MUSIKFREUNDEFEBRUAR - Wien - Berlin - Wien DIE BERLINER PHILHARMONIKER MIT KIRILL PETRENKO - Musikverein

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MUSIKFREUNDEFEBRUAR - Wien - Berlin - Wien DIE BERLINER PHILHARMONIKER MIT KIRILL PETRENKO - Musikverein
MUSIKFREUNDE                                      F EBRUAR
                                                  2022

Wien – Berlin – Wien
DIE BERLINER PHILHARMONIKER MIT KIRILL PETRENKO
MUSIKFREUNDEFEBRUAR - Wien - Berlin - Wien DIE BERLINER PHILHARMONIKER MIT KIRILL PETRENKO - Musikverein
MUSIKFREUNDEFEBRUAR - Wien - Berlin - Wien DIE BERLINER PHILHARMONIKER MIT KIRILL PETRENKO - Musikverein
MUSIKFREUNDE

                           Inhalt

4    Wien – Berlin – Wien                    24    Die „organisirte Trompete“
     Die Berliner Philharmoniker                   Joseph Haydns
     mit Kirill Petrenko                           Trompetenkonzert

8    „Ich bin wirklich sehr kreativ, aber    28    Immer mit gutem Humor
     nur ein Diener des Stücks“                    Marin Alsop
     Sir András Schiff

                                             32    Chiffren des Wunderbaren
14   Die Stimme als Brücke zur Seele               Beethovens „Geistertrio“
     Alexia Chrysomalli                            und das „Geisterreich“
                                                   des E.T.A. Hoffmann
16   Musikalischer
     Sprachenreichtum
                                             36    Auf dem Grat
     Sakina Teyna
                                                   Jewgenij Kissin und das
                                                   sogenannte Virtuose
18   AB–BA
     Anton Bruckner und
     Alban Berg

                                            Standards
                                               3 Editorial
                                              22 Alla breve
                                              41 Kalendarium Februar
                                              46 Preludio
                                              48 Vorschau März
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Zwischentöne
                 Der Zwischenton macht
                 die Musik. Täglich im
                 Leben, im Feuilleton
                 der „Presse“ und unter
                 DiePresse.com/kultur

                   Klassisch
               und zeitgenössisch:
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MUSIKFREUNDE

                               Editorial

Liebe Musikfreundinnen
und Musikfreunde,

welch ein Glück, wieder in einem Konzertsaal zu sitzen           Auch wenn sie nicht im Sprachlichen aufgeht, will sie
und das Erlebnis der Musik mit anderen zu teilen! Sir            doch etwas mitteilen – das schließt Teilnahme und Teil-
András Schiff sprach davon, als wir uns ausführlich zu           habe notwendig mit ein. Kann man, so gesehen, überhaupt
den Konzerten seines Musikverein-Porträts unterhalten            von „absoluter Musik“ sprechen? Marin Alsop, Chefdiri-
konnten. Dieses Gespräch fand im Sommer statt. Dass im           gentin des RSO Wien, meldet im Interview für diese Aus-
späteren Herbst ein weiterer Lockdown kommen würde,              gabe Zweifel daran an. „Ich weiß nicht, ob es absolute
war damals noch nicht zu erwarten. Nun liegt auch diese          Musik überhaupt gibt. Nur weil zu einem Stück kein
neuerliche Schließzeit hinter uns – glücklicherweise. Wir        Programm existiert, heißt das nicht, dass es nichts erzählt.
alle freuen uns, mit einem dichtgefüllten Konzertkalender        Ich glaube, ohne irgendeine Art von Geschichte oder Bot-
ins Jahr 2022 starten zu können.                                 schaft ist es schwer, ein Stück zum Leben zu bringen.“

Gern möchte ich die Gelegenheit nützen, Ihnen, liebe             Diese Geschichte, diese Botschaft lässt sich nicht wirklich
Musikfreundinnen und Musikfreunde, herzlich für Ihr              in Worte fassen. Darum sollte es auch nicht gehen, wenn
Verständnis, Ihre Kooperationsbereitschaft und Ihr Ver-          die Musik zur Sprache gebracht wird. Was also bleibt der
trauen in den Musikverein zu danken. Danke dafür, dass           Sprache, was kann sie leisten? Sie kann dazu einladen,
Sie uns über die schwierigen Zeiten eines stillgelegten          sich von der Musik erzählen zu lassen. In diesem Sinn
Spielbetriebs hinweg die Treue gehalten haben! Nun soll          wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen dieser Aus-
die Musik wieder so klingen dürfen, wie sie gedacht ist.         gabe. Lassen Sie sich einladen zur Begegnung mit der
András Schiff sagt es in dem Gespräch, das Sie in dieser         Musik: live im Musikverein.
Ausgabe nachlesen können. „Das Gemeinsame ist wich-
tig. Wir können zu Hause an den besten Anlagen Musik             Herzlich
hören, aber es ist nicht das Gleiche.“ Musik ist Kommu-
nikation. Sie braucht das lebendige Gegenüber, die Präsenz
der Hörenden, die fühlbare Schwingung im Austausch
zwischen den Musizierenden und dem Publikum.
                                                                 Dr. Stephan Pauly
                                                                 Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

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WIEN – BERLIN – WIEN

Fotos: Monika Rittershaus

Die Porträtkonzerte der Berliner Philharmoniker im Musikverein sind Chef­
sache. Selbstverständlich! Kirill Petrenko dirigiert, und Wien freut sich auf eine
langersehnte Premiere: Erstmals ist der gefeierte Maestro hier mit den Berlinern
zu erleben. Freilich: Ins Herz geschlossen hat ihn Wien schon lange. Wilhelm
Sinkovicz erinnert an eine Beziehungsgeschichte, die vor bald 25 Jahren im
Musikverein begann.

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WIEN – BERLIN – WIEN

         Wien – Berlin –
             Wien
                         Die Berliner Philharmoniker
                              mit Kirill Petrenko

Es hat im Großen Musikvereinssaal begonnen. Die Saison         Dieser Auftritt am 9. Juni 1997 war die Geburtsstunde
war schon beinah zu Ende und die Musikfreunde berei-           einer Karriere, die in unseren Tagen beinah ohne Vergleich
teten ihre Sommerfrische-Aufenthalte vor. Ein Häuflein         ist – und zwar paradoxerweise, weil sie so verlief, wie
Aufrechter verirrte sich aber noch ins Abschlusskonzert        früher einmal solide Dirigentenkarrieren unbedingt ver-
der Dirigentenklassen der Wiener Musikuniversität. Das         laufen sind. Heutzutage ist ja alles ganz anders geworden.
ORF Radio-Symphonieorchester spielte unter der Leitung         Wird ein Talent dieses Kalibers entdeckt, steht es wenig
der jüngsten Absolventen, und da ließ ein schmächtiger         später am Pult der großen philharmonischen Orchester
junger Mann aufhorchen: Er hieß Kirill Petrenko, stamm-        in Europa und Amerika, erntet Jubel und hymnische
te aus Omsk, war in Vorarlberg aufgewachsen und galt           Kritiken für Aufführungen von Mahler- und Schostako-
seit seinem Erscheinen in Wien unter den Lehrkräften           witsch-Symphonien und dirigiert Tschaikowskijs „Eugen
der Universität als echter Geheimtipp.                         Onegin“ an wichtigen Opernhäusern. Dass die von solchen
Davon wusste das Publikum im Saal aber noch nichts. Es         Hypes zu Berühmtheit gelangten Maestri meist enorme
staunte zunächst vor allem darüber, dass dieser angehen-       Schwierigkeiten bekommen, wenn sie irgendwann einmal
de Kapellmeister, der so gar nicht arrogant-großspurig         gezwungen sind, Mozart, Beethoven oder gar Haydn zu
aufgetreten war, in dem Moment, in dem er den Taktstock        dirigieren, bleibt in der Regel unbemerkt. Manch einer
hob, ungeheures Charisma entfaltete. Der Orchesterklang        kommt viele Jahre lang ohne das klassische Repertoire
schien plötzlich verwandelt, lebendig in allen Stimmen,        aus.
flexibel, atmend …

