREATIV, ABER NUR EIN DIENER DES STÜCKS“ „Das B-Dur-Konzert von Brahms gilt für uns Pianisten als das schwerste – es hat so einen Ruf.“ Sir András Schiff Willy von Beckerath: Brahms am Klavier Kunstpostkarte / Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Es sind alles Originalkompositionen, die ihr aufs Pro- Wenn wir jetzt schon einen Ausblick auf den Abschluss gramm gesetzt habt, oder sagen wir Fassungen für zwei deiner Porträtkonzerte geben, dann rückt die Musik von Klaviere … Johann Sebastian Bach ins Zentrum. Über sie hast du in Ja, sogar „Die Moldau“ von Smetana. Smetana war ein einem früheren Interview für unsere Zeitschrift einmal großartiger Pianist, und ich wusste bis jetzt nicht, dass er gesagt: „Keine andere Musik gibt mir dieses komplette von der „Moldau“ eine Klavierfassung gemacht hat. Vergnügen: spirituell, emotional und intellektuell, auch physisch.“ Wie wichtig ist es denn heute, dieses Vergnü- Was glaubst du, wie wir das hören werden, wenn ihr gen mit dem Publikum zu teilen, oder anders gefragt: beide das spielt? Was wird man über die „Moldau“ an- Glaubst du, dass in den Zeiten der Pandemie das Be- deres erfahren oder anders hören können als in der dürfnis nach dem Teilen von, wie du sagst, spiritueller, Orchesterfassung? emotionaler Erfahrung größer geworden ist? Das weiß ich noch nicht. Wir müssen uns hinsetzen Das ist eindeutig. Das können wir jetzt schon sehen. und schauen, wie das klingt. Das ist eine Fassung, das ist Die Menschen sind viel dankbarer, sie sind wie ausgehun- keine Bearbeitung. Ich halte nicht viel von Bearbeitungen gert. Es sind sehr viele von ihnen, die das bitterlich ver- und überhaupt von dieser Bearbeitungskultur heute. „Má misst haben – und jetzt sind sie glücklich, wieder in einem vlast“ und „Die Moldau“ mit Orchester: Ich kann mir schönen Konzertsaal zu sitzen und ihr Erlebnis mit an- nichts Schöneres vorstellen. Ich erinnere mich, als ich deren Menschen zu teilen. Das Gemeinsame ist wichtig. das in Prag mit Rafael Kubelík hörte. Das vergesse ich nie. Wir können wunderbar zu Hause an den besten Anlagen Das sitzt in meinen Ohren, wie Kubelík das dirigierte, oder Musik hören, und es ist nicht das Gleiche. Ich möchte das die alte Aufnahme mit Václav Talich mit der Tschechischen auch teilen mit dem Publikum, und da ist die Bach’sche Philharmonie. Auch die Slawischen Tänze von Dvořák – Musik die größte und die beste, die es gibt. Wieder kom- und Dvořák war nicht ein Pianist wie Smetana, aber die me ich zur Bescheidenheit zurück. Bach ist überhaupt Tänze sind wunderbar für vier Hände. nicht ich-betont. Bach ist ein Teil der Gemeinde, und er schreibt für diese Gemeinde, weil das seine Pflicht ist. Er sagt: „Ja, ich bin ein frommer Mensch, der liebe Gott hat mir diese Begabung gegeben, und es ist meine Pflicht, davon das Beste zu tun.“ Das finde ich so berührend. Und in jedem Stück, ob das jetzt kirchliche Musik ist oder sä- kulare, ist Bachs Musik spirituell. Das Gespräch führte Intendant Dr. Stephan Pauly. Das komplette Interview können Sie als Video im Youtube-Kanal des Musikvereins sehen. 13
WIENER STIMMEN WIENER STIMMEN So vielfältig klingt die Stadt! Das Projekt „Wiener Stimmen“, 2022 im Großen Musikvereinssaal mit dem Tonkünstler- das die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien mit der Orchester Niederösterreich im Rahmen des Musikverein Brunnenpassage gestartet hat, zeigt es in einem faszinie- Festivals aufzuführen. Wir porträtieren in dieser und den renden musikalischen Prozess. Sechs in Wien lebende kommenden beiden Ausgaben der „Musikfreunde“ je zwei Sängerinnen mit unterschiedlichen musikalischen und dieser Sängerinnen. Wiener Stimmen – und die Geschich- sprachlichen Backgrounds wurden eingeladen, ihre Songs ten dahinter. für großes Orchester bearbeiten zu lassen und am 4. Juni Dieses Projekt wird von der Erste Bank im Rahmen der Premium-Partnerschaft mit dem Musikverein unterstützt. Die Stimme als Brücke zur Seele Alexia Chrysomalli Fotos: Georg Cizek-Graf 14
