Mitbestimmung in Bildungseinrichtungen - PERSONALRÄTE ERZIEHERINNEN UND - GEW
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Erziehung & Wissenschaft 01/2022 PERSONALRÄTE Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW ELTERN ERZIEHERINNEN UND ERZIEHER SCHULE LEHRKRÄFTE Mitbestimmung KITA in Bildungseinrichtungen STUDIERENDE BETRIEBSRÄTE VOLKSHOCHSCHULE HOCHSCHULE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER
2 GASTKOMMENTAR Foto: Franziska Schäfer/HSI JOHANNA WENCKEBACH Mehr Mitbestimmung nötig! Seit dem 18. Juni 2021 ist das Betriebsrätemodernisierungs- gerne als „New Work“ diskutiert wird, auch bessere Arbeit gesetz in Kraft, das nach mehreren Monaten schwieriger bedeutet. Betriebsräte stellen sicher, dass die Interessen der Verhandlungen zwischen Union und SPD im Mai 2021 im Beschäftigten nicht unter die Räder kommen. Dazu brauchen Bundestag beschlossen wurde. Damit erhält das Betriebs- sie einen passenden rechtlichen Rahmen. verfassungsgesetz eine neue Fassung. Davor wurden die Der Gesetzgeber hat mit der jüngsten Reform zwar aner- gesetzlichen Regeln der betrieblichen Mitbestimmung kannt, dass das Mitbestimmungsrecht reformiert werden jahrzehntelang nicht reformiert – allen Veränderungen der muss, wenn Betriebsräte zur Mitgestaltung der digitalisierten Arbeitswelt und den neuen Herausforderungen für die be- Arbeitswelt ermächtigt werden sollen. Mit besseren Hand- triebliche Mitbestimmung durch Globalisierung, Digitali- lungsmöglichkeiten bei Qualifizierung und Weiterbildung, sierung und Transformation der Wirtschaft zum Trotz. Die mobiler Arbeit sowie beim Einsatz von KI im Betrieb geht die Reform ist allerdings nur ein erster Schritt. Die neue Bun- Reform zentrale Handlungsfelder für Modernisierungen an. desregierung, die einen „Aufbruch wagen“ will, hat sich eine Allerdings viel zu zaghaft. Vor dem Hintergrund von Entgren- „Weiterentwicklung“ der betrieblichen Mitbestimmung vor- zung und Verdichtung durch Digitalisierung, aber auch von genommen – was das genau heißt, lässt der Koalitionsver- drohendem Personalabbau durch Transformation nimmt die trag allerdings offen. Personalplanung eine entscheidende Rolle ein. Es geht um Unter Verweis auf Studien der Hans-Böckler-Stiftung zu große Verteilungsfragen, aber auch Gesundheits- und Daten- schwindender Interessenvertretung und Bekämpfung von schutz. Betriebsratsgründungen – bis hin zu illegalen Methoden des Während der Pandemie hat sich die Mitbestimmung als kri- sogenannten Union Busting – hatte der Gesetzentwurf der senfest erwiesen. Betriebsvereinbarungen zur mobilen Arbeit alten Bundesregierung vor allem das Ziel, die Gründung und zum Beispiel gab es dort häufig schon, Kurzarbeit konnte in Wahl von Betriebsräten zu erleichtern. Nur noch 9 Prozent routinierten Abläufen eingeführt werden und Betriebsräte der betriebsratsfähigen Betriebe hatten 2019 einen Betriebs- standen als Ansprechpartnerinnen und -partner für Beschäf- rat, nur 40 Prozent der Arbeitnehmenden in Deutschland tigte zur Verfügung. haben eine betriebliche Interessenvertretung an ihrer Seite. Mitbestimmung im Betrieb ist gelebte Demokratie in der Das sind viel zu wenige! Arbeitswelt. Aus der arbeitsrechtlichen Perspektive ist sie Aber nicht nur Betriebsratsgründungen müssen erleichtert unerlässlich, um individuelle Beschäftigtenrechte durchzuset- werden. Es braucht auch mehr Mitbestimmungsrechte. Hier zen, Arbeitsplätze zu sichern und die Transformation in den gelang der letzte große Wurf 1972 – Globalisierung kam erst Betrieben im Interesse der Beschäftigten zu gestalten. Mit- später, und „künstliche Intelligenz“ (KI) war damals science sprache auf Augenhöhe ist gerade in großen Umbruchphasen fiction! Neue Technik, etwa KI, wird die Arbeitswelt und vie- essenziell. Die Zukunft der Arbeitswelt sollte mehr Mitbestim- le Berufsbilder in den nächsten Jahren massiv verändern. mung vorsehen, wenn sie für möglichst viele gut werden soll. Unternehmen setzen auf die Bereitschaft von Beschäftigten Das zu wagen, wäre ein echter Aufbruch! jeden Alters, an Veränderungen teilzuhaben, auf Gewohntes und Eingespieltes zu verzichten, sich zu verändern und Neu- Johanna Wenckebach, es zu erlernen. Aber es ist kein Automatismus, dass das, was Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts der Hans-Böckler-Stiftung Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
INHALT 3 Prämie Inhalt des Monat s Seite 5 IMPRESSUM Erziehung und Wissenschaft Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung · 74. Jg. Herausgeberin: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund Vorsitzende: Maike Finnern Redaktionsleiter: Ulf Rödde Gastkommentar Redaktion: Jürgen Amendt Redaktionsassistentin: Katja Wenzel Mehr Mitbestimmung nötig! Seite 2 Postanschrift der Redaktion: Reifenberger Straße 21 60489 Frankfurt am Main Impressum Seite 3 Telefon 069 78973-0 Fax 069 78973-202 katja.wenzel@gew.de Auf einen Blick Seite 4 www.gew.de facebook.com/GEW.DieBildungsgewerkschaft twitter.com/gew_bund Prämie des Monats Seite 5 Redaktionsschluss ist in der Regel der 7. eines jeden Monats. Schwerpunkt: Mitbestimmung in Bildungseinrichtungen Erziehung und Wissenschaft erscheint elfmal jährlich. Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und Internet 1. Personal- und Betriebsräte: Nicht nur ein Kummerkasten Seite 6 sowie Vervielfältigung auf Datenträger der „Erziehung und Wissenschaft“ auch auszugweise nur nach vorheri- 2. Die Montanmitbestimmung: Blaupause für mehr Demokratie Seite 10 ger schriftlicher Genehmigung der Redaktion. 3. GEW-Kommentar: Zu viele weiße Flecken Seite 13 Die E&W finden Sie als PDF auf der GEW-Website unter: 4. Mitsprache für Schülerinnen und Schüler: Teilhabe und Entscheidungsmacht Seite 14 www.gew.de/eundw. Hier wird die E&W auch archiviert. 5. Studierende an Hochschulen: Mitbestimmung unter Vorbehalt Seite 18 Gestaltung: 6. Engagierte VHS-Lehrkräfte: Gemeinsamer Einsatz macht stark Seite 20 Werbeagentur Zimmermann GmbH Kurhessenstraße 14 60431 Frankfurt am Main Schule Für die Mitglieder ist der Bezugspreis im Mitglieds- beitrag enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der 1. Leihverträge für Dienstgeräte: „Keine Angst vor Haftung!