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WIEN – BERLIN – WIEN

Petrenko wollte keine solche Karriere machen. Er ver-           Für Petrenko kam dann das Angebot des Staatstheaters
schwand nach seinem Universitäts-Abschlusskonzert.              Meiningen gerade recht: Er akzeptierte, wurde General-
Zumindest verschwand er aus der vordersten Linie, in die        musikdirektor und realisierte, was niemand für möglich
ihn einige Veranstalter gern sogleich gestellt hätten. Er       gehalten hätte: einen „Ring des Nibelungen“ an vier auf-
zog es vor, alle größeren Angebote auszuschlagen und            einanderfolgenden Abenden – mit einem um viele Musi-
sich in Wien zunächst einmal an der Volksoper vorzu-            ker aus der Region vergrößerten Orchester und in einer
stellen. Und das mit einer Aufgabe, die einer schweren          Inszenierung von Christine Mielitz in Bühnenbildern von
Aufnahmeprüfung gleichkam: Er dirigierte eine Wieder-           Alfred Hrdlicka. Schon war die Welt wieder aufmerksam
aufnahme von Oscar Straus’ „Ein Walzertraum“. Wer eine          geworden, und der Ruhm des jungen Dirigenten verbrei-
leise Ahnung vom Kapellmeisterhandwerk hat, weiß, dass          tete sich umso rascher. An der Volksoper wandte sich
eine solch kleinteilige Operettenpartitur in der Praxis         Petrenko mit wachsender Sicherheit den unterschied-
anspruchsvoller ist als, sagen wir, eine „Walküre“.             lichsten, immer aber heiklen Aufgaben zu und enttäusch-
                                                                te nie, ob Mozarts „Così fan tutte“, Mussorgskijs „Boris
                                                                Godunow“ oder Orffs „Bernauerin“ auf dem Programm
Dienstag, 15. Februar 2022                                      stand. Mit diesen Erfahrungen und jenen aus Meiningen
                                                                im Köcher ging es nach Berlin. Das erste Mal, wie man
Berliner Philharmoniker                                         jetzt weiß, damals aber noch nicht ahnen konnte. Die
Damen des Wiener Singvereins                                    Komische Oper rief – und die Kritiker suchten von Pre-
Kirill Petrenko | Dirigent                                      miere zu Premiere nach Vokabeln des verbalen Lobpreises.
Sir András Schiff | Klavier

Johannes Brahms
Konzert für Klavier und Orchester
Nr. 2 B-Dur, op. 83
Josef Suk
Zrání. Symphonische Dichtung, op. 34

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WIEN – BERLIN – WIEN

                    Die Berliner Philharmoniker waren nach eini­
                    gen Begegnungen überzeugt, hier den Mann
                    für die Zukunft entdeckt zu haben.
                    Mittwoch, 16. Februar 2022

                    Berliner Philharmoniker
                    Kirill Petrenko | Dirigent

                    Bernd Alois Zimmermann
                    Photoptosis. Prélude für
                    großes Orchester
                    Witold Lutosławski
                    Symphonie Nr. 1
                    Johannes Brahms                              Apropos Raritäten: Franz Schmidts Vierte hatte den in
                    Symphonie Nr. 2 D-Dur, op. 73                Wien ausgebildeten Maestro als Anleihe bei einer längst
                                                                 auch „daheim“ verschütteten Tradition durch die ersten
                                                                 Jahre seiner Karriere begleitet. Er verlangte das grandio-
                                                                 se, aber kaum bekannte Werk für sein Debüt beim WDR
                                                                 in Köln ebenso, wie es sich später im Programm seiner
                                                                 ersten Auftritte bei den Salzburger Festspielen fand. Auch
Was das Repertoire anlangte, gab es bei Petrenko immer           bei seinem ersten offiziellen Musikvereinskonzert in Wien
wieder Überraschungen. Auch bei den kurzen, aber stets           mit dem RSO stand diese Symphonie auf dem Programm,
effektvollen Gastspielen im Theater an der Wien, wo sich         gekoppelt – heikler geht es nicht – mit einer Haydn-Sym-
der Dirigent immer wieder Werken widmete, die allseits           phonie. Das Wiener Publikum feierte bald jeden Auftritt
als zumindest undankbar, wenn nicht als völlig wirkungs-         dieses Künstlers als Fest. Und wie das Feste so an sich
los gelten. Es kommt, man erfuhr es bei dieser Gelegenheit       haben: Sie werden nicht alle Tage gefeiert. Mit jeder Wie-
wieder, immer nur darauf an, wer am Dirigentenpult steht.        derkehr in die Stadt seiner musikalischen Studien hat
Das erkannten auch die Berliner Philharmoniker, die den          Kirill Petrenko einen weiteren großen Karriereschritt
aufsteigenden jungen Mann gern am Pult sahen und von             absolviert. Nun kommt er erstmals als Chefdirigent der
denen er sich schon bei den ersten Begegnungen die er-           Berliner Philharmoniker in den Großen Musikvereinssaal.
staunlichsten Stücke wünschte. Edward Elgars Zweite              Und wie nicht anders zu erwarten, werden die Musiker
Symphonie zum Beispiel, die Vierte von Franz Schmidt             nebst Johannes Brahms’ Zweiter Symphonie und dessen
oder Konzertmusiken von Rudi Stephan, dem im Ersten              B-Dur-Klavierkonzert (mit Sir András Schiff) auch Werke
Weltkrieg gefallenen Hindemith-Zeitgenossen, von dem             wie Bernd Alois Zimmermanns „Symphonie in einem
die meisten Musikfreunde bestenfalls den Namen kennen.           Satz“ oder Witold Lutosławskis Erste Symphonie im Ge-
In allen Fällen war das Publikum so überrascht wie die           päck haben. Das erste der beiden Programme endet mit
Kenner, welche Schätze ihnen da über Jahrzehnte vor-             einem Werk, das vermutlich selbst geeichte Konzertbe-
enthalten worden waren und welch grandioser Interpret            sucher noch nie gehört haben, Josef Suks symphonischer
hier zu entdecken war. Und die Berliner Philharmoniker           Dichtung „Zrání“, dem Opus 34 des Dvořák-Schwieger­
waren nach einigen Begegnungen überzeugt, hier den               sohns, das jenseits der tschechischen Grenze selten
Mann für die Zukunft entdeckt zu haben. Der zweite Ruf           gespielt wird, in der böhmischen Heimat des Komponis-
nach Berlin folgte, und Petrenko, der seit 2003 als Gene-        ten jedoch als ein musikalisches Nationalheiligtum verehrt
ralmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper für               wird. Václav Talich küsste die Partitur des Werks, nachdem
Furore sorgte, nahm ihn an – wenn auch nach einigem              er die Uraufführung dirigiert hatte …
Zögern. Das Orchester musste ein zweites Mal nach­-              Es wäre nicht Kirill Petrenko, wenn er sein Wiener Publi-
fragen …                                                         kum nicht mit einer veritablen Entdeckung überraschte.

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                                                                 Dr. Wilhelm Sinkovicz ist Erster Musikkritiker und leitender Redakteur der
                                                                                                         Tageszeitung „Die Presse“ in Wien.

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MUSIKFREUNDEFEBRUAR - Wien - Berlin - Wien DIE BERLINER PHILHARMONIKER MIT KIRILL PETRENKO - Musikverein
„ICH BIN WIRKLICH SEHR KREATIV, ABER NUR EIN DIENER DES STÜCKS“

 „Ich bin wirklich
sehr kreativ, aber
nur ein Diener des
      Stücks“
                             Sir András Schiff

Sir András Schiff setzt die Reihe seiner Musikverein-Porträtkonzerte mit auf­
sehenerregenden Debüts fort: Erstmals arbeitet er, an der Seite der Berliner
Philharmoniker, mit dem Dirigenten Kirill Petrenko zusammen. Und endlich
erfüllt er sich einen langgehegten Wunsch: gemeinsam mit dem Pianistenkol­
legen Jewgenij Kissin zu musizieren. András Schiff im Gespräch mit Musik­
vereinsintendant Dr. Stephan Pauly.

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„ICH BIN WIRKLICH SEHR KREATIV, ABER NUR EIN DIENER DES STÜCKS“

Foto: Lukas Beck

Ein ganz zentrales Konzert in deiner Porträt-Reihe im            … und dazu hast du jetzt in dieser Richtung eine bemer-
Musikverein, lieber András, ist das mit den Berliner Phil-       kenswerte Aufnahme vorgelegt, mit dem Orchestra of
harmonikern und dem Zweiten Klavierkonzert von                   the Age of Enlightenment, bei der du das Konzert selber
Brahms, dirigiert von Kirill Petrenko. Brahms hat es so-         leitest, vom Klavier aus. Wie hat diese Erfahrung deinen
zusagen auch für sich selbst geschrieben und es als Pia-         Zugang zu diesem Stück geändert – im Vergleich zu so
nist auch selbst uraufgeführt, 1881 in Budapest. Was wird        vielen Aufführungen, die du mit großen Dirigenten hat-
denn vom Pianisten Brahms in dieser Partitur spürbar?            test?
Was für ein Pianistenkollege war das?                               … ja und mit hervorragenden Orchestern! Diese Er-
   Das B-Dur-Konzert von Brahms gilt für uns Pianisten           fahrung, mit alten Instrumenten, also mit einem alten
als das größte und das schwerste – es hat so einen Ruf. Zu       Klavier aus der Brahms-Zeit – das war ein Blüthner aus
Recht, es ist enorm. Ich finde aber, dass es oft missver-        1859 – und mit einem Orchester, das auf sogenannten
standen wird als ein gewaltiges, sehr kräftiges Werk. Es         Originalinstrumenten mit Darmsaiten und Naturhörnern
ist viel „sonniger“ als das 1. Klavierkonzert, das d-Moll-       gespielt hat, die hat gezeigt: Das Klangbild ist viel klarer,
Konzert, das ist ein majestätisches Werk. Brahms hat sich        und es ist gar nicht schwerfällig. Die Metronomzahlen
gesagt: „Jetzt schreibe ich etwas ganz Leichtes“, und das        von Brahms sind ja ziemlich lebhaft. Von Schwerfälligkeit
wurde dieses B-Dur-Konzert, aber es wird meistens sehr           kann, wenn ich die Partitur lese und diese Klangerleb-
schwerfällig gespielt, und ich versuche, das ein bisschen        nisse vom Originalklang im Ohr habe, eigentlich nicht
zu entschlacken.                                                 die Rede sein. Da muss das moderne Instrumentarium
                                                                 dann auch mitkommen. Ich habe sehr viel studiert und
                                                                 nachgelesen. Brahms hat ja mit Hans von Bülow und dem
                                                                 Meininger Orchester gespielt: mit 49 Musikern, das war
                                                                 alles. Heute spielen doppelt so viele.