WIENER STIMMEN Ein Teil von „Wiener Stimmen“ zu sein erfüllt die aus Thes- saloniki stammende Singer-Songwriterin Alexia Chryso- malli mit unglaublicher Freude, und auch wenn das Konzert erst in ein paar Monaten stattfindet, hat es für sie bereits „in der Begegnung mit allen, die am Entstehungsprozess beteiligt sind, begonnen. Das Miteinander und die Offen- heit, die ich von allen bisher erfahren habe, sind für mich ein großes Glück“, sagt die seit 2016 in Wien lebende Sän- gerin. „Ich bin aber auch sehr stolz, was wir mit ,Wiener „Das Besondere an dieser Musik ist für mich“, so Alexia Stimmen‘ schaffen. Das Konzert hat so viele Dimensionen, Chyrysomalli, „dass sie uns direkt zu den Wurzeln zurück- die in der Verbindung starke Synergien entstehen lassen, führt. Die Themen kreisen um Natur oder Liebe, aber auf zwischen dem Tonkünstler-Orchester, das die klassische eine sehr unschuldige Art und Weise, gleichzeitig kann Musik repräsentiert, und jeder einzelnen von uns sechs die Musik aber auch etwas sehr Rohes und Archetypisches Sängerinnen, die mit ihren Songs die vielfältigsten musi- vermitteln. Die Rhythmen sind hoch komplex, von 5/8- bis kalischen Stile aus der ganzen Welt miteinbringt. Und der hin zu 9/8-Takten, die einen Groove ergeben, der durch Clou liegt für mich darin, dass wir alle zusammenkommen Noten schwer erfassbar ist. Die Melodien sind anders, als und eine Einheit bilden.“ man sie hier kennt, bedingt durch die unterschiedlichen Mit diesem Konzert erfüllt sich ein Lebenstraum für Alexia Skalen, die es in der griechischen Musik gibt. Die Penta- Chrysomalli, die bereits von Kindesbeinen an nichts ande- tonik spielt z. B. auch eine wichtige Rolle – oder eine res tun wollte als singen. Zunächst lernte sie jedoch Klari- bestimmte Ornamentik in der Phrasierung.“ nette, der Unterricht füllte sie nach einigen Jahren aber All die unterschiedlichen Elemente der griechischen nicht mehr aus. Sie nahm heimlich Gesangsstunden und traditionellen Musik fließen auch in Alexia Chrysomallis fasste mit 19 Jahren, nachdem sie die Schule erfolgreich eigene Songs ein, die, beseelt von ihrer gefühlvollen beendet hatte, den Entschluss, von zu Hause auszuziehen Stimme, ihre ganz persönliche Note tragen und mit tan- und eine Laufbahn als professionelle Sängerin zu starten. zender Leichtigkeit einen frischen mediterranen Sound Die ersten Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. Als versprühen. „Ab einem bestimmten Punkt hatte ich genug sie 2004 beim Gesangsfestival von Korfu teilnahm, räumte von der Nostalgie. Ich fühlte den Wunsch, mich über sie alle sechs ersten Preise des Festivals ab, für sie völlig meine eigene Musik auszudrücken und die Menschen überraschend. „Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, damit zu erfreuen. Es wuchs eine Kraft in mir, durch die alle Preise zu gewinnen. Diese Erfahrung hat mir Selbstver- ich mich wirklich öffnen konnte, und so begann ich, eige- trauen gegeben und gezeigt, dass etwas Gutes passiert, wenn ne Lieder zu komponieren.“ 2018 veröffentlichte sie ihr ich meiner Seele folge.“ Und das tat sie. In den folgenden Debütalbum „Metamorphosis“, das sie mit Musikerinnen Jahren widmete sie sich uneingeschränkt ihrem musikali- und Musikern aus Thessaloniki aufnahm. Ein Höhepunkt schen Werdegang, geprägt von vielen bereichernden Be- des Albums ist „Helios“, Alexia Chrysomallis musikalische gegnungen und wertvollen Erfahrungen, die sie als Künst- Hommage an die Sonne, die sie auch im Rahmen von lerin wachsen ließen. Sie gründete mit anderen Sängerinnen „Wiener Stimmen“, neben anderen Songs, mit Orchester die Frauen-a-cappella-Gruppe „StringLESS“, arbeitete mit präsentieren wird. „Dieses Lied hat eine große Bedeutung unterschiedlichen Bands zusammen und tourte mit be- für mich, weil es all das zum Ausdruck bringt, was ich rühmten griechischen Künstlern wie Dimitris Zervoudakis fühle und in die Welt tragen möchte. Sonnenschein und und Giorgios Kazantsis durchs Land. Die Auftritte vor eine gewisse Wärme. Ich glaube an die Kraft der Sonne, großem Publikum waren für Alexia Chrysomalli wichtige und auch wenn sie nicht scheint, sind wir in der Lage, von Erlebnisse. Was sie jedoch als Künstlerin tiefgreifend ver- innen heraus zu strahlen.“ ändern sollte, kam erst danach, als sie bei einem Festival In ihren Songs begibt sich Alexia Chrysomalli auf einen zum ersten Mal mit der traditionellen griechischen Musik Weg der Selbsterforschung, sie hört in sich hinein und in Kontakt kam. Vom ersten Moment an war sie davon un- verschafft sich gleichzeitig über das Singen Zugang zur glaublich erfasst. Innerhalb kürzester Zeit eignete sie sich Welt. „Für mich ist die Stimme eine Brücke der Seele“, wie ein umfangreiches Wissen über die überlieferten Lieder an. sie sagt, „die den verborgenen Teil in uns mit der Außen- Sie lernte von einigen der berühmtesten griechischen Volks- welt vereint. Sie bringt all das, was in uns ist, in die reale sänger, mit denen sie in Mazedonien und Thrakien musi- Welt hinaus, zu den Ohren aller und schließlich auch zierte, war in den Dörfern unterwegs, auf dem griechischen wieder zu uns selbst. In diesem Sinne können wir uns mit Festland wie auch in Serbien oder Bulgarien und tauchte unseren Stimmen verbinden.“ förmlich in eine für sie neue musikalische Welt ein. Karin Frey 15
