NATO 2030 Erfahrung Herausforderung Zukunft - Deutsche Atlantische Gesellschaft eV

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NATO 2030 Erfahrung Herausforderung Zukunft - Deutsche Atlantische Gesellschaft eV
NATO 2030
Erfahrung · Herausforderung · Zukunft
NATO 2030 Erfahrung Herausforderung Zukunft - Deutsche Atlantische Gesellschaft eV
D ER A UT O R

Heinrich Brauß

ist Generalleutnant a. D. der ­Bundeswehr und Mitglied des Vorstandes der
Deutschen Atlan­tischen Gesellschaft. Von ­Oktober 2013 bis Juli 2018 war er
Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungs­politik und Streit-
kräfteplanung, zugleich A    ­ bteilungsleiter der Defence Policy and Planning
­Division im Internationalen Stab der NATO und Vorsitzender des Defence Policy
 and Planning Committee des Nordatlantikrats. Brauß hatte somit die Federführung
 inne für die verteidigungspolitische Neuausrichtung der Allianz nach der Aggression Russlands gegen die
 ­Ukraine im Jahr 2014. Er war damit auf Stabsebene auch für die Vorbereitung der verteidigungspolitischen
  Aspekte der NATO-Gipfeltreffen in Wales 2014, Warschau 2016 und Brüssel 2018 zuständig. Ebenso war
  er auf Stabsebene verantwortlich für ­die Kooperation zwischen NATO und EU in der Entwicklung
  ­militärischer Fähigkeiten.

Davor war Brauß unter anderem Abteilungsleiter im Militärstab der EU, Kommandeur der ehemaligen
Panzerbrigade 42 in Potsdam, Chef des Stabes im Hauptquartier der NATO-Opera­tion SFOR in Sarajewo/
Bosnien und Herzegowi­na, Dezernats­leiter im Stab des Deutschen Militärischen Vertreters im Militär­
ausschuss der NATO und EU sowie Arbeitsbereichsleiter im Planungsstab des Bundesministers der
­Verteidigung Volker ­Rühe. Seit Ende 2018 ist Brauß ­Senior ­Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für
 Auswärtige Politik in Berlin.

IMPR E S S UM

Herausgeber                                         Bildnachweise

Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.              Bild oben: NATO PDD, Seite 5, 11, 13, 22, 24, 55, 56: NATO,
Dorotheenstraße 84 · 10117 Berlin                   Seite 4: DAG/Samantha Dietmar, Seite 15: Bundesregierung/Ulrich Wienke,
                                                    Seite 16: White House, Seite 28: Robert J. Fisch/CC BY 2.0, Seite 30: Bundeswehr/Bienert,
Telefon +49 (0) 30/20649134
                                                    Seite 31: European Union 2014 – European Parliament/CC BY-NC-ND 2.0,
Fax +49 (0) 30/20649136                             Seite 37: Alexander Chizhenok/Shutterstock.com, Seite 41: Bundeswehr/Kraatz,
info@ata-dag.de                                     Seite 42: Who is Danny/Shutterstock.com, Seite 45: Tom Buysse/Shutterstock.com,
Facebook: DtAtlGes                                  Seite 46: U.S. Air Force photo/Staff Sgt. Christopher Boitz,
Twitter: @DAGATAGermany                             Seite 47: Bundesregierung/Steffen Kugler, Seite 53: Pixabay.com,
                                                    Seite 58: Andreas Wolochow/Shutterstock.com, Seite 59: Kremlin.ru, CC-BY 4.0
www.ata-dag.de
                                                    Gestaltung und Produktion: Druckerei Franz Paffenholz GmbH, Bornheim
ISBN 978-3-00-070477-2
© DAG 2021                                          Diese Broschüre wurde CO₂-neutral gedruckt.
                                                    Die Seiten im Innenteil bestehen zu 100 % aus Recyclingpapier
                                                    (Nautilus SuperWhite, FSC®-zertifiziert).
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I NH A LT

Grußworte .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 4

Einleitung .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 6

Kapitel 1:
Sicherheit für Europa –
Die NATO im Kalten Krieg (1949 – 1989)  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 9

Kapitel 2:
Die NATO in einer neuen Zeit –
Neue Partner und neue Aufgaben (1990 – 2014) .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 19

Kapitel 3:
Sicherheitspolitische Zeitenwende in Europa –
Russlands Aggression gegen die Ukraine 2014  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 35

Kapitel 4:
Epochenwechsel –
Chinas Aufstieg zur Weltmacht und die neue globale Großmachtkonkurrenz  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 50

Schlussbetrachtung .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 63

Quellenverzeichnis .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 64

Die Deutsche Atlantische Gesellschaft .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 67
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NA T O 2030

GR U S S WO RTE

                                            Die komplizierte und bedrohliche Weltlage hat die Rahmenbedingungen
                                            für die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands und Europas in den
                                           letzten Jahren grundlegend verändert. Umso wichtiger ist das Ringen um
                                          die Sicherung des Friedens. Hierbei bleibt die NATO unverzichtbarer Garant
                                        unserer Sicherheit. Die neue Bundesregierung wird sich dem Reformprozess der
                                    NATO zu widmen haben und dabei sicherlich einen Schwerpunkt auf die politische
              und strukturelle Stärkung des Bündnisses setzen.

              Die Deutsche Atlantische Gesellschaft hat es sich mit ihren gut 3.000 Mitgliedern zur Aufgabe gemacht,
              das Verständnis für die Ziele des Atlantischen Bündnisses zu vertiefen und über die Politik der NATO zu
              informieren. Sie erklärt komplexe sicherheitspolitische Zusammenhänge in der Gesellschaft und bietet
              Raum für einen öffentlichen Diskurs und neue inhaltliche Impulse. Dies erreicht sie deutschlandweit durch
              Vorträge und Diskussionsveranstaltungen, insbesondere auch durch ihre etablierte, jährliche NATO-
              Konferenz im politischen Berlin.

              Mit der vorliegenden Broschüre „NATO 2030“ wollen wir den Diskurs über die Sicherheit Deutschlands und
              Europas befördern. Ich freue mich, dass wir für diese Arbeit insbesondere auf die Erfahrung unseres
              ­Vorstandsmitglieds, Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß, zurückgreifen konnten. Als ehemaliger Beige-
               ordneter NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung kennt er wie nur wenige
               die NATO von innen.

              Die einzelnen Kapitel zeigen die wesentlichen Entwicklungsschritte des Bündnisses seit seinem Entstehen
              auf, erklären seine überdauernden politisch-militärischen Funktionen für unsere Sicherheit, analysieren
              die Herausforderungen, vor denen die Allianz heute steht, und erläutern ihr Programm für die Zukunft.

              Ich danke allen, die ihre Zeit und Expertise in diese Publikation haben einfließen lassen. Möge sie einen
              Beitrag dazu leisten, den transatlantischen Gedanken zu befördern und diesen auch in die jüngere Gene-
              ration weiterzutragen und aktuell zu halten.

              Christian Schmidt
              Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina
              Bundesminister a. D.
              Präsident der Deutschen Atlantischen Gesellschaft

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G R U S S W O R T E  N AT O 2 0 3 0

                              Wir befinden uns an einem Wendepunkt: Die NATO steht vor bisher nicht
                              gekannten sicherheitspolitischen Herausforderungen. Russlands Politik
                             zeigt sich zunehmend aggressiv. China nutzt seine wachsende Macht, um
                           andere Länder unter Druck zu setzen. Wir sind mit einer wachsenden Zahl an
                         komplexen Cyberangriffen, einer anhaltenden terroristischen Bedrohung, der
                      Weiterverbreitung von Atomwaffen und den sicherheitspolitischen Folgen des
Klimawandels konfrontiert. Alle diese Faktoren werden weitreichende Auswirkungen auf die euro-atlan-
tische Sicherheit haben.