“ Seite 22 Bezugspreis jährlich Euro 7,20 zuzüglich Euro 11,30 2. Streit um Kopfnoten in Sachsen: Viel Lärm um nichts Seite 40 Zustellgebühr inkl. MwSt. Für die Mitglieder der Landesverbände Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen werden die Tarif- und Beamtenpolitik jeweiligen Landeszeitungen der E&W beigelegt. Für un- verlangt eingesandte Manuskripte und Rezensionsexem- 1. Tarifergebnis Länder 2021: 2,8 Prozent und 1.300 Euro Corona-Sonderzahlung Seite 24 plare wird keine Verantwortung übernommen. Die mit dem Namen des Verfassers gekennzeichneten Beiträge 2. GEW-Kommentar: Kompromiss in Pandemiezeiten Seite 27 stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder der Herausgeberin dar. Hintergrund: Ampelkoalitionsvertrag Verlag mit Anzeigenabteilung: Stamm Verlag GmbH 1. Der Koalitionsvertrag: Mehr Bildung wagen! Seite 28 Goldammerweg 16 45134 Essen 2. GEW-Kommentar: Gute Ansätze, aber Fragen bleiben Seite 31 Verantwortlich für Anzeigen: Mathias Müller Telefon 0201 84300-0 Fax 0201 472590 anzeigen@stamm.de Gesellschaftspolitik www.erziehungundwissenschaft.de gültige Anzeigenpreisliste Nr. 41 1. Bund-Länder-Zusammenarbeit: Es braucht jetzt Veränderungen! Seite 32 vom 01.01.2019, 2. DGB-Index „Gute Arbeit“ in der Corona-Pandemie: Homeoffice – nicht für alle Seite 36 Anzeigenschluss ca. am 5. des Vormonats 3. Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“: Angriffe von rechts Seite 38 Nutzungsrechte für digitale Pressespiegel erhalten Sie über die PMG Presse-Monitor GmbH unter www.presse-monitor.de fair childhood – Bildung statt Kinderarbeit Erfüllungsort und Gerichtsstand: Frankfurt am Main Lieferkettengesetz nachbessern: Verhindern, verzögern, verwässern Seite 42 Mitgliederforum Seite 44 ISSN 0342-0671 GEW-Intern e Gerhard Jens: Eine Ära geht zu Ende Seite 45 Die E&W wird auf 100 Prozent chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier gedruckt. emi d Pan a - n on oro Diesmal Seite 48 a r c o ur de/ C s z . nfo gew Titel: Werbeagentur Zimmermann I elle w. u Ak ww t
4 AUF EINEN BLICK Große Mehrheit für die GEW Hamburg Bildungsausgaben absolut gestiegen Mit einem Wahlergebnis von fast 86 Prozent zieht die Fraktion Die öffentlichen Bildungsausgaben in Deutschland sind 2020 der GEW in die Hamburger Lehrerkammer ein. Nachdem die absolut auf knapp 160 Milliarden Euro gestiegen. Das waren GEW bereits in der vergangenen Wahlperiode 34 von 40 Sit- rund neun Milliarden Euro oder 6 Prozent mehr als 2019, wie zen in der Lehrerkammer innehatte, konnte sie dieses gute Er- das Statistische Bundesamt Anfang Dezember 2021 in Wies- gebnis nicht nur bestätigen, sondern sogar ausbauen und um baden mitteilte. Bereits ein Jahr zuvor waren die Bildungsaus- einen weiteren Sitz zulegen. „Das ist ein sensationeller Erfolg, gaben um 6,3 Prozent gewachsen. Die Statistiker führen die eine klare Bestätigung für die Arbeit der GEW-Kolleginnen höheren Investitionen auch auf die Corona-Pandemie zurück. und -Kollegen in diesem wichtigen Gremium und ein starkes Unter anderem hätten Digitalisierung, Hygienekonzepte und Votum für unsere gewerkschaftlichen und bildungspolitischen zusätzliche Betreuungsangebote zu mehr Ausgaben geführt. Forderungen“, kommentierte Sven Quiring, Vorsitzender der Die Länder gaben den Angaben zufolge 111,8 Milliarden Euro GEW Hamburg, das Ergebnis der Lehrerkammerwahl (s. auch aus und finanzierten mit rund 70 Prozent einen Großteil der E&W-Schwerpunkt „Mitbestimmung“ in dieser Ausgabe). öffentlichen Bildungsinvestitionen. Gegenüber dem Vorjahr Vom 22. bis 26. November vergangenen Jahres waren mehr stiegen die Ausgaben der Länder um 6,6 Milliarden Euro (plus als 20.000 Lehrerinnen und Lehrer, Sozialpädagoginnen und 6,2 Prozent). Der Bund zahlte insgesamt 13,4 Milliarden Euro Sozialpädagogen, Erzieherinnen und Erzieher sowie Thera- (plus 35,2 Prozent). Die Gemeinden gaben dagegen rund 34 peutinnen und Therapeuten zur Wahl der Lehrerkammer auf- Milliarden Euro für Bildung aus, etwa 2,7 Prozent weniger gerufen. Laut Schulgesetz berät sie die zuständige Behörde als im Vorjahr. In Bezug zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), also bei allen das Schulwesen betreffenden Entscheidungen von der Wirtschaftskraft Deutschlands, gesetzt stagnieren die grundsätzlicher Bedeutung. Bildungsausgaben jedoch seit Jahren. Im internationalen Ver- gleich hinkt die Bundesrepublik mit ihren Bildungsinvestitio- Prien neue KMK-Präsidentin nen weiter deutlich hinter anderen Industrienationen zurück, Schleswig-Holstein stellt in diesem Jahr die Präsidentin der wie der Bericht „Bildung auf einen Blick“ der Organisation für Kultusministerkonferenz (KMK). Die Ministerin für Bildung, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Jahr Wissenschaft und Kultur des Landes, Karin Prien (CDU), wur- für Jahr belegt. de Anfang Dezember vergangenen Jahres während der vir- tuellen 376. Kultusministerkonferenz zur KMK-Präsidentin Modisches Klassenbewusstsein gewählt. Sie folgt der brandenburgischen Bildungsministerin Was haben der spanische Gewerkschafter Buenaventura Dur- Britta Ernst (SPD), die jetzt 2. Vizepräsidentin ist. ruti (1896–1936), die Politikerin Rosa Luxemburg (1871–1919) Prien stellt ihre Präsidentschaft unter das Motto „Lernen aus und der Protest der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in der Pandemie“. Dabei sollen sowohl Schule als auch die kul- Montgomery vor 65 Jahren miteinander gemein? Jeder Per- turelle Bildung und die Rolle der Wissenschaft in den Blick sönlichkeit, jedem Ereignis widmet das „T-Shirt des Monats“ genommen werden. Die Erfahrungen, die in der Pandemie ein Motiv. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen Working gewonnen worden sind, könnten dabei als Ausgangspunkt ge- Class History, einer Bildungsinitiative, die in verschiedenen nutzt werden, um bestehenden und zukünftigen Herausfor- Formaten und Kanälen Geschichte von unten sichtbar macht, derungen zu begegnen, so Prien. und dna merch, einem Sozialunternehmen und offiziellen Weltladenlieferanten mit Sitz in Berlin. Das „T-Shirt des Mo- Postlep weiter DSW-Präsident nats“ folgt der Idee der „Prosumption“, einem nachhaltige- Prof. Rolf-Dieter Postlep bleibt Präsi- ren und kollektiven Ansatz für Produktion und Konsum. Jedes dent des Deutschen Studentenwerks Shirt ist streng limitiert und aus 100 Prozent Bio-Baumwolle (DSW), des Verbands der 57 Studen- gefertigt: Es ist nur einen Monat vorbestellbar und wird da- ten- und Studierendenwerke. Auf ih- nach in genau der Menge genäht und bedruckt, die in diesem Foto: Kay Herschelmann rer Online-Mitgliederversammlung im Monat geordert wurde. Dezember bestätigten ihn die 140 Ver- Motiv des Monats Januar 2022 ist Rosa Luxemburg. GEW- treterinnen und Vertreter einstimmig Mitglieder sowie Leserinnen und Leser der E&W können beim für zwei weitere Jahre im Amt. Der Kauf der Monats-Shirts im Shop von Working Class History Ökonom und Finanzwissenschaftler Prof. Rolf-Dieter mit dem Discount Code „GEW20XX“ 5 Prozent sparen. Postlep, 75, in den Jahren 2000 bis Postlep 2015 Präsident der Universität Kassel, Plaßmanns Rückblick steht seit 2017 an der Spitze des Verbands. Er ist gleichzeitig Und schon wieder ist ein Jahr vor- auch Vorsitzender des DSW-Verbandsrats, des 14-köpfigen, bei. Karikaturist Thomas Plaßmann, ehrenamtlich tätigen Beratungs- und Aufsichtsgremiums. Im dem die E&W zahlreiche wunderbare DSW-Verbandsrat gibt es drei personelle Wechsel: Petra Mai- Zeichnungen verdankt (s. Seite 28 f.), Hartung, Geschäftsführerin des Studierendenwerks Berlin, blickt in „Unterm Strich“ humorvoll ist neu dabei, ebenso die beiden Studierenden Jannik Hellen- und pointiert auf das Jahr 2021 zu- kamp, Aachen, und Karl Künne, Magdeburg. rück. Thomas Plaßmann: Unterm Strich, Klartext-Verlag, Essen 2021. Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
