NATO 2030 Erfahrung Herausforderung Zukunft - Deutsche Atlantische Gesellschaft eV
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
D ER A UT O R Heinrich Brauß ist Generalleutnant a. D. der Bundeswehr und Mitglied des Vorstandes der Deutschen Atlantischen Gesellschaft. Von Oktober 2013 bis Juli 2018 war er Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik und Streit- kräfteplanung, zugleich A bteilungsleiter der Defence Policy and Planning Division im Internationalen Stab der NATO und Vorsitzender des Defence Policy and Planning Committee des Nordatlantikrats. Brauß hatte somit die Federführung inne für die verteidigungspolitische Neuausrichtung der Allianz nach der Aggression Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2014. Er war damit auf Stabsebene auch für die Vorbereitung der verteidigungspolitischen Aspekte der NATO-Gipfeltreffen in Wales 2014, Warschau 2016 und Brüssel 2018 zuständig. Ebenso war er auf Stabsebene verantwortlich für die Kooperation zwischen NATO und EU in der Entwicklung militärischer Fähigkeiten. Davor war Brauß unter anderem Abteilungsleiter im Militärstab der EU, Kommandeur der ehemaligen Panzerbrigade 42 in Potsdam, Chef des Stabes im Hauptquartier der NATO-Operation SFOR in Sarajewo/ Bosnien und Herzegowina, Dezernatsleiter im Stab des Deutschen Militärischen Vertreters im Militär ausschuss der NATO und EU sowie Arbeitsbereichsleiter im Planungsstab des Bundesministers der Verteidigung Volker Rühe. Seit Ende 2018 ist Brauß Senior Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. IMPR E S S UM Herausgeber Bildnachweise Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V. Bild oben: NATO PDD, Seite 5, 11, 13, 22, 24, 55, 56: NATO, Dorotheenstraße 84 · 10117 Berlin Seite 4: DAG/Samantha Dietmar, Seite 15: Bundesregierung/Ulrich Wienke, Seite 16: White House, Seite 28: Robert J. Fisch/CC BY 2.0, Seite 30: Bundeswehr/Bienert, Telefon +49 (0) 30/20649134 Seite 31: European Union 2014 – European Parliament/CC BY-NC-ND 2.0, Fax +49 (0) 30/20649136 Seite 37: Alexander Chizhenok/Shutterstock.com, Seite 41: Bundeswehr/Kraatz, info@ata-dag.de Seite 42: Who is Danny/Shutterstock.com, Seite 45: Tom Buysse/Shutterstock.com, Facebook: DtAtlGes Seite 46: U.S. Air Force photo/Staff Sgt. Christopher Boitz, Twitter: @DAGATAGermany Seite 47: Bundesregierung/Steffen Kugler, Seite 53: Pixabay.com, Seite 58: Andreas Wolochow/Shutterstock.com, Seite 59: Kremlin.ru, CC-BY 4.0 www.ata-dag.de Gestaltung und Produktion: Druckerei Franz Paffenholz GmbH, Bornheim ISBN 978-3-00-070477-2 © DAG 2021 Diese Broschüre wurde CO₂-neutral gedruckt. Die Seiten im Innenteil bestehen zu 100 % aus Recyclingpapier (Nautilus SuperWhite, FSC®-zertifiziert).
I NH A LT Grußworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Kapitel 1: Sicherheit für Europa – Die NATO im Kalten Krieg (1949 – 1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Kapitel 2: Die NATO in einer neuen Zeit – Neue Partner und neue Aufgaben (1990 – 2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Kapitel 3: Sicherheitspolitische Zeitenwende in Europa – Russlands Aggression gegen die Ukraine 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Kapitel 4: Epochenwechsel – Chinas Aufstieg zur Weltmacht und die neue globale Großmachtkonkurrenz . . . . . . . . . . . . . 50 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Die Deutsche Atlantische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
NA T O 2030 GR U S S WO RTE Die komplizierte und bedrohliche Weltlage hat die Rahmenbedingungen für die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands und Europas in den letzten Jahren grundlegend verändert. Umso wichtiger ist das Ringen um die Sicherung des Friedens. Hierbei bleibt die NATO unverzichtbarer Garant unserer Sicherheit. Die neue Bundesregierung wird sich dem Reformprozess der NATO zu widmen haben und dabei sicherlich einen Schwerpunkt auf die politische und strukturelle Stärkung des Bündnisses setzen. Die Deutsche Atlantische Gesellschaft hat es sich mit ihren gut 3.000 Mitgliedern zur Aufgabe gemacht, das Verständnis für die Ziele des Atlantischen Bündnisses zu vertiefen und über die Politik der NATO zu informieren. Sie erklärt komplexe sicherheitspolitische Zusammenhänge in der Gesellschaft und bietet Raum für einen öffentlichen Diskurs und neue inhaltliche Impulse. Dies erreicht sie deutschlandweit durch Vorträge und Diskussionsveranstaltungen, insbesondere auch durch ihre etablierte, jährliche NATO- Konferenz im politischen Berlin. Mit der vorliegenden Broschüre „NATO 2030“ wollen wir den Diskurs über die Sicherheit Deutschlands und Europas befördern. Ich freue mich, dass wir für diese Arbeit insbesondere auf die Erfahrung unseres Vorstandsmitglieds, Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß, zurückgreifen konnten. Als ehemaliger Beige- ordneter NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung kennt er wie nur wenige die NATO von innen. Die einzelnen Kapitel zeigen die wesentlichen Entwicklungsschritte des Bündnisses seit seinem Entstehen auf, erklären seine überdauernden politisch-militärischen Funktionen für unsere Sicherheit, analysieren die Herausforderungen, vor denen die Allianz heute steht, und erläutern ihr Programm für die Zukunft. Ich danke allen, die ihre Zeit und Expertise in diese Publikation haben einfließen lassen. Möge sie einen Beitrag dazu leisten, den transatlantischen Gedanken zu befördern und diesen auch in die jüngere Gene- ration weiterzutragen und aktuell zu halten. Christian Schmidt Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina Bundesminister a. D. Präsident der Deutschen Atlantischen Gesellschaft 4
G R U S S W O R T E N AT O 2 0 3 0 Wir befinden uns an einem Wendepunkt: Die NATO steht vor bisher nicht gekannten sicherheitspolitischen Herausforderungen. Russlands Politik zeigt sich zunehmend aggressiv. China nutzt seine wachsende Macht, um andere Länder unter Druck zu setzen. Wir sind mit einer wachsenden Zahl an komplexen Cyberangriffen, einer anhaltenden terroristischen Bedrohung, der Weiterverbreitung von Atomwaffen und den sicherheitspolitischen Folgen des Klimawandels konfrontiert. Alle diese Faktoren werden weitreichende Auswirkungen auf die euro-atlan- tische Sicherheit haben. Nordamerika und Europa können diese Herausforderungen nur gemeinsam bewältigen. Im Juni 2021 haben die Staats- und Regierungschefs der NATO weitreichende Entscheidungen getroffen. Mit der NATO- 2030-Agenda wird die Allianz ihre politische Einheit festigen, ihre Abschreckungs- und Verteidigungs fähigkeit weiter stärken und ihre Partnerschaften ausbauen, insbesondere mit der EU. Die Bündnispartner werden ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Cyber- und