WIENER STIMMEN Musikalischer Sprachenreichtum Sakina Teyna Fotos: Georg Cizek-Graf 16
WIENER STIMMEN Analog zu vielen anderen kurdischen Künstlern und Künstlerinnen konnte Sakina Teyna an einem bestimm- Foto: Derya Schubert–Gülcehre ten Punkt ihre Musik nur mehr in der Illegalität ausüben – ihr künstlerisches Schaffen pausierte für längere Zeit. Erst als sie 2006 als politischer Flüchtling nach Österreich kam, fing sie allmählich wieder an, Musik zu machen. 2011 gründete sie zusammen mit der Pianistin Nazê Îşxan „In unserer Familie gab es immer eine Art Geheimnis. Als und der Violinistin Nurê Dilovanî das „Trio Mara“, das in Kind spürt man so etwas, es entstehen Fragen in deinem seinen Arrangements traditionelle kurdische Musikstücke Kopf, auf die du aber keine Antworten bekommst. Wenn mit modernen Formaten in Verbindung setzt. Die Gruppe, ich mit meinen Geschwistern zum Beispiel in einen Raum die für ihre CD „Deri – Behind the Doors“ in Kurdistan kam, in dem meine Eltern Radio hörten, drehten sie es und in der Türkei äußerst positive Kritiken erhielt, ge- sofort ab. Heute weiß ich, dass sie nicht wollten, dass wir hörte in den Jahren 2015 und 2016 dem Katalog des „NRW kurdische Musik hören. Es war eine Gefahr, über die uns KULTURSekretariat“ an und gab in vielen Städten Nord- niemand etwas erzählte und die vor uns versteckt wurde.“ rhein-Westfalens Konzerte. Für Sakina Teyna hat das Trio So erinnert sich die Sängerin Sakina Teyna an ihre Kind- eine sehr große Bedeutung. „Ich wollte schon immer heit in der Kleinstadt Varto, wo sie in einer kurdisch-ale- gemeinsam mit Frauen Lieder von Frauen aufführen. vitischen Familie aufwuchs. Die in Wien lebende Sänge- Meine Kolleginnen kommen aus Armenien, und deren rin, die in herausragender Weise die unterschiedlichen Eltern und Großeltern waren Dengbej. Dadurch konnten Musiktraditionen Anatoliens verkörpert, ist heute fixer sie viel Wissen darüber sammeln, gleichzeitig haben sie Bestandteil der kurdischen Musikszene. In ihrer Kindheit aber auch klassische westliche Musik gelernt. All diese und Jugend war die kurdische Musik aber aufgrund der Einflüsse bringen sie in unsere Stücke ein.“ Mit „Sakina intensiven Assimilationspolitik und des Sprachverbots and Friends“ hat sie 2015 ein weiteres erfolgreiches Projekt absolut tabu. gestartet und eine erlesene Band um sich versammelt, In ihrer Familie wurde regelmäßig gemeinsam musiziert bestehend aus dem persischen Jazz-Gitarristen Mahan und gesungen, aber immer auf Türkisch. Erst während Mirarab, dem türkischen Geiger Efe Turumtay, dem Kla- ihrer Unizeit kam Sakina Teyna mit der kurdischen Musik rinettisten Oscar Antoli und dem Perkussionisten Jörg in Berührung, als sie 1991 begann, im Mesopotamischen Mikula. Kulturzentrum in Istanbul als Vokalistin mitzuwirken. In ihren künstlerischen Aktivitäten setzt sich Sakina Dort entdeckte sie auch die Dengbej-Tradition und war Teyna wesentlich für Frauen- und Menschenrechte ein. unglaublich fasziniert und inspiriert davon. Dengbej ist Mit ihrer Musik möchte sie den Reichtum der verschie- der wichtigste Teil der kurdischen Musikkultur. Dieser denen Kulturen und Sprachen erfahrbar machen. Die poetische, kunstvolle Stil von Lyrik und Rhythmus war Vielsprachigkeit ist ihr dabei sehr wichtig. Bewusst singt auf einzigartige Weise geeignet, die kurdische Sprache sie auf der Bühne nicht nur auf Kurdisch, sondern auch und Kultur bis heute zu bewahren. Viele Melodien, die in auf Türkisch, Armenisch, Farsi oder Arabisch. Wenn sie dieser Tradition gesungen werden, stammen ursprünglich am 4. Juni 2022 im Rahmen des Konzerts Wiener Stimmen von Frauen, die diese Lieder aufgrund religiöser oder als eine von sechs Sängerinnen ihre Lieder mit dem Ton- anderer konservativer Gründe nur heimlich und hinter künstler-Orchester Niederösterreich präsentiert, wird sie verschlossenen Türen singen konnten. „Ich habe mich auf Kurdisch und Türkisch singen. „Ich bin davon über- immer gefragt, woher diese Frauen ihre Kraft genommen zeugt, dass Musik Grenzen überwinden und viele Türen haben“, so Sakina Teyna. „Meryem Xan zum Beispiel. Sie öffnen kann. Musik bietet die Möglichkeit, Freiräume zu wurde Anfang des 20. Jahrhunderts geboren und hatte finden, wo Gefühle heilen können.“ keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Um einer Karin Frey Zwangsheirat zu entgehen, flüchtete sie aus ihrem kleinen Dorf, nicht wissend, was sie erwartet, aber sie folgte ihren Karin Frey ist als Mitarbeiterin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Träumen. In diesem Sinne haben mich diese Frauen im Programmbereich der Vier Neuen Säle tätig und koordiniert das Projekt persönlich wie auch künstlerisch sehr inspiriert.“ „Wiener Stimmen“. 17
