NATURFREUNDIN - NATURFREUNDE DEUTSCHLANDS
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Ausgabe 1-2010 NATURFREUNDiN Zeitschrift für nachhaltige Entwicklung – sozial – ökologisch – demokratisch Biodiversität ist unser Leben AKTUELL für den a Italien: Kunstwerke Naturpark [Seite 9] scher als a Ruhrgebiet: die Em e 14] Flusslandschaft 2010 [Seit er Strom a Ozeane: regenerativ aus dem Meer [Seite 15] re a Stuttgart: hundert Jah 23] NaturFreunde [Seite &22 www.naturfreunde.de
AUF EIN WORT Wider das Vergessen! h In diesem Jahr jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 65. Mal. 1944/45 war der Krieg endgültig nach Deutsch- land zurückgekehrt. Nachdem Deutsche seit 1939 in der ganzen Welt gewütet und gemordet hatten, erkannte nun auch die deutsche Bevöl- kerung, was der „Endsieg“ für sie bedeuten wür- de. In den TV-Dokumentationen wird uns das Schicksal der Vertriebenen mindestens einmal in der Woche anschaulich vor Augen geführt. Auch die medienwirksame Diskussion von Frau Steinbach vom Bund der Vertriebenen mit ihren beharrlich provokanten Forderungen im Rahmen der Benennung der Mitglieder der „Stif- tung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ erweckt den Eindruck, dass es nur deutsche Vertriebe- ne gab. Wer sind eigentlich die anderen Vertre- terorganisationen? Deren Namen werden in den Medien nicht genannt. Eine Versöhnung ist aber rung zu leiden. Wir dürfen aber nicht vergessen, was die Ursache für diese Angriffe war! Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen be- gann der Zweite Weltkrieg, durch den Holocaust wurden Millionen Juden in deutschen Konzen- trationslagern auf bestialische Weise ermordet. Gedenktage wie der 27. Januar, der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialis- mus (Erinnerung an den Tag der Befreiung des KZ Auschwitz), der 8. Mai (Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus) und der 9. November (Reichspogromnacht) treten dem- gegenüber in der Öffentlichkeit zunehmend in den Hintergrund. Sie sind aber wichtig und not- wendig. Wir und unsere Kinder sollten nicht den Geschichtsrevisionisten und ewig Gestrigen zum Opfer fallen. Auch an Oradour und Covent- ry muss erinnert werden. Keiner soll sagen kön- nen: „Davon habe ich nichts gewusst.“ Ein Standpunkt von Tilmann Schwenke, nur möglich, wenn alle Opfer angemessen ver- Es wäre gut, wenn zu diesen Gedenktagen Mitglied des Bundesvorstandes der treten und repräsentiert sind. nicht nur Berufspolitiker, Schüler und Pädago- NaturFreunde Deutschlands Man könnte zum Schluss kommen, im Zwei- gen Stellung bezögen, sondern sich eine breite ten Weltkrieg hätte es nur deutsche Opfer gege- Bevölkerungsschicht mit der Geschichte ausein- ben. Die NPD und ihre Nebenorganisationen wie andersetzte. Nur so wird aus einem bloßen Er- die „Junge Landsmannschaft Ostdeutschland“ innern ein Gedenken. Nicht nur NaturFreunde machen sich dies zunutze. Letztere ruft unge- können dazu durch ein entsprechendes Engage- niert jeweils am 13. Februar zum Gedenken an ment beitragen - zum Beispiel bundesweit bei die angloamerikanischen Angriffe auf Dresden „noNPD“ oder regional bei „Geh Denken!“ oder auf. Nicht ohne Erfolg übrigens. Inzwischen wur- den „Stolpersteinen“. Setzen wir ein deutliches de daraus der größte Naziauflauf in Europa. Zeichen gegen den Rechtsextremismus, damit h Natürlich hatte durch die Bombenangriffe sich 1933 nicht wiederholt! Jetzt und im- auf deutsche Städte vor allem die Zivilbevölke- mer wieder. Wir sind es uns schuldig. SEITE 2 NATURFREUNDiN 1-2010
TITEL Biodiversität ist unser Leben........ 4 Interview: Intakte Ökosysteme sind Klimaschutz...........................5 Diebstahl an der Natur.................6 Zufluchtsort für die Gedanken......7 Das 2010-Ziel.............................. 8 THEMA Ein Karussell gegen den Teufelskreis........................... 9 Nach der Konferenz ist vor der Konferenz.................. 10 So sollten wir in Zukunft leben.. 12 Alle reden von Nachhaltigkeit.... 13 Zeit für eine Wasserschau.......... 14 Termine an der Flusslandschaft.. 14 Strom aus dem Meer................. 15 NATURFREUNDE AKTIV Vom Glück, Mitglied der NaturFreunde zu werden........... 17 Vom Konsum zum Erlebnis........ 18 Interview: Dort, wo wir wohnen.. 19 Hot Sports in der Natur............. 20 Landesverband Hessen.............. 20 Zu Fuß nach Italien.................... 21 Dein Energiesparkonto.............. 21 Es begann im Goldenen Bären... 22 Ein linker Freizeitklub................ 23 Naturfreundehäuser in Stuttgart.. 23 Postfach 120, Dresden 8027.... 24 Ausgabe 1–2010 „Hier fließt das Leben.“ 123 warum NaturFreunde sich engagieren Hella Ueberschaer, Vorsitzende der Ortsgruppe Elb-Havel-Winkel [seite 19] FEST GESETZT INHALT Reisezeit ................................... 26 Seminare................................... 27 Kleinanzeigen............................ 28 Impressum................................. 28 Medien...................................... 29 kurz notiert................................ 30 EDITORIAL Eine Möglichkeit dafür sind die Natura Trails, die auf den Seiten 7 und 19 eine Rolle spielen. Wir werben damit für Europas Naturschätze und schaffen gut dokumentierte Attraktionen für Aus- flüge und Wanderungen. Viele Ortsgruppen quer durch Deutschland haben schon Projekte in ih- rer Nachbarschaft in Angriff genommen. Mit einer Feierstunde im November in der Ei- der mit hohen Erwartungen beladene UN-Klima- Horst Korn vom Bundesamt für Naturschutz, ei- fel wurde die Nette als Flusslandschaft des Jah- gipfel in Kopenhagen ist Geschichte. Eine gro- ner der deutschen Unterhändler für Biodiversität, res verabschiedet. Am 21. März starten wir neu ße Chance wurde vertan. Künftige Generationen wie wichtig die biologische Vielfalt auch bei der an der Emscher (Seite 14). Die Beschäftigung mit werden sich an einen Schwarzen Freitag im De- Bekämpfung des Klimawandels ist. den Flüssen hat ein altes Thema neu auf die Ta- zember 2009 erinnern, an dem die Machtspiele Der Tourismus kommt als Störer für das Kli- gesordnung gebracht: Wie gehen wir in Euro- zwischen Politikern aus Industrie- und Schwel- ma und die biologische Vielfalt immer mehr ins pa mit dem Wasser um? Es wird Zeit, dass wir lenländern eine nachhaltige Klimaentwicklung Gerede. Freizeit, Bewegung in der Natur, Reisen uns wieder darum kümmern. Bis 2015 sollen verhindert haben. Jetzt sind zivilgesellschaftliche – das sind für die NaturFreunde immer wesent- nach der europäischen Wasserrahmenrichtlinie Kräfte gefragt, die NaturFreunde haben hier eine liche Betätigungsfelder gewesen. Gleichzeitig set- bestimmte Qualitätsstandards erreicht sein. Da besondere Verantwortung - Gedanken dazu le- zen wir uns seit vielen Jahren für einen sanften kann jeder vor Ort einmal selbst nachfragen. Es sen Sie auf den Seiten 10 und 11. Tourismus ein. Die Naturfreunde Internationa- gibt also auch in diesem Jahr viel zu tun. 2010 ist das Internationale Jahr der Biodiver- le hat dazu sogar Richtlinien verabschiedet. Wir sität. Für die Bewahrung der biologischen Vielfalt wollen weiter daran arbeiten, wie Naturerlebnis engagieren sich die NaturFreunde intensiv. In der und das Kennenlernen anderer Kulturen nach- Titelstory dieser NATURFREUNDiN beschreibt Dr. haltig gestaltet werden können, siehe Seite 18. 1-2010 NATURFREUNDiN SEITE 3