Mitmachen lohnt sich ... ... für jedes neu geworbene GEW-Mitglied erwartet Sie ein Set Hautfarben-Stifte.* Prämie des Monats Januar: Hautfarben-Stifte Mit diesen Stiften malen Kinder sich und ihre Freund*innen so, wie sie wirklich aussehen: bunt – verschieden – hautfarben. Set mit 12 Buntstiften und 8 Wachsmalern. Alle Erlöse fließen zu 100 Prozent in die gemeinnützigen Integrationsprojekte von GoVolunteer. Neues Mitglied werben und Prämie online anfordern www.gew.de/praemienwerbung *Dieses Angebot gilt nicht für Mitglieder des GEW-Landesverbandes Niedersachsen. Keine Lust auf unser Online-Formular? Fordern Sie den Prämienkatalog an! Per E-Mail: mitglied-werden@gew.de | Per Telefon: 0 69 / 7 89 73-211 oder per Coupon: E&W-Prämie des Monats Januar 2022/Hautfarben-Stifte Bitte in Druckschrift ausfüllen. Vorname/Name GEW-Landesverband Straße/Nr. Telefon Fax PLZ/Ort E-Mail Bitte den Coupon vollständig ausfüllen und an folgende Adresse senden: # Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Reifenberger Straße 21, 60489 Frankfurt a. M., Fax: 0 69 / 7 89 73-102
6 MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN Nicht nur ein // Personalräte sind ein wichtiges Instrument der betrieblichen Mitbestimmung. Die Interessen- vertretung macht sich für die Durchsetzung der Rechte der Kol- leginnen und Kollegen etwa an Kitas, Schulen und in der Sozialen Arbeit stark. // In den Pausen eilt Susanne Hoeth schnurstracks ins Lehrerzimmer. Sie übernimmt extra die Frühaufsicht, da- mit sie in den großen Pausen immer an- sprechbar ist. „Das ist sehr wichtig für Personalräte“, findet die Lehrerin einer Grundschule in Frankfurt am Main. Auf dem Tisch liegt das Hessische Schul- gesetz griffbereit. „Das ist für unsere Arbeit ganz wichtig“, sagt die Personal- rätin. Kürzlich wollte zum Beispiel eine Kollegin einen Ausflug mit ihrer Klasse machen, aber im letzten Moment sagte die Mutter ab, die sie begleiten sollte. Was tun? Die Lehrerin fragte den Per- sonalrat um Rat. Gemeinsam blätterten sie im Gesetz und suchten die Regelung zur Aufsichtspflicht heraus. Viele Lehr- kräfte, so Hoeth, machten den Fehler, direkt zur Schulleitung zu gehen und zu fragen: Darf ich oder darf ich nicht? „Statt um Erlaubnis zu bitten, ist es viel besser, seine Rechte zu kennen“, be- tont die Personalrätin. „Das stärkt das Selbstbewusstsein.“ Auf die eigenen Rechte pochen Die Lehrerin ist seit vielen Jahren im Per- sonalrat aktiv. Bei Ärger, Sorgen oder Problemen können sich die Kolleginnen und Kollegen in der Schule jederzeit an sie und ihre beiden Mitstreiterinnen wenden. Eine Lehrerin beschwerte sich Fotos: Christoph Boeckheler beispielsweise kürzlich darüber, dass sie ständig Vertretungen übernehmen müs- se. Das könne sie gut verstehen, betont Hoeth im Gespräch. „Im ersten Schritt ist wichtig, das Problem zu verbalisieren.“ Das Schulgesetz sei sehr demokratisch, meint Susanne Hoeth. Doch in der Realität Danach gilt es, das Thema – über das setze sich immer mehr eine „Top-down“-Steuerung durch: Schulleitung, Schulamt konkrete Beispiel hinaus – strukturell in und Kultusministerium machten viele Vorgaben. Umso wichtiger ist ihrer Meinung den Blick zu nehmen und gemeinsam zu nach die Arbeit der Personalräte. überlegen: Wie lassen sich Vertretungen Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN 7 Kummerkasten besser organisieren? Und wird erwartet, dass die Vertretungskraft im Lernstoff fortfährt? Wenn ja, muss es eine ausge- bildete Lehrkraft sein. Externe Aushilfen können lediglich für eine Betreuung der Kinder eingesetzt werden. Darauf legt die Personalrätin großen Wert. „Sonst ist die Gefahr groß, dass unsere Arbeit entwertet wird, nach dem Motto: Das kann ja jeder.“ Der Frankfurter GEW-Vorsitzende Se- bastian Guttmann betont, dass der Personalrat per Gesetz dazu verpflich- tet ist, „berechtigte Anliegen“ der Kol- leginnen und Kollegen zu behandeln. Egal, ob sich Lehrkräfte versetzen las- sen, ihre Arbeitszeit reduzieren wollen oder unzufrieden mit ihrem Stunden- plan sind: „Ich habe immer ein offenes Ohr.“ Als Personalrat hat er zahlreiche Fortbildungen besucht, kennt sich aus mit dem Hessischen Personalvertre- tungsgesetz, kurz HPVG, und kann kom- petent beraten. Wenn er jemandem zu seinem Recht verhelfe, sei das ein tolles Gefühl. „Doch manchmal muss ich auch sagen: Ist blöd, aber das Problem lässt sich juristisch nicht lösen.“ Wichtig sei, dass sich die Kolleginnen und Kollegen einfach mal ihren Frust von der Seele reden könnten. „Aber der Anspruch geht weit über Kummer- kasten hinaus“, betont Hoeth. „In ers- ter Linie geht es um Empowerment.“ Das Schulgesetz sei sehr demokratisch, meint die Gewerkschafterin. Doch in der Realität setze sich immer mehr eine „Top-down“-Steuerung durch: Schullei- tung, Schulamt und Kultusministerium machten viele Vorgaben. Umso wich- tiger ist es ihrer Meinung nach, auf die eigenen Rechte zu pochen. „Lehrkräfte haben viele Gestaltungsmöglichkeiten“, bekräftigt die Personalrätin. „Es kommt darauf an, die demokratischen Struktu- ren an der Schule bewusst zu machen.“ So sei die Schulleitung an die Beschlüs- se der Gesamtkonferenz gebunden. Bei- spiel: Durch den Sozialindex erhält ihre Für ihre Tätigkeit werden Personalräte an Schulen zwar freigestellt, doch die Zeit Grundschule zusätzliche Stunden. Die reiche hinten und vorne nicht, findet der Frankfurter GEW-Vorsitzende Sebastian Kolleginnen und Kollegen diskutierten, Guttmann. Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