hybriden Bedrohungen erhöhen und den Schutz kritischer Infrastruktur verbessern. Sie werden in moderne Technologien für unsere Streitkräfte investieren und die sicherheitspolitischen Auswirkungen des Klimawandels angehen. Und wir müssen die richtigen Schlussfolgerungen aus unserem Einsatz in Afghanistan ziehen. Als größte europäische Wirtschaftsmacht und im Zentrum Europas gelegen, hat Deutschland eine beson- dere Verantwortung für die Stärkung der euro-atlantischen Sicherheit. Eine starke und leistungsfähige Bundeswehr spielt eine wesentliche Rolle für die Handlungsfähigkeit der NATO. Dazu gehört auch die verlässliche Fortführung der Nuklearen Teilhabe. Die vorliegende Publikation von Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß zeigt, wie die NATO seit ihrer Grün- dung große Herausforderungen bewältigt hat und wie sie auch die Zukunft meistern will. Ich danke ihm und der Deutschen Atlantischen Gesellschaft für ihr Engagement für die transatlantische Sache und für unser einzigartiges Bündnis. Baiba Braže Beigeordnete NATO-Generalsekretärin Public Diplomacy Division, Internationaler Stab der NATO, Brüssel 5
NA T O 2030 EIN L E ITU N G Im Juni 2021 kamen die Staats- und Regierungschefs der Nord- ahezu einer Milliarde Menschen. Ihr Schutz- und Sicherheits n atlantischen Allianz in Brüssel zu einem wichtigen Gipfeltreffen versprechen gegen äußere Bedrohungen und die Verpflichtung zusammen, erstmals mit dem neu gewählten amerikanischen zur Solidarität gelten für alle Bündnispartner, ob groß oder klein Präsidenten Joe Biden. Sie trafen Entscheidungen von strategi- und unabhängig von ihrer geostrategischen Lage. Die Gewissheit scher Reichweite: die NATO-2030-Agenda. Sie setzt die M arksteine gleicher Sicherheit hat Vertrauen und Stabilität in Europa geschaf- für den Weg der Allianz in dieser Dekade. Russlands Aggression fen und die Renationalisierung von Verteidigung verhindert; die gegen die Ukraine, die völkerrechtswidrige Annexion der Halb- militärische Integration, die gemeinsame Verteidigungsplanung insel Krim und die Destabilisierung der Ostukraine im Jahr 2014 und der gemeinsame Streitkräfteplanungsprozess der NATO haben die sicherheitspolitische Lage in Europa fundamental haben die Notwendigkeit, national Vorsorge gegen mögliche verändert. Viele sprachen von einer Zeitenwende, denn es wurde gegenseitige Bedrohungen zu treffen, obsolet gemacht. Die klar, dass die jahrelangen Versuche, Russland als Partner des NATO bildet das Forum für permanente Konsultation der Verbün- Westens zu gewinnen, gescheitert waren. Nach 20 Jahren Fokus- deten im Nordatlantikrat und in dessen zivilen und militärischen sierung auf internationale Krisenbewältigung außerhalb ihrer Ausschüssen über alle Fragen, welche die Sicherheit der Alliierten Grenzen musste die NATO mit der Wiederbelebung ihrer primä- betreffen. Alle Entscheidungen werden im Konsens getroffen. ren Aufgabe Abschreckung und Verteidigungsvorsorge r eagieren. Dies erhöht deren Glaubwürdigkeit und Legitimität in den Parla- Nur wenige Jahre später steht sie abermals vor neuen, diesmal menten und Bevölkerungen der Mitgliedstaaten. Generationen auch globalen Herausforderungen, denn der Aufstieg Chinas zur von Politikerinnen und Politikern, Diplomatinnen und Diplomaten Weltmacht verändert das gesamte internationale System. Den und zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Stäben der westlichen Demokratien stehen mit China und Russland künftig Allianz haben diesseits und jenseits des Atlantiks eine gemeinsa- zwei autoritäre Großmächte gegenüber. Dabei sehen die USA me transatlantische Grundhaltung entwickelt, die den inneren in China ihren Hauptrivalen, der zugleich die Demokratien im Zusammenhalt des Bündnisses über Jahrzehnte entscheidend indopazifischen Raum und die gesamte westliche Allianz heraus- geprägt hat. fordert. Darüber hinaus bildet die NATO den institutionellen Rahmen für Die US-Regierung versucht, ein „Bündnis der westlichen Demo- die militärische Präsenz amerikanischer Streitkräfte in Europa, kratien“ gegen die autokratischen Großmächte zu schmieden. die für den Schutz und, wenn nötig, die kollektive Verteidigung Dies wirkt sich auch auf die NATO aus. Ihre Hauptaufgabe bleibt, der Alliierten unerlässlich sind. Sie hat erst West-, dann ganz die Sicherheit im euro-atlantischen Raum zu wahren. Aber sie Europa in eine Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft muss zugleich ihre politisch-strategische Rolle neu bestimmen, integriert und Ausgleich und Vertrauen unter den europäischen um in der heraufziehenden globalen geopolitischen Konkurrenz Nationen geschaffen, die sich vorher als Feinde gegenüber der Großmächte ihrer Kernaufgabe auch künftig erfolgreich standen. Zudem hat die NATO ein einzigartiges Netzwerk an nachzukommen: Schutz und Sicherheit für alle Bündnispartner. partnerschaftlichen Beziehungen mit über 40 Ländern und Der NATO kommt dabei zugute, dass sie über Erfahrungen und internationalen Organisationen aufgebaut, einschließlich der Qualitäten verfügt, die sie als das stärkste und erfolgreichste Europäischen Union (EU) und den Vereinten Nationen (VN). Und Bündnis der Geschichte auszeichnen. Dieses Urteil verdankt sie sie verfügt mit der NATO-Kommandostruktur, dem Verbund von ihren unvergleichlichen politisch-strategischen Funktionen und militärischen Hauptquartieren in Europa und Nordamerika, über Strukturen, aber ebenso ihrer Resilienz und Anpassungsfähigkeit eine permanente militärische Beurteilungs-, Planungs- und an sicherheitspolitische Veränderungen. Führungskapazität wie keine andere internationale Organisation. Generationen von alliierten Offizieren und Unteroffizieren, Män- Die NATO repräsentiert die über Jahrzehnte gewachsene, einzig- nern und Frauen, die in der NATO gedient haben und dienen, artige Sicherheitspartnerschaft zwischen Nordamerika und Euro- haben eine gemeinsame militärische Kultur entwickelt. pa, den beiden großen Zentren westlicher Demokratien mit 6 6