Nordamerika und Europa können diese Herausforderungen nur gemeinsam bewältigen. Im Juni 2021
haben die Staats- und Regierungschefs der NATO weitreichende Entscheidungen getroffen. Mit der NATO-
2030-Agenda wird die Allianz ihre politische Einheit festigen, ihre Abschreckungs- und Verteidigungs­
fähigkeit weiter stärken und ihre Partnerschaften ausbauen, insbesondere mit der EU. Die Bündnispartner
werden ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Cyber- und hybriden Bedrohungen erhöhen und den Schutz
kritischer Infrastruktur verbessern. Sie werden in moderne Technologien für unsere Streitkräfte investieren
und die sicherheitspolitischen Auswirkungen des Klimawandels angehen. Und wir müssen die richtigen
Schlussfolgerungen aus unserem Einsatz in Afghanistan ziehen.

Als größte europäische Wirtschaftsmacht und im Zentrum Europas gelegen, hat Deutschland eine beson-
dere Verantwortung für die Stärkung der euro-atlantischen Sicherheit. Eine starke und leistungsfähige
Bundeswehr spielt eine wesentliche Rolle für die Handlungsfähigkeit der NATO. Dazu gehört auch die
verlässliche Fortführung der Nuklearen Teilhabe.

Die vorliegende Publikation von Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß zeigt, wie die NATO seit ihrer Grün-
dung große Herausforderungen bewältigt hat und wie sie auch die Zukunft meistern will. Ich danke ihm
und der Deutschen Atlantischen Gesellschaft für ihr Engagement für die transatlantische Sache und für
unser einzigartiges Bündnis.

Baiba Braže
Beigeordnete NATO-Generalsekretärin
Public Diplomacy Division, Internationaler Stab der NATO, Brüssel

                                                                                                                               5
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EIN L E ITU N G

              Im Juni 2021 kamen die Staats- und Regierungschefs der Nord-         ­ ahezu einer Milliarde Menschen. Ihr Schutz- und Sicherheits­
                                                                                   n
              atlantischen Allianz in Brüssel zu einem wichtigen Gipfel­tref­fen   versprechen gegen äußere Bedrohungen und die Verpflichtung
              zusammen, erstmals mit dem neu gewählten amerikanischen              zur Solidarität gelten für alle Bündnispartner, ob groß oder klein
              Präsidenten Joe Biden. Sie trafen Entscheidungen von strategi-       und unabhängig von ihrer geostrategischen Lage. Die Gewissheit
              scher Reichweite: die NATO-2030-Agenda. Sie setzt die M
                                                                    ­ ark­steine   gleicher Sicherheit hat Vertrauen und Stabilität in Europa geschaf-
              für den Weg der Allianz in dieser Dekade. Russlands Aggression       fen und die Renatio­nalisierung von Verteidigung verhindert; die
              gegen die Ukraine, die völkerrechtswidrige Annexion der Halb-        militärische Integration, die gemeinsame Verteidigungs­planung
              insel Krim und die Destabilisierung der Ost­ukraine im Jahr 2014     und der gemeinsame Streitkräfteplanungsprozess der NATO
              haben die sicherheitspolitische Lage in Europa fundamental           haben die Notwendigkeit, national Vorsorge gegen mögliche
              verändert. Viele sprachen von einer Zeitenwende, denn es wurde       gegenseitige Bedrohungen zu treffen, obsolet gemacht. Die
              klar, dass die jahrelangen Versuche, Russland als Partner des        NATO bildet das Forum für permanente Konsultation der Verbün-
              Westens zu gewinnen, gescheitert waren. Nach 20 Jahren Fokus-        deten im Nordatlantikrat und in dessen zivilen und militä­rischen
              sierung auf internationale Krisenbewältigung außerhalb ihrer         Ausschüssen über alle Fragen, welche die Sicherheit der Alliierten
              Grenzen musste die NATO mit der Wiederbelebung ihrer primä-          betreffen. Alle Entscheidungen werden im Konsens getroffen.
              ren Aufgabe Abschreckung und Verteidigungsvorsorge r­ eagieren.      Dies erhöht deren Glaubwürdigkeit und Legitimität in den Parla-
              Nur wenige Jahre später steht sie abermals vor neuen, diesmal        menten und Bevölkerungen der Mitgliedstaaten. Generationen
              auch globalen Herausforderungen, denn der Aufstieg Chinas zur        von Politikerinnen und Politikern, Diplomatinnen und Diplomaten
              Weltmacht verändert das gesamte internationale System. Den           und zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Stäben der
              westlichen Demokratien stehen mit China und Russland künftig         Allianz haben diesseits und jenseits des Atlantiks eine gemeinsa-
              zwei autoritäre Großmächte gegenüber. Dabei sehen die USA            me transatlantische Grundhaltung entwickelt, die den inneren
              in China ihren Hauptrivalen, der zugleich die Demokratien im         Zusammenhalt des Bündnisses über Jahrzehnte entscheidend
              indopazifischen Raum und die gesamte westliche Allianz heraus-       geprägt hat.
              fordert.
                                                                                   Darüber hinaus bildet die NATO den institutionellen Rahmen für
              Die US-Regierung versucht, ein „Bündnis der westlichen Demo-         die militärische Präsenz amerikanischer Streitkräfte in Europa,
              kratien“ gegen die autokratischen Großmächte zu schmieden.           die für den Schutz und, wenn nötig, die kollektive Verteidigung
              Dies wirkt sich auch auf die NATO aus. Ihre Hauptaufgabe bleibt,     der Alliierten unerlässlich sind. Sie hat erst West-, dann ganz
              die Sicherheit im euro-atlantischen Raum zu wahren. Aber sie         Euro­pa in eine Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft
              muss zugleich ihre politisch-strategische Rolle neu bestimmen,       ­inte­griert und Ausgleich und Vertrauen unter den europäischen
              um in der heraufziehenden globalen geopolitischen Konkurrenz          Nationen geschaffen, die sich vorher als Feinde gegenüber­
              der Großmächte ihrer Kernaufgabe auch künftig erfolgreich             standen. Zudem hat die NATO ein einzigartiges Netzwerk an
              nachzukommen: Schutz und Sicherheit für alle Bündnispartner.          partnerschaftlichen Beziehungen mit über 40 Ländern und
              Der NATO kommt dabei zugute, dass sie über Erfahrungen und            internatio­nalen Organi­sationen aufgebaut, einschließlich der
              Qualitäten verfügt, die sie als das stärkste und erfolgreichste       Europäischen Union (EU) und den Vereinten Nationen (VN). Und
              Bündnis der Geschichte auszeichnen. Dieses Urteil verdankt sie        sie verfügt mit der NATO-Kommandostruktur, dem Verbund von
              ihren unvergleichlichen politisch-strategischen Funktionen und        militärischen Haupt­quartieren in Europa und Nordamerika, über
              Strukturen, aber ebenso ihrer Resilienz und Anpassungsfähigkeit       eine per­manente militärische Beurteilungs-, Planungs- und
              an sicherheitspolitische Veränderungen.                               Führungs­kapazität wie keine andere internationale Organisation.
                                                                                    Generationen von ­alliierten Offizieren und Unteroffizieren, Män-
              Die NATO repräsentiert die über Jahrzehnte gewachsene, einzig-        nern und Frauen, die in der NATO gedient haben und dienen,
              artige Sicherheitspartnerschaft zwischen Nordamerika und Euro-        haben eine gemeinsame militärische Kultur entwickelt.
              pa, den beiden großen Zentren westlicher Demokratien mit