8 MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN >>> was ihnen wichtiger ist: Mehr Doppel- Für ihre Tätigkeit werden Personalräte eine eigene Mailadresse zu beantragen. besetzungen? Oder kleinere Klassen? an Schulen eine Stunde pro Woche frei- „Das war’s dann aber auch schon.“ Sie einigten sich darauf, dass weniger gestellt. „Das ist eine homöopathische Nach einigen Jahren als Personalrat Kinder in einer Klasse sitzen. „Das wurde Dosierung“, findet Guttmann. „Die Zeit an seiner Schule ist Guttmann in den in einem Jahrgang umgesetzt“, berich- reicht vorne und hinten nicht.“ Die Ar- Gesamtpersonalrat gewechselt: Das tet Hoeth. „Danach war es wegen des beit gilt offiziell als Ehrenamt. Doch nach Gremium vertritt alle 7.200 Lehrkräfte Personalmangels nicht mehr möglich.“ Ansicht des Gewerkschafters müssten in Frankfurt beim Staatlichen Schul- Aktuell ist der erste Jahrgang sogar mit die Interessenvertretungen viel stärker amt. Der Förderschullehrer könnte sich mehr Kindern besetzt als üblich. Der unterstützt werden. Eine Schule mit 16 für die Tätigkeit komplett freistellen Grund: Eine Lehrerin für eine 1. Klasse bis 59 Beschäftigten hat Anrecht auf drei lassen, legt aber Wert darauf, weiter- ist kurz vor der Einschulung ausgefal- Personalratsmitglieder, ab 60 Beschäf- hin einige Stunden pro Woche an der len, sodass die Kinder auf die anderen tigten auf fünf. Doch sie hätten nicht mal Schule zu arbeiten. Nur so bekommt Klassen aufgeteilt werden mussten. Der Anspruch auf einen eigenen Raum, kri- er hautnah mit, was die Lehrkräfte be- Personalrat macht sich jetzt dafür stark, tisiert Guttmann. Auch sei nicht üblich, wegt. Hinzu kommt: „Einige Maßnah- dass die Klassenleitungen dafür zur Ent- dass sie ein Telefon oder einen Compu- men hören sich in der Theorie ganz lastung eine Stunde pro Woche weniger ter zur Verfügung gestellt bekämen. Im- gut an, aber man muss sie selbst erlebt unterrichten müssen. merhin hätten sie jetzt die Möglichkeit, haben.“ So weiß Guttmann aus eige- ner Erfahrung, dass die dienstlichen Mailadressen immer noch nicht rich- tig funktionieren. Selbst wer bereit ist, sein eigenes Smartphone zu benutzen, kann sich oft nicht einloggen. Deshalb hat der Gesamtpersonalrat in einer Dienstvereinbarung mit dem Schulamt festgelegt, dass wichtige Infos nicht nur per Mail verbreitet werden dürfen. „Es muss immer einen alternativen Weg geben“, sagt Guttmann. „Es darf kein Kollege ausgeschlossen werden.“ Vernetzung ist wichtig Mit einer Dienstvereinbarung will der Gesamtpersonalrat auch den Arbeits- und Gesundheitsschutz an Schulen stärken. Risse in den Wänden, kaputte Fenster, Schimmel an der Decke: Der enorme Sanierungsstau belaste Lehr- kräfte im Schulalltag sehr, berichtet Guttmann. „Wären es keine Schulen, Foto: privat sondern normale Betriebe, wären viele von ihnen schon längst geschlossen.“ Benedikt Heddesheimer Per Gesetz müssen die Schulen „regel- mäßig“ begutachtet werden. „Doch was heißt regelmäßig? Das kann auch Benedikt Heddesheimer, Sozialpädagoge und Personalrat bei Kita alle 100 Jahre sein.“ Deshalb hat der Frankfurt am Main Gesamtpersonalrat Druck gemacht, „Aktuell beschäftigt uns als Personalrat vor allem die Corona-Pandemie. dass künftig alle fünf Jahre eine Gefähr- Während des Lockdowns haben wir zum Beispiel durchgesetzt, dass Alleiner- dungsanalyse an jeder Schule durchge- ziehende mit Kindern im Homeoffice arbeiten können. In der Zentrale stand führt werden muss. „So etwas geht im uns für unsere Sitzungen jahrelang ein kleiner Schulungsraum zur Verfügung, Schulalltag sonst schnell unter.“ der aber durch die Abstandsregelungen zu klein wurde. Deshalb haben wir Zusätzlich gibt es noch den Hauptper- uns selbst auf die Suche nach einer Alternative gemacht und treffen uns jetzt sonalrat, der die Interessen aller hes- in einer Kirchengemeinde. Dort ist es sehr kühl, und wir haben keine Tische. sischen Lehrkräfte vertritt und beim Das stört etwas. Die Arbeit im Personalrat macht mir großen Spaß, weil wir Kultusministerium in Wiesbaden ange- direkt etwas bewirken können. Ich sehe uns als Bremsklotz: Wenn wir nicht siedelt ist. Dort hätten sie zum Beispiel da wären, würden die Rechte der Beschäftigten den Bach runtergehen.“ durchgesetzt, dass befristete Verträge üblicherweise nicht mehr mit Beginn Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN 9 Steve Kothe, Sozialarbeiter und Betriebsrat bei der Arbeiter-Samariter- Bund Lehrerkooperative in Frankfurt am Main „Ich habe mich ziemlich schnell überzeugen lassen, für den Betriebsrat zu kandidieren. Für mich war klar: Das ist gut und wichtig! Als Betriebsrat haben wir diverse Mitbestimmungsrechte. Das vergessen Arbeitgeber ab und zu. Als bei uns der Arbeitgeber die Personalakten digitalisiert hat, ohne es mit uns abzustimmen, sind wir bis zur Einigungsstelle gegangen und haben unser Mit- bestimmungsrecht eingefordert. Während der Corona-Pandemie haben wir uns sehr für den Schutz der Kolleginnen und Kollegen stark gemacht und eine eigene Betriebsvereinbarung speziell für Risikogruppen verhandelt. Ein ande- res Beispiel sind Fort- und Weiterbildungen: Wer darf wann wo daran teil- nehmen? Da fordern wir aktuell vom Arbeitgeber, klare Regelungen mit uns zu vereinbaren, damit niemand benachteiligt wird. Ich bin überzeugt, dass es Betriebsräte braucht, damit die Beschäftigten nicht gänzlich der Willkür der Arbeitgeber ausgeliefert sind.“ der Sommerferien enden, berichtet dass Personalräte zwar viel bewirken Hoeth. Ein andermal verhinderte der könnten, aber schnell an ihre Grenzen Personalrat eine geplante Regelung, stießen. Wichtige Fragen wie Bezahlung die regelmäßige und unangemeldete und Arbeitszeit ließen sich nur durch Unterrichtsbesuche vorsah. „So etwas Tarifverträge regeln. Deshalb lasse sich dient nur der Einschüchterung.“ eine richtige Entlastung der Lehrkräfte Die Grundschullehrerin betont, wie nur mit der Gewerkschaft durchsetzen. Foto: Kay Herschelmann wichtig die Anbindung des Personal- Für den 48-Jährigen steht fest: „Man rats an die Gewerkschaft sei. Die GEW braucht unbedingt beides.“ sorge für Vernetzung, biete Rechtsbe- ratung und stelle allerhand Infos zur Kathrin Hedtke, Verfügung. Auch Guttmann betont, freie Journalistin Steve Kothe Mathias Mank, Kindheitspädagoge und Betriebsrat im Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt Frankfurt am Main „Zum ersten Mal in Kontakt mit dem Betriebsrat kam ich, als ich gegen meinen Willen quasi von einem Tag auf den anderen in eine andere Kita versetzt werden sollte. Bis dahin wusste ich kaum etwas über meine Rechte. Seit ich selber im Betriebsrat bin, denke ich oft: ‚Hätte ich das alles früher gewusst.‘ Wurde bei uns in der Kita zum Beispiel jemand während der Arbeit krank und ging früher nach Hause, wurde die restliche Ar- beitszeit als Minusstunden verbucht. Heute weiß ich: Krank ist krank. Zu meinen Kindern sage ich immer: Ich bin eine Mischung aus Rechtsanwalt und Seelsorger. Manche Kolleginnen und Kollegen weinen am Telefon. Neulich rief eine junge Erzieherin ganz verzweifelt an: Sie hatte die Kinder während des Mittagsschlafs kurz al- leine im Raum gelassen, um sich etwas zu trinken zu ho- len. Daraufhin drohte die Leitung ihr mit einer Abmah- nung. Einige haben so viel Angst, dass sie am Telefon Foto: Christoph Boeckheler nicht mal ihren Namen oder ihre Einrichtung nennen wollen. Wir können dann zwar Tipps geben, aber sonst nichts machen. Ich rate allen, dass sie ihre Rechte auch in Anspruch nehmen – ohne Angst.“ Mathias Mank Aufgezeichnet von Kathrin Hedtke, freie Journalistin Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