Titel Konferenz 2010 im japanischen Nagoya wird die Präsidentschaft turnusmäßig weitergegeben. Die politischen Ziele während der deutschen Jahr der Biologischen Vielfalt Präsidentschaft sind in der „Agenda für biolo- gische Vielfalt“ festgelegt. Das sind neben den bestehenden Arbeitsschwerpunkten die Bewer- Biodiversität ist Leben – unser Leben tung des 2010-Zieles zum Stopp des weltweiten Wie die Staatengemeinschaft der Welt um den Artenschutz ringt Artensterbens, die Errichtung eines internatio- nalen Naturschutzrates und die Erstellung einer Studie über die volkswirtschaftlichen Kosten bFür den globalen Naturschutz ist dieses Vielfalt innerhalb der einzelnen Tier- und Pflan- der Naturzerstörung. Jahr ein bedeutendes Jahr. Die Generalversamm- zenarten. Mit der Unterzeich- lung der Vereinten Nationen hat 2010 zum „In- Mit 193 Mitgliedsstaaten ist die Biodiversitäts- nung der Biodiversitäts- ternationalen Jahr der biologischen Vielfalt“ er- konvention ein globaler Vertrag mit juristischer konvention hatten sich klärt. Weltweit finden in den kommenden Mo- Verbindlichkeit in fast allen Ländern der Erde. die Mitgliedsstaaten ver- naten Veranstaltungen und Aktionen statt, die Vertreter der Unterzeichnerstaaten treffen sich al- pflichtet, jeweils natio- auf das Massenaussterben der Arten und den le zwei Jahre an wechselnden Orten zur UN-Ver- nal gültige Biodiversi- unwiederbringlichen Verlust von na- tragsstaatenkonferenz, dem obers- tätsstrategien zu formu- türlichen Lebensräumen aufmerksam ten politischen Ent- lieren. Alle drei Jahre machen. Denn neben der Erderwär- scheidungsgremium müssen die Mitgliedsstaaten einen mung ist der rasant fortschreitende Ver- der CBD. Koordiniert Zustandsbericht über die nationa- lust an biolo- len Bemühungen dem CBD-General- gischer Vielfalt sekretariat die größte öko- vorlegen. logische Her- Mit 15- ausforderung jähriger Ver- im 21. Jahrhun- spätung ist dert. Der ext- Ende 2007 reme Verlust auch die an natürlichen Bundesre- Lebensgrundlagen und Naturressour- gierung ih- cen lässt täglich bis zu 150 Arten von rer Verpflichtung nachgekommen der Erde verschwinden. Sie werden nie und hat ihre „Nationale Strategie zur wieder kommen. biologischen Vielfalt“ verabschiedet. Erstmals wurde 1992 beim Erdgipfel Nun sind sowohl der deutsche Staat, in Rio de Janeiro der Schutz der biolo- wird die die Wirtschaft, als auch die bundesdeutsche Öf- gischen Vielfalt vertraglich auf die Ta- Umset- fentlichkeit gefragt, die nationale Biodiversitäts- gesordnung der Weltpolitik gehoben. zung im strategie umzusetzen. Zu den wichtigsten Zie- Mit dem dort kanadischen Montreal, hier hat len gehören unter anderem die Umsetzung der verabschiede- das UN-Sekretariat der CBD sei- FFH- und Vogelschutzrichtlinien, die Ausweisung ten Überein- nen Hauptsitz. Auf der neunten von Natura-2000-Gebieten, die Präzisierung der kommen über und bisher letzten Konferenz im guten fachlichen Praxis in Land-, Forst- und Fi- die biologische Mai 2008 trafen sich über 4.500 Experten in schereiwirtschaft sowie die Abkopplung des na- Vielfalt (eng- Bonn und diskutierten die Arbeitsschwerpunk- tionalen Wirtschaftswachstums vom Flächenver- lisch: Conven- te, die durch Beschlüsse vorangegangener Ver- brauch. tion on Biolo- tragsstaatenkonferenzen vorgegeben waren. Das Motto des Internationalen Jahres zur Bio- gical Diversity Inhaltliche und thematische Schwerpunk- diversität ist „Biodiversität ist Leben. Biodiversi- [CBD]) wurde ein rechtsverbindliches Vertrags- te der Bonner CBD-Konferenz waren der Schutz tät ist unser Leben“. In diesem Sinne erkannte werk auf den Weg gebracht, dass neben der der Wälder, die Erarbeitung zusätzlicher Finan- Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) Klimarahmenkonvention eines der wichtigsten zierungsmöglichkeiten für den weltweiten Natur- auf der Auftaktveranstaltung Anfang 2010: „Na- internationalen Umweltinstrumente darstellt. schutz, die Errichtung eines weltweiten Netzes turschutz ist kein Luxus. Natur liefert uns Nah- Diese UN-Konvention zur biologischen Vielfalt von Schutzgebieten an Land und auf dem Meer, rung, Wasser und Medikamente. Zerstören wir umfasst drei gleichwertige und einander ergän- aber auch der Zugang zur genetischen Vielfalt die Natur, bringen wir uns um unsere Existenz- zende Ziele: die Erhaltung der biologischen Viel- mit einem materiellen Vorteilsausgleich für die und Wirtschaftsgrundlage.“c Mira Beinert falt, deren nachhaltige Nutzung und die gerechte Herkunftsländer der Naturressourcen und deren TTwww.kurzlink.de/biologische-vielfalt Aufteilung aus der Nutzung genetischer Naturres- Bevölkerung. sourcen. Die biologische Vielfalt, auch Biodiver- Seit der Bonner Konferenz hat Deutschland TTwww.kurzlink.de/nationale-strategie sität genannt, bezeichnet dabei die Vielfalt der den Vorsitz über die Vertragsverhandlungen in- TTwww.geo.de/artenvielfalt Arten und Lebensräume wie auch die genetische ne – für zwei Jahre, denn mit der zehnten CBD- SEITE 4 NATURFREUNDiN 1-2010
titel nen, weshalb meist ein technisch orien- tierter Klimaschutz den Vorzug erhält. interview eWie kann die Erhaltung von biologi- scher Vielfalt zu einer Abmilderung des Klimawandels beitragen? „Intakte Ökosysteme sind Klimaschutz“ Intakte Ökosysteme speichern sehr viel Experte Korn: Die Probleme Artenverlust und Erderwärmung gehören zusammen Kohlenstoff - in der Vegetation, in den Bö- den und im Torf. Werden diese Ökosyste- me durch Entwaldung oder Trockenlegung in ihrer Funktion verändert, werden große eNATURFREUNDiN: Im Dezember haben um neue Produkte und Heilmittel zu ent- Mengen an Treibhausgasen frei. Der Erhalt sich die Staaten der Welt nicht auf ein wickeln. Ohne einen finanziellen Anreiz dieser Lebensräume ist deshalb ein wichti- neues Klimaschutzabkommen einigen für die Entwicklungsländer wird die biolo- ger Beitrag für einen aktiven Klimaschutz. können. Ein Jahr später sollen sie aber ein gische Vielfalt dort nicht zu erhalten sein. eEine radikale Energiewende ist drin- neues Artenschutzabkommen beschließen. eDie Biodiversitätskonvention stammt gend nötig, wenn der globale Tempera- Gibt es auch beim Schutz der Biodiversität aus dem Jahr 1992. Gab es seitdem Fort- turanstieg auf zwei Grad begrenzt Interessengegensätze zwischen Industrie- schritte im Kampf gegen die Zerstörung werden soll. Wo kollidiert dieses Ziel mit ländern, Schwellenländern und Entwick- der Artenvielfalt? dem der Erhaltung der Biodiversität? lungsländern wie beim Klimaschutz? Nein, es ist nicht gelungen, die massive Bei den erneuerbaren Energien liegt das Horst Korn: Auch die Biodiversitätskon- Zerstörung