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„ICH BIN WIRKLICH SEHR KREATIV, ABER NUR EIN DIENER DES STÜCKS“

Fotos: Wolf-Dieter Grabner

                                           „Das Gemeinsame ist
                                           wichtig. Wir können
                                           wunderbar zu Hause an
                                           den besten Anlagen Musik
                                           hören, und es ist nicht
                                           das Gleiche.“
                                                                                    Sir András Schiff

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„ICH BIN WIRKLICH SEHR KREATIV, ABER NUR EIN DIENER DES STÜCKS“

Dienstag, 15. Februar 2022               Donnerstag, 10. März 2022

Berliner Philharmoniker                  Sir András Schiff
Damen des Wiener Singvereins             Klavier
Kirill Petrenko                          Jewgenij Kissin
Dirigent                                 Klavier
Sir András Schiff
Klavier                                  Wolfgang Amadeus Mozart
                                         Sonate für zwei Klaviere D-Dur, KV 448
Johannes Brahms                          Robert Schumann
Konzert für Klavier und Orchester        Andante und Variationen für zwei
Nr. 2 B-Dur, op. 83                      Klaviere B-Dur, op. 46
Josef Suk                                Bedřich Smetana
Zrání. Symphonische Dichtung, op. 34     Die Moldau (Fassung für Klavier zu
                                         vier Händen vom Komponisten)
                                         Antonín Dvořák
                                         Slawische Tänze, op. 46 und op. 71
                                         (Auswahl)

Aber offenbar ist ein großer Anreiz für dich, diese Er-             er zwölf Jahre alt war: Da hörte ich seine Aufnahme von
fahrungen und Erkenntnisse in die Zusammenarbeit mit                den Chopin-Klavierkonzerten. Ich war absolut hingerissen!
großen Orchestern einzubringen. Denn „play conduct“                 Es war bezaubernd! Dann – ich habe ihn damals nicht
mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment ist natür-            gekannt, lange nicht – haben wir uns kennengelernt. Es
lich etwas ganz anderes, als mit Kirill Petrenko und den            war gegenseitige Sympathie. Ich weiß jetzt nicht, ob er
Berliner Philharmonikern zu musizieren. Das erzählt ja              oder ich das war, der gesagt hat: „Warum versuchen wir
viel von der großen, künstlerischen Souveränität und                nicht, etwas zusammen zu machen?“ So kam das zustan-
Freude, das Stück und dich als Interpreten in unterschied-          de. Wir planen das schon seit Jahren. Es ist nicht einfach,
liche Situationen zu bringen.                                       man ist auf Jahre hin ausgebucht, aber wir haben Zeit
   Ja, das Stück ist heilig, und ich bin wirklich sehr krea-        gefunden, und das wird sehr interessant. Ich weiß noch
tiv, aber nur ein Diener dieses Stücks. Für mich ist ein            gar nicht, wie das wird. Lassen wir uns überraschen!
Stück so, dass es seine eigenen Gesetze hat. Innerhalb
dieses Rahmens dürfen wir Interpreten uns bewegen,                  Wenn man so zum ersten Mal zusammenfindet, ist das
davon bin ich sehr überzeugt, aber da gibt es noch sehr             dann eigentlich irgendwie Gegenstand von Verhandlun-
viel Spielraum und sehr viele Alternativen. Da bin ich sehr         gen, wer welchen Part spielt?
neugierig – und ich freue mich enorm, ich habe bis jetzt               Das besprechen wir einfach. Wir werden abwechselnd
noch nicht mit Maestro Petrenko musiziert, aber ich habe            Primo oder Secondo spielen, das spielt keine Rolle. Wir
sehr viel von ihm gehört, und ich freue mich enorm auf              sind sicherlich sehr unterschiedlich, vom Klang her, von
diese Zusammenarbeit.                                               der Schulung her, obwohl auch ich eine gewisse Erfahrung
                                                                    mit der Russischen Schule habe. Ich habe früher, in mei-
Eine weitere, sehr interessante Konstellation in deiner             ner Jugendzeit, viele Kurse gemacht mit russischen Pia-
Residenz im Musikverein ist ein Abend an zwei Klavieren             nistinnen und Pianisten. Mit Tatiana Nikolayeva oder
bzw. mit Klavier zu vier Händen. Das ist eine Situation,            Bella Davidovich …, ich habe sehr viel von ihnen gelernt,
in der man dich nicht so oft erleben konnte. Jetzt hast             aber ich spiele heutzutage keine russische Musik. Ich habe
du dich dazu mit einem Pianisten zusammengefunden,                  das früher viel gemacht. Interessanterweise erweitern
an den wohl kaum jemand gedacht hätte: mit Jewgenij                 viele Leute ihr Repertoire, ich reduziere mein Repertoire,
Kissin. Wie kam es dazu?                                            weil ich schon so viel gespielt habe – und ich möchte jetzt
   Es stimmt, bei mir kam das selten vor im Konzert, ob-            nicht unbedingt Neues lernen, sondern die alten Sachen
wohl ich diese Literatur auch sehr schätze und seit der             besser spielen.
Kindheit pflege. Es ist heikel, es gibt ja natürlich einge-
spielte Duos, die nur das machen. Jewgenij Kissin ist ein
wunderbarer Mensch und Pianist. Ich erinnere mich, als

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Wien: 107,3           Im Internet
Graz: 94,2            via Livestream und
www.radioklassik.at   Radiothek
„ICH BIN WIRKLICH SEHR KREATIV, ABER NUR EIN DIENER DES STÜCKS“

„Das B-Dur-Konzert von Brahms gilt
für uns Pianisten als das schwerste –
es hat so einen Ruf.“
                                                                        Sir András Schiff

                                                                                             Willy von Beckerath: Brahms am Klavier
                                                                                             Kunstpostkarte / Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Es sind alles Originalkompositionen, die ihr aufs Pro-              Wenn wir jetzt schon einen Ausblick auf den Abschluss
gramm gesetzt habt, oder sagen wir Fassungen für zwei               deiner Porträtkonzerte geben, dann rückt die Musik von
Klaviere …                                                          Johann Sebastian Bach ins Zentrum. Über sie hast du in
   Ja, sogar „Die Moldau“ von Smetana. Smetana war ein              einem früheren Interview für unsere Zeitschrift einmal
großartiger Pianist, und ich wusste bis jetzt nicht, dass er        gesagt: „Keine andere Musik gibt mir dieses komplette
von der „Moldau“ eine Klavierfassung gemacht hat.                   Vergnügen: spirituell, emotional und intellektuell, auch
                                                                    physisch.“ Wie wichtig ist es denn heute, dieses Vergnü-
Was glaubst du, wie wir das hören werden, wenn ihr                  gen mit dem Publikum zu teilen, oder anders gefragt:
beide das spielt? Was wird man über die „Moldau“ an-                Glaubst du, dass in den Zeiten der Pandemie das Be-
deres erfahren oder anders hören können als in der                  dürfnis nach dem Teilen von, wie du sagst, spiritueller,
Orchesterfassung?                                                   emotionaler Erfahrung größer geworden ist?
   Das weiß ich noch nicht. Wir müssen uns hinsetzen                   Das ist eindeutig. Das können wir jetzt schon sehen.
und schauen, wie das klingt. Das ist eine Fassung, das ist          Die Menschen sind viel dankbarer, sie sind wie ausgehun-
keine Bearbeitung. Ich halte nicht viel von Bearbeitungen           gert. Es sind sehr viele von ihnen, die das bitterlich ver-
und überhaupt von dieser Bearbeitungskultur heute. „Má              misst haben – und jetzt sind sie glücklich, wieder in einem
vlast“ und „Die Moldau“ mit Orchester: Ich kann mir                 schönen Konzertsaal zu sitzen und ihr Erlebnis mit an-
nichts Schöneres vorstellen. Ich erinnere mich, als ich             deren Menschen zu teilen. Das Gemeinsame ist wichtig.
das in Prag mit Rafael Kubelík hörte. Das vergesse ich nie.         Wir können wunderbar zu Hause an den besten Anlagen
Das sitzt in meinen Ohren, wie Kubelík das dirigierte, oder         Musik hören, und es ist nicht das Gleiche. Ich möchte das
die alte Aufnahme mit Václav Talich mit der Tschechischen           auch teilen mit dem Publikum, und da ist die Bach’sche
Philharmonie. Auch die Slawischen Tänze von Dvořák –                Musik die größte und die beste, die es gibt. Wieder kom-
und Dvořák war nicht ein Pianist wie Smetana, aber die              me ich zur Bescheidenheit zurück. Bach ist überhaupt
Tänze sind wunderbar für vier Hände.                                nicht ich-betont. Bach ist ein Teil der Gemeinde, und er
                                                                    schreibt für diese Gemeinde, weil das seine Pflicht ist. Er
                                                                    sagt: „Ja, ich bin ein frommer Mensch, der liebe Gott hat
                                                                    mir diese Begabung gegeben, und es ist meine Pflicht,
                                                                    davon das Beste zu tun.“ Das finde ich so berührend. Und
                                                                    in jedem Stück, ob das jetzt kirchliche Musik ist oder sä-
                                                                    kulare, ist Bachs Musik spirituell.