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In den mehr als sieben Dekaden ihres Bestehens hat die NATO            tischer Entspannung, mit der erste, wichtige Schritte in Richtung
bedeutsame politische und militärstrate­gische Herausforderun-         einer dauerhaften Friedensordnung in Europa möglich werden.
gen gemeistert, sicherheitspolitischen Umbrüchen in Europa             Die Gründung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit
standgehalten und dabei Sicherheit in und für Europa aktiv mit-        (KSZE) in Europa und deren Schlussakte von Helsinki 1975 legen
gestaltet. Daraus wird deutlich, dass die Allianz immer schon          die Grundsätze und Verhaltensnormen für die Beziehungen aller
mehr als ein militärisches Verteidigungsbündnis war und ist.           Teilnehmerstaaten in Ost und West fest. Das neue politische Klima
Sie hat auch eine unentbehrliche politische Funktion, nämlich          führt auch zu zahlreichen Verträgen zwischen den USA und der
einstmals zwölf und heute dreißig Nationen unter einer gemein-         Sowjetunion zur Begrenzung und Reduzierung ihrer nuklearen
samen politisch-strategischen Zielvorstellung zu vereinen, die auf     Arsenale.
gleichen Werten und gleichgerichteten sicherheitspolitischen
Interessen beruht, und die daraus folgenden Maßnahmen ein­             Das zweite Kapitel geht auf die Epochenwende nach dem Fall des
vernehmlich zu treffen, als demokratische, souveräne und gleich-       E­isernen Vorhangs in Europa und die wechselvolle Zeit bis zum
berechtigte Nationen. Ohne Zweifel gab und gibt es immer               Jahr 2014 ein. Die NATO richtet sich vollkommen neu aus und
wieder Unstimmigkeiten und Konflikte unter den Verbündeten.            gestaltet diese neue Ära entscheidend mit. Aus alten Gegnern
Der Austritt Frankreichs aus der militärischen Integration 1966,       werden neue Partner. Die Aufnahme neuer Mitglieder aus
das Ringen um den NATO-Doppelbeschluss 1979, der Krieg einer           ­Mittelosteuropa wird begleitet von und verbunden mit neuer
US-geführten Koalition gegen den Irak 2003, der Streit um die           Kooperation mit Russland, ausgedrückt in der NATO-Russland-
Abwehr ballistischer Raketen als Teil des NATO-Dispositivs oder         Grundakte von 1997, und den anderen Nachfolgestaaten der
der andauernde griechisch-türkische Disput in der Ägais und im          ehemaligen Sowjet­union. Zugleich führt der Krieg auf dem Balkan
östlichen Mittelmeer sind bekannte Beispiele. Dennoch hat die           zum ersten Kriegseinsatz der NATO in ihrer Geschichte. Die mili-
Allianz ihre Einheit, gemeinsame Entscheidungsfähigkeit und             tärische Intervention, zunächst in Bosnien und Herzegowina,
Solidarität wahren können. Sie sind die zentralen Voraussetzun-         dann im Kosovo und später in Afghanistan und in Libyen, mar-
gen für ihre Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit.                    kieren die neue Ausrichtung: Krisen und Konflikte sollen von
                                                                        Europa ferngehalten werden. Die NATO verlagert faktisch ihren
Vor diesem Hintergrund will diese Publikation der Deutschen             Schwerpunkt von kollektiver Verteidigung auf internationale
­Atlantischen Gesellschaft (DAG) die Entwicklung der NATO in            Krisenbewältigung „out of area“ wie auch auf die Zusammen­
 kompakter Form über sieben Jahrzehnte nachzeichnen. Man kann           arbeit mit Partnern in Europa und darüber hinaus, die sich auch
 sie als Abfolge unterschiedlicher politisch-militärischer „Inkarna-    in gemeinsamen Kriseneinsätzen bewährt. Die politisch-militä­
 tionen“ der Allianz darstellen. Sie zeigen die spezifischen Heraus-    rische Transformation der NATO führt vor allem bei den euro­
 forderungen der verschiedenen sicherheitspolitischen Epochen           päischen Verbündeten zu tiefgehenden und weitreichenden
 und deren charakteristische Merkmale, aber auch die jeweilige          Anpassungen ihrer Streitkräfte. Aus ‚schweren‘ Großverbänden,
 Rolle der NATO, ihre Anpassungsleistung an und ihr Beitrag zur         die für kollektive Verteidigung gebraucht wurden, müssen ‚leich-
 Gestaltung dieser Epochen. Ebenso werden die politischen und           te‘ Kontingente für multinationale Stabilisierungseinsätze wer-
 militärischen Konstanten und Prioritäten deutlich, die das Bündnis     den, wohlgemerkt bei gleichzeitiger kontinuierlicher Kürzung der
 beachten und verfolgen sollte, um das vor uns liegende Jahrzehnt       Verteidigungshaushalte.
 zu bestehen und die NATO-2030-Agenda ins Werk zu setzen.
                                                                       Das dritte Kapitel widmet sich der sicherheitspolitischen Zeiten-
Das erste Kapitel befasst sich mit den wesentlichen politischen        wende nach dem militärischen Einfall Russlands in die Ukraine
und militärstrategischen Entwicklungen im Kalten Krieg, also in        und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Februar/März
der Zeit von 1949 bis 1989. Diese vier Jahrzehnte lassen sich in       2014. Die NATO hat sich erneut einem fundamentalen Wandel
zwei große Abschnitte unterteilen: In den ersten Abschnitt bis         der europäischen Sicherheitsordnung anzupassen. Sie reagiert
1966 fallen die sogenannte Block-Konfrontation zwischen NATO           mit der Neubelebung ihrer Abschreckungs- und Verteidigungs-
und Warschauer Pakt unter Führung der Sowjetunion ebenso wie           fähigkeit. Das Kapitel beschreibt und erläutert die antagonistische
die Entwicklung der Abschreckungsstrategie der NATO und deren          Politik Russlands wie auch dessen hybride Destabilisierungs­
Anpassung an die Veränderung der militärstrategischen Bedin-           strategie gegenüber der Allianz, Europa und einzelnen Nationen,
gungen. Den zweiten Abschnitt leitet die politisch-militärische        der auch die Aufrüstung der konventionellen Streitkräfte und die
Doppelstrategie des Harmel-Berichts von 1967 ein, also die Kom-        Erweiterung des nuklearen Potentials dienen. Das weitgespann-
bination aus glaubwürdiger Verteidigungsfähigkeit und poli­            te Programm der NATO zur Stärkung ihres Abschreckungs- und