biologischer Vielfalt aufzuhal- größte Konfliktpotenzial im Bio-Energiean- vention hat ihre Konfliktfelder. Da ist zum ten. Aber punktuell gibt es Positives: So bau, da es dort zu einer direkten Flächen- Beispiel die Frage nach der gerechten Auf- hat sich das Netzwerk von Schutzgebie- konkurrenz nicht nur mit der Nahrungs- teilung der Gewinne aus der Nutzung ge- ten erweitert und konsolidiert. In Euro- mittelproduktion, sondern vor allem auch netischer Ressourcen, die immer noch un- pa möchte ich dazu das Stichwort Natura mit dem Naturschutz kommt. Natürliche gelöst ist - seit nun fast 20 Jahren. Viele 2000 nennen. Gefährdete oder in Deutsch- und naturnahe Lebensräume werden gero- tropische Entwicklungsländer sind reich land bereits ausgestorbene Arten wie See- det oder umgebrochen, um Biomasse an- an Arten und somit auch an genetischen adler, Wolf, Kegelrobbe, Lachs oder Stör zubauen. Häufig mit einem enormen Ein- Ressourcen, die aber besonders schnell entwickeln sich erfreulich oder kommen satz von Kunstdüngern und Pestiziden, mit zerstört werden. Genau diese Vielfalt be- zurück. Dies darf aber nicht darüber hin- allen bekannten negativen Begleiterschei- nötigen die Industrieländer für ihre rapide wegtäuschen, dass die weitere Intensivie- nungen. Dies führt zu einem weiteren Ver- wachsende Biotech- und Pharmaindustrie, rung der Landwirtschaft, die Umweltver- lust biologischer Vielfalt und zu einer Ver- schmutzung und der übermäßige Ressour- armung der Landschaft. cenverbrauch die Arten und Lebensräume eWelche Prioritäten sollte ein Verband weiter stark gefährden. Ein guter Indikator wie die NaturFreunde setzen, um einen dafür sind die immer länger werdenden effektiven Beitrag zu einer nachhaltigen „Roten Listen“. Zu all dem Stress, den die Entwicklung zu leisten? Natur schon aushalten muss, kommt nun Die NaturFreunde haben bereits die rich- auch noch der Klimawandel hinzu. tigen Prioritäten, dem ist nichts hinzuzufü- eDer Zusammenhang zwischen Erder- gen. c Interview Eckart Kuhlwein wärmung und Artenvielfalt wird immer stärker sichtbar? Das wechselseitige Verhältnis von Bio- diversität und Klimawandel ist dreifa- cher Art. Erstens wird biologische Vielfalt durch die Erderwärmung beeinflusst, etwa weil Lebensräume wie Wälder oder Moo- re zerstört werden. Diese Vernichtung von Lebensraum setzt zweitens selbst Treib- haugase frei, die das Klima anheizen. Und drittens können Klimaschutzmaßnahmen Zur Person Dr. Horst Korn (55) ist der Leiter der Fachgruppe wie beispielsweise die Kohlenstoffspeiche- Biologische Vielfalt im Bundesamt für Naturschutz rungen in Plantagen oder in der Tiefsee und arbeitet in der Internationalen Naturschutz- die biologische Vielfalt massiv schädigen. akademie auf der Insel Vilm, südlich von Rügen. horst.korn@bfn-vilm.de Der Erhalt intakter oder die Renaturierung degradierter Ökosysteme sind der kosten- günstigste Klimaschutz. Nur ist leider der- ŇMoore Ň sind nicht nur artenreiche Lebens- zeit nicht sehr viel Geld damit zu verdie- räume, sie speichern auch viel Kohlendioxid. 1-2010 NATURFREUNDiN SEITE 5
Titel Wirtschaftsgut BIOLOGISCHE Vielfalt Der Diebstahl an der Natur Biopatente: Wie aus den Bausätzen der Ökosysteme Produkte werden bLange bevor Medikamente künstlich zu- tentamts in München großzügig vieles unter weltstress wie Trockenheit, Hitze, Kälte, Über- sammengebastelt wurden, haben die Menschen Schutz gestellt, was sich Saatgutkonzerne zur schwemmungen oder versalzene Böden ertra- ihre Heilmittel aus Pflanzen und deren Bestand- Profitmaximierung ausgedacht hatten. gen. Die indische Organisation „Navdanya“ kon- teilen gewonnen. Erste Aufzeichnungen darüber Tausende von regionalen Pflanzensorten wur- tert die Kampagne mit der Feststellung: „Die stammen aus Mesopotamien und wurden be- den von wenigen Hochleistungssorten verdrängt Zukunft der Klimaanpassung liegt nicht in gene- reits im Jahr 2.600 vor Christus aufgeschrieben. – in Indien zum Beispiel blieben von 50.000 tisch veränderten Patentpflanzen weniger Kon- Substanzen wurden aus der Zeder, der Zypres- Reissorten ganze 40 übrig. Das war dann auch zerne. Sie liegt in den Händen von Millionen se, der Myrrhe und dem Schlafmohn gewonnen, mit dem entsprechenden Höfesterben verbun- Farmern, die Hunderttausende Sorten klima- um Krankheiten zu heilen. Tausend Jahre später den, weil sehr viele sich das teure Saatgut der resistenter Pflanzen erhalten, verbessern und kannten die Ägypter bereits 700 Arzneistoffe, die Konzerne nicht leisten konnten. Und ob die üb- züchten, Sorten, die besonders an die örtlichen meisten aus Pflanzen. rig gebliebenen Sorten dem Klimawandel ange- Bedingungen und an eine sich verändernde Um- passt werden können, steht in den Sternen. welt angepasst sind.“ Vogelfreie Gen-Sequenzen Dafür kündigen die Saatgutkonzerne jetzt Inzwischen sammeln sich auch in Deutsch- „Ein Zypressenbad löst Krämpfe und mindert an, sie würden mit Hunderten von Patenten land Kräfte, die Biopatenten den Kampf ange- Nervosität“, wusste auch Hildegard von Bin- genetisch veränderte Sorten züchten, die Um- sagt haben. Das Spektrum reicht von der Evan- gen, deren Rezepte aus den Jahren 1.150 bis 1.160 gelischen Kirche (EKD) bis zum Bauernverband. nach Christus noch heute begeisterte Anhänger Hans Diefenbacher, EKD-Umweltbeauftragter er- finden. Aber das Jahrtausende alte Wissen vor klärt, dass gerade angesichts des Klimawandels allem indigener Völker ist inzwischen genauso genetische Ressourcen nicht privatisiert werden vogelfrei geworden wie die Gen-Sequenzen von dürften: „Unsere Nutztiere und Nutzpflanzen Menschen, Tieren und Pflanzen. Wer das Kapi- stammen aus allen Erdteilen. Seit 10.000 Jahren tal hat, um Forschung und Entwicklung zu finan- werden sie gezüchtet. Sie sind ein gemeinsames zieren und entsprechende „Märkte“ zu erschlie- kulturelles Erbe der Menschheit und nicht der ßen, kann sich noch immer aneignen, was auf Privatbesitz einzelner Unternehmen.“ unserem Globus an Besonderheiten zu finden ist. Das gilt für die Eintragung von Biopatenten Patentanwälte und Patentrecht für gentechnisch veränderte Arten, aber auch für Die deutschen Landwirte fürchten vor allem Pro- konventionell gezüchtete Lebewesen oder für bleme für ihre eigenen Züchtungen, wenn dem- den Diebstahl und die Nachzucht von Heilpflan- nächst zum Beispiel auch Schweine aus eigener zen aus Savanne, Urwald oder Meer. Und große Züchtung „patentiert“ werden könnten. Helmut amerikanische Konzerne wie Monsanto, DuPont Born, Generalsekretär des Deutschen Bauernver- und Co. sind genauso dabei wie Bayer und BASF bandes argumentiert: „Es kann nicht sein, dass aus Deutschland. sich einzelne Unternehmen durch Patente Mono- Wenigstens die Nutzung der biologischen Viel- pole auf Pflanzen, Tiere und Züchtungsverfahren falt soll jetzt international geregelt werden: Auf sichern, die Bauern und Züchter seit Generatio- der 10. Vertragsstaatenkonferenz der Biodiver- nen weiterentwickelt haben.