E I N L E I T U N G N AT O 2 0 3 0 In den mehr als sieben Dekaden ihres Bestehens hat die NATO tischer Entspannung, mit der erste, wichtige Schritte in Richtung bedeutsame politische und militärstrategische Herausforderun- einer dauerhaften Friedensordnung in Europa möglich werden. gen gemeistert, sicherheitspolitischen Umbrüchen in Europa Die Gründung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit standgehalten und dabei Sicherheit in und für Europa aktiv mit- (KSZE) in Europa und deren Schlussakte von Helsinki 1975 legen gestaltet. Daraus wird deutlich, dass die Allianz immer schon die Grundsätze und Verhaltensnormen für die Beziehungen aller mehr als ein militärisches Verteidigungsbündnis war und ist. Teilnehmerstaaten in Ost und West fest. Das neue politische Klima Sie hat auch eine unentbehrliche politische Funktion, nämlich führt auch zu zahlreichen Verträgen zwischen den USA und der einstmals zwölf und heute dreißig Nationen unter einer gemein- Sowjetunion zur Begrenzung und Reduzierung ihrer nuklearen samen politisch-strategischen Zielvorstellung zu vereinen, die auf Arsenale. gleichen Werten und gleichgerichteten sicherheitspolitischen Interessen beruht, und die daraus folgenden Maßnahmen ein Das zweite Kapitel geht auf die Epochenwende nach dem Fall des vernehmlich zu treffen, als demokratische, souveräne und gleich- Eisernen Vorhangs in Europa und die wechselvolle Zeit bis zum berechtigte Nationen. Ohne Zweifel gab und gibt es immer Jahr 2014 ein. Die NATO richtet sich vollkommen neu aus und wieder Unstimmigkeiten und Konflikte unter den Verbündeten. gestaltet diese neue Ära entscheidend mit. Aus alten Gegnern Der Austritt Frankreichs aus der militärischen Integration 1966, werden neue Partner. Die Aufnahme neuer Mitglieder aus das Ringen um den NATO-Doppelbeschluss 1979, der Krieg einer Mittelosteuropa wird begleitet von und verbunden mit neuer US-geführten Koalition gegen den Irak 2003, der Streit um die Kooperation mit Russland, ausgedrückt in der NATO-Russland- Abwehr ballistischer Raketen als Teil des NATO-Dispositivs oder Grundakte von 1997, und den anderen Nachfolgestaaten der der andauernde griechisch-türkische Disput in der Ägais und im ehemaligen Sowjetunion. Zugleich führt der Krieg auf dem Balkan östlichen Mittelmeer sind bekannte Beispiele. Dennoch hat die zum ersten Kriegseinsatz der NATO in ihrer Geschichte. Die mili- Allianz ihre Einheit, gemeinsame Entscheidungsfähigkeit und tärische Intervention, zunächst in Bosnien und Herzegowina, Solidarität wahren können. Sie sind die zentralen Voraussetzun- dann im Kosovo und später in Afghanistan und in Libyen, mar- gen für ihre Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit. kieren die neue Ausrichtung: Krisen und Konflikte sollen von Europa ferngehalten werden. Die NATO verlagert faktisch ihren Vor diesem Hintergrund will diese Publikation der Deutschen Schwerpunkt von kollektiver Verteidigung auf internationale Atlantischen Gesellschaft (DAG) die Entwicklung der NATO in Krisenbewältigung „out of area“ wie auch auf die Zusammen kompakter Form über sieben Jahrzehnte nachzeichnen. Man kann arbeit mit Partnern in Europa und darüber hinaus, die sich auch sie als Abfolge unterschiedlicher politisch-militärischer „Inkarna- in gemeinsamen Kriseneinsätzen bewährt. Die politisch-militä tionen“ der Allianz darstellen. Sie zeigen die spezifischen Heraus- rische Transformation der NATO führt vor allem bei den euro forderungen der verschiedenen sicherheitspolitischen Epochen päischen Verbündeten zu tiefgehenden und weitreichenden und deren charakteristische Merkmale, aber auch die jeweilige Anpassungen ihrer Streitkräfte. Aus ‚schweren‘ Großverbänden, Rolle der NATO, ihre Anpassungsleistung an und ihr Beitrag zur die für kollektive Verteidigung gebraucht wurden, müssen ‚leich- Gestaltung dieser Epochen. Ebenso werden die politischen und te‘ Kontingente für multinationale Stabilisierungseinsätze wer- militärischen Konstanten und Prioritäten deutlich, die das Bündnis den, wohlgemerkt bei gleichzeitiger kontinuierlicher Kürzung der beachten und verfolgen sollte, um das vor uns liegende Jahrzehnt Verteidigungshaushalte. zu bestehen und die NATO-2030-Agenda ins Werk zu setzen. Das dritte Kapitel widmet sich der sicherheitspolitischen Zeiten- Das erste Kapitel befasst sich mit den wesentlichen politischen wende nach dem militärischen Einfall Russlands in die Ukraine und militärstrategischen Entwicklungen im Kalten Krieg, also in und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Februar/März der Zeit von 1949 bis 1989. Diese vier Jahrzehnte lassen sich in 2014. Die NATO hat sich erneut einem fundamentalen Wandel zwei große Abschnitte unterteilen: In den ersten Abschnitt bis der europäischen Sicherheitsordnung anzupassen. Sie reagiert 1966 fallen die sogenannte Block-Konfrontation zwischen NATO mit der Neubelebung ihrer Abschreckungs- und Verteidigungs- und Warschauer Pakt unter Führung der Sowjetunion ebenso wie fähigkeit. Das Kapitel beschreibt und erläutert die antagonistische die Entwicklung der Abschreckungsstrategie der NATO und deren Politik Russlands wie auch dessen hybride Destabilisierungs Anpassung an die Veränderung der militärstrategischen Bedin- strategie gegenüber der Allianz, Europa und einzelnen Nationen, gungen. Den zweiten Abschnitt leitet die politisch-militärische der auch die Aufrüstung der konventionellen Streitkräfte und die Doppelstrategie des Harmel-Berichts von 1967 ein, also die Kom- Erweiterung des nuklearen Potentials dienen. Das weitgespann- bination aus glaubwürdiger Verteidigungsfähigkeit und poli te Programm der NATO zur Stärkung ihres Abschreckungs- und 7
NA T O 2030 EINLEITUNG Verteidigungsdispositivs in Europa wird zusammengefasst und gründen und auch in die Zukunft tragen. Sie beschreiben daher erklärt. Gleichzeitig behält die Allianz ihr Konzept der Projektion auch die Herausforderungen, vor denen die transatlantische von Stabilität in Krisenregionen bei – mit neuem Schwerpunkt: Gemeinschaft als Ganze heute sicherheitspolitisch steht und der Statt bewaffneter Intervention sollen ausgewählte Partner in der sie sich ebenso wie die europäischen Nationen und besonders Peripherie Europas beim Aufbau eigener Sicherheits- und Vertei- Deutschland aus Sicht des Autors stellen muss. digungskapazitäten unterstützt werden, und zwar sowohl im Süden (Jordanien, Irak und bis Sommer 2021 Afghanistan) als Die einzelnen Kapitel beruhen auf langjährigen beruflichen auch im Osten (Ukraine, Georgien). Am Ende dieses Kapitels Erfahrungen, dem eingehenden Studium der Quellen und vielen werden auch die möglichen Auswirkungen thematisiert, die der Gesprächen mit sicherheitspolitischen Expertinnen und Exper rasche Kollaps von Regierung, Armee und Polizei in Afghanistan ten in der NATO und in Deutschland. Die Auswahl der vielen nach dem Abzug der NATO-geführten Koalition und die Übernah- Ereignisse und Entwicklungen, die Art ihrer Zusammenfassung me der Macht durch die islamistischen Taliban auf die künftige und die Darstellung von Zusammenhängen ist notwendiger Rolle der NATO in der internationalen Krisenbewältigung haben. weise selektiv und stellt insofern die persönliche Sichtweise des Möglicherweise bedeutet diese Entwicklung einen Wendepunkt Verfassers dar. für den Ansatz, entfernte Krisenregionen von außen stabilisieren und so aufbauen zu wollen, dass gute und verantwortungs Der Autor ist dankbar für den professionellen Rat und