AB–BA AB–BA Anton Bruckner und Alban Berg Ein Konzertprogramm der Wiener Symphoniker bringt die beiden zusammen: Anton Bruckner und Alban Berg, zwei Größen der Musikgeschichte, die schein bar nicht viel gemeinsam haben. Oder doch? Thomas Leibnitz hat sich die Frage gestellt und zeigt, dass es jedenfalls zwischen den beiden Werken des Programms, Bruckners 7. Symphonie und Bergs Violinkonzert, manch Ver bindendes gibt. 18
AB–BA Anton Bruckner. Alban Berg. Was Zunächst nicht viel, zumal Bruckner Augen (und Ohren) keine mehr ist – haben sie gemeinsam – mit Ausnahme während Bergs späterer Lebenszeit, Musik, die die jahrhundertealte Basis der gleichen Initialen? Vielleicht hät- in den zwanziger und dreißiger Jahren musikalischer Sinnstiftung, die har- te Berg, Freund von Zahlenmystik und des 20. Jahrhunderts, längst nicht monische Tonalität, über den Haufen Buchstabensymbolik, diese Tatsache mehr wie ehedem als Pionier neuer wirft und an deren Stelle neue Prin- für nicht völlig bedeutungslos gehal- Klänge, sondern ganz im Gegenteil zipien setzt. Alban Berg ist einer von ten. Aber ein kurzer, nüchterner Blick als Symbolfigur des „alten Wahren“ ihnen; er bekennt sich mit Überzeu- fördert zunächst das Trennende zu- gehandelt wird. Mächtige Gruppie- gung zu Arnold Schönberg, dem Grün- tage. Bruckner: ein Mann aus der rungen – konservative Bürger, Kleri- der dieser „Neuen Musik“, wenn er „Provinz“, sozialisiert in kirchlich- kale, auch Deutschnationale – ver- auch – dies sei vorweggenommen – hierarchischen Verhältnissen, Schöp- binden mit seinem Namen Werte und den Bruch mit der Tonalität auf nicht fer eines neuen Typus von Sympho- Haltungen, die aus ihrer Sicht der Welt so radikale Weise wie sein Lehrer nie, der viel von den Aufbrüchen rings in der Katastrophenzeit des Ersten vollzieht. um Wagner in sich aufnimmt und Weltkriegs abhanden gekommen sind: dennoch unzweifelhaft im Boden religiöse Bindung, Weihe, Erhebung, klassisch-romantischer Musiktradi- Verankerung in großer Tradition. Und tion wurzelt. Berg: ein eloquenter mit Misstrauen blicken sie auf Leute, Städter, literarisch vielfach beschla- denen der Umsturz von Staat und gen, als Komponist der „Zweiten Wie- Gesellschaft offensichtlich nicht zu ner Schule“ Künder einer radikal reichen scheint, die auch in der Kunst neuen Sprache, die – gemäß einem das angeblich Unumstößliche um- Liedtext seines Lehrers Arnold Schön- stoßen, abstrakt malen, expressionis- berg – „Luft von anderen Planeten“ tische Texte verfassen oder, wie sich atmet. Wo findet sich da Verbinden- etliche von ihnen auszudrücken pfle- des? gen, in „musikbolschewistischer“ Manier Musik schreiben, die in ihren 19
AB–BA Welterfahrung im Verbinden von Gegensätzen. Anton Bruckner und Alban Berg Fotos: Archiv · Bibliothek · Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Bruckners Siebente Symphonie, Bergs 1883 trifft die Trauerbotschaft aus empfinden. Allerdings: Den Auftrag Violinkonzert: Bei aller Verschieden- Venedig ein, und Bruckner ist eben zum Konzert erhält Berg bereits im heit haben die beiden Werke etwas am Beginn der Coda, dem Schluss Frühjahr 1935 vom amerikanischen gemeinsam; sie sind Werke des Toten- abschnitt, angelangt: „– und da habe Geiger Louis Krasner. Die Widmung gedenkens – zumindest werden sie ich geweint, oh, wie geweint – und an den verstorbenen „Engel“ ent- von ihren Schöpfern so dargestellt. dann erst schrieb ich dem Meister die springt zweifellos persönlicher Be- Bei Bruckner geht es um Richard eigentliche Trauermusik.