“ Die Landwirte sor- sitäts-Konvention im Mai 2008 in Bonn wurde gen sich zunehmend darum, dass durch Patente ein konkreter Fahrplan beschlossen. In diesem der Zugang zum weltweiten Genpool erschwert Jahr soll in Japan ein internationales „Regime“ würde und Züchter ständig Patentanwälte kon- beschlossen werden, mit dem die Herkunftslän- sultieren und über Lizenzvergaben verhandeln der biologischer Ressourcen die Chance bekom- müssten. men, einen gerechten Vorteilsausgleich zu erhal- Immerhin haben die Sorgen bei der schwarz- ten und gegen Biopiraterie vorgehen zu können. gelben Bundesregierung Gehör gefunden: Im Man darf gespannt sein, ob diese Länder danach Koalitionsvertrag heißt es: „Unabhängig vom ausreichend entschädigt werden. Schutz des geistigen Eigentums wollen wir auf Für die Aneignung von genetischen Ressour- landwirtschaftliche Nutztiere und –pflanzen kein cen indes ist noch keine Lösung in Sicht. Nach Patentrecht.“ Man darf gespannt sein, ob und amerikanischem Vorbild haben die EU-Patent- ŇSoll Ň sich auch patentieren lassen: wie sich die Merkels und die Aigners damit in richtlinie und die Praxis des Europäischen Pa- das deutsche Hausschwein. Brüssel durchsetzen.c Eckart Kuhlwein SEITE 6 NATURFREUNDiN 1-2010
Titel Wohlfühlgut biologische Vielfalt Ein Zufluchtsort für die Gedanken Biologische Diversität ist die Grundlage für faszinierende Wechselwirkungen bOb nun Politiker ihre Beiträge zum Schutz in unseren Breiten wesentlich vom Menschen senknopfs nicht abschließen. Unterbleibt die der biologischen Vielfalt rühmen oder Touris- mitgestaltet. Sie ist ein Teil unserer Identität, ist Mahd, werden der Große Wiesenknopf und die musregionen den Begriff im Marketing einsetzen: Teil unserer Erinnerungen und ein Zufluchtsort anderen Wiesenpflanzen im Laufe der Zeit von Biodiversität oder biologische Vielfalt sind längst für unsere Gedanken in einer immer mehr von Gehölzen verdrängt. Und werden die Wiesen zu Modewörtern geworden, mit denen um Sym- Technik dominierten Welt. Sie steht für die Viel- entwässert und intensiviert, weichen die bun- pathie geworben wird. Doch geht es um kon- falt und Schönheit der Natur, für intensive Er- ten Wiesenpflanzen bald einem monotonen Ein- krete Maßnahmen zum Schutz der biologischen lebnisse, die unseren Alltag bereichern, für ei- heitsgrün, in dem man vergeblich nach Schmet- Vielfalt, werden die Stimmen rasch leiser. Und ne Quelle der Inspiration, nicht nur für Künstler, terlingen Ausschau halten wird. immer wieder taucht die Frage nach dem Sinn sondern auch für das Leben jedes Einzelnen. Die Natura Trails der NaturFreunde erzählen der biologischen Vielfalt auf – und ob ihr Erhalt Biodiversität ist die Grundlage für faszinie- Geschichten wie diese, sie wollen biologische Viel- den großen Aufwand überhaupt wert ist. rende Wechselwirkungen zwischen den einzel- falt erlebbar machen und tragen so dazu bei, die Seit Jahren versuchen Natur- und Umwelt- nen Arten. Jede Art besetzt ihre eigene Nische, Menschen für die Naturschätze ihrer Umgebung zu schützer, die hohe Bedeutung der Biodiversität hat ihre eigene Aufgabe im Zyklus des Lebens, begeistern. Handliche Flyer dienen dabei als Weg- zu vermitteln. Tatsächlich bleibt in den Köpfen ihre eigene Geschichte, die uns fasziniert und weiser für Wanderungen oder Radtouren durch be- auch vieles haften: Die biologische Vielfalt ist für die Natur begeistert. Geschichten, die je- sonders geeignete Schutzgebiete, die mit öffentli- ŇSeine Ň ersten Lebenswochen als Raupe verbringt der Helle Wiesenknopf-Ameisenbläuling (rechts) in der Blüte des Großen Wiesenknopfs (mitte). die Grundlage unseres Lebens, elementarer Fak- doch erst erzählt werden müssen, wie etwa je- chen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad um- tor für Nahrung, Kleidung, Medikamente und ne rund um den Hellen Wiesenknopf-Ameisen- weltschonend erreicht werden können. Baustoffe oder mildernd bei Umweltkatastro- bläuling, der in blumenreichen Feuchtwiesen Um Natur zu erleben, braucht es keiner wei- phen. Und sie ist von großer Bedeutung im Kli- seinen Lebensraum findet. Dort wächst mit dem ten Reisen. Vielfach finden sich die Schätze der mawandel, können sich doch vielfältige Öko- Großen Wiesenknopf eine eher unauffällige Blü- Natur auch vor der Haustür. Selbst in der Groß- systeme wesentlich leichter auf Veränderungen tenpflanze, die für den kleinen Falter von essen- stadt gibt es Refugien wie Parks, Gärten oder einstellen. Dennoch bleibt Biodiversität für viele zieller Bedeutung ist: Die Weibchen des Wiesen- Friedhöfe, wo wir die Phänomene der Natur be- ein abstrakter Begriff. Und bei vielen Menschen knopf-Ameisenbläulings legen ihre Eier nämlich obachten können. Und außerhalb der Städte die Frage, ob wirklich Millionen von Arten nötig ausschließlich in den Blüten dieser Pflanze ab, warten vielfältige Landschaften darauf erlebt zu sind, um unsere Lebensqualität zu sichern. in denen auch die Raupen ihre ersten Lebens- werden. Gelingt es uns wieder, unseren Blick für So richtig die angeführten Argumente auch wochen verbringen. Gegen Ende des Sommers die Schönheiten der Natur zu schärfen und uns sind, geht in den Diskussionen rund um die Be- verlassen die Raupen die Pflanze, lassen sich zu an der bunten Vielfalt rund um uns zu erfreuen, deutung der biologischen Vielfalt oft ihr ästheti- Boden fallen und locken mit süßlichen Duftstof- so gewinnen wir damit auch ein bisschen mehr scher und kultureller Wert verloren. Biodiversi- fen bestimmte Ameisenarten an. Die Ameisen an Lebensfreude. Und alleine das sollte doch tät ist weit mehr als eine abstrakte Grundlage tragen die Raupen als vermeintliche Nahrungs- als Argument genügen, um die biologische Viel- für die Leistungen der Ökosysteme. Sie ist das spender in ihren Bau, wo die Raupen den Spieß falt auch für unsere Kinder und Enkelkinder zu Leben um uns, die bunte Blumenwiese, das Ge- umdrehen und sich von den Larven der Ameisen bewahren.c Andrea Lichtenecker zirpe der Grillen in einer lauen Sommernacht, ernähren. Stellvertretende Geschäftsführerin der Naturfreunde Internationale eine Erinnerung an unsere Kindheit, an Schmet- Eine zentrale Rolle spielt dabei die bäuerliche terlinge, Vogelgezwitscher und den kleinen Bach, Bewirtschaftung der Wiesen: Werden die Wiesen TTwww.naturatrails.net an dem wir in den Ferien spielten. Biodiversi- im Hochsommer gemäht, können die Raupen ih- TTwww.natura-trails.naturfreunde.de tät, wie wir sie heute vorfinden, ist zumindest re Entwicklung in den Blüten des Großen Wie- 1-2010 NATURFREUNDiN SEITE 7