                                                                                                                                                              7
NATO 2030 Erfahrung Herausforderung Zukunft - Deutsche Atlantische Gesellschaft eV
NA T O 2030   EINLEITUNG

              Verteidigungsdispositivs in Europa wird zusammengefasst und             gründen und auch in die Zukunft tragen. Sie beschreiben daher
              erklärt. Gleichzeitig behält die Allianz ihr Konzept der Projektion     auch die Herausforderungen, vor denen die transatlantische
              von Stabilität in Krisenregionen bei – mit neuem Schwerpunkt:           Gemeinschaft als Ganze heute sicherheitspolitisch steht und der
              Statt bewaffneter Intervention sollen ausgewählte Partner in der        sie sich ebenso wie die europäischen Nationen und besonders
              Peripherie Europas beim Aufbau eigener Sicherheits- und Vertei-         Deutschland aus Sicht des Autors stellen muss.
              digungskapazitäten unterstützt werden, und zwar sowohl im
              Süden (Jordanien, Irak und bis Sommer 2021 Afghanistan) als             Die einzelnen Kapitel beruhen auf langjährigen beruflichen
              auch im Osten (Ukraine, Georgien). Am Ende dieses Kapitels              ­Erfahrungen, dem eingehenden Studium der Quellen und vielen
              werden auch die möglichen Auswirkungen thematisiert, die der             Gesprächen mit sicherheits­politischen Expertinnen und Exper­
              rasche Kollaps von Regierung, Armee und Polizei in Afghanistan           ­ten in der NATO und in Deutschland. Die Auswahl der vielen
              nach dem Abzug der NATO-geführten Koalition und die Übernah-              ­Ereignisse und Entwick­lungen, die Art ihrer Zusammenfassung
              me der Macht durch die islamistischen Taliban auf die künftige             und die Darstellung von Zusammenhängen ist notwendiger­
              Rolle der NATO in der internationalen Krisenbewältigung haben.             weise selektiv und stellt in­sofern die persönliche Sichtweise des
              Möglicherweise bedeutet diese Entwicklung einen Wendepunkt                 Verfassers dar.
              für den Ansatz, entfernte Krisenregionen von außen stabilisieren
              und so auf­bauen zu wollen, dass gute und verantwortungs­               Der Autor ist dankbar für den professionellen Rat und die wert-
              bewusste Staats- und Regierungsführung entsteht, die zu nach-           vollen Hinweise, die er von sicherheitspolitischen Experten erhal-
              haltiger, selbst­tragender Stabilität führt.                            ten hat – Persönlichkeiten, die mit der internationalen Sicher-
                                                                                      heitspolitik vertraut sind, die NATO in verantwortlichen Positionen
              Schließlich beschreibt und analysiert das vierte Kapitel die erneu-     mitgestaltet haben oder dem Bündnis aus langjähriger beruflicher
              te grundlegende Veränderung der globalen sicherheitspoliti-             Erfahrung verbunden sind: Botschafter a. D. Dr. Klaus Scharioth,
              schen Lage durch den Aufstieg Chinas zur Weltmacht und die              ehemaliger Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und Botschaf-
              damit einhergehende geopolitische und systemische Rivalität             ter in den USA; General a. D. Klaus Naumann, in den 1990er Jahren
              der Großmächte. Angesichts der Größe und Gleichzeitigkeit der           Generalinspekteur der Bundeswehr und anschließend Vorsitzen-
              geopolitischen und transnationalen Risiken und Gefahren steht           der des NATO-Militärausschusses in Brüssel; Generalleutnant a. D.
              die NATO erneut am Beginn einer neuen sicherheitspolitischen            Karl Müllner, ehemaliger Abteilungsleiter Militärpolitik im Bun-
              Epoche. Nach den Worten von Generalsekretär Jens Stoltenberg            desministerium der Verteidigung und langjähriger Inspekteur der
              muss sie in der Zukunft militärisch stark bleiben, ihre politische      Luftwaffe; Dr. Karl-Heinz Kamp, vormaliger Präsident der Bundes-
              Einheit und Geschlossenheit stärken und sich aktiver globalen           akademie für Sicherheitspolitik und heute Beauftragter des Poli-
              Entwicklungen widmen, die für ihre künftigen Aufgaben relevant          tischen Direktors im Bundesministerium der Verteidigung; die
              sind. Das Kapitel erläutert die ‚Natur‘ der neuen Herausforderun-       Politikwissenschaftlerin Svenja Sinjen von der Stiftung Wissen-
              gen ebenso wie die Kernelemente der NATO-2030-Agenda und                schaft und Demokratie; Werner Sonne, langjähriger ARD-Korres-
              legt dar, was die Allianz aus Sicht des Verfassers tun sollte, um die   pondent in Bonn, Hamburg, Berlin, Washington und Warschau
              künftigen regionalen und globalen Herausforderungen zu beste-           sowie Generalmajor Jörg See, Stellvertretender Beigeordneter
              hen. Schließlich werden die wesentlichen Folgen der notwendi-           NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfte-
              gen Anpassung der NATO für die europäischen Nationen und                planung im Internationalen Stab der NATO in Brüssel. Außer­
              insbesondere für Deutschland erörtert.                                  ordentlicher Dank gebührt Dr. Nicolas Fescharek von der DAG für
                                                                                      seine vorzüglichen Beiträge zur Entwicklung des Konzepts dieses
              Der Text der vorliegenden Publikation ist keine historisch-wissen-      Bandes und seine engagierte Mitwirkung an der Redaktion des
              schaftliche Studie im strengen Sinne, sondern eine reflektierte,        Textes. Für ihre fachkundige und zuverlässige Hilfe bei der Erstel-
              systematische und strukturierte Abhandlung, welche über die             lung dieser Publikation dankt der Verfasser Kamala Jakubeit und
              Entwicklung der NATO über sieben Jahrzehnte hinweg informie-            Elisabet Tsirkinidou von der DAG. Engagiert geholfen haben auch
              ren und diese erklären will. Insofern stellen die folgenden Kapitel     Christina Forsbach und Dr. Martin Hartmann. Allen ein herzliches
              eine Synopse der wesentlichen Faktoren oder Faktorenbündel              Dankeschön.
              dar, welche die Evolution des transatlantischen Bündnisses
              ­bestimmt haben. Sie illustrieren seine einzigartige strategische
               Rolle und Leistungsfähigkeit, die in seinen konstanten Kernfunk-
               tionen ebenso wie in seiner Anpassungs- und ­Gestaltungsfähigkeit

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NATO 2030 Erfahrung Herausforderung Zukunft - Deutsche Atlantische Gesellschaft eV
K A P I T E L 1 N AT O 2 0 3 0

1     S I C H E R H E I T F Ü R E U R O PA – D I E N ATO I M K A LT E N K R I E G ( 1949 – 1989 )

                                                                          1972
1947                                                                      SALT-I-Vertrag
Truman-­                                                                  1973
Doktrin                                                                   Eröffnung der
1948                                             1962                     Konferenz für
Berlin-Blockade;                                 Kuba-Krise               Sicherheit und
kommunistische                                                            Zusammenarbeit
Staatsstreiche                                   1966                     in Europa
in Ungarn und          1950                      Austritt Frank-          (KSZE)
der Tschecho­          Invasion Süd­             reichs aus der                                     1987
                       koreas durch das          militärischen            1975
slowakei                                                                                            Vertrag zwi-
                       kommunistische            ­Integration der         Schlussakte der
                                                                                                    schen den USA
1948 – 1952            Nordkorea:                 NATO                    KSZE (Helsinki)
                                                                                                    und der Sowjet-
Marshall-Plan          ­Korea-Krieg bis                                   1976                      union über
                                                 1967/68
1949                    1953                                              Beginn der                die Abschaffung
                                                 Harmel-Bericht
Gründung               1954/55                   über die „Künf-          ­Aufstellung von          aller nuklearen
der NATO               Pariser ­Verträge;        tigen Aufgaben            SS-20-Mittel-            Mittelstrecken-
                       ­Beendigung               der Allianz“ und          streckenraketen          systeme
                        des Besatzungs-          Militärstrategie          durch die                (INF-Vertrag)
                        statuts in West-         der „Flexiblen            Sowjet­union
                                                                                                    1989
                        deutschland              Erwiderung“              1979                      Fall der Berliner
                       1955                      1969                     NATO-                     Mauer
                       Beitritt der              Beginn der               Doppel­
                       Bundes­republik           ­Strategic Arms          beschluss;
                       Deutschland                Limitation Talks        SALT-II-­
                       zur ­NATO                  (SALT)                  Vertrag

                       1957
                       „Sputnik-
                       Schock“

                                                                                                                                   9
NATO 2030 Erfahrung Herausforderung Zukunft - Deutsche Atlantische Gesellschaft eV
NA T O 2030

S IC HERH EI T FÜ R E UROPA
DIE NAT O I M KALT E N KR I E G ( 1 9 4 9 – 1 9 8 9 )