                                                                                            Das Gespräch führte Intendant Dr. Stephan Pauly.

                                                                        Das komplette Interview können Sie als Video im
                                                                               Youtube-Kanal des Musikvereins sehen.

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WIENER STIMMEN

WIENER STIMMEN
So vielfältig klingt die Stadt! Das Projekt „Wiener Stimmen“,        2022 im Großen Musikvereinssaal mit dem Tonkünstler-
das die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien mit der                Orchester Niederösterreich im Rahmen des Musikverein
Brunnenpassage gestartet hat, zeigt es in einem faszinie-            Festivals aufzuführen. Wir porträtieren in dieser und den
renden musikalischen Prozess. Sechs in Wien lebende                  kommenden beiden Ausgaben der „Musikfreunde“ je zwei
Sängerinnen mit unterschiedlichen musikalischen und                  dieser Sängerinnen. Wiener Stimmen – und die Geschich-
sprachlichen Backgrounds wurden eingeladen, ihre Songs               ten dahinter.
für großes Orchester bearbeiten zu lassen und am 4. Juni                                        Dieses Projekt wird von der Erste Bank
                                                                                        im Rahmen der Premium-Partnerschaft mit dem
                                                                                                              Musikverein unterstützt.

               Die Stimme als
              Brücke zur Seele
                                      Alexia Chrysomalli

Fotos: Georg Cizek-Graf

                                                                14
WIENER STIMMEN

Ein Teil von „Wiener Stimmen“ zu sein erfüllt die aus Thes-
saloniki stammende Singer-Songwriterin Alexia Chryso-
malli mit unglaublicher Freude, und auch wenn das Konzert
erst in ein paar Monaten stattfindet, hat es für sie bereits
„in der Begegnung mit allen, die am Entstehungsprozess
beteiligt sind, begonnen. Das Miteinander und die Offen-
heit, die ich von allen bisher erfahren habe, sind für mich
ein großes Glück“, sagt die seit 2016 in Wien lebende Sän-
gerin. „Ich bin aber auch sehr stolz, was wir mit ,Wiener            „Das Besondere an dieser Musik ist für mich“, so Alexia
Stimmen‘ schaffen. Das Konzert hat so viele Dimensionen,             Chyrysomalli, „dass sie uns direkt zu den Wurzeln zurück-
die in der Verbindung starke Synergien entstehen lassen,             führt. Die Themen kreisen um Natur oder Liebe, aber auf
zwischen dem Tonkünstler-Orchester, das die klassische               eine sehr unschuldige Art und Weise, gleichzeitig kann
Musik repräsentiert, und jeder einzelnen von uns sechs               die Musik aber auch etwas sehr Rohes und Archetypisches
Sängerinnen, die mit ihren Songs die vielfältigsten musi-            vermitteln. Die Rhythmen sind hoch komplex, von 5/8- bis
kalischen Stile aus der ganzen Welt miteinbringt. Und der            hin zu 9/8-Takten, die einen Groove ergeben, der durch
Clou liegt für mich darin, dass wir alle zusammenkommen              Noten schwer erfassbar ist. Die Melodien sind anders, als
und eine Einheit bilden.“                                            man sie hier kennt, bedingt durch die unterschiedlichen
Mit diesem Konzert erfüllt sich ein Lebenstraum für Alexia           Skalen, die es in der griechischen Musik gibt. Die Penta-
Chrysomalli, die bereits von Kindesbeinen an nichts ande-            tonik spielt z. B. auch eine wichtige Rolle – oder eine
res tun wollte als singen. Zunächst lernte sie jedoch Klari-         bestimmte Ornamentik in der Phrasierung.“
nette, der Unterricht füllte sie nach einigen Jahren aber            All die unterschiedlichen Elemente der griechischen
nicht mehr aus. Sie nahm heimlich Gesangsstunden und                 traditionellen Musik fließen auch in Alexia Chrysomallis
fasste mit 19 Jahren, nachdem sie die Schule erfolgreich             eigene Songs ein, die, beseelt von ihrer gefühlvollen
beendet hatte, den Entschluss, von zu Hause auszuziehen              Stimme, ihre ganz persönliche Note tragen und mit tan-
und eine Laufbahn als professionelle Sängerin zu starten.            zender Leichtigkeit einen frischen mediterranen Sound
Die ersten Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. Als           versprühen. „Ab einem bestimmten Punkt hatte ich genug
sie 2004 beim Gesangsfestival von Korfu teilnahm, räumte             von der Nostalgie. Ich fühlte den Wunsch, mich über
sie alle sechs ersten Preise des Festivals ab, für sie völlig        meine eigene Musik auszudrücken und die Menschen
überraschend. „Nie im Leben hätte ich damit gerechnet,               damit zu erfreuen. Es wuchs eine Kraft in mir, durch die
alle Preise zu gewinnen. Diese Erfahrung hat mir Selbstver-          ich mich wirklich öffnen konnte, und so begann ich, eige-
trauen gegeben und gezeigt, dass etwas Gutes passiert, wenn          ne Lieder zu komponieren.“ 2018 veröffentlichte sie ihr
ich meiner Seele folge.“ Und das tat sie. In den folgenden           Debütalbum „Metamorphosis“, das sie mit Musikerinnen
Jahren widmete sie sich uneingeschränkt ihrem musikali-              und Musikern aus Thessaloniki aufnahm. Ein Höhepunkt
schen Werdegang, geprägt von vielen bereichernden Be-                des Albums ist „Helios“, Alexia Chrysomallis musikalische
gegnungen und wertvollen Erfahrungen, die sie als Künst-             Hommage an die Sonne, die sie auch im Rahmen von
lerin wachsen ließen. Sie gründete mit anderen Sängerinnen           „Wiener Stimmen“, neben anderen Songs, mit Orchester
die Frauen-a-cappella-Gruppe „StringLESS“, arbeitete mit             präsentieren wird. „Dieses Lied hat eine große Bedeutung
unterschiedlichen Bands zusammen und tourte mit be-                  für mich, weil es all das zum Ausdruck bringt, was ich
rühmten griechischen Künstlern wie Dimitris Zervoudakis              fühle und in die Welt tragen möchte. Sonnenschein und
und Giorgios Kazantsis durchs Land. Die Auftritte vor                eine gewisse Wärme. Ich glaube an die Kraft der Sonne,
großem Publikum waren für Alexia Chrysomalli wichtige                und auch wenn sie nicht scheint, sind wir in der Lage, von
Erlebnisse. Was sie jedoch als Künstlerin tiefgreifend ver-          innen heraus zu strahlen.“
ändern sollte, kam erst danach, als sie bei einem Festival           In ihren Songs begibt sich Alexia Chrysomalli auf einen
zum ersten Mal mit der traditionellen griechischen Musik             Weg der Selbsterforschung, sie hört in sich hinein und
in Kontakt kam. Vom ersten Moment an war sie davon un-               verschafft sich gleichzeitig über das Singen Zugang zur
glaublich erfasst. Innerhalb kürzester Zeit eignete sie sich         Welt. „Für mich ist die Stimme eine Brücke der Seele“, wie
ein umfangreiches Wissen über die überlieferten Lieder an.           sie sagt, „die den verborgenen Teil in uns mit der Außen-
Sie lernte von einigen der berühmtesten griechischen Volks-          welt vereint. Sie bringt all das, was in uns ist, in die reale
sänger, mit denen sie in Mazedonien und Thrakien musi-               Welt hinaus, zu den Ohren aller und schließlich auch
zierte, war in den Dörfern unterwegs, auf dem griechischen           wieder zu uns selbst. In diesem Sinne können wir uns mit
Festland wie auch in Serbien oder Bulgarien und tauchte              unseren Stimmen verbinden.“
förmlich in eine für sie neue musikalische Welt ein.                                                                      Karin Frey