10 MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN 1951 wurde in der Bundesrepu- blik die Montanmitbestimmung eingeführt. Seitdem gab es immer wieder Versuche der Arbeitgeber, die Rechte der Arbeitnehmerin- nen und -nehmer wieder einzu- schränken. Im Bild: Beschäftigte der Hoesch AG Westfalenhütte in Dortmund bei einem Warnstreik der IG Metall zur Erhaltung der Montanmitbestimmung 1980. Foto: IMAGO/Klaus Rose Blaupause für mehr Demokratie // Sie gilt als Musterbeispiel vorgeschriebene Mitbestimmung der für eine große Feier mit viel Polit-Promi- demokratischer Unternehmens- Arbeitnehmer und Gewerkschaften zu nenz und Wirtschaftsvertretern, es war führung: die Montanmitbestim- umgehen“, sagt er. Grund genug für die gleichzeitig der Startschuss, für die Mit- mung. Im Bundestagswahljahr HBS, gemeinsam mit dem Deutschen bestimmung als Zukunftsmodell zu wer- 2021 feierte sie 70. Geburtstag. Gewerkschaftsbund (DGB) im vergange- ben. Denn auch wenn seine Bedeutung Anlass für die Hans-Böckler- nen Jahr eine groß angelegte Kampagne nicht zuletzt mit dem Ende der Stein- Stiftung (HBS), mit einer Kam- unter dem Slogan „Mitbestimmung si- kohleförderung geschwunden ist: Noch pagne mehr Mitbestimmung in chert Zukunft“ zu initiieren. Eine eigene heute gilt das Montanmitbestimmungs- Deutschlands Firmen zu fordern – Webseite, Artikel, Pressearbeit, Social- gesetz von 1951 als Blaupause demokra- mit Erfolg. // Media-Posts, Erklärfilme sowie eine tischer Unternehmensführung. Reihe von Veranstaltungen in Berlin Seinerzeit musste das Gesetz allerdings Die 17 Zeilen auf Seite 71 und 72 des sollten das Thema in die breite Öffent- hart erkämpft werden. Nach dem Zwei- Koalitionsvertrags hat Sebastian Sick be- lichkeit tragen und gleichzeitig die Poli- ten Weltkrieg drohten die Alliierten mit sonders aufmerksam gelesen. Denn was tik dazu auffordern, die Mitbestimmung der Zerschlagung der Eisen-, Stahl- und die neue Ampel-Regierung dort als Ziel in Deutschland zu modernisieren und Bergbau-Unternehmen, dem Rückgrat ausgegeben hat, dafür kämpft seine Ar- zu stärken. der deutschen Rüstungsindustrie. Ar- beitgeberin, die Hans-Böckler-Stiftung, beiterinnen und Arbeiter wehrten sich seit ihrer Gründung: die Stärkung der Paritätische Besetzung gemeinsam mit Gewerkschaften gegen Mitbestimmungsrechte der Arbeitneh- Der Zeitpunkt hätte kaum besser gewählt den drohenden Verlust ihrer Arbeits- merinnen und Arbeitnehmer in Unter- sein können. 2021 kamen gleich zwei für plätze. Mit Erfolg: 1947 setzte die bri- nehmen. Um die sei es nicht gut bestellt, die Kampagne sehr wichtige Ereignisse tische Militärregierung deren gleich- sagt Sick, der am Institut für Mitbestim- zusammen: zum einen die Bundestags- berechtigte Mitbestimmung durch, mung und Unternehmensführung (IMU) wahl am 26. September, andererseits auch um zu verhindern, dass die alten der Stiftung das Referat Unternehmens- der 70. Geburtstag des Inkrafttretens Machtverhältnisse in die Betriebe zu- recht und Corporate Governance leitet. des Montanmitbestimmungsgesetzes rückkehrten. „Unternehmen nutzen vielfältige Strate- am 7. Juni. Das Jubiläum nahmen die Unter Bundeskanzler Konrad Adenauer gien, um die in Deutschland gesetzlich HBS und der DGB nicht nur zum Anlass (CDU) drohte die Montanmitbestim- Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN 11 mung wieder zurückgedreht zu werden. Stimmen der Arbeitnehmervertreter leitender Funktion sitzen – die damit Den Unternehmern war sie von Beginn bestellt werden. „Bis heute gelten da- auch der Arbeitgeberseite nahesteht. an ein Dorn im Auge. Mitten im Wieder- mit in der Montanmitbestimmung be- Gleichzeitig hat der Aufsichtsratschef, aufbau des zerstörten Landes drohten sonders demokratische Regeln“, heißt der immer von der Anteilseigner-Seite die Arbeiterinnen und Arbeiter in den es beim DGB. gestellt wird, bei Patt-Situationen ein Fabriken daraufhin mit Streik. Adenau- doppeltes Stimmrecht. er und DGB-Chef Hans Böckler verstän- Erosion der Mitbestimmung Echte Mitbestimmung sehe anders aus, digten sich letztlich auf eine Lösung. Es Aber eben auch nur dort. Für Unterneh- sagen die Gewerkschaften. Und auch kam nicht zum Streik, stattdessen wur- men aus anderen Branchen mit mehr IMU-Direktor Daniel Hay ist der Mei- de 1951 die Montanmitbestimmung als 500 Mitarbeiterinnen und Mitar- nung, „dass das Prinzip der Montan- gesetzlich verankert. Seitdem müssen beitern gilt seit dem 1952 eingeführten mitbestimmung auf alle Branchen aus- Eisen-, Stahl- und Bergbau-Unterneh- Betriebsverfassungsgesetz eine Drittel- gedehnt werden sollte“, wie er in einer men mit mehr als 1.000 Beschäftigten beteiligung, hier muss der Aufsichtsrat Folge des HBS-Podcasts „Systemrele- ihren Aufsichtsrat zu gleichen Teilen nur zu einem Drittel aus Arbeitnehmer- vant“ anlässlich des Jubiläums erklärte. mit Vertretern der Anteilseigner sowie vertretern bestehen. Gerade transformative Prozesse wie die der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Selbst das 1976 von einer soziallibera- Digitalisierung, der Klimawandel und mer besetzen. Das Besondere: Kommt len Koalition auf den Weg gebrachte pa- die Corona-Krise hätten gezeigt, wie es dort zu strittigen Fragen oder einer ritätische Mitbestimmungsgesetz, das wichtig es sei, die Beschäftigten mitein- Kampfabstimmung, entscheidet ein Unternehmen mit mehr als 2.000 Be- zubeziehen und nicht über ihre Köpfe zusätzliches Aufsichtsratsmitglied, auf schäftigten vorschreibt, den Aufsichts- hinweg zu entscheiden. das sich beide Seiten einvernehmlich rat mit der gleichen Anzahl von Arbeit- Ein Beispiel dafür