Titel schweifen: Auch in Deutschland ist es um die Natur nicht gut bestellt. Nach Aussage der neu- esten Roten Liste des Bundesamtes für Natur- Bilanz schutz sind 72 Prozent aller bundesdeutschen Lebensräume bedroht oder stehen kurz vor der Vernichtung. Von den einheimischen Tierarten Anspruch und Wirklichkeit: das 2010-Ziel sind 35 Prozent und von den Pflanzenarten 26 Im Herbst wird die Weltgemeinschaft Bilanz ziehen – und sich neue Ziele stecken Prozent bestandsgefährdet. Vorangetrieben durch die Europäische Uni- on hat sich 2002 die Weltgemeinschaft auf der bDer Ort war trefflich gewählt: Bundeskanz- rten aus. Experten schätzen die tatsächliche A 6. Biodiversitätskonferenz auf das ambitionierte lerin Angela Merkel eröffnete im Dinosauriersaal Artenvielfalt um das Zehnfache höher. Die Welt- Ziel geeinigt, den Verlust der biologischen Viel- des Berliner Naturkunde Museums Anfang Janu- naturschutzunion (IUCN) hat eine Rote Liste der falt bis zum Jahr 2010 deutlich zu reduzieren. In ar das Internationale Jahr der Biodiversität. Ein bedrohten Arten erstellt. Darin sind rund 17.000 einem Strategieplan der Vereinten Nationen zum Jahr der Bilanzen: Vor rund zehn Jahren einig- Arten akut vom Aussterben bedroht. Diese Zahl sogenannten 2010-Ziel wird seitdem gefordert, te sich die Staatengemeinschaft auf das ambitio- erscheint auf den ersten Blick gering, bedenklich den Verlust an Biodiversität zu verlangsamen, nierte Ziel, den weltweiten Schwund an Lebens- ist jedoch der potenzielle Verlust für die Mensch- beziehungsweise gänzlich zu stoppen. räumen, Tier- und Pflanzenarten zu stoppen. heit, wie folgende Beispiele zeigen: Ziele braucht man, an Zielen orientiert sich Trotz kleiner Erfolge ist die Natur aber welt- Der australische Magenbrüterfrosch brütete das Handeln. Auch für die Weltgemeinschaft un- weit kränker als je zuvor. Die Globalisierung, seinen Nachwuchs im Magen aus. Ein Sekret des ter dem Dach der Vereinten Nationen gilt dieses. die Wachstumsgläubigkeit der Wirtschaft und Muttertieres verhinderte, dass die jungen Kaul- Dennoch steht fest, dass die Staaten versagt ha- die modernen Lebensstile fordern ihren Preis. quappen von den Magensäuren und Enzymen ben. Jeden Tag verschwinden nach UN-Angaben Derzeit spielt sich weltweit das größte Massen- zersetzt werden. Erste wissenschaftliche Unter- zwischen 50 und 150 Arten von der Erde. Die sterben ab, seit die Dinosaurier vor 65 Millio- suchungen nährten die Hoffnung auf ein neu- Folgen sind allgegenwärtig: Die Natur verarmt, nen Jahren von der Erdoberfläche verschwun- es Medikament gegen Magengeschwüre. Doch die natürlichen Lebensgrundlagen vieler Men- den sind. Doch im Vergleich zu damals ist nicht dieses Medikament konnte nie erstellt werden: schen sind massiv bedroht, Naturkatastrophen ein Meteorit hierfür verantwortlich, sondern der Bevor das Phänomen abschließend untersucht nehmen kontinuierlich zu und die Zahl der Um- Mensch. Keine andere Spezies auf der Erde prägt werden konnte, waren alle vorkommenden Ma- weltflüchtlinge steigt ständig. Das 2010-Ziel ist die natürlichen Lebensgrundlagen so sehr wie genbrüterarten ausgestorben. bei weitem nicht erreicht worden. der Homo sapiens. Ein anderes Beispiel: Korallenriffe sind natür- Im Herbst dieses Jahres treffen sich erneut Jedes weitere Jahr dieser ungebremsten Na- liche Wellenbrecher. Sie mindern bei Sturmflu- Experten und Politiker, um über das 2010-Ziel zu turzerstörung kostet die Weltwirtschaft 250 Mil- ten die zerstörerische Kraft der Wassermassen. diskutieren. Auf der 10. Biodiversitätskonferenz liarden US-Dollar - zusätzlich zu der unwieder- In der hurrikangefährdeten Karibik sind bereits in Japan wird Bilanz gezogen. Weltweit herrscht bringlichen Vernichtung von Ökosystemen und 80 Prozent der Korallenriffe zerstört. Hauptursa- schon jetzt die Einsicht, dass der Verlust der Arten, die die Existenz- und Wirtschaftsgrundla- che ist das Kohlendioxid (CO2): Es zerstört die Biodiversität nicht genügend reduziert werden ge der gesamten Menschheit sind. Die aktuelle Kalkbildner. Bei gleichbleibendem CO2-Ausstoß konnte. Neue Ziele sollen beschlossen werden, Rate des weltweiten Artensterbens übersteigt die werden die Korallenriffe in den nächsten Jahr- das Artensterben dann bis zum Jahr 2020 ge- angenommene natürliche Aussterberate um das zehnten völlig abgestorben sein. stoppt sein. Oder vielleicht doch erst im Jahre Hundert- bis Tausendfache. Doch es ist nicht 2050? Falls es dann überhaupt noch biologische Es gibt keine konkreten Zahlen, wie viele Ar- nötig, in die Vielfalt gibt, die zerstört werden könnte.c ten auf der Erde tatsächlich existieren, vieles ist Ferne zu Mira Beinert noch unerforscht. Dennoch gehen Wissenschaft- TTMehr Informationen im Internet ler von rund zwei Millionen weltweit beschrie- www.countdown2010.net · www.iucn.org benen www.biodiversitaetsinfo.de · www.bfn.de ŇDie Ň farbenprächtige Perleidechse ist bei Reptilienhaltern sehr beliebt und wird gehandelt. Die Bundesartenschutzverordnung schreibt Haltern einen Herkunftsnachweis vor. SEITE 8 NATURFREUNDiN 1-2010
thema Regionalentwicklung Ein Karussell gegen den Teufelskreis Wie Kunst in einem italienischen Nationalpark eine ganze Region aufwerten soll bDie Hochebenen erinnern an die schot- zende Aktionen, zum Beispiel Weiterbildungen können. „Die künstlerische Fantasie träumt die tischen Highlands, die Weideflächen an Almen für Gästebegleiter und kulturelle Vereine, Schul- Natur weiter. Doch sie zerstört nicht, wie sonst, in den Alpen. Dabei liegt das Pollino-Massiv mit projekte, kulturelle Begegnungen, Seminare – wenn der Mensch in die Natur eingreift“, so fünf Zweitausendern in der süditalienischen Re- und ein Theaterworkshop, der Bewohnern und Nils-Udo. gion Basilikata, genau über der Spitze des italie- Gästen durch erzählte Geschichten die Region Das Konzept des Projektes sieht vor, dass nischen „Stiefels“. Rund 30 Apenninwölfe leben Kunst nicht nur in den naturbelassenen Gebie- hier, dazu Geier und Königsadler. Viele Wasser- ten des Nationalparks stattfindet, sondern fort- läufe bieten ideale Lebensbedingungen für Berg- schreitend auch in den Städten und Dörfern. forelle, Fischotter oder Brillensalamander. Denn gerade dort, wo die Menschen leben und Geschützt wird diese Natur vom Pollino-Nati- arbeiten, sollen gemeinsam über realistische onalpark. Der ist mit fast 2.000 Quadratkilome- Modelle von Fortschritt nachgedacht und neue tern zwar das größte italienische Schutzgebiet, Wege erprobt werden. doch bei nur circa 10.000 Besuchern jährlich Es sei wichtig, „dass die vorhandenen Werte nicht gerade das bestbesuchteste. und Traditionen nicht einfach bewahrt werden, Dabei hätte die Region eine Fülle von Reizen sondern sich mit der Zeit verändern und weiter- zu bieten: Produkte aus der Landwirtschaft, die entwickeln können - und damit zukunftsfähig regionale Küche mit hohem Qualitätsanspruch werden“, so Lorenzo Canova, einer der Initiato- und Einfallsreichtum, das breit gefächerte Kul- ren des Projektes aus dem Entwicklungsministe- turleben mit weit zurückreichender Geschichte. rium in Rom. Doch weil andere Perspektiven bisher im Polli- no-Nationalpark fehlen, sehen junge Menschen Orchideen und Panzerkiefern keine Zukunft mehr, wandern ab, Investoren ver- In diesem Jahr sollen rund um die Landschafts- missen Kaufkraft in den Tälern, die Dörfer ster- objekte Wanderwege