              Wer von heute aus auf die ersten vier Jahrzehnte des nordatlan-        zwei große Phasen der Entwicklung der NATO zwischen 1949 und
              tischen Verteidigungsbündnisses zurückblickt, denkt an den             1989 erkennen, in denen zugleich entscheidende Merkmale und
              Kalten Krieg, an die politische, militärische und ideologische         politisch-strategische Funktionen der Allianz offenbar werden:
              Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjet­         Erstens die Zeit von ihrer Gründung im April 1949 bis weit in die
              union, zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt. Man sprach           1960er Jahre, die wesentlich von der Strategie der Kriegsverhin-
              von einem Antagonismus der Blöcke, der die sicherheitspolitische       derung durch nukleare Abschreckung geprägt war. Und zweitens
              Lage in Europa vierzig Jahre lang bestimmte. Sichtbares Merkmal        die Phase von 1967 an, als die NATO mit dem Harmel-Bericht und
              waren die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang, die Deutsch-         der Militärstrategie der „Flexiblen Erwiderung“ („Flexible Res­
              land und Europa teilten. ‚Kalt‘ war dieser Systemkonflikt zwischen     ponse“) eine Phase der politischen Entspannung einleitete und
              dem freien, demokratischen Westen und dem kommunistischen              den Weg ebnete zu kooperativer Rüstungskontrolle und -begren-
              Osten, weil er trotz der hochgerüsteten Armeen, die sich mitten        zung und schließlich zu Abrüstung.
              in Europa und im geteilten Deutschland gegenüberstanden, nie
              zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung in Europa
              führte, wohl aber zu sogenannten Stellvertreterkriegen in ande-        Gründung der Nordatlantischen Allianz
              ren Teilen der Welt (wie etwa in Korea 1950 bis1953 oder Vietnam
              1965 bis 1975).                                                        Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zerfiel die Anti-Hitler-
                                                                                     Koalition aus Großbritannien, den Vereinigten Staaten und der
              Im Rückblick mag man versucht sein, die ersten vierzig Jahre der       Sowjetunion rasch. Die Errichtung kommunistischer Regime in
              NATO für eine Zeit militärisch dominierter Stagnation zu halten,       Polen, Rumänien und Bulgarien, die Staatsstreiche in Ungarn und
              die lange vorbei ist und aus der keine Lehren für die heutigen         in der Tschechoslowakei und besonders auch die Berlin-Blockade
              Herausforderungen zu ziehen sind. Dies wäre ein Fehlschluss. Der       1948, mit der die Sowjetunion West-Berlin in die Sowjetisch
              Kalte Krieg sah viele bedeutende und wegweisende politische            ­Besetzte Zone (SBZ) Deutschlands eingliedern wollte, ließ bei den
              Entwicklungen, die Europa und die Rolle Deutschlands wesentlich         Westmächten die Überzeugung wachsen, dass der sowjetische
              veränderten und teilweise noch heute wirksam sind. Er sah auch          Herrscher Josef Stalin seinen Herrschaftsbereich weiter nach Wes-
              eine bemerkenswerte Entwicklung des politisch-strategischen             ten ausdehnen wollte und versucht sein könnte, ganz Deutschland
              Denkens im Rahmen der NATO, das nicht nur ihre militärische,            militärisch zu überrennen. Denn im Gegensatz zu den Westmäch-
              sondern auch ihre politische Rolle in Europa schrittweise verän-        ten, die ihre Streitkräfte nach Ende des Krieges drastisch reduziert
              derte: von der Bewahrung von Sicherheit und Frieden in Europa           hatten, unterhielt die Sowjetunion weiter eine große Armee in
              zu aktiver Gestaltung von Stabilität. Ihre Kernfunktion und die         ihrem Einflussgebiet. 1 Die US-amerikanische ­Regierung vollzog
              oberste Leitlinie ihrer Strategie blieben stets die gleichen: Schutz    schon 1947 mit der „Truman-Doktrin“ eine außenpolitische Wen-
              und Sicherheit für alle ihre Mitglieder gegen alle äußeren Bedro-       de und leitete eine Politik der Eindämmung („Containment“) ein. 2
              hungen und Erhalt des Friedens in Europa. Die Bundesrepublik            Damit wollte sie „freien Völkern“ zu Hilfe kommen, „die sich der
              Deutschland wiederum entwickelte sich von einem zerstörten              angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder
              und besetzten Land zu einer der wichtigsten europäischen Mäch-          durch äußeren Druck widersetzen“ – ­eine klare Ansage, der Ein-
              te in der Allianz.                                                      flussnahme der Sowjetunion auf frei gewählte Regierungen und
                                                                                      Demokratien in Europa entgegenzutreten. 3 Die Invasion Süd­
              Aus der historischen Distanz, die einen Blick auf größere Zusam-        koreas durch das kommunistische Nordkorea 1950 ließ die Furcht
              menhänge, Strukturen und Entwicklungslinien erlaubt, lassen sich        vor kommunistischer Expansion in West­europa weiter wachsen.

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S I C H E R H E I T F Ü R E U R O P A  N AT O 2 0 3 0

                                                                   Am 4. April 1949 wurde mit der Unterzeichnung des Nordatlan-
                                                                   tikvertrags in Washington die NATO gegründet. Sie hatte damals
                                                                   zwölf Mitglieder. 5 Der Vertrag besticht durch seine Kürze und
                                                                   Sachlichkeit. Von seinen nur 14 Artikeln sind die folgenden vier
                                                                   die wichtigsten:
                                                                   h In Artikel 5 vereinbaren die Vertragsparteien, dass „ein bewaff-
                                                                       neter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa
                                                                       oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen
                                                                       werden wird“. Sie vereinbaren, dass im Falle eines solchen
                                                                       bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung ihres Rechts
                                                                       auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung nach Arti-
                                                                       kel 51 der Charta der Vereinten Nationen, der angegriffenen
                                                                       Partei oder den angegriffenen Parteien beisteht und, indivi-
Unterzeichnung der Pariser Verträge 1954: Die Bundesrepublik           duell und gemeinsam mit den anderen, die als notwendig
Deutschland wird eingeladen, der NATO beizutreten.                     erachteten Maßnahmen ergreift, einschließlich der Anwen-
                                                                       dung militärischer Gewalt. In diesem nüchternen Vertragstext
                                                                       kommt der Kern und die Hauptfunktion der NATO zum Aus-
Oberstes Ziel der USA war es damals, die weltweite Ausbreitung         druck: die inzwischen so genannte „kollektive Verteidigungs-
der kommunistischen Ideologie und den damit verbundenen                garantie“.
Machtanspruch der Sowjetunion mit allen Mitteln zu verhindern. 4   h In Artikel 6 wird der Geltungsbereich der kollektiven Vertei­
Ihm lag auch die strategische Notwendigkeit zugrunde, als glo-         digung definiert: das Territorium einer jeden Vertragspartei in
bale Seemacht den sicheren Zugang zu Amerikas Gegenküsten              Europa oder Nordamerika, Inseln unter der Hoheit einer Ver-
zu erhalten und zu sichern – als Voraussetzung für den Erhalt          tragspartei im NATO-Vertragsgebiet (nördlich des Wende­
seiner Weltmachtrolle gegenüber der ausgreifenden sowjeti-             kreises des Krebses) oder deren Schiffe oder Flugzeuge dort.
schen Kontinentalmacht. Der Schutz Westeuropas gegen die               Diese Formulierung gilt es für mögliche künftige Einsätze und
Sowjetunion durch ein US-geführtes Bündnis diente also auch            Aktionen der Verbündeten im Blick zu behalten. 6
der strategischen Vorneverteidigung der USA. Vor diesem Hin-       h In Artikel 3 verpflichten sich die Mitgliedstaaten, einzeln und
tergrund kam es darauf an, Westeuropa zu stabilisieren und vor         gemeinsam, mittels kontinuierlicher und wirkungsvoller
einer Ausweitung des sowjetischen Machtbereichs zu schützen.           Selbsthilfe und wechselseitiger Unterstützung, die eigene und
Dem diente einerseits der Marshall-Plan, mit dem zwischen 1948         die kollektive Fähigkeit zu erhalten und fortzuentwickeln,
und 1952 der wirtschaftliche Aufbau in den kriegszerstörten            ­einem bewaffneten Angriff zu widerstehen. Dieser Artikel ist
westeuropäischen Ländern, einschließlich der ehemaligen Kriegs-         die Grundlage für die Erwartung, dass jeder Verbündete die-
gegner Westdeutschland und Österreich, mit Milliardenhilfen             jenigen Streitkräfte entwickelt und einsatzbereit hält, welche
angekurbelt wurde. Andererseits musste ein Schutz- und Vertei-          die NATO von ihm für ihre Aufgaben braucht. NATO-Streit­
digungsbündnis in Europa zur Abwehr der sowjetischen Bedro-             kräfteziele für jeden einzelnen Bündnispartner beruhen
hung gegründet werden. Mit dem so genannten Brüsseler Pakt              letztlich auf diesem Artikel. Es gibt Stimmen, vor allem aus den
hatten Großbritannien, Frankreich und die Beneluxstaaten 1948           USA, die ein Junktim zwischen dem nationalen Engagement
zwar ein europäisches Schutzbündnis gegründet. Aber die                 und der kollektiven Verteidigungspflicht herstellen.
sowje­tische Bedrohung verlangte das verteidigungspolitische       h Schließlich macht Artikel 4 die Zusage, dass die Verbündeten
Engagement der USA in Europa. Denn im Gegensatz zu den                  einander konsultieren, sobald einer von ihnen glaubt, seine
Westeuropäern waren die USA der Sowjetunion militärisch über-           territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicher-
legen. Zwar hatte die Sowjetunion im Jahr 1949 mit der Zündung          heit seien bedroht. Diese bedrohungsbezogene Konsultation
ihrer ersten Atombombe das seit 1945 bestehende Nuklear­                ist beispielsweise von Polen im Nordatlantikrat im Jahr 2014
waffen-Monopol der Vereinigten Staaten grundsätzlich durch-             nach der militärischen Aggression Russlands gegen die
brochen. Aber die USA hatten weit überlegene Luftstreitkräfte           ­Ukraine beantragt worden. Der Rat entscheidet in solchen
als Träger ihrer Nuklearwaffen und waren auf Jahre hinaus selbst         Fällen im Konsens, was dann zu tun ist.
nicht verwundbar, weil die Sowjetunion über keine weitreichen-
den Trägermittel verfügte.