die wert- bewusste Staats- und Regierungsführung entsteht, die zu nach- vollen Hinweise, die er von sicherheitspolitischen Experten erhal- haltiger, selbsttragender Stabilität führt. ten hat – Persönlichkeiten, die mit der internationalen Sicher- heitspolitik vertraut sind, die NATO in verantwortlichen Positionen Schließlich beschreibt und analysiert das vierte Kapitel die erneu- mitgestaltet haben oder dem Bündnis aus langjähriger beruflicher te grundlegende Veränderung der globalen sicherheitspoliti- Erfahrung verbunden sind: Botschafter a. D. Dr. Klaus Scharioth, schen Lage durch den Aufstieg Chinas zur Weltmacht und die ehemaliger Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und Botschaf- damit einhergehende geopolitische und systemische Rivalität ter in den USA; General a. D. Klaus Naumann, in den 1990er Jahren der Großmächte. Angesichts der Größe und Gleichzeitigkeit der Generalinspekteur der Bundeswehr und anschließend Vorsitzen- geopolitischen und transnationalen Risiken und Gefahren steht der des NATO-Militärausschusses in Brüssel; Generalleutnant a. D. die NATO erneut am Beginn einer neuen sicherheitspolitischen Karl Müllner, ehemaliger Abteilungsleiter Militärpolitik im Bun- Epoche. Nach den Worten von Generalsekretär Jens Stoltenberg desministerium der Verteidigung und langjähriger Inspekteur der muss sie in der Zukunft militärisch stark bleiben, ihre politische Luftwaffe; Dr. Karl-Heinz Kamp, vormaliger Präsident der Bundes- Einheit und Geschlossenheit stärken und sich aktiver globalen akademie für Sicherheitspolitik und heute Beauftragter des Poli- Entwicklungen widmen, die für ihre künftigen Aufgaben relevant tischen Direktors im Bundesministerium der Verteidigung; die sind. Das Kapitel erläutert die ‚Natur‘ der neuen Herausforderun- Politikwissenschaftlerin Svenja Sinjen von der Stiftung Wissen- gen ebenso wie die Kernelemente der NATO-2030-Agenda und schaft und Demokratie; Werner Sonne, langjähriger ARD-Korres- legt dar, was die Allianz aus Sicht des Verfassers tun sollte, um die pondent in Bonn, Hamburg, Berlin, Washington und Warschau künftigen regionalen und globalen Herausforderungen zu beste- sowie Generalmajor Jörg See, Stellvertretender Beigeordneter hen. Schließlich werden die wesentlichen Folgen der notwendi- NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfte- gen Anpassung der NATO für die europäischen Nationen und planung im Internationalen Stab der NATO in Brüssel. Außer insbesondere für Deutschland erörtert. ordentlicher Dank gebührt Dr. Nicolas Fescharek von der DAG für seine vorzüglichen Beiträge zur Entwicklung des Konzepts dieses Der Text der vorliegenden Publikation ist keine historisch-wissen- Bandes und seine engagierte Mitwirkung an der Redaktion des schaftliche Studie im strengen Sinne, sondern eine reflektierte, Textes. Für ihre fachkundige und zuverlässige Hilfe bei der Erstel- systematische und strukturierte Abhandlung, welche über die lung dieser Publikation dankt der Verfasser Kamala Jakubeit und Entwicklung der NATO über sieben Jahrzehnte hinweg informie- Elisabet Tsirkinidou von der DAG. Engagiert geholfen haben auch ren und diese erklären will. Insofern stellen die folgenden Kapitel Christina Forsbach und Dr. Martin Hartmann. Allen ein herzliches eine Synopse der wesentlichen Faktoren oder Faktorenbündel Dankeschön. dar, welche die Evolution des transatlantischen Bündnisses bestimmt haben. Sie illustrieren seine einzigartige strategische Rolle und Leistungsfähigkeit, die in seinen konstanten Kernfunk- tionen ebenso wie in seiner Anpassungs- und Gestaltungsfähigkeit 8 8
K A P I T E L 1 N AT O 2 0 3 0 1 S I C H E R H E I T F Ü R E U R O PA – D I E N ATO I M K A LT E N K R I E G ( 1949 – 1989 ) 1972 1947 SALT-I-Vertrag Truman- 1973 Doktrin Eröffnung der 1948 1962 Konferenz für Berlin-Blockade; Kuba-Krise Sicherheit und kommunistische Zusammenarbeit Staatsstreiche 1966 in Europa in Ungarn und 1950 Austritt Frank- (KSZE) der Tschecho Invasion Süd reichs aus der 1987 koreas durch das militärischen 1975 slowakei Vertrag zwi- kommunistische Integration der Schlussakte der schen den USA 1948 – 1952 Nordkorea: NATO KSZE (Helsinki) und der Sowjet- Marshall-Plan Korea-Krieg bis 1976 union über 1967/68 1949 1953 Beginn der die Abschaffung Harmel-Bericht Gründung 1954/55 über die „Künf- Aufstellung von aller nuklearen der NATO Pariser Verträge; tigen Aufgaben SS-20-Mittel- Mittelstrecken- Beendigung der Allianz“ und streckenraketen systeme des Besatzungs- Militärstrategie durch die (INF-Vertrag) statuts in West- der „Flexiblen Sowjetunion 1989 deutschland Erwiderung“ 1979 Fall der Berliner 1955 1969 NATO- Mauer Beitritt der Beginn der Doppel Bundesrepublik Strategic Arms beschluss; Deutschland Limitation Talks SALT-II- zur NATO (SALT) Vertrag 1957 „Sputnik- Schock“ 9
NA T O 2030 S IC HERH EI T FÜ R E UROPA DIE NAT O I M KALT E N KR I E G ( 1 9 4 9 – 1 9 8 9 ) Wer von heute aus auf die ersten vier Jahrzehnte des nordatlan- zwei große Phasen der Entwicklung der NATO zwischen 1949 und tischen Verteidigungsbündnisses zurückblickt, denkt an den 1989 erkennen, in denen zugleich entscheidende Merkmale und Kalten Krieg, an die politische, militärische und ideologische politisch-strategische Funktionen der Allianz offenbar werden: Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjet Erstens die Zeit von ihrer Gründung im April 1949 bis weit in die union, zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt. Man sprach 1960er Jahre, die wesentlich von der Strategie der Kriegsverhin- von einem Antagonismus der Blöcke, der die sicherheitspolitische derung durch nukleare Abschreckung geprägt war. Und zweitens Lage in Europa vierzig Jahre lang bestimmte. Sichtbares Merkmal die Phase von 1967 an, als die NATO mit dem Harmel-Bericht und waren die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang, die Deutsch- der Militärstrategie der „Flexiblen Erwiderung“ („Flexible Res land und Europa teilten. ‚Kalt‘ war dieser Systemkonflikt zwischen ponse“) eine Phase der politischen Entspannung einleitete und dem freien, demokratischen Westen und dem kommunistischen den Weg ebnete zu kooperativer Rüstungskontrolle und -begren- Osten, weil er trotz der hochgerüsteten Armeen, die sich mitten zung und schließlich zu Abrüstung. in Europa und im geteilten Deutschland gegenüberstanden, nie zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung in Europa führte, wohl aber zu sogenannten Stellvertreterkriegen in ande- Gründung der Nordatlantischen Allianz ren Teilen der Welt (wie etwa in Korea 1950 bis1953 oder Vietnam 1965 bis 1975). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zerfiel die Anti-Hitler- Koalition aus Großbritannien, den Vereinigten Staaten und der Im Rückblick mag man versucht sein, die ersten vierzig Jahre der Sowjetunion rasch. Die Errichtung kommunistischer Regime in NATO für eine Zeit militärisch dominierter Stagnation zu halten, Polen, Rumänien und Bulgarien, die Staatsstreiche in Ungarn und die lange vorbei ist und aus der keine Lehren für die heutigen in der Tschechoslowakei und besonders auch die Berlin-Blockade Herausforderungen zu ziehen sind. Dies wäre ein Fehlschluss. Der 1948, mit der die Sowjetunion West-Berlin in die Sowjetisch Kalte Krieg sah viele bedeutende und wegweisende politische Besetzte Zone (SBZ) Deutschlands eingliedern wollte, ließ bei den Entwicklungen, die Europa und die Rolle Deutschlands wesentlich Westmächten die Überzeugung wachsen, dass der sowjetische veränderten und teilweise noch heute wirksam sind. Er sah auch Herrscher Josef Stalin seinen Herrschaftsbereich weiter nach Wes- eine bemerkenswerte Entwicklung des politisch-strategischen ten ausdehnen wollte und versucht sein könnte, ganz Deutschland Denkens im Rahmen der NATO, das nicht nur ihre militärische, militärisch zu überrennen. Denn im Gegensatz zu den Westmäch- sondern auch ihre politische Rolle in Europa schrittweise verän- ten, die ihre Streitkräfte nach Ende des Krieges drastisch reduziert derte: von der Bewahrung von Sicherheit und Frieden in Europa hatten, unterhielt die Sowjetunion weiter eine große Armee in zu aktiver Gestaltung von Stabilität. Ihre Kernfunktion und die ihrem Einflussgebiet. 1 Die US-amerikanische Regierung vollzog oberste Leitlinie ihrer Strategie blieben stets die gleichen: Schutz schon 1947 mit der „Truman-Doktrin“ eine außenpolitische Wen- und Sicherheit für alle ihre Mitglieder gegen alle äußeren Bedro- de und leitete eine Politik der Eindämmung („Containment“) ein. 2 hungen und Erhalt des Friedens in Europa. Die Bundesrepublik Damit wollte sie „freien Völkern“ zu Hilfe kommen, „die sich der Deutschland wiederum entwickelte sich von einem zerstörten angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder und besetzten Land zu einer der wichtigsten europäischen Mäch- durch äußeren Druck widersetzen“ – eine klare Ansage, der Ein- te in der Allianz. flussnahme der Sowjetunion auf frei gewählte Regierungen und Demokratien in Europa entgegenzutreten. 3 Die Invasion Süd Aus der historischen Distanz, die einen Blick auf größere Zusam- koreas durch das kommunistische Nordkorea 1950 ließ die Furcht menhänge, Strukturen und Entwicklungslinien erlaubt, lassen sich vor kommunistischer Expansion in Westeuropa weiter wachsen. 10
S I C H E R H E I T F Ü R E U R O P A N AT O 2 0 3 0 Am 4. April 1949 wurde mit der Unterzeichnung des Nordatlan- tikvertrags in Washington die NATO gegründet. Sie hatte damals zwölf Mitglieder. 5 Der Vertrag besticht durch seine Kürze und Sachlichkeit. Von seinen nur 14 Artikeln sind die folgenden vier die wichtigsten: h In Artikel 5 vereinbaren die Vertragsparteien, dass „ein bewaff- neter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird“. Sie vereinbaren, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung ihres Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung nach Arti- kel 51 der Charta der Vereinten Nationen, der angegriffenen Partei oder den angegriffenen Parteien beisteht und, indivi- Unterzeichnung der Pariser Verträge 1954: Die Bundesrepublik duell und gemeinsam mit den anderen, die als notwendig Deutschland wird eingeladen, der NATO beizutreten. erachteten Maßnahmen ergreift, einschließlich der Anwen- dung militärischer Gewalt. In diesem nüchternen Vertragstext kommt der Kern und die Hauptfunktion der NATO zum Aus- Oberstes Ziel der USA war es damals, die weltweite Ausbreitung druck: die inzwischen so genannte „kollektive Verteidigungs- der kommunistischen Ideologie und den damit verbundenen garantie“. Machtanspruch der Sowjetunion mit allen Mitteln zu verhindern. 4 h In Artikel 6 wird der Geltungsbereich der kollektiven Vertei Ihm lag auch die strategische Notwendigkeit zugrunde, als glo- digung definiert: das Territorium einer jeden Vertragspartei in bale Seemacht den sicheren Zugang zu Amerikas Gegenküsten Europa oder Nordamerika, Inseln unter der Hoheit einer Ver- zu erhalten und zu sichern – als Voraussetzung für den Erhalt tragspartei im NATO-Vertragsgebiet (nördlich des Wende seiner Weltmachtrolle gegenüber der ausgreifenden sowjeti- kreises des Krebses) oder deren Schiffe oder Flugzeuge dort. schen Kontinentalmacht. Der Schutz Westeuropas gegen die Diese Formulierung gilt es für mögliche künftige Einsätze und Sowjetunion durch ein US-geführtes Bündnis diente also auch Aktionen der Verbündeten im Blick zu behalten. 6 der strategischen Vorneverteidigung der USA. Vor diesem Hin- h In Artikel 3 verpflichten sich die Mitgliedstaaten, einzeln und tergrund kam es darauf an, Westeuropa zu stabilisieren und vor gemeinsam, mittels kontinuierlicher und wirkungsvoller einer Ausweitung des sowjetischen Machtbereichs zu schützen. Selbsthilfe und wechselseitiger Unterstützung, die eigene und Dem diente einerseits der Marshall-Plan, mit dem zwischen 1948 die kollektive Fähigkeit zu erhalten und fortzuentwickeln, und 1952 der wirtschaftliche Aufbau in den kriegszerstörten einem bewaffneten Angriff zu widerstehen. Dieser Artikel ist westeuropäischen Ländern, einschließlich der ehemaligen Kriegs- die Grundlage für die Erwartung, dass jeder Verbündete die- gegner Westdeutschland und Österreich, mit Milliardenhilfen jenigen Streitkräfte entwickelt und einsatzbereit hält, welche angekurbelt wurde. Andererseits musste ein Schutz- und Vertei- die NATO von ihm für ihre Aufgaben braucht. NATO-Streit digungsbündnis in Europa zur Abwehr der sowjetischen Bedro- kräfteziele für jeden einzelnen Bündnispartner beruhen hung gegründet werden. Mit dem so genannten Brüsseler Pakt letztlich auf diesem Artikel. Es gibt Stimmen, vor allem aus den hatten Großbritannien, Frankreich und die Beneluxstaaten 1948 USA, die ein Junktim zwischen dem nationalen Engagement zwar ein europäisches Schutzbündnis gegründet. Aber die und der kollektiven Verteidigungspflicht herstellen. sowjetische Bedrohung verlangte das verteidigungspolitische h Schließlich macht Artikel 4 die Zusage, dass die Verbündeten Engagement der USA in Europa. Denn im Gegensatz zu den einander konsultieren, sobald einer von ihnen glaubt, seine Westeuropäern waren die USA der Sowjetunion militärisch über- territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicher- legen. Zwar hatte die Sowjetunion im Jahr 1949 mit der Zündung heit seien bedroht. Diese bedrohungsbezogene Konsultation ihrer ersten Atombombe das seit 1945 bestehende Nuklear ist beispielsweise von Polen im Nordatlantikrat im Jahr 2014 waffen-Monopol der Vereinigten Staaten grundsätzlich durch- nach der militärischen Aggression Russlands gegen die brochen. Aber die USA hatten weit überlegene Luftstreitkräfte Ukraine beantragt worden. Der Rat entscheidet in solchen als Träger ihrer Nuklearwaffen und waren auf Jahre hinaus selbst Fällen im Konsens, was dann zu tun ist. nicht verwundbar, weil die Sowjetunion über keine weitreichen- den Trägermittel verfügte. 11