angelegt und touristische ben langsam aus und die Region versinkt im Programme entwickelt werden. Schon jetzt füh- Dornröschenschlaf. ren Nationalparkführer Touristen über alte Maul- Wie so oft bei dieser Art Teufelskreis fehlte es tierpfade, gemeinsam entdecken sie am Weges- auch hier bisher an einer Strategie, einem Pro- rand Heilkräuter, wilde Orchideen oder prächti- jekt, einem Anlass, sich gemeinsam nach Lösun- ger Panzerkiefern. gen umzusehen für einen neuen Anfang. „Arte- Im neuen volkskundlichen Museum bleiben Pollino – ein anderer Süden“ soll denn nun die die Traditionen anschaulich. Es dokumentiert Lösung heißen. Dahinter verbirgt sich weit mehr zum Beispiel die Herstellung von Kleiderstoffen als ein Marketing-Slogan, denn jetzt wirkt ein aus Ginsterfasern. Diese aufwendige handwerkli- ganzheitliches Konzept, das auf Kunst als Motor che Arbeitsweise wurde vor 30 Jahren eingestellt. regionaler Erneuerung baut. Jetzt entwickelt die finnische ArtePollino-Künstle- rin Anni Rapinoja ihre Textilkunst aus dem alten Erdkino und Pflanzentheater Stoff. Die Kooperation mit den Frauen im Dorf ist In einem ersten Schritt schufen international herzlich und trägt erste Früchte. Damit wachsen bekannte Vertreter zeitgenössischer Kunst wie auch Vertrauen und Hoffnung. Vermag die Kunst Anish Kapoor, Giuseppe Penone oder Carsten tatsächlich der Region neue Impulse zu geben Höller im Nationalpark dauerhafte Naturkunst- und die Abwanderung zu stoppen? Erste Anzei- werke: Kapoor grub ein „Earth Cinema“ (Erdki- ŇPanzerkiefer Ň im Pollino-Massiv, die man chen sprechen dafür.c Lothar Wilhelm no), Penone baute ein „Pflanzentheater“, Höller vom Karussel (Foto oben) aber nicht sieht. stellte ein echtes „Karussell“ auf einen Hügel. TTwww.artepollinobasilicata.it (englisch) Besucher können nun durch die Lüfte schweben, näher bringen will. Auch der deutsche Land- TTKatharina Trabert ist die deutschsprachige Koordina- eine Umdrehung dauert rund zwölf Minuten: ge- schaftskünstler Nils-Udo will die Natur nicht in- torin von Kultur-Initativen vor Ort: 0039 0348 641 73 51 · katharina.trabert@gmail.com nug Zeit für einen Blick in die Zukunft. szenieren. Sein im Frühling entstehendes Kunst- Ist das nun abgehobene Kunst, die die Na- werk soll vielmehr die Sinne sensibilisieren, TTReisen mit Zugang zur Koch- und bildenden Kunst: (0511) 213 73 75 · www.siabella.de tur inszeniert? Alle Arbeiten sind gewisserma- sodass Betrachter nach einem ersten Blick tie- ßen geerdet: In den Gemeinden gibt es ergän- fer in Landschaftszusammenhänge eintauchen 1-2010 NATURFREUNDiN SEITE 9
Thema Heizen und Klimakonferenz Warmwasser 1,97 Tonnen CO² Nach der Konferenz ist vor der Konferenz Davon entfallen auf: Gas: 865,7 kg Warum 2010 zum Schicksalsjahr des Kapitalismus werden wird Heizöl: 677,8 kg Strom: 287,7 kg Fernwärme: 67 kg b„Der Klimagipfel von Kopenhagen ist gran- nach Kopenhagen gereist. Eine Auswahl von dios gescheitert. Im letzten Kompromissentwurf ihnen, die Mächtigsten, hatten sich stunden- war noch nicht einmal mehr das Ziel zu finden, lang über den Text gebeugt, Textarbeit betrie- bis 2010 einen rechtlich verbindlichen Klimaver- ben (was es so wohl noch nie in der Historie trag auszuarbeiten.“ Diese Kritik stammt nicht gab). Und doch sind sie gescheitert. etwa von Klimaschützern. Nicht vom Inselstaat Tuvalu, der im Stillen Ozean gegen sein Absau- Vielleicht weil sie scheitern mussten? fen kämpft. Diese Kritik stammt auch nicht von Auf Klimakonferenzen wird nicht über die Er- den Grünen. Nein, dies sind Worte aus dem ma- derwärmung verhandelt, denn die Erderwär- nager magazin, dessen Lesern die Erderwär- mung ist Wissenschaft. Auf den Klimakonfe- mung lange als kommunistische Verschwörung renzen geht es um Wirtschaftsmacht, um he- gegen das heilsbringende Wirken des Kapitalis- gemoniale Interessen, schlicht um die Zukunft mus galt. Dieses von Managern zu lesende Ma- des Kapitalismus. Denn die Wissenschaft sagt: öffentliche gazin resümiert jetzt: Kopenhagen sei „erbärm- Die Emissionen müssen runter. Die Politik muss Dienstleistung lich gescheitert“. aber die Frage beantworten: Wer fängt damit an. 1,24 t CO² Und solange Wirtschaftswachstum noch gleich- Die Vorgeschichte: bedeutend mit der Verbrennung fossiler Energie- Davon entfallen auf: Kyoto, Montreal, Bali, Kopenhagen träger ist, zeigt jeder mit dem Finger auf die an- Gesundheits- und Zwei Jahre hatten sie vorverhandelt: Im Dezem- deren: Die EU will ihr Klimaziel nur dann ehrgei- Sozialwesen: 397 kg ber 2005 beschloss die Klimakonferenz in Mon- zig ausgestalten, wenn auch die USA reduzieren, Verwaltung, treal, neue Verhandlungen für ein Kyoto-II-Ab- die wiederum nur zu eigenen Bemühungen bereit Bundeswehr: 360 kg Bildung: 198 kg kommen zu beginnen. Im Dezember 2006 konn- ist, wenn China mitmacht, was die Chinesen wie- te sich die Klimakonferenz in Nairobi noch nicht derum ablehnen, weil schließlich 80 Prozent des dazu durchringen, die Verhandlungen darüber Treibhausgases in der Atmosphäre aus Schloten abzuschließen, wie denn neue Verhandlungen Europas oder Nordamerikas stammt, weshalb ja aussehen sollen - erst 2007 gelang das auf Bali: China nun nur gerechterweise „gleichziehen kön- Die Welt beschloss neue Verhandlungen aufzu- nen darf“, seitdem sie Exportweltmeister sind Das liegt einerseits am Problem: Die Erder- nehmen, um 2009 in Kopenhagen ein neues Kli- (und das selbstredend auch bleiben wollen). wärmung verläuft wesentlich rasanter als noch maschutzabkommen abzuschließen. Nun ist es soweit: Mit der Klimakonferenz in vor drei Jahren vom Weltklimarat IPCC prognos- Dutzende Vorkonferenzen hatten sie abgehal- Bonn im Juni dieses Jahres beginnt das finale tiziert. Andererseits liegt das an der Struktur: Die ten in Bangkok, Paris, in Barcelona, Bonn oder Verhandlungsjahr für den Kapitalismus. Es en- Betriebswirtschaft des Kapitalismus hat die At- auf Hawaii. Hundertfach hatten sie in ihren Re- det am 11. Dezember im mexikanischen Cancún: mosphäre als „öffentliches Gut“ eingestuft. Je- den betont, „jetzt“ zu „handeln“, weil „keine Wird auch 2010 kein Post-Kyoto-Protokoll gefun- der kann sie uneingeschränkt nutzen – auch als Zeit“ mehr sei. 119 Staatschefs waren schließlich den, ist der Kapitalismus am Ende. Müllkippe für Treibhausgase. War die Wissenschaft Mitte des vergangen- Emissionen im Ländervergleich en Jahrzehnts noch der Meinung, im Jahr 2020 Wieviel Tonnen CO² jeder Einwohner im Jahr produziert müsste der Treibhausgas-Ausstoß um 25 bis 40 Australien Prozent unter dem des Jahres 1990 liegen, so Deutschland Belgien Italien heißt es nun immer häufiger, die Emissionen Schweden Indien 21,0 t müssten um mindestens 30 Prozent gesenkt 7,9 t 11,0 t 13,9 t 1,2 t 6,3 t werden. In der Realität aber steigen und steigen Katar und steigen sie – trotz Kyoto-Protokoll. Heute lie- 70,6 t gen sie schon 40 Prozent über dem Ausstoß von 0,1 t 4,8 t 6,4 t 1990. 9,3 t Äthiopien 11,8 t Natürlich haben auch die Kapitalisten das 19,9 t China Problem analysiert – und einen Ausweg gefun- Frankreich den: Mit dem Kyoto-Protokoll wurde die Idee Großbritannien des Kohlenstoff-Handels eingeführt. In Gedan- Russland ken wurde die Erdatmosphäre in kleine Stück- USA SEITE 10 NATURFREUNDiN 1-2010