ist die Stahlbran- geeinigt haben. Darüber hinaus kann geber- und Arbeitnehmervertretern zu che, in der die Beschäftigtenzahl allein der Arbeitsdirektor, der im Vorstand besetzen, fällt hinter die Montanmit- zwischen 1975 und 1998 um mehr als eines Unternehmens das Personal- bestimmung zurück. Denn auf der Ar- 220.000 reduziert worden ist, was auch wesen verantwortet, nicht gegen die beitnehmerbank muss eine Person in dank der Montanmitbestimmung ver- >>> www.vielfalt-mediathek.de www.vielfalt-mediathek.de s News- Merk- News- letter Merk- liste letter liste Bildungsmaterial Bildungsmaterial gegen gegen Rechts Rechtsextremismus, extremismus, Menschen Menschenfeindlich feindlichkeit keit und und Gewalt. Gewalt. Für Für Demokratie, Demokratie, Vielfalt Vielfalt und und Anerkennung. Anerkennung. Diskriminierung Diskriminierung im im Klassenraum? Klassenraum? Rechte Rechte Sprüche Sprüche imim Seminar? Seminar? Über Über 2.500 2.500 Materialien Materialien zum zum kostenlosen Download kostenlosen Download ›› Broschüren Broschüren und und Bücher Bücher ›› Unterrichtsmaterial Unterrichtsmaterial und und Arbeitsblätter Arbeitsblätter ›› Trainingsordner und Handbücher Trainingsordner und Handbücher ›› Audios Audios und und Videos Videos Vielfalt.Mediathek Vielfalt.Mediathek f fll^ ^44 IDA e.V. Volmerswerther Str. 20 40221 Düsseldorf Telefon 0211/159255-5 Fax 0211/159255-69 IDA e.V. Volmerswerther Str. 20 40221 Düsseldorf Telefon 0211/159255-5 Fax 0211/159255-69 mediathek@IDAeV.de mediathek@IDAeV.de
12 MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN >>> gleichsweise sozialverträglich und ohne beschäftigen und dort den Großteil ihrer ternehmen mit Tochtergesellschaften schwere Auseinandersetzungen abge- Geschäfte machen. Stiftungskonstrukti- können so einen mitbestimmten Auf- laufen sei, wie Professor Klaus Lompe onen etwa, wie sie die Discounter Aldi sichtsrat verhindern. und Hinrich Weis in einer 2001 veröf- oder Lidl einsetzen, werden nicht von Das alles sind legale Schlupflöcher im fentlichten Studie schreiben. „Der rasan- den Mitbestimmungsgesetzen erfasst. deutschen Recht. Dazu kommen noch te Umstrukturierungsprozess, der mit Ebenso wenig ausländische Rechtsfor- diejenigen Unternehmen, die eigent- massiven Produktivitätssteigerungen men wie die britische „Public limited lich Mitbestimmung einführen müss- und oftmals eben auch mit Arbeitsplatz- company“ (PLC), unter der das Berliner ten, dies aber einfach nicht tun, „weil verlusten verbunden war, wurde durch Entsorgungsunternehmen Alba Group sie so gut wie keine rechtlichen Konse- die Montanmitbestimmung keinesfalls oder der Dax-Konzern Linde firmieren. quenzen zu befürchten haben“, wie Sick behindert, sondern aktiv begleitet“, erklärt. Mindestens 2,1 Millionen Be- kommentieren die Autoren und verwei- Legale Schlupflöcher schäftigte in Unternehmen mit mehr als sen auf große Investitionsmaßnahmen, Ein besonders beliebter Weg, um Ar- 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbei- die von den Arbeitnehmern unterstützt beitnehmervertreter von den Aufsichts- tern werden einer HBS-Studie aus dem und oft forciert worden seien. räten fernzuhalten, ist die europäische Jahr 2020 zufolge legal oder rechtswid- Im Zuge ihrer Kampagne machte die Aktiengesellschaft (SE). Die Zahl der rig so um ihre Mitbestimmungsrechte HBS im vergangenen Jahr auf weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird gebracht. „Das gefährdet die Sozial- Studien aufmerksam, die zeigen, dass hier nur einmal festgestellt. Wächst das partnerschaft und unser Wohlstands- Unternehmen mit starker paritätischer Unternehmen weiter, wird das nicht modell“, warnt Sick. „Die Demokratie, Mitbestimmung Vorteile haben: Sie mehr berücksichtigt. Je nach Zeitpunkt die über die Mitbestimmung stattfin- schneiden bei relevanten wirtschaft- der SE-Gründung wird eine paritätische det, darf man nicht auf diese Weise mit lichen Kennziffern erfolgreicher ab, oder Drittelmitbestimmung so vermie- Füßen treten.“ investieren mehr und wirtschaften so- den. Laut IMU hatten von zuletzt mehr Der eindringliche Appell sowie die For- zialer und nachhaltiger. Durch die Digi- als 100 dieser Unternehmen mit mehr derungen der HBS und der Gewerk- talisierung könne zudem das zuweilen als 2.000 Beschäftigten 80 Prozent kei- schaften für eine Stärkung der Arbeit- vorgetragene Argument entkräftet wer- ne paritätische Mitbestimmung im Auf- nehmerrechte scheint angekommen den, dass Mitbestimmung die Prozesse sichtsrat, darunter etliche Dax-Konzer- zu sein. In ihrem Koalitionsvertrag und Entscheidungen in einem Unter- ne, etwa das Immobilienunternehmen versprechen SPD, FDP und Grüne: „Die nehmen verlangsamt, betont Sick. Vonovia und der Online-Händler Zalan- Bundesregierung wird sich dafür einset- Gleichzeitig warnt er vor einer zuneh- do sowie zahlreiche große Familienun- zen, dass die Unternehmensmitbestim- menden Erosion der Mitbestimmung, ternehmen wie der Autovermieter Sixt mung weiterentwickelt wird, sodass die von zahlreichen Unternehmen oder der Schuhhändler Deichmann. es nicht mehr zur vollständigen Mitbe- schlicht ignoriert oder auf legalem Weg Ein weiteres Problem: Im Drittelbetei- stimmungsvermeidung beim Zuwachs ausgehebelt werde. „Es gibt vielfältige ligungsgesetz werden Beschäftigte der von SE-Gesellschaften kommen kann.“ Mitbestimmungsvermeidungsformen“, Tochtergesellschaften nicht mitgezählt, Und weiter: „Wir werden die Konzern- sagt Sick. Die funktionieren selbst dann, wenn diese sich nicht explizit durch ei- zurechnung aus dem Mitbestimmungs- wenn Unternehmen alle ihre Mitarbei- nen Beherrschungsvertrag der Leitung gesetz auf das Drittelbeteiligungsgesetz terinnen und Mitarbeiter in Deutschland des Mutterkonzerns unterwerfen. Un- übertragen, sofern faktisch eine echte Beherrschung vorliegt.“ Für Sick und die HBS-Kampagne sind diese Zeilen ein großer Erfolg: „Damit sind zwei sehr wichtige Forderungen von uns teilweise im Koalitionsvertrag gelandet und werden nun angegangen.