NA T O 2030 SICHERHEIT FÜR EUROPA Am 5. Mai 1955, zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, Sie war auch ein Instrument der sich entwickelnden globalen wurde der Beitritt der damaligen Bundesrepublik Deutschland Führungsrolle der USA und Teil des Aufbaus neuer internationa- zur NATO rechtskräftig. Sie wurde ihr fünfzehntes Mitglied. ler Institutionen unter amerikanischer Führung. Den Grundstein Grundlage waren die Pariser Verträge von 1954/55, die das legte das internationale Abkommen von Bretton Woods, mit dem Besatzungsstatut in Westdeutschland beendeten. Die Bundes das internationale Währungssystem mit dem US-Dollar als Leit- republik wurde – von bestimmten Einschränkungen abgesehen währung geschaffen wurde. Ende 1945 wurden die Weltbank und – in wesentlichen Punkten innen- und außenpolitisch souverän. 7 der Internationale Währungsfonds (IWF) gegründet. Zudem Sie trat ebenso wie Italien dem Brüsseler Pakt bei, der damit zur wurden 1947 mit dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen Westeuropäischen Union (WEU) erweitert wurde. Großbritannien, eine internationale Vereinbarung über den Welthandel getroffen Kanada und die USA sicherten zu, Streitkräfte auf dem europäi- und Schritt für Schritt Zölle und andere Handelshemmnisse schen Kontinent zu stationieren. Alle NATO-Streitkräfte in Europa abgebaut. wurden dem Obersten Alliierten Befehlshaber in Europa SACEUR (Supreme Allied Commander Europe) unterstellt. Als Antwort auf all dies wurde am 14. Mai 1955 der Warschauer Pakt unter Entwicklung der Abschreckungsstrategie der NATO Führung der Sowjetunion gegründet. Die Block-Konfrontation begann. Für die militärische Verteidigungsvorsorge waren die geopoliti- schen Verhältnisse und die Streitkräftekonstellation in den 1950er Jahren ungünstig und gefährlich, vor allem aus deutscher Sicht. Die NATO wurde zum entscheidenden Der Warschauer Pakt war hochgerüstet, was ihm die Option eines Überraschungsangriffs gab. Das militärstrategische Konzept der Katalysator für die verteidigungspolitische NATO sah grundsätzlich vor, einem solchen Angriff mit einer Integration des freien Teils Europas. Kombination aus „Vorneverteidigung“ mit konventionellen Streit- kräften und einem raschen nuklearen Gegenangriff zu begegnen. 8 Die USA hatten mit ihrer im Zweiten Weltkrieg aufgebauten Aus politischer Sicht können die Bedeutung dieser Entwicklung strategischen Bomberflotte die dazu nötige Luftherrschaft. Die und die Rolle der NATO nicht hoch genug eingeschätzt werden: zunächst schwachen NATO-Landstreitkräfte sollten das Fortschrei- Die USA wurden mit Streitkräften in Europa verankert, sie wurden ten eines möglichen konventionellen Angriffs verlangsamen, um eine europäische Macht. Westdeutschland wurde wieder gleich- dann mit einem massiven Nuklearwaffeneinsatz der USA die berechtigtes Mitglied der Völkergemeinschaft, weil sein wirt- Angriffskraft der Sowjetunion und des Warschauer Pakts zu bre- schaftliches und künftiges militärisches Potential gebraucht chen. Bodentruppen waren gewissermaßen der ‚Schild‘ der NATO, wurde. Es vollzog die Integration in den politischen Westen, das die nuklearen Waffen der USA ihr ‚Schwert‘. Damals ging es also große Ziel von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Mit dem Aufbau im Kern planerisch um atomare Kriegsführung mitten in Europa. der Bundeswehr wurde Westdeutschland das zentrale Mittelstück Westdeutschland wäre „Kampfzone“ und das Hauptschlachtfeld der Bündnisverteidigung in Europa. Auch deshalb wuchsen ihr der Blöcke geworden – aus heutiger Sicht unvorstellbar. über die Jahre Vertrauen und Respekt der Verbündeten zu. An- dererseits machte die Integration Westdeutschlands in die NATO Die uneingeschränkte Fähigkeit der USA aber, dem Warschauer und die Präsenz bedeutender amerikanischer Streitkräfte in Pakt die atomare Vernichtung seiner Armeen und der Sowjet Westdeutschland die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, des union selbst die Ausschaltung ihrer Industrie- und Führungs ehemaligen Kriegsgegners, für die anderen europäischen Natio- zentren androhen zu können, sollte Moskau davon überzeugen, nen erträglich und vertrauensvolle Zusammenarbeit als Verbün- dass sich Krieg nicht lohnte. Der Kerngedanke von Abschreckung dete möglich. Umgekehrt war die US-Präsenz und die der anderen war geboren: die Androhung des nuklearen „Schreckens“ dem- Verbündeten mit Truppen in Westdeutschland maßgebend für gegenüber, der Krieg erwägt, mit dem Ziel, ihn davon abzuhalten, die Sicherheit der jungen Bundesrepublik. Die NATO wurde also weil er bei vernünftiger Risikobewertung zu dem Schluss kommen zum entscheidenden Katalysator für die verteidigungspolitische würde, dass er nicht nur keinen Erfolg hätte, sondern der Schaden Integration des freien Teils Europas. für ihn weit größer wäre als der erhoffte Gewinn. Die Strategie der „Massiven Vergeltung“ („Massive Retaliation“) mit Nuklear- waffen, welche die NATO schließlich 1957 beschloss, diente der Kriegsverhinderung und damit der Sicherheit des freien Westens. 12
S I C H E R H E I T F Ü R E U R O P A N AT O 2 0 3 0 teln auf beiden Seiten. Polemisch wird dies auch heute ‚Wettrüs- ten‘ oder ‚Rüstungswettlauf‘ genannt, was irrigerweise nahelegt, es sei einzig darum gegangen, mehr Waffen als die Gegenseite zu haben. Tatsächlich ging es um die Erweiterung eigener oder die Einschränkung gegnerischer Optionen. Der Erhalt der Zweit- schlagsfähigkeit beispielsweise verlangte die Gewissheit, nach einem atomaren Erstschlag durch den Gegner mit vernichtenden Auswirkungen auf jeden Fall genügend Mittel zu besitzen, die für einen vernichtenden Gegenschlag, den Zweitschlag, nötig gewe- sen wären. Das gegenseitige Misstrauen trieb die Anstrengungen ständig voran. Belgischer Außenminister Pierre Harmel 1967 Ein neuer Ansatz – Der Harmel-Bericht und die Strategie der „Flexiblen Erwiderung“ von 1967 Der britische Premierminister Winston Churchill beschrieb im Jahr 1955 mit einer düsteren Feststellung die Paradoxie nuklearer Das nukleare Patt und die Logik der atomaren Zweitschlags Abschreckung: „Sicherheit wird das stämmige Kind des Schre- fähigkeit führten nicht nur zu riesigen Arsenalen mit Tausenden ckens sein und Überleben der Zwillingsbruder der Auslöschung.