Thema Konsum 2,75 Tonnen CO² ŇŇ Das sind die „Klimaschuld-Rucksäcke“, die der statisti- Davon entfallen auf: sche Durchschnittsdeutsche jedes Jahr verursacht. Er ist Groß- und Einzelhandel: 460,5 kg 42,6 Jahre alt, 1,78 Meter groß, 82,4 Kilo schwer und Hotel-, Gaststättenbesuch: 258,7 kg verdient brutto 3.702 Euro im Monat. Sie hingegen ist 45,2 Bekleidung: 211,5 kg Jahre alt, 1,65 Meter groß, 67,5 Kilo schwer und verdient Abwasser-, Abfallbeseitigung: 148,1 kg 2.793 Euro. Beide wohnen auf 90,2 Quadratmetern, Möbel, Schmuck, Spielzeug: 85,6 kg arbeiteten 30,3 Stunden pro Woche. Ermittelt hat diese Bücher, Zeitungen, Druckerzeugnisse: 84,5 kg Werte das Institut für Energie und Umweltforschung im Sport, Kultur, Unterhaltung: 81,2 kg Medikamente: 48 kg Auftrag des Bundesumweltamtes. Ernährung 1,65 Tonnen CO² Davon entfallen auf: Milchprodukte: 644 kg Fleisch: 429 kg Transport: 132 kg Verkehr Backwaren: 116 kg 2,52 Tonnen CO² Obst: 99 kg Kalte Getränke: 66 kg Davon entfallen auf: Süßwaren: 50 kg Auto, Motorrad: 1,56 t Gemüse: 17 kg Flugzeug: 850 kg Bahn, ÖPNV: 110 kg Strom 0,75 t CO² Kühlen, gefrieren: 217,5 kg Kochen, bügeln: 142,5 kg Waschmaschine, Geschirrspüler: 172,5 kg Fernseher, Computer, Telefon, etc.: 90 kg Licht: 75 kg chen aufgeteilt, und man braucht eine Aktie Dank des Kyoto-Protokolls sollen nun welt- Ohne eine zweite Handelsperiode werden schon – das sogenannte Zertifikat – damit man auf weit Zertifikate für das bislang freie Umweltgut in der ersten die Marktpreise einbrechen. Ohne jeweils einem Stückchen seinen Kohlendioxid- „Atmosphäre“ verteilt werden. Die Reduktions- eine zweite Handelsperiode werden die Staaten Müll abladen darf. Die EU praktiziert diese Idee menge in der ersten Handelsperiode bis Ende schon in der ersten ihre Ziele verfehlen (festge- bereits seit 2005: Und Jahr für Jahr wird die Ge- 2012 ist klar: Die Industriestaaten müssen ihren legt wurde, wer sein Ziel in der ersten Handels- samtmenge der ausgegebenen Zertifikate verrin- Ausstoß um 5,2 Prozent gegenüber 1990 senken. periode nicht schafft, muss sein Soll in der zwei- gert und damit die Atmosphäre entlastet. Der In Kopenhagen wurde nun über die zweite ten Handelsperiode um das 1,3-fache erfüllen). marktwirtschaftliche Clou am System: Die Un- Handelsperiode unter dem Kyoto-Protokoll ver- Ohne eine zweite Handelsperiode geht der welt- ternehmen dürfen ihre Zertifikate untereinander handelt. Wie wir wissen: ergebnislos. Die zwei- weite Klimaschutz zurück auf das Niveau des tauschen. Wenn ein Unternehmen mehr Koh- te Handelsperiode muss am 1. Januar 2013 be- Jahres 1997. lendioxid ausstoßen will, als es Zertifikate ab- ginnen. Einigt sich die Klimakonferenz in Mexiko Damals hatte die Welt 30 Prozent weniger bekommen hat, kann es anderen Firmen deren nicht, wer wie viele Reduktionen erbringt, ist die Treibhausgase verursacht und 13 Jahre mehr Zeit Emissionsrechte abkaufen. kapitalistische Art das Klima zu retten am Ende. zum Umsteuern.c Nick Reimer 1-2010 NATURFREUNDiN SEITE 11
Thema Aussichtslosigkeit erkennen Jeder politisch interessierte Mensch in un- Debattieren serem Land kann doch mittlerweile fest- stellen, dass unsere Anstrengungen seit fünf bis sechs Jahrzehnten ins Leere laufen. So sollten wir in Zukunft leben Nach langen Arbeitskämpfen in den 50er Sechs Beiträge von sechs NaturFreunden zur Frage der nachhaltigen Entwicklung und 60er Jahren um Lohnerhöhungen von mickrigen zwei, drei oder vier Prozent wer- den heute ganze Abteilungen gezwungen, auf 20 Prozent Lohn zu verzichten. Die Ge- Mehr Nächstenliebe Vom Extremen zum Normalen werkschaften sind heute viel zu schwach. Wir müssen davon ausgehen, dass das Warum bekommen die Menschen heu- Solange dieses kapitalistische System Wachstum der Erdbevölkerung nicht un- te immer später Kinder – oder überhaupt existiert, wird aber niemand die Zerstö- ablässig weitergehen kann, wenn nicht nicht mehr? Eine Familie braucht Sicher- rung unserer Lebensgrundlagen abwen- schon bald größere Verteilungskämpfe heit, die Arbeitsplätze aber sind unsicher, den können. Aus meiner Sicht ist unser drohen sollen. Unser gemeinsames Über- manchmal auch nur geliehen, die Bedin- immerwährender Kampf für eine bessere leben wird von einem Erstarken der in uns gungen ändern sich ständig und Kinder Welt ziemlich aussichtslos. angelegten Eigenschaften wie Nächstenlie- gelten als Karrierehemmnis. Später fin- Lorenz Pons Walldorf be, Zusammengehörigkeitsgefühl, Freude den sie keinen Ausbildungsplatz. Die Ge- an der Schöpfung und nicht zuletzt der So- sellschaft muss eine andere Einstellung lidarität abhängen. gegenüber der Familie und jungen Men- Ein gemeinsamer Weg aller Menschen schen gewinnen. Soziales Wirtschaftswachstum in die Zukunft kehrt ab von der quantita- Bei einem Nachdenken über die Zu- Was die Bundesregierung mit Wachstum tiven Wachstumsideologie, bedeutet weni- kunft geht es vor allem um ein Umdenken, meint, dürfte nach der Abwrackprämie ger Arbeit für alle, dafür keinen Ausschluss besonders in diese drei Richtungen: vom kaum ein Geheimnis sein: Ein Wachstum, mehr vom Erwerbsleben, setzt auf Einkom- „entweder, oder“ zum „sowohl, als auch“, das Mensch, Natur und Gesellschaft kei- mensgrenzen gegen das Erodieren demo- vom „weiter so durch Wachstum“ zur „Si- neswegs brauchen. Doch das Wirtschafts- kratischer Systeme, erschwert „anonyme cherung in höherer Qualität“ und vom wachstum generell zu verteufeln, ist nicht Ausbeutung“ durch mehr Regionalität und „Extremen“ zum „Normalen“. vereinbar mit der gesamten bisherigen rechnet allen menschlichen Aktivitäten die Siegfried Zoll Gotha Menschheitsentwicklung. Es ist die kapi- entsprechenden Umweltkosten an. talistische Wachstumsideologie, die vor- Günther Urban Weilheim/Oberbayern rangig der Profitmaximierung dient, deren Grenzen immer erschreckender sichtbar Erfolg anders messen werden. Wie könnten wir ein sozial deter- Aufruf Die hergestellten Waren und Dienst- miniertes Wirtschaftswachstum ablehnen, leistungen, deren Wert das Wirtschafts- das die wachsende Kluft zwischen Arm wachstum beeinflussen, können sich um- und Reich überbrücken und unsere Welt Leben ohne Wachstum weltpolitisch positiv, negativ oder neutral und Natur für kommende Generationen auswirken. Eine Begrenzung des Wirt- erhalten will? Roland Winkler Remseck schaftswachstums allein ist deshalb kein Wie können wir in Zukunft leben? Gute Garant für eine bessere Umwelt- und Le- Frage, die die beiden NaturFreunde-Vor- bensqualität. stände Michael Müller und Eckart Kuhl- Das Ziel sollte eine Abkehr von der bis- Massentierhaltung vermeiden wein am Ende des vergangenen Jahr- herigen Wachstumsmessung der erzeug- Die zukünftige Ernährung der Weltbevöl- zehnts in der