“ Dann erst? troffenheit, fügt sich aber auch in ein Wagner, den er inbrünstig verehrt hat, So skeptisch wir die Aussage betrach- Beziehungssystem ein, an dessen der ihm der „unerreichbare Meister“ ten mögen, das gesamte Adagio sei Pflege Berg zu dieser Zeit viel liegt: ist – wenn auch Wagner selbst von konzeptionell dem Andenken Wag- Alma Mahler-Gropius unterhält ein Bruckner nur am Rande Notiz nimmt ners gewidmet, so unmittelbar über- Verhältnis mit dem Priester Johannes und den demutsvollen Bewunderer zeugend ist Bruckners Bekenntnis, in Hollnsteiner, dem Beichtvater des kaum wahrnimmt. Ein „offizielles“ diesen Satzschluss habe er all seine österreichischen Bundeskanzlers Kurt Gedenkwerk für Wagner ist die Sie- Betroffenheit und Erschütterung Schuschnigg. Auf diese Weise wird bente freilich nicht; noch zu Lebzeiten hineingelegt. Wie Erinnerungsfetzen, auch Berg mit Schuschnigg bekannt, Wagners wird sie begonnen, und auch scheinbar zusammenhanglos und und nach dem Unfalltod von dessen das großangelegte Adagio, das Bruck- fragmentarisch, tauchen die Motive Frau schreibt er dem Kanzler einen ner als Trauermusik für Wagner ver- des Satzes nochmals auf und fügen Kondolenzbrief, in dem er ausdrück- standen wissen will, erhält erst post sich zu einer „Trauermusik“ von be- lich auf Bachs Choral „Es ist genug“ festum seine „Widmung“: „Einmal zwingender Emotionalität. Bezug nimmt – den Choral, der im kam ich nach Hause und war sehr letzten Satz des Violinkonzerts zitiert traurig; ich dachte mir, lange kann Keinem Zweifel scheint der Gedenk- wird und die Sphäre trauernder Er- der Meister unmöglich mehr leben, charakter von Bergs Violinkonzert zu gebung symbolisiert. Die Achse Bergs da fiel mir das cis-moll-Adagio ein.“ unterliegen, denn der Komponist zur Spitze des autoritären „Stände- So Bruckner in einem Brief an den widmet es ausdrücklich „dem An- staats“ mag verwundern; sie wird Dirigenten Felix Mottl. Ist Bruckner denken eines Engels“. Der „Engel“: erklärbar durch die Zwangslage, in dieser Satz wirklich in einer „antizi- Das ist Manon Gropius, die Tochter die er nach dem Verbot seiner Werke pativen Trauerstimmung“ eingefallen, Alma Mahlers aus deren Verbindung im nunmehr nationalsozialistischen oder ist er im Nachhinein der Mei- mit Walter Gropius, die 1935 (im Alter Deutschland zunehmend gerät. nung, dieses Adagio mit seinen weihe- von erst neunzehn Jahren) an Kinder- vollen, getragenen Klängen, mit dem lähmung stirbt. Mit Alma Mahler ist beziehungsvollen Kolorit der „Wagner- das Ehepaar Berg seit vielen Jahren Tuben“, mit der großangelegten Apo- freundschaftlich verbunden, und so theose in C-Dur, sei dem Gedenken mag man durchaus die Erschütterung an das verehrte Vorbild besonders nachvollziehen, die Freunde und Be- angemessen? Jedenfalls will es der kannte beim Tod der jungen Frau beziehungsvolle Zufall, dass Wagner tatsächlich stirbt, als Bruckner eben an diesem Satz arbeitet. Im Februar 20
AB–BA Ein Bach-Choral in einem Zwölfton- werk? Es ist nicht die einzige Brücke, die Berg im Violinkonzert aus dem Reich streng durchorganisierter Zwölftonmusik zur Welt der Tradition schlägt. Da ist vor allem die „Reihe“ selbst; zwar enthält sie, gemäß Schön- bergs Vorgabe, alle Töne der zwölf- tönigen temperierten Skala, doch ihr Aufbau – beginnend mit einer Auf- einanderfolge des g-Moll-, des D-Dur- und des a-Moll-Dreiklangs – lässt die Tonalität „durch die Hintertüre“ ein- treten. Und nochmals gestattet sich Berg Töne aus der „alten“ Welt der Musik, wenn im Schlusssatz nicht nur der erwähnte Bach-Choral, sondern Mittwoch, 23. Februar 2022 auch eine Kärntner Volksweise er- Donnerstag, 24. Februar 2022 klingt. Die strenge Welt der Dodeka- Freitag, 25. Februar 2022 phonie, der resigniert-demütige Bach- Choral, das naive Volkslied, das von So ist’s im Leben. Bruckner und Berg Wiener Symphoniker erster Liebe singt – es ist die Weite sprechen verschiedene musikalische Andrés Orozco-Estrada menschlicher Erfahrung, die Berg in Sprachen, sie leben auf getrennten Dirigent der Welt scheinbar unvereinbarer musikalischen Planeten. Aber um die Vilde Frang Gegensätze absteckt. faszinierende Weite menschlicher Violine Existenz wissen sie beide, um die Welterfahrung im Verbinden von Rätsel der Polarität von Schmerz und Alban Berg Gegensätzen. Auch Bruckner weiß Freude, und sie wird ihnen zu berüh- Violinkonzert davon, auch er integriert sie in die render Musik. Anton Bruckner Sprache seiner Symphonien, sogar in Thomas Leibnitz Symphonie Nr. 7 E-Dur recht ähnlicher Weise. Im Schlusssatz der Dritten, diesmal explizit Richard Der Musikwissenschaftler Dr. Thomas Leibnitz Wagner gewidmeten Symphonie, stößt war von 2002 bis 2020 Direktor man auf ein merkwürdiges themati- der Musiksammlung der Österreichischen sches Gebilde: ein Thema, in dem sich Nationalbibliothek. ein Choral und eine Polka miteinander verbinden. Zufall, unreflektierte Ein- gebung? Nein, weiß Bruckners Bio- graph August Göllerich, der bei einem nächtlichen Spaziergang mit Bruckner auf der Ringstraße eine stimmige Er- klärung erhält. Im „Sühnhaus“ (an der Stelle des ehemaligen Ringtheaters) liegt der verstorbene Dombaumeister Friedrich Schmidt aufgebahrt, aus einem der Palais ertönt heitere Musik. „Sehen Sie“, meint Bruckner, „hier im Hause großer Ball – daneben liegt im Sühnhaus der Meister auf der Toten- bahre! So ist’s im Leben, und das hab’ ich im letzten Satz meiner Symphonie schildern wollen: die Polka bedeutet den Humor und Frohsinn in der Welt – der Choral das Traurige, Schmerz- liche in ihr.“ 21