“ Screenshot: www.mitbestimmung-sichert-zukunft.de Gleichwohl liegt das Ziel, die Mitbestim- mung inhaltlich zu stärken und die Idee der Montanmitbestimmung auch auf alle anderen Branchen auszuweiten, noch in weiter Ferne. Michael Stahl, freier Journalist Anlässlich von 70 Jahren betrieblicher Mitbestimmung in der Bundesrepublik hat die Mitbestimmungsportal der Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit dem DGB unter dem Slogan „Mitbestimmung Hans-Böckler-Stiftung: sichert Zukunft“ eine Kampagne initiiert. www.mitbestimmung-sichert-zukunft.de Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN 13 Foto: Kay Herschelmann DANIEL MERBITZ Zu viele weiße Flecken Als Ergebnis der Novemberrevolution 1918/19 und auf Druck Deshalb brauchen wir eine Weiterentwicklung des Betriebs- der Arbeiterbewegung hat die Nationalversammlung in Wei- verfassungsgesetzes und der Personalvertretungsgesetze. mar im Jahr 1920 das Betriebsrätegesetz verabschiedet. Viele Mitbestimmungsrechte müssen an aktuelle Herausforderun- heutige Mitbestimmungsnormen beziehen sich auf dieses Ge- gen angepasst werden. Auch bei traditionellen Themen wie setz der Weimarer Republik und haben es weiterentwickelt: Arbeitszeiterfassung, Personalbemessung und Weiterbildung Seit 70 Jahren gibt es das Betriebsverfassungsgesetz in der müssen die Rechte der Personalvertretungen erweitert wer- BRD, dazu das Bundespersonalvertretungsgesetz und die Per- den, damit diese die Interessen der Beschäftigten auch in ei- sonalvertretungsgesetze der Länder sowie im kirchlichen Be- ner zunehmend digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt reich die Mitarbeitervertretungen (MAV), die allerdings nur weiterhin wirkungsvoll vertreten können. eingeschränkte Rechte haben. Die Montanmitbestimmung Mitbestimmungsstandards in Deutschland stehen unter aus dem Jahr 1951 regelt eine paritätische Beteiligung der Druck – durch die Globalisierung, durch skrupellos agierende Beschäftigten im Aufsichtsrat in Unternehmen des Bergbaus Großkonzerne, weltweit, in der Europäischen Union, in der sowie der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie. Dazu kom- BRD. In der Wirtschaft ist eine effektive Mitbestimmung be- men das Drittelbeteiligungs- und das Mitbestimmungsgesetz. sonders als Gegengewicht zu kurzfristigen Investoreninteres- Wir haben also einen umfangreichen Instrumentenkasten für sen sowie bei der Umwandlung und Fusion von Unternehmen die Mitbestimmung in den Betrieben und Einrichtungen. Vie- wichtig. Bösartige Beispiele, bei denen sich Finanzhaie einen le Fragen des Arbeitslebens können die Leitungsebenen nicht Dreck um Mitbestimmung und Beschäftigteninteressen sche- ohne die Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten ent- ren, kennen wir zur Genüge. scheiden. Von Versetzung über Abordnung, von Dienstplänen Auch politische Geisterfahrer, die das hohe Lied eines Markt- und Verteilung der Arbeitszeit bis hin zu Kündigungen, um nur radikalismus singen, international und national, gehen gegen einige Beispiele zu nennen. Dies sorgte und sorgt für ein Sys- die Mitbestimmung vor. Und ganz konkret sind es subtil und tem der Konfliktbewältigung und sichert den Betriebsfrieden offensiv auftretende Behinderungen von Betriebsratswahlen und das Miteinander. Der heutige ökonomische Wohlstand bis hin zu Verschlechterungen bei den Personalratsfreistel- dieses Landes ist ohne Mitbestimmung nicht denkbar. Im lungen in den Ländern durch die Parlamente. Die Mitbestim- weltweiten Vergleich sind die Mitbestimmungsmöglichkeiten mung hat mehr Feinde als Freunde. in der BRD sehr umfangreich. Aber darauf sollten wir uns nicht Demokratisierung der Wirtschaft und des öffentlichen Diens- ausruhen. Es gibt gravierende Defizite. So fordert die GEW tes ist schon immer eine Kernforderung der Gewerkschaften. regelmäßig eine umfassende Mitbestimmung in allen Fragen Teilhabe und echte Mitbestimmung sind Voraussetzung für des Dienstalltags in den Personalvertretungsgesetzen der gute Arbeitsbedingungen vor Ort und in der Gesellschaft. Den Länder und des Betriebsverfassungsgesetzes. Sie kritisiert, Kapitaleignern und den durchregierenden Personalleitungen dass das Letztentscheidungsrecht der Einigungsstellen durch muss auf allen Ebenen die Kraft der Mitbestimmung entge- ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts einkassiert worden gengesetzt werden. ist. Im Geltungsbereich von Mitbestimmungsregelungen gibt es zu viele weiße Flecken. So fehlt es beispielsweise auch an Daniel Merbitz, einer Interessenvertretung für Honorarkräfte. GEW-Vorstandsmitglied Tarif- und Beamtenpolitik Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
14 MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN „Demokratie ist eine Herrschaftsform, eine Gesell- schaftsform, eine Lebensform“, sagt Christa Schäfer Foto: Kay Herschelmann vom Regionalverband Berlin-Brandenburg der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik. An Berliner Schulen organisiert Schäfer sogenannte Demokratietage. Teilhabe und Entscheidungsmacht // Schülerinnen und Schüler Nun möchte der Moderator des „Ersten Himmelmann. „Demokratie ist eine sollen über ihr Lernen mitbe- Demokratietages für Berliner Schulen“ Herrschaftsform, eine Gesellschafts- stimmen dürfen, so steht es in von den Kindern und Jugendlichen wis- form, eine Lebensform“, sagt Schäfer, den Schulgesetzen. Der Normal- sen, was ihr jüngstes schönes Erleben Vorstandsmitglied des Regionalverban- zustand ist das allerdings (noch) von Mitbestimmung und Demokratie des Berlin-Brandenburg der Deutschen nicht. Es fehlt an verbreiteter in der Schule war. Klack, klack, klack Gesellschaft für Demokratiepädagogik Praxis und Zeit. // macht es auf Tablets und Smartphones: (DeGeDe). Analog dazu finde Mitbe- U-18-Wahl und Schulversammlung, stimmung an Schulen auf drei Ebenen Freitag ist heute Demokratietag. Ein Projektarbeit, gutes Feedback; sogar statt: erstens in Schüler- und Elternver- schöner Abschluss einer Woche, in der „Meine letzte Klassenstunde“ wird auf- tretungen, zweitens in basisdemokra- sich Schülerinnen und Schüler aus ganz geführt. tischen Mitsprachegremien wie dem Berlin zu einem Thema fortgebildet ha- Klassenrat. Und drittens in einer „Schul- ben, das ihnen wichtig ist. Der Klassen- Demokratie lernen kultur, in der Schülerinnen und Schüler rat, der jüngst als feste Diskussionsstun- Nicht genannt werden die gesetzlich mitgestalten und Demokratie in der de ins Berliner Schulgesetz eingeführt verankerten Mitbestimmungsmöglich- Praxis lernen“. wurde, war in den 50 Workshops mehr- keiten von Klassensprechern und Schü- Rufus Franzen ist Mitglied im Berliner fach Thema. Doch auch Beteiligung und lervertretungen (SV). Warum nicht? Landesschülerausschuss (LSA), dem Partizipation, Kinderrechte und Kom- Christa Schäfer, die den Tag organi- höchsten Gremium der Schülerinnen munikation, Konfliktmoderation und siert hat, folgt in ihrer Antwort einem und Schüler in der Hauptstadt. Und Mediation standen auf dem Programm. Modell des Politikdidaktikers Gerhard natürlich wünscht er sich mehr Rechte Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN 15 für den LSA; ein Anhörungsrecht auf Realität hängt vor allem von der Schul- können Kritik äußern. So lernen wir, Senatsebene zum Beispiel. Oberstes leitung ab, ob das gemacht wird.