NATURFREUNDiN stellten. ten Güter und Dienstleistungen (Gier-Öko- kerung bedarf einer dringenden Verän- Gute Antworten gibt es hier zu lesen: ei- nomie) sein. Stattdessen ist der Erfolg derung, sind doch allein Umweltschäden ne (gekürzte) Auswahl der Zuschriften an der Wirtschaftspolitik stärker zu orien- und Ressourcenverschwendung durch die unser Magazin. Damit ist die Debatte er- tieren an Größen wie etwa der Zahl der Massentierhaltung schon unübersehbar: öffnet: Schreiben Sie uns, was getan wer- Arbeitslosen, der Entwicklung des realen Ein Mastochse braucht bis zur Schlach- den muss, damit es ein Leben ohne Wirt- Prokopfeinkommens verteilt auf die ver- tung so viel Wasser, dass ein Zerstörer da- schaftswachstum geben kann. Schreiben schiedenen Einkommensschichten, der rin schwimmen könnte, ein Rind hat eine Sie uns Ihre Ideen, wie soziale Gerechtig- Veränderungen von Luft-, Wasser- und Bo- ähnliche Treibhausbelastung wie ein Kat- keit auch ohne Wachstum möglich ist. denqualität, der Größe von Landschafts- Auto (Methan), Böden und Grundwasser schutz- und Erholungsgebieten, der Er- werden durch den gigantischen Gülleaus- TTSchreiben Sie an haltung von seltenen Tieren und Pflanzen stoß der Massentierhaltung vergiftet und NATURFREUNDiN · Warschauer Str. 58a 10243 Berlin · Debatte2010@naturfreunde.de und der Verbesserung von Schul- und Be- die Krankheitskosten durch den Fleisch- rufsausbildung. Winfried PlaSS Kaufering verzehr explodieren. Ruth Kneisel Plauen SEITE 12 NATURFREUNDiN 1-2010
Thema mik, in den Industrie- wie in den Schwellenlän- dern. Dort gewann das alte Konzept der „nach- holenden Entwicklung“ mit neuer Macht die Leitbild-Debatte Oberhand. Das Aufflammen eines religiös ka- schierten fundamentalistischen Terrors hat der Westen mit den alten militärischen Strategien Alle reden von Nachhaltigkeit des „war on terror“ beantwortet, nicht mit Ange- NaturFreund Willy Brandt verstand darunter die Chance auf eine neue Zivilisation boten zu einer nachhaltigen Entwicklung. Heute ist das Versagen der alten Rezepte offenkundig. Trotz aller Rückschläge hat sich in den ver- b„Keep the oil in the soil“ (deutsch: Lasst Kommission. Der „Brandt-Report“ warnte vor ei- gangenen Jahrzehnten ein gewaltiger Vorrat an das Erdöl in der Erde) ist die Losung einer ecu- ner nicht wiedergutzumachenden Zerstörung der Wissen, an Bewusstsein und an gemeinsam ge- adorianischen Graswurzel-Initiative, die das Bio- Ökosysteme und - schon 1980 - vor Klimaverän- teilten Wertvorstellungen angesammelt. Konst- sphärenreservat Yasuní im Amazonasbecken vor derungen mit potenziell katastrophalen Folgen. ruktives braucht Zeit. Komplementär zur Erdpoli- dem Zugriff der Ölkonzerne verteidigt. Der wert- Er mahnte, von der ständigen Verwechslung zwi- tik entfaltet sich eine vielgestaltige Mikropolitik. volle Hort der biologischen Vielfalt ist Heimat ei- schen Wachstum und Entwicklung wegzukom- Als Leitbild für die Gestaltung der Nahräume ist nes Indianerstammes und gleichzeitig riesige Öl- men. Er entwarf die Vision von einem - wört- Nachhaltigkeit weltweit im Trend. Das fängt bei lagerstätte. Nachhaltiges Handeln bedeutet hier: lich - nachhaltigen Wohlstand, der sich nicht der Veränderung des eigenen Lebensstils an und auf Ausplünderung verzichten, Kontaminierung im Wachstum von Produktion und Konsum er- setzt sich mit der Übernahme von Verantwor- verhindern, Klima schützen, die Integrität von schöpft, sondern an den Grundbedürfnissen der tung für das lokale Gemeinwesen, für die Regi- Land und Leuten sichern. Armen und der Steigerung der Lebensqualität für on, für die Biotope vor der Haustür fort. Global Alle reden von Nachhaltigkeit. Alle reden vom alle orientiert. Ein neues Jahrhundert stehe be- denken, lokal handeln - das alte Motto kehrt zu- Klima und vom entschlossenen Handeln. Doch vor, sagte Brandt damals, und damit die Chance rück. So wächst Erdpolitik von unten. sobald es wie beim Klimagipfel von Kopenha- auf eine neue Zivilisation. Wie also lässt sich nachhaltig von nicht-nach- gen um bindende Beschlüsse geht, kippt die Da ist die Matrix, der Mutterboden der Nach- haltig unterscheiden? Mein persönlicher Lack- Rhetorik und es beginnt das fatale Pokerspiel haltigkeit. Daran ist jede Verwendung des Be- mustest hat zwei Komponenten: Reduziert sich um Wachstumsraten - und Verschmutzungsrech- griffs zu messen. In der Nachfolge der Nord-Süd- der ökologische Fußabdruck? Und steigt - für je- te. Der Zorn über diese Machtspiele hat zu ei- Kommission wurde das Konzept von der Brundt- den frei zugänglich - die Lebensqualität? Daran nem weit verbreiteten Unbehagen am Leitbild land-Kommission der UN ausgearbeitet und als muss sich der Begriff messen lassen. Das Gras- ŇDer Ň Mutterboden der Nachhaltigkeit ist die Steigerung der Lebensqualität für alle - nicht das Wachstum von Produktion und Konsum. der Nachhaltigkeit geführt. Selbst ökologisch ori- Nachhaltige Entwicklung 1987 auf die Weltbühne wurzel-Projekt aus Ecuador schneidet da glän- entierte Menschen winken mittlerweile ab: ein gebracht. zend ab. Das Jahresprogramm einer NaturFreun- Plastikwort, inflationär verwendet, von Sinn ent- Das war vor einer Generation. Die Kinder de-Ortsgruppe liegt in aller Regel auch nicht leert. Denn alles ist möglich: von der „nachhal- dieses Jahrgangs pauken heute für den Bache- schlecht im Rennen. Beim „Wachstumsbeschleu- tigen Befreiung der Kopfhaut von Schuppen“ bis lor oder - unvorstellbar für Willy Brandt - füh- nigungsgesetz“ sieht das allerdings ganz anders zur „nachhaltigen Rendite“. In der Schweiz wur- ren Krieg in Afghanistan. Viele leben in höchst aus. c Ulrich Grober de im November die „nachhaltigste Autobahn prekären Verhältnissen. Prekär aber ist das Ge- aller Zeiten“ eingeweiht. Mit dem entkernten Be- genteil von nachhaltig. Am Beginn des zweiten Der Autor ist Publizist und Natur- griff kann man wenig - oder alles - machen. Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts sind wir vom Freund und hat gerade ein Buch Weil Worte Waffen sind, muss die Kernsubs- Zustand eines ökologischen und sozialen Gleich- veröffentlicht: tanz des Begriffs Nachhaltigkeit wieder bewusst gewichts weiter entfernt denn je. Hat die „Erd- Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit - Kulturgeschichte ei- werden: die Verknüpfung von Ökologie mit Hu- politik“, die Brandt mit in Gang setzte, versagt? nes Begriffs; 300 Seiten, gebunden manität und sozialer Gerechtigkeit. Ein wichti- Statt voreiliger Schlüsse sollte lieber nüchtern mit Schutzumschlag; Antje Kunst- ger Vordenker dieses authentischen Nachhaltig- analysiert werden: In den drei Jahrzehnten seit mann Verlag, München, 2010; ISBN 9783888976483; Preis 19, 90 Euro. keitsbegriffs war NaturFreund Willy Brandt. Vor dem Brandt-Bericht entfesselte die marktfunda- 30 Jahren erschien der Bericht seiner Nord-Süd- mentale Globalisierung ihre ungeheure Dyna- 1-2010 NATURFREUNDiN SEITE 13
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