“ 9 von Sprengköpfen auf beiden Seiten und verschlangen enorme Ressourcen, sondern bargen im Falle eines menschlichen Irrtums Der Sputnik-Schock im Jahr 1957 veränderte die Lage grund oder Systemversagens auch ein tödliches Risiko. Auch aus diesem legend. Als erster gelang es der Sowjetunion, einen Satelliten in Grund verließ Frankreich 1966 die militärische Integration der eine Erdumlaufbahn zu bringen. Militärisch bedeutete dies, dass NATO. Der französische Präsident Charles de Gaulle hielt die sie nun ebenfalls zum Bau von weitreichenden Interkontinental- Nuklearstrategie der NATO und insbesondere die erweiterte raketen fähig war, die Nordamerika erreichen konnten. Plötzlich nukleare Abschreckung der USA zum Schutz der europäischen waren auch die USA einer nuklearstrategischen Bedrohung selbst Alliierten, die selbst nicht über Atomwaffen verfügten, für nicht ausgesetzt und im eigenen Land verwundbar. Die Kuba-Krise glaubwürdig. Er war der Überzeugung, dass wegen der verhee- 1962 tat ein Übriges. Beide Atommächte standen am Rand eines renden Wirkung von Nuklearwaffen über deren Einsatz, der unter Nuklearkriegs mit unabsehbaren Folgen für sie selbst. Das Er- Umständen die Existenz einer Nation oder ganzer Regionen schrecken darüber in Moskau und Washington führte zu einem gefährden könnte, nur die verantwortliche politische Führung Prozess des Umdenkens. Beide richteten den ‚heißen Draht‘ ein, einer jeden Nation für diese selbst, nicht aber für andere ent- damit direkte Kommunikation der beiden politischen Spitzen in scheiden könne. Frankreich wollte in militärstrategischen Fragen Krisen möglich wurde. Beide akzeptierten die wechselseitige von den USA unabhängig werden und stellte seine eigene Force „gesicherte nukleare Zweitschlagsfähigkeit“ gegen das Territo de dissuasion nucléaire auf. Das NATO-Hauptquartier zog von rium des jeweils anderen. „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter“, Paris nach Brüssel um, das militärische Oberkommando SHAPE lautete das sarkastische Motto dafür. Beide akzeptierten bewusst (Supreme Headquarters Allied Powers Europe) von Fontainebleau die damit verbundene Möglichkeit der „sicheren wechselseitigen ins belgische Mons. Rund 30.000 NATO-Soldaten verließen Frank- Vernichtung“ – der Mutual Assured Destruction, MAD (US-Vertei- reich. digungsminister Robert McNamara 1965). Im Dezember des gleichen Jahres schuf die NATO die Nukleare Durch dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ entstand – parado- Planungsgruppe (Nuclear Planning Group, NPG). Sie ist das xerweise – aus Sicht beider Kontrahenten strategische Stabilität. Gremium, in dem die Verteidigungsminister und Verteidigungs- Politisch gestand die Sowjetunion dem Westen die „Friedliche ministerinnen der Allianz, also auch die der Nicht-Nuklearstaaten, Koexistenz“ der Systeme zu. Seither haben die Sowjetunion und die politische Kontrolle über die Nuklearstrategie der NATO später Russland und auf der anderen Seite die USA alles vermie- ausüben. Sie beraten und entscheiden über nukleare Planung den, um irgendwo auf der Welt in eine direkte militärische Aus- und Übungen. Über den Einsatz von Nuklearwaffen würden im einandersetzung zu geraten. Die Kehrseite dieser Militärstrategie Krieg ausschließlich der amerikanische Präsident oder der bri war die fortgesetzte Rüstung mit Sprengköpfen und Trägermit- tische Premierminister entscheiden. Die Teilhabe der europä 13
NA T O 2030 SICHERHEIT FÜR EUROPA ischen Verbündeten an nuklearer Planung und an Übungen mit Militärstrategisch suchte die NATO nach einem Ansatz, der im Fall Nuklearwaffen wie auch deren Lagerung (in sogenannten Son- eines militärischen Konflikts nicht quasi automatisch zu einer dermunitionslagern) auf dem Territorium von europäischen nuklearen Eskalation führen würde. Man wollte Flexibilität ge- Mitgliedstaaten war und ist heute noch ein wirksames Mittel, die winnen und die Schwelle zum nuklearen Einsatz erhöhen. Man Verbreitung von Atomwaffen in Europa zu verhindern. Frankreich wollte im Krieg über ein Spektrum an Optionen verfügen, aus ist bis heute kein Mitglied der NPG, kehrte aber im Jahr 2009 in denen diejenigen ausgewählt werden sollten, mit denen ein die integrierten Militärstrukturen der NATO zurück. Angriff erfolgreich abgewehrt werden könnte und die dem Gegner die Aussichtslosigkeit seines Unterfanges und das Risiko Die NATO suchte nach Alternativen zur bisherigen Militärstrate- für ihn selbst deutlich machen würde. Die NATO wollte in jeder gie. Es ging um eine politisch-strategische Standortbestimmung. Lage die politische Kontrolle über ihr Vorgehen behalten und Es galt, aus der Sackgasse der starren Blockkonfrontation und des überlegt reagieren. Das Ziel bestand darin, einen Krieg so rasch permanenten Strebens nach nuklearem Gleichgewicht, das zu wie möglich zu beenden. Dazu gehörte, über die sogenannte immer weiteren Rüstungsspiralen führte, herauszukommen und Eskalationsdominanz zu verfügen. Diese schloss ein, jeden Schritt Wege zum Dialog mit den Warschauer-Pakt-Staaten zu finden. der Gegenseite nötigenfalls auf einer qualitativ höheren Stufe zu Mit dem Harmel-Bericht von 1967 über die „Künftigen Aufgaben beantworten, um ihr das Erreichen ihrer Ziele zu verwehren. der Allianz“ und der Anfang 1968 gebilligten Militärstrategie der Zugleich sollte die sowjetische Führung aber nicht befürchten „Flexiblen Erwiderung“ („Flexible Response“) 10 begann eine neue müssen, sie würde mit einer übermächtigen Drohung konfron- Ära der politisch-strategischen Ausrichtung der NATO. tiert. Vielmehr sollte eine Antwort der NATO verhältnismäßig (Prinzip der proportionality) und angemessen und das dazu erforderliche Streitkräftedispositiv nur hinlänglich (Prinzip der Harmel-Bericht: „Militärische Sicherheit sufficiency) sein. In diesem Sinne sah die neue Militärstrategie drei Kategorien einer militärischen Reaktion vor: (1) direkte Ver und eine Politik der Entspannung sind kein teidigung (direct defense) mit konventionellen Streitkräften, Widerspruch, sondern ergänzen einander.” (2) vorbedachte, überlegte Eskalation (deliberate escalation) durch Ausweitung der konventionellen Verteidigung oder durch selek- tive Einsätze taktischer Nuklearwaffen 11 und (3) die allgemeine Der vom Nordatlantikrat auf Ebene der Außenminister gebilligte nukleare Reaktion (general nuclear response) auf einen großen Bericht der Special Group unter Leitung des damaligen belgischen nuklearen Angriff hin. Welche Option genau in welcher Lage Außenministers Pierre Harmel schlug eine politisch-militärische angewandt werden sollte, ließ die NATO bewusst im Ungewissen Doppelstrategie vor: Einerseits Aufrechterhaltung angemessener (Prinzip der uncertainty). Dem Gegner sollte nicht ermöglicht militärischer Stärke zur Abschreckung einer Aggression und zur werden, das mit einem Angriff verbundene Risiko einschätzen Verteidigung der Mitgliedstaaten im Fall eines Angriffs; anderer- und sich darauf einstellen zu können. Auch den selektiven Erst seits die Bemühung um dauerhafte Beziehungen zu den Staaten einsatz von Atomwaffen (First Use) schloss die NATO bewusst des Warschauer Pakts, um grundlegende politische Streitfragen nicht explizit aus. in Europa, vor allem die „Deutsche Frage“, zu lösen. Der Bericht stellte fest: „Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspan- nung sind kein Widerspruch, sondern ergänzen einander.