ALLA BREVE KLENGELS TOLLE ERBEN Exzellente Darsteller. Foto: Stephan Roehl KURIER Klengel? Klingelt etwas bei Ihnen, wenn Sie den Namen hören? Wohl kaum, es sei denn, Sie wären ein ausgewie- Franz Grillparzer sener Kenner der Cellomusik und damit natürlich auch Medea ein historisch beschlagener Fan der 12 Cellisten der Ber- liner Philharmoniker. Deren klangvolle Geschichte beginnt nämlich mit Klengel. Und das kam so: Julius Klengel Trailer zu sehen auf (1859–1933) war einer der besten Cellisten seiner Zeit, www.josefstadt.org schon mit 15 Mitglied im Leipziger Gewandhausorchester Karten und Info unter: T 01-42-700-300 und seit seinem 22. Lebensjahr dort Solocellist. Als 1920 der legendäre Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch seinen 65. Geburtstag feierte, stellte sich Klengel mit einem speziellen Gruß ein: einem Hymnus für 12 Celli, den er, ein versierter Komponist, selbst geschrieben hatte. Ein Kuriosum, mag sein – aber eines, das eine andere Klang- welt erschloss. Schon Pablo Casals hatte von einem Or- PROGRAMM FÜR KINDER, chester nur aus Violoncelli geträumt … 1972 wurde aus dem Traum wirklich Geschichte. Rund um die Salzburger JUGENDLICHE & FAMILIEN Festspiele kamen findige Musikredakteure auf die Idee, FEBRUAR 2022 Klengels Hymnus aus dem Archivschlaf zu wecken und für den Rundfunk aufzunehmen. Aus den Reihen des Festspielorchesters fanden sich sofort zwölf, die begeistert dabei waren. Das war die Geburtsstunde der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker. Jetzt feiern sie ihren Fünf- ziger als weltbekanntes Ensemble, das mit Virtuosität und Spielwitz begeistert und mit neuem Repertoire entzückt. Berühmte Komponisten schrieben für die glorreichen Zwölf, findige Arrangeure adaptierten für sie Flottes aus TOPOLINA allen Sparten. Und so schaut dann auch das Jubiläums- TOPOLINAS WILDE BANDE (3+) programm aus, mit dem die 12 Cellisten in den Musik- 19./20.2.2022 verein kommen. John Williams und Nino Rota sind dabei, aber es beginnt, selbstverständlich, mit Klengel und SEBASTIAN seinem Hymnus. UND DAS TONTELEFON DER WALDGEIST JODELDUDELDOING (3+) 26./27.2.2022 14. Februar 2022 Konzertkassa • Musikvereinsplatz 1 • T +43-1-505 81 90 • musikverein.at Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker Jubiläumskonzert 22
ALLA BREVE HAPPY END KLÄNGE FÜR PROKOFJEW DES BIEDERMEIER Foto: Archive Photos / SZ-Photo / picturedesk.com Foto: Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Ein Happy End gab es für die Musik, ein strahlendes, ganz In pandemischen Zeiten konnte der Vergleich nicht lan- unbestritten. Sergej Prokofjews „Romeo und Julia“ setzte ge ausbleiben: „Willkommen im Corona-Biedermeier“, sich durch. Im Ballettrepertoire, noch mehr aber im Kon- „Corona-Pandemie führt in ein neues Biedermeier“ oder zertsaal begeistert das Werk bis heute – erst recht, wenn „Biedermeier-Haltung in der Gesellschaft“ war schon bald nun, wie bei den Wiener Philharmonikern, ein russischer in den Medien zu lesen. Freilich: Das heimtückische Virus Stardirigent wie Valery Gergiev am Pult steht. Eigentlich lässt sich nicht ohne Weiteres mit dem strikten Metter- hätte das Ballett ja an dem Haus aufgeführt werden sollen, nich’schen Regime gleichsetzen, doch darum ist es wohl dem Gergiev heute als Intendant vorsteht: dem Kirov- (nun ohnehin nicht gegangen. Vielmehr sind es die Auswir- Mariinsky-)Theater. Es kam nicht dazu. Und damit ist nur kungen, die den Gedanken ans Biedermeier provozieren: ein Aspekt der verwickelten Entstehungsgeschichte an- der (notgedrungene) Rückzug ins Private, das Bedürfnis, gesprochen, auf die tiefe Schatten fallen. In Stalins Russ- sich in den eigenen vier Wänden möglichst wohlig einzu- land, wohin Prokofjew 1936 leichtfertig zurückgekehrt richten. Während wir uns heute zur willkommenen Zer- war, herrschten Zensur und Terror. Auch Prokofjews streuung über allerlei digitale Möglichkeiten die Musik