                                                                15
WIENER STIMMEN

   Musikalischer
 Sprachenreichtum
                          Sakina Teyna

Fotos: Georg Cizek-Graf

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WIENER STIMMEN

                                                                    Analog zu vielen anderen kurdischen Künstlern und
                                                                    Künstlerinnen konnte Sakina Teyna an einem bestimm-
Foto: Derya Schubert–Gülcehre                                       ten Punkt ihre Musik nur mehr in der Illegalität ausüben
                                                                    – ihr künstlerisches Schaffen pausierte für längere Zeit.
                                                                    Erst als sie 2006 als politischer Flüchtling nach Österreich
                                                                    kam, fing sie allmählich wieder an, Musik zu machen.
                                                                    2011 gründete sie zusammen mit der Pianistin Nazê Îşxan
„In unserer Familie gab es immer eine Art Geheimnis. Als            und der Violinistin Nurê Dilovanî das „Trio Mara“, das in
Kind spürt man so etwas, es entstehen Fragen in deinem              seinen Arrangements traditionelle kurdische Musikstücke
Kopf, auf die du aber keine Antworten bekommst. Wenn                mit modernen Formaten in Verbindung setzt. Die Gruppe,
ich mit meinen Geschwistern zum Beispiel in einen Raum              die für ihre CD „Deri – Behind the Doors“ in Kurdistan
kam, in dem meine Eltern Radio hörten, drehten sie es               und in der Türkei äußerst positive Kritiken erhielt, ge-
sofort ab. Heute weiß ich, dass sie nicht wollten, dass wir         hörte in den Jahren 2015 und 2016 dem Katalog des „NRW
kurdische Musik hören. Es war eine Gefahr, über die uns             KULTURSekretariat“ an und gab in vielen Städten Nord-
niemand etwas erzählte und die vor uns versteckt wurde.“            rhein-Westfalens Konzerte. Für Sakina Teyna hat das Trio
So erinnert sich die Sängerin Sakina Teyna an ihre Kind-            eine sehr große Bedeutung. „Ich wollte schon immer
heit in der Kleinstadt Varto, wo sie in einer kurdisch-ale-         gemeinsam mit Frauen Lieder von Frauen aufführen.
vitischen Familie aufwuchs. Die in Wien lebende Sänge-              Meine Kolleginnen kommen aus Armenien, und deren
rin, die in herausragender Weise die unterschiedlichen              Eltern und Großeltern waren Dengbej. Dadurch konnten
Musiktraditionen Anatoliens verkörpert, ist heute fixer             sie viel Wissen darüber sammeln, gleichzeitig haben sie
Bestandteil der kurdischen Musikszene. In ihrer Kindheit            aber auch klassische westliche Musik gelernt. All diese
und Jugend war die kurdische Musik aber aufgrund der                Einflüsse bringen sie in unsere Stücke ein.“ Mit „Sakina
intensiven Assimilationspolitik und des Sprachverbots               and Friends“ hat sie 2015 ein weiteres erfolgreiches Projekt
absolut tabu.                                                       gestartet und eine erlesene Band um sich versammelt,
In ihrer Familie wurde regelmäßig gemeinsam musiziert               bestehend aus dem persischen Jazz-Gitarristen Mahan
und gesungen, aber immer auf Türkisch. Erst während                 Mirarab, dem türkischen Geiger Efe Turumtay, dem Kla-
ihrer Unizeit kam Sakina Teyna mit der kurdischen Musik             rinettisten Oscar Antoli und dem Perkussionisten Jörg
in Berührung, als sie 1991 begann, im Mesopotamischen               Mikula.
Kulturzentrum in Istanbul als Vokalistin mitzuwirken.               In ihren künstlerischen Aktivitäten setzt sich Sakina
Dort entdeckte sie auch die Dengbej-Tradition und war               Teyna wesentlich für Frauen- und Menschenrechte ein.
unglaublich fasziniert und inspiriert davon. Dengbej ist            Mit ihrer Musik möchte sie den Reichtum der verschie-
der wichtigste Teil der kurdischen Musikkultur. Dieser              denen Kulturen und Sprachen erfahrbar machen. Die
poetische, kunstvolle Stil von Lyrik und Rhythmus war               Vielsprachigkeit ist ihr dabei sehr wichtig. Bewusst singt
auf einzigartige Weise geeignet, die kurdische Sprache              sie auf der Bühne nicht nur auf Kurdisch, sondern auch
und Kultur bis heute zu bewahren. Viele Melodien, die in            auf Türkisch, Armenisch, Farsi oder Arabisch. Wenn sie
dieser Tradition gesungen werden, stammen ursprünglich              am 4. Juni 2022 im Rahmen des Konzerts Wiener Stimmen
von Frauen, die diese Lieder aufgrund religiöser oder               als eine von sechs Sängerinnen ihre Lieder mit dem Ton-
anderer konservativer Gründe nur heimlich und hinter                künstler-Orchester Niederösterreich präsentiert, wird sie
verschlossenen Türen singen konnten. „Ich habe mich                 auf Kurdisch und Türkisch singen. „Ich bin davon über-
immer gefragt, woher diese Frauen ihre Kraft genommen               zeugt, dass Musik Grenzen überwinden und viele Türen
haben“, so Sakina Teyna. „Meryem Xan zum Beispiel. Sie              öffnen kann. Musik bietet die Möglichkeit, Freiräume zu
wurde Anfang des 20. Jahrhunderts geboren und hatte                 finden, wo Gefühle heilen können.“
keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Um einer                                                                                Karin Frey
Zwangsheirat zu entgehen, flüchtete sie aus ihrem kleinen
Dorf, nicht wissend, was sie erwartet, aber sie folgte ihren         Karin Frey ist als Mitarbeiterin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Träumen. In diesem Sinne haben mich diese Frauen                    im Programmbereich der Vier Neuen Säle tätig und koordiniert das Projekt
persönlich wie auch künstlerisch sehr inspiriert.“                                                                           „Wiener Stimmen“.

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                 AB–BA
             Anton Bruckner und Alban Berg

Ein Konzertprogramm der Wiener Symphoniker bringt die beiden zusammen:
Anton Bruckner und Alban Berg, zwei Größen der Musikgeschichte, die schein­
bar nicht viel gemeinsam haben. Oder doch? Thomas Leibnitz hat sich die
Frage gestellt und zeigt, dass es jedenfalls zwischen den beiden Werken des
Programms, Bruckners 7. Symphonie und Bergs Violinkonzert, manch Ver­
bindendes gibt.

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Anton Bruckner. Alban Berg. Was           Zunächst nicht viel, zumal Bruckner       Augen (und Ohren) keine mehr ist –
haben sie gemeinsam – mit Ausnahme        während Bergs späterer Lebenszeit,        Musik, die die jahrhundertealte Basis
der gleichen Initialen? Vielleicht hät-   in den zwanziger und dreißiger Jahren     musikalischer Sinnstiftung, die har-
te Berg, Freund von Zahlenmystik und      des 20. Jahrhunderts, längst nicht        monische Tonalität, über den Haufen
Buchstabensymbolik, diese Tatsache        mehr wie ehedem als Pionier neuer         wirft und an deren Stelle neue Prin-
für nicht völlig bedeutungslos gehal-     Klänge, sondern ganz im Gegenteil         zipien setzt. Alban Berg ist einer von
ten. Aber ein kurzer, nüchterner Blick    als Symbolfigur des „alten Wahren“        ihnen; er bekennt sich mit Überzeu-
fördert zunächst das Trennende zu-        gehandelt wird. Mächtige Gruppie-         gung zu Arnold Schönberg, dem Grün-
tage. Bruckner: ein Mann aus der          rungen – konservative Bürger, Kleri-      der dieser „Neuen Musik“, wenn er
„Provinz“, sozialisiert in kirchlich-     kale, auch Deutschnationale – ver-        auch – dies sei vorweggenommen –
hierarchischen Verhältnissen, Schöp-      binden mit seinem Namen Werte und         den Bruch mit der Tonalität auf nicht
fer eines neuen Typus von Sympho-         Haltungen, die aus ihrer Sicht der Welt   so radikale Weise wie sein Lehrer
nie, der viel von den Aufbrüchen rings    in der Katastrophenzeit des Ersten        vollzieht.
um Wagner in sich aufnimmt und            Weltkriegs abhanden gekommen sind:
dennoch unzweifelhaft im Boden            religiöse Bindung, Weihe, Erhebung,
klassisch-romantischer Musiktradi-        Verankerung in großer Tradition. Und
tion wurzelt. Berg: ein eloquenter        mit Misstrauen blicken sie auf Leute,
Städter, literarisch vielfach beschla-    denen der Umsturz von Staat und
gen, als Komponist der „Zweiten Wie-      Gesellschaft offensichtlich nicht zu
ner Schule“ Künder einer radikal          reichen scheint, die auch in der Kunst
neuen Sprache, die – gemäß einem          das angeblich Unumstößliche um-
Liedtext seines Lehrers Arnold Schön-     stoßen, abstrakt malen, expressionis-
berg – „Luft von anderen Planeten“        tische Texte verfassen oder, wie sich
atmet. Wo findet sich da Verbinden-       etliche von ihnen auszudrücken pfle-
des?                                      gen, in „musikbolschewistischer“
                                          Manier Musik schreiben, die in ihren