“ Verantwortung zu übernehmen. Und Ziel jedoch seien Schulen, in denen wir verstehen besser, was warum in den jene, die sie besuchen, in ihren Klas- Verantwortung übernehmen Lehrplänen steht.“ sen und Lerngruppen mitbestimmen. Doch geht das überhaupt, Schülerinnen Statt in einem Klassenrat besprechen Die neue Schulgesetz-Regel, laut der und Schüler den Unterricht mitgestal- die Schülerinnen und Schüler jeden mindestens monatlich – auf Beschluss ten zu lassen? „Ja, das geht“, sagt Silas Montag in einem Morgenkreis, was an- der Schulkonferenz wöchentlich – eine Schultheiß. An der Jenaplan-Schule in steht. In der Oberstufe gibt es monat- Klassenratsstunde im Plan steht, zu Jena steckt er gerade in einem mehrwö- liche „Ansagekonferenzen“, in denen der auf Anfrage sowohl Lehrkräfte wie chigen Matheprojekt. Das Thema: Ex die Lehrkräfte nur zu Gast sind. Doch auch Schulleitung erscheinen müssen, tremwertprobleme. „Natürlich geht es am wichtigsten für Demokratie findet findet er gut: „Das schafft einen Raum um Gleichungen, Formeln und Zahlen“, man an der Jenaplan-Schule den Pro- für das Besprechen gemeinsamer The- sagt der 17-Jährige, „doch wir bespre- jektunterricht. Bis zu einem Drittel der men und Probleme. So geht niedrig- chen, wie wir ein Thema angehen, ob Unterrichtszeit findet in mehrwöchi- schwellige Mitbestimmung.“ Themen, es einen praktischen Zugang gibt und gen, jahrgangsübergreifenden Projek- ergänzt er, gebe es genug: „Welches es uns zu schnell oder zu langsam geht“, ten statt. Bevor eines startet, wird ge- Drama wird in Deutsch gelesen, mit erläutert er. Und auch in Fragen der fragt, wer es mit vorbereiten möchte. welchen Methoden lernen wir Ma- Leistungsbeurteilung dürften Schüle- Über das Curriculare mitzuentscheiden, the? Auch darüber sollten wir mitent- rinnen und Schüler mitbestimmen, zum sei die „höchste Form der Mitbestim- scheiden“, findet Franzen. Das Berliner Beispiel über die Kriterien, nach denen mung“, erklärt Oberstufenleiterin Helke Schulgesetz sieht das übrigens auch sie bewertet werden. „Meine Eltern ha- Felgenträger: „Partizipation heißt nicht so. Schülerinnen und Schüler seien ben extra eine Schule gesucht, in der ich nur Teilnahme, sondern ebenso Teilha- „ihrem Alter entsprechend (...) an der mich beteiligen kann, je älter ich werde, be und Entscheidungsmacht.“ Gestaltung des Unterrichts (...) zu betei- desto besser verstehe ich, warum: Wir Felgenträger, die bis Oktober die The- ligen“, heißt es darin. Franzen: „In der werden nach unserer Meinung gefragt, menleitung „Demokratie leben und >>> 22.–26. März 2022 Live vor Ort in Köln und digital Erleben Sie auf Europas größter Bildungsmesse, welche neuen BILDUNGS- Impulse Digitalisierung setzt und wie sie konkret in zeitgemäße Bildungsangebote integriert wird. Nutzen Sie die Chance zum Austausch mit Expert:innen und AUSTAUSCH Kolleg:innen – live vor Ort in Köln. Frühe Bildung Schule Berufliche Bildung/ myQ-Qualifizierung www.didacta-messe.de
16 MITBESTIMMUNG IN BILDUNGSEINRICHTUNGEN >>> Lernen“ im Programmteam der Deut- dagogen herausfordere: „Wir müssen Gesetzliche schen Schulakademie innehatte, wird lernen, Macht und Verantwortung abzu- gern auch einmal grundsätzlich: Die geben – obwohl wir es in der Ausbildung Institution Schule stehe „in einem ste- meist anders gelernt und selbst erfah- Regelungen ten Widerspruch“, sagt sie. Sie solle Demokratie fördern, zugleich sei Mit- sprache oft nicht gefragt: „Denken Sie ren haben“, findet Felgenträger. Wenn es gelinge, sei das Prinzip bereits auf die Kita, die es an der Jenaplan-Schule eben- Die Mitbestimmung der Schülerinnen an die Empfehlungen für den Übertritt falls gibt, zu übertragen: „Bei den Älteren und Schüler wird in den Schulgeset- nach der Grundschule, an die Noten- ernten wir die Früchte, die wir im frühen zen der Länder geregelt. Diese halten gebung.“ Kinder reagierten darauf mit Kindesalter gesät haben“, erzählt sie. zum Beispiel fest, ab welcher Klasse sinkendem Selbstwertgefühl – und we- Sprecherinnen und Sprecher gewählt niger Leistungsvermögen. Studien wie Mittel selbst verwalten werden und welche Rechte die Schü- der Kinderrechtereport des Deutschen „Es heißt ja Grundschule“, befindet Arno lervertretung auf kommunaler und Kinderhilfswerks zeigten zudem: „Die de Vries, Leiter der Berliner Reinhard- Landesebene hat. Bei einem Vergleich übergroße Mehrheit sagt, sie werde in Otto-Grundschule. Folglich müssten auch der Regelungen im Jahr 2019 stellte der Schule nicht gehört.“ Grundlagen von Mitbestimmung und das Deutsche Kinderhilfswerk großen Wer sich das klar mache, komme zu ei- Demokratie bereits in den ersten Klas- Nachholbedarf bei den Beteiligungs- ner neuen Form von Unterricht, dessen sen vermittelt werden. An seiner Schule rechten fest. Gefordert wurde die Umsetzung auch Pädagoginnen und Pä- entscheiden Schülerinnen und Schü- verbindliche Wahl einer Klassenspre- cherin oder eines Klassensprechers ab der 1. Klasse sowie mindestens gleiche Beteiligungsrechte von Schüler- im Vergleich zu Elternvertretungen. In den Schulkonferenzen sollen Schülerinnen und Schüler mindestens in Drittelpa- rität vertreten sein, ohne Vetorechte anderer Gruppen. Das ist nicht in allen Ländern so. Auch die Rechte der Eltern regeln die Schulgesetze: etwa wie Elternver- treterinnen und -vertreter auf den einzelnen Ebenen – Klasse, Schule, Bezirk, Bundesland – gewählt werden und welche Aufgaben sie haben. In der Regel arbeiten die Landeselternbei- räte mit den zuständigen Ministerien eng zusammen. Ihre – allerdings im Föderalismus nicht gesetzlich legi- timierte – Bundesvertretung ist der Bundeselternrat. In der frühkindlichen Bildung hat der Staat keinen Bildungsauftrag. Deshalb sind die Rechte der Eltern von Kita- Kindern grundsätzlich stärker. „Die Erziehungsberechtigten sind an den Entscheidungen in wesentlichen An- gelegenheiten der Erziehung, Bildung und Betreuung zu beteiligen“, so steht es im (Bundes-)Sozialgesetzbuch VIII. Die Ausgestaltung – in Elternvertre- tungen, -versammlungen, -beiräten, -kuratorien – regeln die Kita-Gesetze der Länder. jago Bei den Beteiligungsrechten von Kindern und Jugendlichen in Schulen gibt es in Deutschland sollten bereits in den ersten Klassen vermittelt werden, fordern Experten. Erziehung und Wissenschaft | 01/2022
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