“ Alle Strategische Dilemmata und der NATO-Doppelbeschluss Verbündeten sollten sich an der Implementierung der Entspan- nungspolitik beteiligen, ohne die Einheit der Allianz zu gefährden. Für die Umsetzung der neuen Militärstrategie der „Flexible Res Ziel war ein gesichertes militärisches Gleichgewicht in Europa ponse“ waren starke konventionelle Streitkräfte erforderlich. Die durch kooperative Rüstungskontrolle und ausgewogene, beider- Bundeswehr war inzwischen auf volle Stärke von fast 500.000 seitige Abrüstung (balanced force reductions). Die vorgeschlage- Soldaten angewachsen. Sie war eingebettet in die Vornevertei- ne Entspannungspolitik auf der Grundlage gesicherter Verteidi- digung der NATO, die sich unter anderem auf neun Armeekorps 12 gungsfähigkeit sollte letztlich den Weg zu einer gerechten und stützte, die nach dem General Defense Plan (GDP) entlang der dauerhaften europäischen Friedensordnung bereiten helfen, dem innerdeutschen Grenze – wie eine „Schichttorte“ – nebeneinan- politischen Endzweck der NATO („the ultimate political purpose“). der disloziert waren. Das V. US-Korps sicherte den kritischsten Abschnitt der Vorneverteidigung, die Region um das Fuldaer Becken mit der kürzesten Entfernung zwischen der innerdeut- 14
S I C H E R H E I T F Ü R E U R O P A N AT O 2 0 3 0 schen Grenze und dem Großraum Frankfurt am Main. In einem Krieg hätte dieses Korps verhindern sollen, dass die sowjetischen Panzerverbände der 8. Gardearmee durch das sogenannte Fulda Gap rasch auf Frankfurt und den Rhein hätten vorstoßen und die NATO-Verteidigung aufspalten können. Die Zahl und Intensität der militärischen Übungen waren hoch, auf Truppenübungs plätzen und im freien Gelände. An den jährlichen Großübungen in allen Teilen Westdeutschlands, einschließlich der REFORGER- Übungen der US-Streitkräfte, nahmen bis zu 80.000 Soldaten und Soldatinnen teil. 13 Die Bundeswehr war zu jener Zeit mit drei Korps die stärkste Armee der NATO in Europa, ein Umstand, der Westdeutschland in der Allianz großen Einfluss verschaffte. Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt zum NATO-Doppelbeschluss Alle westdeutschen Regierungen waren von der Sorge getragen, im Deutschen Bundestag 1983 die USA militärisch so eng wie möglich an Europa und vor allem an Westdeutschland zu binden. Die Präsenz der USA mit starken Streitkräften war einer der stärksten Abschreckungsfaktoren. Das begrenzen, die eigenen Territorien aber herauszuhalten. Ein Alarmierungssystem sah vor, die Bundeswehr praktisch automa- solcher Krieg hätte jedoch Mitteleuropa vernichtet. Solche laten- tisch sehr früh in einer Krise dem amerikanischen militärischen ten deutschen Befürchtungen wurden verstärkt, als die Sowjet- NATO-Oberbefehlshaber zu unterstellen. Die Führung des War- union 1976 mit der Aufstellung von SS-20-Mittelstreckenraketen schauer Pakts sollte für den Fall eines Angriffs sofort auf die ge- mit atomaren Sprengköpfen begann, die Ziele in ganz West samten NATO-Kräfte und besonders die der USA stoßen. Die europa treffen konnten, aber das Territorium der USA nicht er- westdeutsche Regierung hatte deshalb in der NATO durchgesetzt, reichten. Besonders der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt dass das Prinzip der „Vorneverteidigung“ wörtlich verstanden und sah darin eine nukleare Sonderbedrohung Westeuropas. 14 Durch in entsprechende militärische Planungen umgesetzt wurde. Die die mit dem SALT-I-Vertrag zwischen den USA und der Sowjet- Verteidigung musste also unmittelbar an der innerdeutschen union inzwischen vereinbarte Parität auf nuklearstrategischer Grenze mit starken Kräften aufgenommen werden. Das westdeut- Ebene und die bestehende Zweitschlagskapazität wurden die sche Territorium oder auch nur größere Teile davon für groß nuklearstrategischen Potentiale der beiden Großmächte praktisch räumige, bewegliche Operationen zu nutzen, musste ausge- neutralisiert. Die Sowjetunion hätte darauf setzen können, West- schlossen werden. Das war militärisch fragwürdig, politisch aber deutschland und Westeuropa nuklear erpressen und zugleich die unabdingbar, denn jedweder Krieg auf deutschem Boden barg USA davon abhalten zu können, mit einer Gegendrohung auf das Risiko der Zerstörung Deutschlands. Aus dem gleichen Grund strategischer Ebene zu reagieren, aus Furcht vor einem nuklearen durfte die Schwelle zum Einsatz von Nuklearwaffen aus deutscher interkontinentalen Schlagabtausch. Westdeutschland und West- Sicht nicht so sehr erhöht werden, dass Gegner und Verbündete europa wären in einer solchen Lage von der Sicherheitsgarantie hätten zu dem Schluss kommen können, einen konventionellen der USA abgekoppelt worden. Krieg auf Deutschlands Boden ohne das Risiko einer atomaren Eskalation ausfechten zu können. Bundeskanzler Helmut Schmidt drang ab 1977 daher darauf, der SS-20-Bedrohung durch die Stationierung (von ihm „Nachrüs- Die deutsche Besorgnis lag auch darin begründet, dass Vornever- tung“ genannt) von solchen amerikanischen Mittelstreckenwaf- teidigung die Möglichkeit einschloss, taktische Nuklearwaffen fen in Europa zu begegnen, welche die Sowjetunion treffen einzusetzen, wenn die NATO-Streitkräfte nicht in der Lage wären, könnten. Der Doppelbeschluss der NATO von 1979 sah zwei einem konventionellen Angriff standzuhalten. Aufgrund ihrer komplementäre Wege vor: Stationierung von 108 bodengestütz- Reichweite wären in einem solchen Fall dann atomare Geschosse, ten amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing II und 464 Bomben oder Raketen auf Ostdeutschland, die Tschechoslowakei bodengestützten Marschflugkörpern ab 1983 auf dem Territorium und auf Polen niedergegangen, hätten aber den Hauptangreifer, einiger europäischer Alliierter, darunter der Bundesrepublik die Sowjetunion, verschont. Die Sorge war, dass die Supermäch- Deutschland. Andererseits machte er das Angebot zu Rüstungs- te sich stillschweigend darauf einigen könnten, einen Krieg mit kontrollverhandlungen mit dem Ziel, die Zahl der vorhandenen konventionellen Verbänden und Nuklearwaffen auf Europa zu sowjetischen und künftigen amerikanischen Mittelstreckenwaf- 15
Sie können auch lesen