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                                                           Welterfahrung im Verbinden von
                                                           Gegensätzen. Anton Bruckner und
                                                           Alban Berg

Fotos: Archiv · Bibliothek · Sammlungen der Gesellschaft
der Musikfreunde in Wien

Bruckners Siebente Symphonie, Bergs                        1883 trifft die Trauerbotschaft aus      empfinden. Allerdings: Den Auftrag
Violinkonzert: Bei aller Verschieden-                      Venedig ein, und Bruckner ist eben       zum Konzert erhält Berg bereits im
heit haben die beiden Werke etwas                          am Beginn der Coda, dem Schluss­         Frühjahr 1935 vom amerikanischen
gemeinsam; sie sind Werke des Toten-                       abschnitt, angelangt: „– und da habe     Geiger Louis Krasner. Die Widmung
gedenkens – zumindest werden sie                           ich geweint, oh, wie geweint – und       an den verstorbenen „Engel“ ent-
von ihren Schöpfern so dargestellt.                        dann erst schrieb ich dem Meister die    springt zweifellos persönlicher Be-
Bei Bruckner geht es um Richard                            eigentliche Trauermusik.“ Dann erst?     troffenheit, fügt sich aber auch in ein
Wagner, den er inbrünstig verehrt hat,                     So skeptisch wir die Aussage betrach-    Beziehungssystem ein, an dessen
der ihm der „unerreichbare Meister“                        ten mögen, das gesamte Adagio sei        Pflege Berg zu dieser Zeit viel liegt:
ist – wenn auch Wagner selbst von                          konzeptionell dem Andenken Wag-          Alma Mahler-Gropius unterhält ein
Bruckner nur am Rande Notiz nimmt                          ners gewidmet, so unmittelbar über-      Verhältnis mit dem Priester Johannes
und den demutsvollen Bewunderer                            zeugend ist Bruckners Bekenntnis, in     Hollnsteiner, dem Beichtvater des
kaum wahrnimmt. Ein „offizielles“                          diesen Satzschluss habe er all seine     österreichischen Bundeskanzlers Kurt
Gedenkwerk für Wagner ist die Sie-                         Betroffenheit und Erschütterung          Schuschnigg. Auf diese Weise wird
bente freilich nicht; noch zu Lebzeiten                    hineingelegt. Wie Erinnerungsfetzen,     auch Berg mit Schuschnigg bekannt,
Wagners wird sie begonnen, und auch                        scheinbar zusammenhanglos und            und nach dem Unfalltod von dessen
das großangelegte Adagio, das Bruck-                       fragmentarisch, tauchen die Motive       Frau schreibt er dem Kanzler einen
ner als Trauermusik für Wagner ver-                        des Satzes nochmals auf und fügen        Kondolenzbrief, in dem er ausdrück-
standen wissen will, erhält erst post                      sich zu einer „Trauermusik“ von be-      lich auf Bachs Choral „Es ist genug“
festum seine „Widmung“: „Einmal                            zwingender Emotionalität.                Bezug nimmt – den Choral, der im
kam ich nach Hause und war sehr                                                                     letzten Satz des Violinkonzerts zitiert
traurig; ich dachte mir, lange kann                        Keinem Zweifel scheint der Gedenk-       wird und die Sphäre trauernder Er-
der Meister unmöglich mehr leben,                          charakter von Bergs Violinkonzert zu     gebung symbolisiert. Die Achse Bergs
da fiel mir das cis-moll-Adagio ein.“                      unterliegen, denn der Komponist          zur Spitze des autoritären „Stände-
So Bruckner in einem Brief an den                          widmet es ausdrücklich „dem An-          staats“ mag verwundern; sie wird
Dirigenten Felix Mottl. Ist Bruckner                       denken eines Engels“. Der „Engel“:       erklärbar durch die Zwangslage, in
dieser Satz wirklich in einer „antizi-                     Das ist Manon Gropius, die Tochter       die er nach dem Verbot seiner Werke
pativen Trauerstimmung“ eingefallen,                       Alma Mahlers aus deren Verbindung        im nunmehr nationalsozialistischen
oder ist er im Nachhinein der Mei-                         mit Walter Gropius, die 1935 (im Alter   Deutschland zunehmend gerät.
nung, dieses Adagio mit seinen weihe-                      von erst neunzehn Jahren) an Kinder-
vollen, getragenen Klängen, mit dem                        lähmung stirbt. Mit Alma Mahler ist
beziehungsvollen Kolorit der „Wagner-                      das Ehepaar Berg seit vielen Jahren
Tuben“, mit der großangelegten Apo-                        freundschaftlich verbunden, und so
theose in C-Dur, sei dem Gedenken                          mag man durchaus die Erschütterung
an das verehrte Vorbild besonders                          nachvollziehen, die Freunde und Be-
angemessen? Jedenfalls will es der                         kannte beim Tod der jungen Frau
beziehungsvolle Zufall, dass Wagner
tatsächlich stirbt, als Bruckner eben
an diesem Satz arbeitet. Im Februar

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Ein Bach-Choral in einem Zwölfton-
werk? Es ist nicht die einzige Brücke,
die Berg im Violinkonzert aus dem
Reich streng durchorganisierter
Zwölftonmusik zur Welt der Tradition
schlägt. Da ist vor allem die „Reihe“
selbst; zwar enthält sie, gemäß Schön-
bergs Vorgabe, alle Töne der zwölf-
tönigen temperierten Skala, doch ihr
Aufbau – beginnend mit einer Auf-
einanderfolge des g-Moll-, des D-Dur-
und des a-Moll-Dreiklangs – lässt die
Tonalität „durch die Hintertüre“ ein-
treten. Und nochmals gestattet sich
Berg Töne aus der „alten“ Welt der
Musik, wenn im Schlusssatz nicht nur
der erwähnte Bach-Choral, sondern                                                          Mittwoch, 23. Februar 2022
auch eine Kärntner Volksweise er-                                                          Donnerstag, 24. Februar 2022
klingt. Die strenge Welt der Dodeka-                                                       Freitag, 25. Februar 2022
phonie, der resigniert-demütige Bach-
Choral, das naive Volkslied, das von     So ist’s im Leben. Bruckner und Berg              Wiener Symphoniker
erster Liebe singt – es ist die Weite    sprechen verschiedene musikalische                Andrés Orozco-Estrada
menschlicher Erfahrung, die Berg in      Sprachen, sie leben auf getrennten                Dirigent
der Welt scheinbar unvereinbarer         musikalischen Planeten. Aber um die               Vilde Frang
Gegensätze absteckt.                     faszinierende Weite menschlicher                  Violine
                                         Existenz wissen sie beide, um die
Welterfahrung im Verbinden von           Rätsel der Polarität von Schmerz und              Alban Berg
Gegensätzen. Auch Bruckner weiß          Freude, und sie wird ihnen zu berüh-              Violinkonzert
davon, auch er integriert sie in die     render Musik.                                     Anton Bruckner
Sprache seiner Symphonien, sogar in                                    Thomas Leibnitz     Symphonie Nr. 7 E-Dur
recht ähnlicher Weise. Im Schlusssatz
der Dritten, diesmal explizit Richard     Der Musikwissenschaftler Dr. Thomas Leibnitz
Wagner gewidmeten Symphonie, stößt                     war von 2002 bis 2020 Direktor
man auf ein merkwürdiges themati-             der Musiksammlung der Österreichischen
sches Gebilde: ein Thema, in dem sich                               National­bibliothek.
ein Choral und eine Polka miteinander
verbinden. Zufall, unreflektierte Ein-
gebung? Nein, weiß Bruckners Bio-
graph August Göllerich, der bei einem
nächtlichen Spaziergang mit Bruckner
auf der Ringstraße eine stimmige Er-
klärung erhält. Im „Sühnhaus“ (an der
Stelle des ehemaligen Ringtheaters)
liegt der verstorbene Dombaumeister
Friedrich Schmidt aufgebahrt, aus
einem der Palais ertönt heitere Musik.
„Sehen Sie“, meint Bruckner, „hier im
Hause großer Ball – daneben liegt im
Sühnhaus der Meister auf der Toten-
bahre! So ist’s im Leben, und das hab’
ich im letzten Satz meiner Symphonie
schildern wollen: die Polka bedeutet
den Humor und Frohsinn in der Welt
– der Choral das Traurige, Schmerz-
liche in ihr.“