Arbeit an diesem Ballett war davon betroffen. Der künst- nach Hause holen, wenngleich auch nur als halbherzigen lerische Leiter des Kirov-Theaters fiel einer stalinistischen Ersatz für das Live-Erlebnis, musste am Beginn des 19. „Säuberung“ zum Opfer, das Happy End, das der Kompo- Jahrhunderts zur Selbsthilfe gegriffen werden und somit nist unbedingt für seine Romeo-und-Julia-Version haben zum Instrument: in Form von Hausmusik. Zum musika- wollte, durfte nicht sein. So endet auch das Ballett: tödlich. lischen Stilbegriff wurde das Biedermeier zwar nicht, der Aber, selbstredend, mit ungemein starker Musik. „Romeo biedermeierliche Lebensstil allerdings prägte doch die am Grabe Julias“, mit dem Valery Gergiev die von ihm Musik dieser Zeit. „Hausmusik im Wiener Biedermeier“ zusammengestellte Suite abschließt, erklang 1953 auch ist nun auch Titel eines Konzerts in der Reihe „Nun klin- am Grab Prokofjews. Die Musik kam vom Band – die ver- gen sie wieder“ mit Instrumenten und Werken aus Archiv, fügbaren Musiker hatte man zu anderem Anlass abgezo- Bibliothek und Sammlungen der Gesellschaft der Musik- gen. Am selben Tag wie Prokofjew war – Ironie des freunde in Wien. An Traverso (Querflöte), Violine, Gitar- Schicksals – auch der Diktator Josef Stalin gestorben. re und Hammerflügel aus Pressburger und Wiener Werk- stätten erklingt Musik von Leonhard von Call, Leopold Sonnleithner, Diabelli, Mozart und Schubert. Archiv direktor Johannes Prominczel führt durch das Programm. 25. Februar 2022 19. Februar 2022 Julia Auer | Maria Bader-Kubizek | Jonas Skielboe | Wiener Philharmoniker | Valery Gergiev Florian Birsak | Johannes Prominczel Werke von Prokofjew und Tschaikowskij Hausmusik im Wiener Biedermeier 23
DIE „ORGANISIRTE TROMPETE“ Die „organisirte Trompete“ Joseph Haydns Trompetenkonzert Fotos: Archiv · Bibliothek · Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 24
DIE „ORGANISIRTE TROMPETE“ In der Zeit um 1800 wur- Denkt man an Joseph Haydns Kom- Ein Blechblasinstrument mit einer positionen für „ungewöhnliche“, heu- Klappe auszustatten war keine neue de von Kaiser Franz II. (I.) te eher unübliche Instrumente, fallen Idee. Schon im Frühbarock finden eine Reihe von Erfin einem wohl als Erstes die Baryton- sich Zinken mit einer Klappe. In den Werke ein. Etwas exotischer muten 1760er Jahren führte der böhmische dungs-Privilegien bewil jene Werke an, in denen Haydn die Hornist Ferdinand Kölbel in St. Peters- ligt. Diese Vorstufe des Lira organizzata verwendet, ein der burg sein mit zwei Klappen versehe- Drehleier verwandtes Instrument. Zu nes Horn vor. Auch in Weimar bei- Patents übertrug dem nennen sind auch die Kompositionen spielsweise experimentierte man mit Erfinder das alleinige für Flötenuhr. Gemeinsam ist all die- Klappentrompeten. Notwendig er- sen Stücken, dass sie jeweils für be- schien die Weiterentwicklung, weil Herstellungsrecht. 1801 stimmte Musiker entstanden sind: barocke Instrumente lediglich die erhielt Anton Weidinger Haydns Dienstherr, Fürst Nikolaus I. Naturtonreihe spielen konnten, die von Esterházy, war bekanntlich ein nur in der oberen Lage diatonische das Privileg für jenes Ins Baryton-Virtuose und verlangte dem- oder gar chromatische Tonleitern trument, für das Haydn entsprechend Kompositionen für das zulässt. Weidingers Klappen ermög- Instrument. Werke für Lira organiz- lichten dies allerdings auch in der sein Trompetenkonzert zata gab Ferdinand IV. von Neapel in mittleren und tiefen Lage und er- Hob VIIe:1 komponierte: Auftrag, der das Instrument auch leichterten die Intonation bei schwie- beherrschte, und die Flötenuhrstücke rig zu spielenden Tönen. die Klappentrompete. entstanden für den Ordensmann und Flötenuhrspieler mit dem klingenden Joseph Haydn und Anton Weidinger Namen Primitiv Niemecz. Auch das verband eine Freundschaft. Haydn Trompetenkonzert Hob. VIIe:1 ist mit war Trauzeuge und Taufpate mehre- Anton Weidinger einem bestimmten rer Kinder von Weidinger. 