                                                                                                                                                              11
NA T O 2030   SICHERHEIT FÜR EUROPA

              Am 5. Mai 1955, zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs,        Sie war auch ein Instrument der sich entwickelnden globalen
              wurde der Beitritt der damaligen Bundesrepublik Deutschland         Führungsrolle der USA und Teil des Aufbaus neuer internationa-
              zur NATO rechtskräftig. Sie wurde ihr fünfzehntes Mitglied.         ler Institutionen unter amerikanischer Führung. Den Grundstein
              Grundlage waren die Pariser Verträge von 1954/55, die das           legte das internationale Abkommen von Bretton Woods, mit dem
              ­Besatzungsstatut in Westdeutschland beendeten. Die Bundes­         das internationale Währungssystem mit dem US-Dollar als Leit-
               republik wurde – von bestimmten Einschränkungen abgesehen          währung geschaffen wurde. Ende 1945 wurden die Weltbank und
               – in wesentlichen Punkten innen- und außenpolitisch souverän. 7    der Internationale Währungsfonds (IWF) gegründet. Zudem
              Sie trat ebenso wie Italien dem Brüsseler Pakt bei, der damit zur   wurden 1947 mit dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen
              Westeuropäischen Union (WEU) erweitert wurde. Großbritannien,       eine internationale Vereinbarung über den Welthandel getroffen
              Kanada und die USA sicherten zu, Streitkräfte auf dem europäi-      und Schritt für Schritt Zölle und andere Handelshemmnisse
              schen Kontinent zu stationieren. Alle NATO-Streitkräfte in Europa   ­abgebaut.
              wurden dem Obersten Alliierten Befehlshaber in Europa SACEUR
              (Supreme Allied Commander Europe) unterstellt. Als Antwort
              auf all dies wurde am 14. Mai 1955 der Warschauer Pakt unter        Entwicklung der Abschreckungsstrategie der NATO
              Führung der Sowjetunion gegründet. Die Block-Konfrontation
              begann.                                                             Für die militärische Verteidigungsvorsorge waren die geopoliti-
                                                                                  schen Verhältnisse und die Streitkräftekonstellation in den 1950er
                                                                                  Jahren ungünstig und gefährlich, vor allem aus deutscher Sicht.
Die NATO wurde zum entscheidenden                                                 Der Warschauer Pakt war hochgerüstet, was ihm die Option eines
                                                                                  Überraschungsangriffs gab. Das militärstrategische Konzept der
­Katalysator für die verteidigungspolitische
                                                                                  NATO sah grundsätzlich vor, einem solchen Angriff mit einer
Integration des freien Teils Europas.                                             Kombination aus „Vorneverteidigung“ mit konventionellen Streit-
                                                                                  kräften und einem raschen nuklearen Gegenangriff zu begegnen. 8
                                                                                  Die USA hatten mit ihrer im Zweiten Weltkrieg aufgebauten
              Aus politischer Sicht können die Bedeutung dieser Entwicklung       strategischen Bomberflotte die dazu nötige Luftherrschaft. Die
              und die Rolle der NATO nicht hoch genug eingeschätzt werden:        zunächst schwachen NATO-Landstreitkräfte sollten das Fortschrei-
              Die USA wurden mit Streitkräften in Europa verankert, sie wurden    ten eines möglichen konventionellen Angriffs verlangsamen, um
              eine europäische Macht. Westdeutschland wurde wieder gleich-        dann mit einem massiven Nuklearwaffeneinsatz der USA die
              berechtigtes Mitglied der Völkergemeinschaft, weil sein wirt-       Angriffskraft der Sowjetunion und des Warschauer Pakts zu bre-
              schaftliches und künftiges militärisches Potential gebraucht        chen. Bodentruppen waren gewissermaßen der ‚Schild‘ der NATO,
              wurde. Es vollzog die Integration in den politischen Westen, das    die nuklearen Waffen der USA ihr ‚Schwert‘. Damals ging es also
              große Ziel von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Mit dem Aufbau        im Kern planerisch um atomare Kriegsführung mitten in Europa.
              der Bundeswehr wurde Westdeutschland das zentrale Mittelstück       Westdeutschland wäre „Kampfzone“ und das Hauptschlachtfeld
              der Bündnisverteidigung in Europa. Auch deshalb wuchsen ihr         der Blöcke geworden – aus heutiger Sicht unvorstellbar.
              über die Jahre Vertrauen und Respekt der Verbündeten zu. An-
              dererseits machte die Integration Westdeutschlands in die NATO      Die uneingeschränkte Fähigkeit der USA aber, dem Warschauer
              und die Präsenz bedeutender amerikanischer Streitkräfte in          Pakt die atomare Vernichtung seiner Armeen und der Sowjet­
              Westdeutschland die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, des        union selbst die Ausschaltung ihrer Industrie- und Führungs­
              ehemaligen Kriegsgegners, für die anderen europäischen Natio-       zentren androhen zu können, sollte Moskau davon überzeugen,
              nen erträglich und vertrauensvolle Zusammenarbeit als Verbün-       dass sich Krieg nicht lohnte. Der Kerngedanke von Abschreckung
              dete möglich. Umgekehrt war die US-Präsenz und die der anderen      war geboren: die Androhung des nuklearen „Schreckens“ dem-
              Verbündeten mit Truppen in Westdeutschland maßgebend für            gegenüber, der Krieg erwägt, mit dem Ziel, ihn davon abzuhalten,
              die Sicherheit der jungen Bundesrepublik. Die NATO wurde also       weil er bei vernünftiger Risikobewertung zu dem Schluss kommen
              zum entscheidenden Katalysator für die verteidigungspolitische      würde, dass er nicht nur keinen Erfolg hätte, sondern der Schaden
              Integration des freien Teils Europas.                               für ihn weit größer wäre als der erhoffte Gewinn. Die Strategie
                                                                                  der „Massiven Vergeltung“ („Massive Retaliation“) mit Nuklear-
                                                                                  waffen, welche die NATO schließlich 1957 beschloss, diente der
                                                                                  Kriegsverhinderung und damit der Sicherheit des freien Westens.

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                                                                      teln auf beiden Seiten. Polemisch wird dies auch heute ‚Wettrüs-
                                                                      ten‘ oder ‚Rüstungswettlauf‘ genannt, was irrigerweise nahelegt,
                                                                      es sei einzig darum gegangen, mehr Waffen als die Gegenseite
                                                                      zu haben. Tatsächlich ging es um die Erweiterung eigener oder
                                                                      die Einschränkung gegnerischer Optionen. Der Erhalt der Zweit-
                                                                      schlagsfähigkeit beispielsweise verlangte die Gewissheit, nach
                                                                      einem atomaren Erstschlag durch den Gegner mit vernichtenden
                                                                      Auswirkungen auf jeden Fall genügend Mittel zu besitzen, die für
                                                                      einen vernichtenden Gegenschlag, den Zweitschlag, nötig gewe-
                                                                      sen wären. Das gegenseitige Misstrauen trieb die Anstrengungen
                                                                      ständig voran.