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ALLA BREVE

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                                                                               TOLLE ERBEN

                                              Exzellente
                                              Darsteller.                      Foto: Stephan Roehl

                                                              KURIER
                                                                               Klengel? Klingelt etwas bei Ihnen, wenn Sie den Namen
                                                                               hören? Wohl kaum, es sei denn, Sie wären ein ausgewie-
                                           Franz Grillparzer                   sener Kenner der Cellomusik und damit natürlich auch

                                         Medea                                 ein historisch beschlagener Fan der 12 Cellisten der Ber-
                                                                               liner Philharmoniker. Deren klangvolle Geschichte beginnt
                                                                               nämlich mit Klengel. Und das kam so: Julius Klengel
Trailer zu sehen auf
                                                                               (1859–1933) war einer der besten Cellisten seiner Zeit,
                                             www.josefstadt.org
                                                                               schon mit 15 Mitglied im Leipziger Gewandhausorchester
                          Karten und Info unter: T 01-42-700-300
                                                                               und seit seinem 22. Lebensjahr dort Solocellist. Als 1920
                                                                               der legendäre Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch
                                                                               seinen 65. Geburtstag feierte, stellte sich Klengel mit einem
                                                                               speziellen Gruß ein: einem Hymnus für 12 Celli, den er,
                                                                               ein versierter Komponist, selbst geschrieben hatte. Ein
                                                                               Kuriosum, mag sein – aber eines, das eine andere Klang-
                                                                               welt erschloss. Schon Pablo Casals hatte von einem Or-
                 PROGRAMM FÜR KINDER,                                          chester nur aus Violoncelli geträumt … 1972 wurde aus
                                                                               dem Traum wirklich Geschichte. Rund um die Salzburger
                 JUGENDLICHE & FAMILIEN                                        Festspiele kamen findige Musikredakteure auf die Idee,
                            FEBRUAR 2022                                       Klengels Hymnus aus dem Archivschlaf zu wecken und
                                                                               für den Rundfunk aufzunehmen. Aus den Reihen des
                                                                               Festspielorchesters fanden sich sofort zwölf, die begeistert
                                                                               dabei waren. Das war die Geburtsstunde der 12 Cellisten
                                                                               der Berliner Philharmoniker. Jetzt feiern sie ihren Fünf-
                                                                               ziger als weltbekanntes Ensemble, das mit Virtuosität und
                                                                               Spielwitz begeistert und mit neuem Repertoire entzückt.
                                                                               Berühmte Komponisten schrieben für die glorreichen
                                                                               Zwölf, findige Arrangeure adaptierten für sie Flottes aus
                              TOPOLINA                                         allen Sparten. Und so schaut dann auch das Jubiläums-
                       TOPOLINAS WILDE BANDE (3+)                              programm aus, mit dem die 12 Cellisten in den Musik-
                             19./20.2.2022                                     verein kommen. John Williams und Nino Rota sind dabei,
                                                                               aber es beginnt, selbstverständlich, mit Klengel und
                          SEBASTIAN                                            seinem Hymnus.
                     UND DAS TONTELEFON
                DER WALDGEIST JODELDUDELDOING (3+)
                             26./27.2.2022

                                                                               14. Februar 2022
Konzertkassa • Musikvereinsplatz 1 • T +43-1-505 81 90 • musikverein.at
                                                                               Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker
                                                                               Jubiläumskonzert

                                                                          22
ALLA BREVE

HAPPY END                                                             KLÄNGE
FÜR PROKOFJEW                                                         DES BIEDERMEIER

Foto: Archive Photos / SZ-Photo / picturedesk.com                     Foto: Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Ein Happy End gab es für die Musik, ein strahlendes, ganz             In pandemischen Zeiten konnte der Vergleich nicht lan-
unbestritten. Sergej Prokofjews „Romeo und Julia“ setzte              ge ausbleiben: „Willkommen im Corona-Biedermeier“,
sich durch. Im Ballettrepertoire, noch mehr aber im Kon-              „Corona-Pandemie führt in ein neues Biedermeier“ oder
zertsaal begeistert das Werk bis heute – erst recht, wenn             „Biedermeier-Haltung in der Gesellschaft“ war schon bald
nun, wie bei den Wiener Philharmonikern, ein russischer               in den Medien zu lesen. Freilich: Das heimtückische Virus
Stardirigent wie Valery Gergiev am Pult steht. Eigentlich             lässt sich nicht ohne Weiteres mit dem strikten Metter-
hätte das Ballett ja an dem Haus aufgeführt werden sollen,            nich’schen Regime gleichsetzen, doch darum ist es wohl
dem Gergiev heute als Intendant vorsteht: dem Kirov- (nun             ohnehin nicht gegangen. Vielmehr sind es die Auswir-
Mariinsky-)Theater. Es kam nicht dazu. Und damit ist nur              kungen, die den Gedanken ans Biedermeier provozieren:
ein Aspekt der verwickelten Entstehungsgeschichte an-                 der (notgedrungene) Rückzug ins Private, das Bedürfnis,
gesprochen, auf die tiefe Schatten fallen. In Stalins Russ-           sich in den eigenen vier Wänden möglichst wohlig einzu-
land, wohin Prokofjew 1936 leichtfertig zurückgekehrt                 richten. Während wir uns heute zur willkommenen Zer-
war, herrschten Zensur und Terror. Auch Prokofjews                    streuung über allerlei digitale Möglichkeiten die Musik
Arbeit an diesem Ballett war davon betroffen. Der künst-              nach Hause holen, wenngleich auch nur als halbherzigen
lerische Leiter des Kirov-Theaters fiel einer stalinistischen         Ersatz für das Live-Erlebnis, musste am Beginn des 19.
„Säuberung“ zum Opfer, das Happy End, das der Kompo-                  Jahrhunderts zur Selbsthilfe gegriffen werden und somit
nist unbedingt für seine Romeo-und-Julia-Version haben                zum Instrument: in Form von Hausmusik. Zum musika-
wollte, durfte nicht sein. So endet auch das Ballett: tödlich.        lischen Stilbegriff wurde das Biedermeier zwar nicht, der
Aber, selbstredend, mit ungemein starker Musik. „Romeo                biedermeierliche Lebensstil allerdings prägte doch die
am Grabe Julias“, mit dem Valery Gergiev die von ihm                  Musik dieser Zeit. „Hausmusik im Wiener Biedermeier“
zusammengestellte Suite abschließt, erklang 1953 auch                 ist nun auch Titel eines Konzerts in der Reihe „Nun klin-
am Grab Prokofjews. Die Musik kam vom Band – die ver-                 gen sie wieder“ mit Instrumenten und Werken aus Archiv,
fügbaren Musiker hatte man zu anderem Anlass abgezo-                  Bibliothek und Sammlungen der Gesellschaft der Musik-
gen. Am selben Tag wie Prokofjew war – Ironie des                     freunde in Wien. An Traverso (Querflöte), Violine, Gitar-
Schicksals – auch der Diktator Josef Stalin gestorben.                re und Hammerflügel aus Pressburger und Wiener Werk-
                                                                      stätten erklingt Musik von Leonhard von Call, Leopold
                                                                      Sonnleithner, Diabelli, Mozart und Schubert. Archiv­
                                                                      direktor Johannes Prominczel führt durch das Programm.