1796 kom- Instrumentalisten gewidmet. Aller- ponierte er dann das Trompetenkon- dings assoziiert man mit dem Konzert zert. Die Datierung findet sich auf dem heute wohl eher ein herkömmliches Autograph, das der Trompeter und Instrumentarium und nicht eine nur Professor am Konservatorium der wenige Jahre verwendete Blasinstru- Gesellschaft der Musikfreunde Adal- mentenrarität. Wer war dieser Anton bert Maschek 1877 der Gesellschaft Weidinger, und was hatte es mit seiner geschenkt hat. Es sollte nach der Kom- Klappentrompete auf sich? position vier Jahre dauern, bis man Haydns Konzert erstmals aufführte. Anton Weidinger, geboren 1766 in Möglicherweise machten die spiel- Landstraße, damals ein niederöster- technischen Herausforderungen wei- reichischer Vorort von Wien, stamm- tere Adaptionen Weidingers an seiner te aus einer Trompeterfamilie. Sein Klappentrompete notwendig. Am 28. Vater, zwei seiner Brüder und einer März 1800 veranstaltete er eine mu- seiner Söhne waren Trompeter, ein sikalische Akademie im k. k. National weiterer Sohn Pauker. Weidinger Hoftheater, dem heutigen Burgthea- wurde 1799 in Wien kaiserlicher Hof ter. Akademie war die damals übliche trompeter, schließlich sogar Oberhof Bezeichnung für ein öffentliches Kon- trompeter und blieb dies bis zum zert. Auf dem Programm standen Ruhestand 1850. Zweifellos war er der neben dem Trompetenkonzert drei prägende Wiener Trompeter zu Be- Haydn-Symphonien, einige Arien und ginn des 19. Jahrhunderts. Zudem ein Bläsersextett von Ferdinand Kau- beschäftigte er sich ab etwa 1793 mit er, das ebenfalls die Klappentrompe- der Weiterentwicklung des Instru- te verlangte. Man sollte meinen, die ments, fügte Klappen hinzu, verän- Symphonien Haydns und die Klap- derte ihre Anzahl und Position. pentrompete hätten gereicht, den Saal zu füllen. Schließlich pries man das Instrument wenig bescheiden in einer kurz vor dem Konzert erschienenen Annonce in der „Wiener Zeitung“: 25
DIE „ORGANISIRTE TROMPETE“ Samstag, 26. Februar 2022 Concentus Musicus Wien Stefan Gottfried Dirigent Gabriele Cassone Trompete Wolfgang Amadeus Mozart Symphonie C-Dur, KV 425, „Linzer“ Joseph Haydn Konzert für Trompete und Orchester Es-Dur, Hob. VIIe:1 Franz Schubert Symphonie Nr. 4 c-Moll, D 417, „Tragische“ „Seine [Weidingers] eigentliche Ab- Bereits 1798 war Anton Weidinger mit Weidinger bot seine Erfindung in sicht hierbey ist, die von ihm erfun- seiner „organisirten Trompete“ erst- mehreren Varianten in der „Wiener dene, und nach einer siebenjährigen, mals öffentlich mit der Sinfonia con- Zeitung“ zum Verkauf an und rühm- und kostspieligen Arbeit nunmehr, certante für Klappentrompete, Man- te dabei, dass die Instrumente einen wie er sich schmeichelt, zur Vollkom- doline, Kontrabass und Klavier des „vollkommenen, hellen und starken menheit gediehene, und mit mehreren kaiserlichen Hofkomponisten Leopold Klang“ besäßen. Bemerkenswert ist, Klappen versehene organisirte Trom- Koželuh aufgetreten. Auch der späte- dass er bestellte Instrumente inklusi- pete […] zur öffentlichen Beurtheilung re Vizehofkapellmeister Joseph Weigl ve „einem darauf komponirten Con- das erstemal ans Licht tretten zu las- und – etwas bekannter – Johann Ne- certe“ auslieferte. Darüber, um welche sen.“ Tatsächlich war das Konzert pomuk Hummel komponierten für Komposition es sich dabei gehandelt wohl nicht allzu gut besucht. Joseph ihn. Besonders erwähnenswert ist ein haben dürfte, kann heute nur speku- Carl Rosenbaum, der später bei der Auftritt beim Wiener Kongress mit liert werden. Zielgruppe dürfte jeden- Grabräuberei und dem Diebstahl von Sigismund Neukomms Requiem, eine falls in erster Linie die Militärmusik Haydns Schädel zu trauriger Berühmt- Aufführung, die durchaus als politi- gewesen sein, denn er pries die ein- heit gelangen sollte, schrieb kurz und sches Statement verstanden werden händige Spielbarkeit der Klappen- bündig in sein Tagebuch: „Abends sollte, denn sie fand zu Ehren Ludwigs trompete und dass die linke Hand für war ich in der Akademie des Hoftrom- XVI. statt. Neukomm schrieb auf der „Cavallerie-Trompeter“ zur Leitung peters Weidinger. […] Es war leer.“ Titelseite des späteren Drucks, die des Pferdes frei bleibe. Klappentrompete könne durch die Warum wir heute vor allem Weidingers Klarinette ersetzt werden, mit der sie Namen mit der Klappentrompete „die meiste Aehnlichkeit hat“. Und verbinden, liegt daran, dass es ihm genau das war auch der größte Kritik- gelungen ist, nicht nur Haydn, son- punkt. Die Klappen veränderten die dern auch weitere damals durchaus Klangfarbe. Felix Mendelssohn Bar- renommierte Komponisten dafür zu tholdy äußerte sich dazu 1831 wenig gewinnen, für ihn und sein Instru- schmeichelhaft: „… und nun klingt’s ment zu schreiben. wie ein Trompetencastrat, so matt und unnatürlich“. Dennoch fand die Klappentrompete Verbreitung. Wohl unabhängig von Weidingers Erfin- dung war sie vor allem in Italien popu- lär, wie einige in Neapel, Bologna und Mailand erschienene Schulen bewei- sen. 26
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