Belgischer Außenminister Pierre Harmel 1967
                                                                      Ein neuer Ansatz – Der Harmel-Bericht und die Strategie der
                                                                      „Flexiblen Erwiderung“ von 1967
Der britische Premierminister Winston Churchill beschrieb im Jahr
1955 mit einer düsteren Feststellung die Paradoxie nuklearer          Das nukleare Patt und die Logik der atomaren Zweitschlags­
Abschreckung: „Sicherheit wird das stämmige Kind des Schre-           fähigkeit führten nicht nur zu riesigen Arsenalen mit Tausenden
ckens sein und Überleben der Zwillingsbruder der Auslöschung.“ 9      von Sprengköpfen auf beiden Seiten und verschlangen enorme
                                                                      Ressourcen, sondern bargen im Falle eines menschlichen Irrtums
Der Sputnik-Schock im Jahr 1957 veränderte die Lage grund­            oder Systemversagens auch ein tödliches Risiko. Auch aus diesem
legend. Als erster gelang es der Sowjetunion, einen Satelliten in     Grund verließ Frankreich 1966 die militärische Integration der
eine Erdumlaufbahn zu bringen. Militärisch bedeutete dies, dass       NATO. Der französische Präsident Charles de Gaulle hielt die
sie nun ebenfalls zum Bau von weitreichenden Interkontinental-        Nuklearstrategie der NATO und insbesondere die erweiterte
raketen fähig war, die Nordamerika erreichen konnten. Plötzlich       nukleare Abschreckung der USA zum Schutz der europäischen
waren auch die USA einer nuklearstrategischen Bedrohung selbst        Alliierten, die selbst nicht über Atomwaffen verfügten, für nicht
ausgesetzt und im eigenen Land verwundbar. Die Kuba-Krise             glaubwürdig. Er war der Überzeugung, dass wegen der verhee-
1962 tat ein Übriges. Beide Atommächte standen am Rand eines          renden Wirkung von Nuklearwaffen über deren Einsatz, der unter
Nuklearkriegs mit unabsehbaren Folgen für sie selbst. Das Er-         Umständen die Existenz einer Nation oder ganzer Regionen
schrecken darüber in Moskau und Washington führte zu einem            gefährden könnte, nur die verantwortliche politische Führung
Prozess des Umdenkens. Beide richteten den ‚heißen Draht‘ ein,        einer jeden Nation für diese selbst, nicht aber für andere ent-
damit direkte Kommunikation der beiden politischen Spitzen in         scheiden könne. Frankreich wollte in militärstrategischen Fragen
Krisen möglich wurde. Beide akzeptierten die wechselseitige           von den USA unabhängig werden und stellte seine eigene Force
„gesicherte nukleare Zweitschlagsfähigkeit“ gegen das Territo­        de dissuasion nucléaire auf. Das NATO-Hauptquartier zog von
rium des jeweils anderen. „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter“,   Paris nach Brüssel um, das militärische Oberkommando SHAPE
lautete das sarkastische Motto dafür. Beide akzeptierten bewusst      (Supreme Headquarters Allied Powers Europe) von Fontainebleau
die damit verbundene Möglichkeit der „sicheren wechselseitigen        ins belgische Mons. Rund 30.000 NATO-Soldaten verließen Frank-
Vernichtung“ – der Mutual Assured Destruction, MAD (US-Vertei-        reich.
digungsminister Robert McNamara 1965).
                                                                       Im Dezember des gleichen Jahres schuf die NATO die Nukleare
Durch dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ entstand – parado-         Planungsgruppe (Nuclear Planning Group, NPG). Sie ist das
xerweise – aus Sicht beider Kontrahenten strategische Stabilität.     ­Gremium, in dem die Verteidigungsminister und Verteidigungs-
Politisch gestand die Sowjetunion dem Westen die „Friedliche           ministerinnen der Allianz, also auch die der Nicht-Nuklearstaaten,
Koexistenz“ der Systeme zu. Seither haben die Sowjetunion und          die politische Kontrolle über die Nuklearstrategie der NATO
später Russland und auf der anderen Seite die USA alles vermie-        ausüben. Sie beraten und entscheiden über nukleare Planung
den, um irgendwo auf der Welt in eine direkte militärische Aus-        und Übungen. Über den Einsatz von Nuklearwaffen würden im
einandersetzung zu geraten. Die Kehrseite dieser Militärstrategie      Krieg ausschließlich der amerikanische Präsident oder der bri­
war die fortgesetzte Rüstung mit Sprengköpfen und Trägermit-           tische Premierminister entscheiden. Die Teilhabe der europä­

                                                                                                                                                                13
NA T O 2030   SICHERHEIT FÜR EUROPA

              ischen Verbündeten an nuklearer Planung und an Übungen mit             Militärstrategisch suchte die NATO nach einem Ansatz, der im Fall
              Nuklearwaffen wie auch deren Lagerung (in sogenannten Son-             eines militärischen Konflikts nicht quasi automatisch zu einer
              dermunitionslagern) auf dem Territorium von europäischen               nuklearen Eskalation führen würde. Man wollte Flexibilität ge-
              Mitgliedstaaten war und ist heute noch ein wirksames Mittel, die       winnen und die Schwelle zum nuklearen Einsatz erhöhen. Man
              Verbreitung von Atomwaffen in Europa zu verhindern. Frankreich         wollte im Krieg über ein Spektrum an Optionen verfügen, aus
              ist bis heute kein Mitglied der NPG, kehrte aber im Jahr 2009 in       denen diejenigen ausgewählt werden sollten, mit denen ein
              die integrierten Militärstrukturen der NATO zurück.                    Angriff erfolgreich abgewehrt werden könnte und die dem
                                                                                     ­Gegner die Aussichtslosigkeit seines Unterfanges und das Risiko
              Die NATO suchte nach Alternativen zur bisherigen Militärstrate-         für ihn selbst deutlich machen würde. Die NATO wollte in jeder
              gie. Es ging um eine politisch-strategische Standortbestimmung.         Lage die politische Kontrolle über ihr Vorgehen behalten und
              Es galt, aus der Sackgasse der starren Blockkonfrontation und des       überlegt reagieren. Das Ziel bestand darin, einen Krieg so rasch
              permanenten Strebens nach nuklearem Gleichgewicht, das zu               wie möglich zu beenden. Dazu gehörte, über die sogenannte
              immer weiteren Rüstungsspiralen führte, herauszukommen und              Eskalationsdominanz zu verfügen. Diese schloss ein, jeden Schritt
              Wege zum Dialog mit den Warschauer-Pakt-Staaten zu finden.              der Gegenseite nötigenfalls auf einer qualitativ höheren Stufe zu
              Mit dem Harmel-Bericht von 1967 über die „Künftigen Aufgaben            beantworten, um ihr das Erreichen ihrer Ziele zu verwehren.
              der Allianz“ und der Anfang 1968 gebilligten Militärstrategie der       ­Zugleich sollte die sowjetische Führung aber nicht befürchten
              „Flexiblen Erwiderung“ („Flexible Response“) 10 begann eine neue         müssen, sie würde mit einer übermächtigen Drohung konfron-
              Ära der politisch-strategischen Ausrichtung der NATO.                    tiert. Vielmehr sollte eine Antwort der NATO verhältnismäßig
                                                                                       (Prinzip der proportionality) und angemessen und das dazu
                                                                                       ­er­forderliche Streitkräftedispositiv nur hinlänglich (Prinzip der
Harmel-Bericht: „Militärische Sicherheit                                                sufficiency) sein. In diesem Sinne sah die neue Militärstrategie
                                                                                        drei Kategorien einer militärischen Reaktion vor: (1) direkte Ver­
und eine Politik der Entspannung sind kein
                                                                                        tei­digung (direct defense) mit konventionellen Streitkräften,
Widerspruch, sondern ergänzen einander.”                                                (2) vorbedachte, überlegte Eskalation (deliberate escalation) durch
                                                                                        Ausweitung der konventionellen Verteidigung oder durch selek-
                                                                                        tive Einsätze taktischer Nuklearwaffen 11 und (3) die allgemeine
              Der vom Nordatlantikrat auf Ebene der Außenminister gebilligte            nukleare Reaktion (general nuclear response) auf einen großen
              Bericht der Special Group unter Leitung des damaligen belgischen          nuklearen Angriff hin. Welche Option genau in welcher Lage
              Außenministers Pierre Harmel schlug eine politisch-militärische           angewandt werden sollte, ließ die NATO bewusst im Ungewissen
              Doppelstrategie vor: Einerseits Aufrechterhaltung angemessener            (Prinzip der uncertainty). Dem Gegner sollte nicht ermöglicht
              militärischer Stärke zur Abschreckung einer Aggression und zur            werden, das mit einem Angriff verbundene Risiko einschätzen
              Verteidigung der Mitgliedstaaten im Fall eines Angriffs; anderer-         und sich darauf einstellen zu können. Auch den selektiven Erst­
              seits die Bemühung um dauerhafte Beziehungen zu den Staaten               einsatz von Atomwaffen (First Use) schloss die NATO bewusst
              des Warschauer Pakts, um grundlegende politische Streitfragen             nicht explizit aus.
              in Europa, vor allem die „Deutsche Frage“, zu lösen. Der Bericht
              stellte fest: „Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspan-
              nung sind kein Widerspruch, sondern ergänzen einander.“ Alle           Strategische Dilemmata und der NATO-Doppelbeschluss
              Verbündeten sollten sich an der Implementierung der Entspan-
              nungspolitik beteiligen, ohne die Einheit der Allianz zu gefährden.    Für die Umsetzung der neuen Militärstrategie der „Flexible Res­
              Ziel war ein gesichertes militärisches Gleichgewicht in Europa         ponse“ waren starke konventionelle Streitkräfte erforderlich. Die
              durch kooperative Rüstungskontrolle und ausgewo­gene, beider-          Bundeswehr war inzwischen auf volle Stärke von fast 500.000
              seitige Abrüstung (balanced force reductions). Die vorgeschlage-       Soldaten angewachsen. Sie war eingebettet in die Vornevertei-
              ne Entspannungspolitik auf der Grundlage gesicherter Verteidi-         digung der NATO, die sich unter anderem auf neun Armeekorps 12
              gungsfähigkeit sollte letztlich den Weg zu einer ­gerechten und        stützte, die nach dem General Defense Plan (GDP) entlang der
              dauerhaften europäischen Friedensordnung bereiten helfen, dem          innerdeutschen Grenze – wie eine „Schichttorte“ – nebeneinan-
              politischen Endzweck der NATO („the ultimate political purpose“).      der disloziert waren. Das V. US-Korps sicherte den kritischsten
                                                                                     Abschnitt der Vorneverteidigung, die Region um das Fuldaer
                                                                                     Becken mit der kürzesten Entfernung zwischen der innerdeut-