                                                                      25. Februar 2022
19. Februar 2022                                                      Julia Auer | Maria Bader-Kubizek | Jonas Skielboe |
Wiener Philharmoniker | Valery Gergiev                                Florian Birsak | Johannes Prominczel
Werke von Prokofjew und Tschaikowskij                                 Hausmusik im Wiener Biedermeier

                                                                 23
DIE „ORGANISIRTE TROMPETE“

                     Die „organisirte
                       Trompete“
                                        Joseph Haydns Trompetenkonzert

Fotos: Archiv · Bibliothek · Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

                                                                                               24
DIE „ORGANISIRTE TROMPETE“

In der Zeit um 1800 wur-       Denkt man an Joseph Haydns Kom-          Ein Blechblasinstrument mit einer
                               positionen für „ungewöhnliche“, heu-     Klappe auszustatten war keine neue
de von Kaiser Franz II. (I.)   te eher unübliche Instrumente, fallen    Idee. Schon im Frühbarock finden
eine Reihe von Erfin­          einem wohl als Erstes die Baryton-       sich Zinken mit einer Klappe. In den
                               Werke ein. Etwas exotischer muten        1760er Jahren führte der böhmische
dungs-Privilegien bewil­       jene Werke an, in denen Haydn die        Hornist Ferdinand Kölbel in St. Peters-
ligt. Diese Vorstufe des       Lira organizzata verwendet, ein der      burg sein mit zwei Klappen versehe-
                               Drehleier verwandtes Instrument. Zu      nes Horn vor. Auch in Weimar bei-
Patents übertrug dem           nennen sind auch die Kompositionen       spielsweise experimentierte man mit
Erfinder das alleinige         für Flötenuhr. Gemeinsam ist all die-    Klappentrompeten. Notwendig er-
                               sen Stücken, dass sie jeweils für be-    schien die Weiterentwicklung, weil
Herstellungsrecht. 1801        stimmte Musiker entstanden sind:         barocke Instrumente lediglich die
erhielt Anton Weidinger        Haydns Dienstherr, Fürst Nikolaus I.     Naturtonreihe spielen konnten, die
                               von Esterházy, war bekanntlich ein       nur in der oberen Lage diatonische
das Privileg für jenes Ins­    Baryton-Virtuose und verlangte dem-      oder gar chromatische Tonleitern
trument, für das Haydn         entsprechend Kompositionen für das       zulässt. Weidingers Klappen ermög-
                               Instrument. Werke für Lira organiz-      lichten dies allerdings auch in der
sein Trompetenkonzert          zata gab Ferdinand IV. von Neapel in     mittleren und tiefen Lage und er-
Hob VIIe:1 komponierte:        Auftrag, der das Instrument auch         leichterten die Intonation bei schwie-
                               beherrschte, und die Flötenuhrstücke     rig zu spielenden Tönen.
die Klappentrompete.           entstanden für den Ordensmann und
                               Flötenuhrspieler mit dem klingenden      Joseph Haydn und Anton Weidinger
                               Namen Primitiv Niemecz. Auch das         verband eine Freundschaft. Haydn
                               Trompetenkonzert Hob. VIIe:1 ist mit     war Trauzeuge und Taufpate mehre-
                               Anton Weidinger einem bestimmten         rer Kinder von Weidinger. 1796 kom-
                               Instrumentalisten gewidmet. Aller-       ponierte er dann das Trompetenkon-
                               dings assoziiert man mit dem Konzert     zert. Die Datierung findet sich auf dem
                               heute wohl eher ein herkömmliches        Autograph, das der Trompeter und
                               Instrumentarium und nicht eine nur       Professor am Konservatorium der
                               wenige Jahre verwendete Blasinstru-      Gesellschaft der Musikfreunde Adal-
                               mentenrarität. Wer war dieser Anton      bert Maschek 1877 der Gesellschaft
                               Weidinger, und was hatte es mit seiner   geschenkt hat. Es sollte nach der Kom-
                               Klappentrompete auf sich?                position vier Jahre dauern, bis man
                                                                        Haydns Konzert erstmals aufführte.
                               Anton Weidinger, geboren 1766 in         Möglicherweise machten die spiel-
                               Landstraße, damals ein niederöster-      technischen Herausforderungen wei-
                               reichischer Vorort von Wien, stamm-      tere Adaptionen Weidingers an seiner
                               te aus einer Trompeterfamilie. Sein      Klappentrompete notwendig. Am 28.
                               Vater, zwei seiner Brüder und einer      März 1800 veranstaltete er eine mu-
                               seiner Söhne waren Trompeter, ein        sikalische Akademie im k. k. National
                               weiterer Sohn Pauker. Weidinger          Hoftheater, dem heutigen Burgthea-
                               wurde 1799 in Wien kaiserlicher Hof­     ter. Akademie war die damals übliche
                               trompeter, schließlich sogar Oberhof­    Bezeichnung für ein öffentliches Kon-
                               trompeter und blieb dies bis zum         zert. Auf dem Programm standen
                               Ruhestand 1850. Zweifellos war er der    neben dem Trompetenkonzert drei
                               prägende Wiener Trompeter zu Be-         Haydn-Symphonien, einige Arien und
                               ginn des 19. Jahrhunderts. Zudem         ein Bläsersextett von Ferdinand Kau-
                               beschäftigte er sich ab etwa 1793 mit    er, das ebenfalls die Klappentrompe-
                               der Weiterentwicklung des Instru-        te verlangte. Man sollte meinen, die
                               ments, fügte Klappen hinzu, verän-       Symphonien Haydns und die Klap-
                               derte ihre Anzahl und Position.          pentrompete hätten gereicht, den Saal
                                                                        zu füllen. Schließlich pries man das
                                                                        Instrument wenig bescheiden in einer
                                                                        kurz vor dem Konzert erschienenen
                                                                        Annonce in der „Wiener Zeitung“:

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DIE „ORGANISIRTE TROMPETE“

Samstag, 26. Februar 2022

Concentus Musicus Wien
Stefan Gottfried
Dirigent
Gabriele Cassone
Trompete

Wolfgang Amadeus Mozart
Symphonie C-Dur, KV 425, „Linzer“
Joseph Haydn
Konzert für Trompete und Orchester
Es-Dur, Hob. VIIe:1
Franz Schubert
Symphonie Nr. 4 c-Moll, D 417,
„Tragische“

„Seine [Weidingers] eigentliche Ab-      Bereits 1798 war Anton Weidinger mit      Weidinger bot seine Erfindung in
sicht hierbey ist, die von ihm erfun-    seiner „organisirten Trompete“ erst-      mehreren Varianten in der „Wiener
dene, und nach einer siebenjährigen,     mals öffentlich mit der Sinfonia con-     Zeitung“ zum Verkauf an und rühm-
und kostspieligen Arbeit nunmehr,        certante für Klappentrompete, Man-        te dabei, dass die Instrumente einen
wie er sich schmeichelt, zur Vollkom-    doline, Kontrabass und Klavier des        „vollkommenen, hellen und starken
menheit gediehene, und mit mehreren      kaiserlichen Hofkomponisten Leopold       Klang“ besäßen. Bemerkenswert ist,
Klappen versehene organisirte Trom-      Koželuh aufgetreten. Auch der späte-      dass er bestellte Instrumente inklusi-
pete […] zur öffentlichen Beurtheilung   re Vizehofkapellmeister Joseph Weigl      ve „einem darauf komponirten Con-
das erstemal ans Licht tretten zu las-   und – etwas bekannter – Johann Ne-        certe“ auslieferte. Darüber, um welche
sen.“ Tatsächlich war das Konzert        pomuk Hummel komponierten für             Komposition es sich dabei gehandelt
wohl nicht allzu gut besucht. Joseph     ihn. Besonders erwähnenswert ist ein      haben dürfte, kann heute nur speku-
Carl Rosenbaum, der später bei der       Auftritt beim Wiener Kongress mit         liert werden. Zielgruppe dürfte jeden-
Grabräuberei und dem Diebstahl von       Sigismund Neukomms Requiem, eine          falls in erster Linie die Militärmusik
Haydns Schädel zu trauriger Berühmt-     Aufführung, die durchaus als politi-      gewesen sein, denn er pries die ein-
heit gelangen sollte, schrieb kurz und   sches Statement verstanden werden         händige Spielbarkeit der Klappen-
bündig in sein Tagebuch: „Abends         sollte, denn sie fand zu Ehren Ludwigs    trompete und dass die linke Hand für
war ich in der Akademie des Hoftrom-     XVI. statt. Neukomm schrieb auf der       „Cavallerie-Trompeter“ zur Leitung
peters Weidinger. […] Es war leer.“      Titelseite des späteren Drucks, die       des Pferdes frei bleibe.
                                         Klappentrompete könne durch die
Warum wir heute vor allem Weidingers     Klarinette ersetzt werden, mit der sie
Namen mit der Klappentrompete            „die meiste Aehnlichkeit hat“. Und
verbinden, liegt daran, dass es ihm      genau das war auch der größte Kritik-
gelungen ist, nicht nur Haydn, son-      punkt. Die Klappen veränderten die
dern auch weitere damals durchaus        Klangfarbe. Felix Mendelssohn Bar-
renommierte Komponisten dafür zu         tholdy äußerte sich dazu 1831 wenig
gewinnen, für ihn und sein Instru-       schmeichelhaft: „… und nun klingt’s
ment zu schreiben.                       wie ein Trompetencastrat, so matt
                                         und unnatürlich“. Dennoch fand die
                                         Klappentrompete Verbreitung. Wohl
                                         unabhängig von Weidingers Erfin-
                                         dung war sie vor allem in Italien popu-
                                         lär, wie einige in Neapel, Bologna und
                                         Mailand erschienene Schulen bewei-
                                         sen.

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