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S I C H E R H E I T F Ü R E U R O P A  N AT O 2 0 3 0

schen Grenze und dem Großraum Frankfurt am Main. In einem
Krieg hätte dieses Korps verhindern sollen, dass die sowjetischen
Panzerverbände der 8. Gardearmee durch das sogenannte Fulda
Gap rasch auf Frankfurt und den Rhein hätten vorstoßen und die
NATO-Verteidigung aufspalten können. Die Zahl und Intensität
der militärischen Übungen waren hoch, auf Truppenübungs­
plätzen und im freien Gelände. An den jährlichen Großübungen
in allen Teilen Westdeutschlands, einschließlich der REFORGER-
Übungen der US-Streitkräfte, nahmen bis zu 80.000 Soldaten und
Soldatinnen teil. 13 Die Bundeswehr war zu jener Zeit mit drei
Korps die stärkste Armee der NATO in Europa, ein Umstand, der
Westdeutschland in der Allianz großen Einfluss verschaffte.
                                                                      Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt zum NATO-Doppelbeschluss
Alle westdeutschen Regierungen waren von der Sorge getragen,          im Deutschen Bundestag 1983
die USA militärisch so eng wie möglich an Europa und vor allem
an Westdeutschland zu binden. Die Präsenz der USA mit starken
Streitkräften war einer der stärksten Abschreckungsfaktoren. Das      begrenzen, die eigenen Territorien aber herauszuhalten. Ein
Alarmierungssystem sah vor, die Bundeswehr praktisch automa-          solcher Krieg hätte jedoch Mitteleuropa vernichtet. Solche laten-
tisch sehr früh in einer Krise dem amerikanischen militärischen       ten deutschen Befürchtungen wurden verstärkt, als die Sowjet-
NATO-Oberbefehlshaber zu unterstellen. Die Führung des War-           union 1976 mit der Aufstellung von SS-20-Mittel­streckenraketen
schauer Pakts sollte für den Fall eines Angriffs sofort auf die ge-   mit atomaren Sprengköpfen begann, die Ziele in ganz West­
samten NATO-Kräfte und besonders die der USA stoßen. Die              europa treffen konnten, aber das Territorium der USA nicht er-
westdeutsche Regierung hatte deshalb in der NATO durchgesetzt,        reichten. Besonders der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt
dass das Prinzip der „Vorneverteidigung“ wörtlich verstanden und      sah darin eine nukleare Sonderbedrohung Westeuropas. 14 Durch
in entsprechende militärische Planungen umgesetzt wurde. Die          die mit dem SALT-I-Vertrag zwischen den USA und der Sowjet-
Verteidigung musste also unmittelbar an der innerdeutschen            union inzwischen vereinbarte Parität auf nuklearstrategischer
Grenze mit starken Kräften aufgenommen werden. Das westdeut-          Ebene und die bestehende Zweitschlagskapazität wurden die
sche Territorium oder auch nur größere Teile davon für groß­          nuklearstrategischen Potentiale der beiden Großmächte praktisch
räumige, bewegliche Operationen zu nutzen, musste ausge-              neutralisiert. Die Sowjetunion hätte darauf setzen können, West-
schlossen werden. Das war militärisch fragwürdig, politisch aber      deutschland und Westeuropa nuklear erpressen und zugleich die
unabdingbar, denn jedweder Krieg auf deutschem Boden barg             USA davon abhalten zu können, mit einer Gegendrohung auf
das Risiko der Zerstörung Deutschlands. Aus dem gleichen Grund        strategischer Ebene zu reagieren, aus Furcht vor einem nuklearen
durfte die Schwelle zum Einsatz von Nuklearwaffen aus deutscher       interkontinentalen Schlagabtausch. Westdeutschland und West-
Sicht nicht so sehr erhöht werden, dass Gegner und Verbündete         europa wären in einer solchen Lage von der Sicherheitsgarantie
hätten zu dem Schluss kommen können, einen konventionellen            der USA abgekoppelt worden.
Krieg auf Deutschlands Boden ohne das Risiko einer atomaren
Eskalation ausfechten zu können.                                      Bundeskanzler Helmut Schmidt drang ab 1977 daher darauf, der
                                                                      SS-20-Bedrohung durch die Stationierung (von ihm „Nachrüs-
Die deutsche Besorgnis lag auch darin begründet, dass Vornever-       tung“ genannt) von solchen amerikanischen Mittelstreckenwaf-
teidigung die Möglichkeit einschloss, taktische Nuklearwaffen         fen in Europa zu begegnen, welche die Sowjetunion treffen
einzusetzen, wenn die NATO-Streitkräfte nicht in der Lage wären,      könnten. Der Doppelbeschluss der NATO von 1979 sah zwei
einem konventionellen Angriff standzuhalten. Aufgrund ihrer           komplementäre Wege vor: Stationierung von 108 bodengestütz-
Reichweite wären in einem solchen Fall dann atomare Geschosse,        ten amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing II und 464
Bomben oder Raketen auf Ostdeutschland, die Tschechoslowakei          bodengestützten Marschflugkörpern ab 1983 auf dem Territorium
und auf Polen niedergegangen, hätten aber den Hauptangreifer,         einiger europäischer Alliierter, darunter der Bundesrepublik
die Sowjetunion, verschont. Die Sorge war, dass die Supermäch-        Deutschland. Andererseits machte er das Angebot zu Rüstungs-
te sich stillschweigend darauf einigen könnten, einen Krieg mit       kontrollverhandlungen mit dem Ziel, die Zahl der vorhandenen
konventionellen Verbänden und Nuklearwaffen auf Europa zu             sowjetischen und künftigen amerikanischen Mittelstreckenwaf-

                                                                                                                                                               15
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