Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung - Sabine Leidig (Hrsg.) - Oekom Verlag

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Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung - Sabine Leidig (Hrsg.) - Oekom Verlag
Sabine Leidig (Hrsg.)

Projekte und Geschichten,
Beton und Bewegung
Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung - Sabine Leidig (Hrsg.) - Oekom Verlag
Inhaltsverzeichnis

                               Vorwort ...........................................................................................................8

                      PERSÖNLICHES
                         Ich ließ mich überzeugen................................................................................ 9
                      		Bärbel Romanowski
                         Als Quereinsteigerin in die Vollen.................................................................10
                         Solidarisch mobil...........................................................................................12
                      		Ulrich Brand

                      PROGRAMMATISCHES
                         Solidarische Mobilität & Verkehrspolitik mit links.......................................14
                         Vermachtetes Gelände..................................................................................20
                         Kuscheln mit Auto-Konzernen......................................................................26
                      		Nina Katzemich
                         Koalitionen für Kapitalismus versus Klima..................................................28
                         Wir brauchen neue Bilder für die Zukunft der Mobilität..............................32
                      		Anton Brokow-Loga
                         Spürbar frischer Wind ... of Change.............................................................34
                         Fridays for Future in der Autofabrik.............................................................40
                      		Cedric Büchling
                         Kompetenz der Vielen: Demokratisierung tut Not.......................................41
                         Mit mehr Demokratie zu Tempolimit und Verkehrswende.........................47
                      		Ralf-Uwe Beck
                         Kampfplatz Verkehr.......................................................................................48
                         AfD: Autofanatisten.......................................................................................50
                      		Gerd Wiegel
                         Die imperiale Lebensweise auf den Straßen überwinden...........................52
                         Rohstoffpolitik geht jede*n an......................................................................57
                      		Merle Groneweg

                      INFRASTRUKTUR & SUBVENTIONEN
                          Wer Straßen sät, wird Autoverkehr ernten...................................................58
                          Aus guten Gründen aktiv gegen Privatisierung...........................................64
                      		       Laura Valentukeviciute und Carl Waßmuth
                          Autobahn-Baustopp – der „Mietendeckel der Mobilität“............................66
                          Wald statt Asphalt.........................................................................................69
                      		Torsten Felstehausen
                          Makro-Ökonomie: Kolossale Kosten............................................................70
                      		Axel Troost
                          Verkehrswende lohnt sich für Kommunen..................................................72
                          Mit Turbo in die falsche Richtung.................................................................74
                      		Jörg Cezanne

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ÖFFENTLICHER NAHVERKEHR
                          Die Öffis treten aus dem Schatten...............................................................78
                          ÖPNV braucht Zukunft, braucht Klimaschutz, braucht gute Arbeit............84
                      		       Mira Ball und Knut Steinkopf
                          Besser verkehren...........................................................................................86
                      		Rika Müller-Vahl
                          Ohne eigenes Auto mobil – nicht nur in der Großstadt..............................87
                      		       Ingrid Remmers und Bastian Kettner
                          Nahverkehr für alle........................................................................................91
                      		Violetta Bock
                          Nulltarif ist nicht umsonst............................................................................92
                          Hier und überall: Lasst uns mehr Straßenbahn wagen...............................98
                      		       Fritz R. Viertel

                      FUSS UND FAHRRAD
                          Fuß und Fahrrad vor!...................................................................................100
                          Fahrradrevolution........................................................................................102
                      		Isabell Eberlein
                          Fahrradlust und Straßenfrust01...................................................................106
                      		Doroteja Jakovic
                          Fahrradlust und Straßenfrust02...................................................................107
                      		Karl-Heinz Ludewig
                          Per Pedes für alle – preiswert, aber nicht umsonst..................................110
                      		Stefan Lieb
                          Die Macht des Verkehrsrechts brechen.....................................................112

                      BAHN (NOCH) BESSER
                         Bahn: Borniertheit und Bewegung im Bundestag......................................116
                         Kooperation statt Wettbewerb und Integration statt Spaltung................122
                         Ein Besuch bei mobifair lehrt uns das Fürchten........................................126
                         Züge statt Flüge: Leuchtendes Beispiel LunaLiner...................................129
                         Wir wollten nach Paris und nicht an die Börse..........................................134
                      		Joachim Holstein
                         LOKbuch – lehrreiches Praktikum bei der Güterbahn...............................138
                         Eisenbahn – da ist Musik drin....................................................................141
                      		Dirk Flege

                      VIELERLEI VERKEHRTER VERKEHR
                          Wachstumswahn im Sinkflug.....................................................................142
                          Wir geben kein Ruhe....................................................................................146
                      		Eric Ludwig
                          Streiflicht Lärm und Lebensgefahr.............................................................148
                          Die Last mit den Lastern und die Lust am/auf Protest.............................152
                          Logistikzentrum, mach dich vom Acker!....................................................158
                      		Achim Lotz
                          Vereint gegen Amazon................................................................................162
                      		Hamid Mohseni
                          Seeverkehrt..................................................................................................167
                      		Martin Wegner
                          Wachstumskritik konkret............................................................................172
                          Solidarische Mobilität als Teil der Postwachstumsökonomie.................176
                      		Nina Treu
                          Mein Extra zu Stuttgart 21: Oben bleiben!.................................................177
                          Auch in schwierigen Zeiten: Oben bleiben!................................................180
                      		Tom Adler

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AUTOKORREKTUR
                         #Autokorrektur für Carmany.......................................................................182
                         Sand im Getriebe der Automobilindustrie..................................................186
                      		Janna Aljets
                         Technik ist nicht a-sozial............................................................................188
                         Elektroautos sind auch Autos.....................................................................190
                      		Winfried Wolf
                         Autos ohne Menschen................................................................................194
                      		Gerrit Schrammen
                         Wunderwaffe Wasserstoff?........................................................................198
                      		      Lorenz Gösta Beutin
                         Abgasbetrug ohne Ende..............................................................................200
                      		Herbert Behrens
                         Gemeinsam umbauen.................................................................................202
                      		Olaf Bandt
                         Vom Bohren dicker Bretter..........................................................................203
                      		      Mario Candeias und Stephan Krull
                         Bewegung in globalen Lieferketten............................................................209
                      		Michel Brandt

                      POLITIK (BESSER) MACHEN
                          Ein linker grüner neuer Deal........................................................................210
                      		Bernd Riexinger
                          Feministische Mobilität..............................................................................214
                      		Elsa Koester
                          Das Private ist politisch – und umgekehrt.................................................217
                          Attac lässt grüßen.......................................................................................220
                      		Stephanie Handtmann
                          Wie geht Verkehrswende, wenn Partei-Linke mitregieren?.......................222
                          Nachhaltig links...........................................................................................226
                      		Heike Sudmann
                          Reichweite durch Konflikt...........................................................................227
                      		Pedram Shahyar
                          Das Institut Solidarische Moderne.............................................................230
                      		Andrea Ypsilanti
                          Beweglich im Parlament.............................................................................232
                      		        Bernd Brouns, Corinna Genschel
                          SoliMob – auf ein Neues?...........................................................................233
                          Digital und auf Papier..................................................................................235

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Vorwort

                      Liebe Leser*innen und Neugierige,                     Herzlichen Dank!
                      jedes Buch hat einen Charakter. Um es gleich vor-     Ein großes Dankeschön an meine wissenschaftli-
                      wegzusagen: Dies ist kein wissenschaftliches          chen Mitarbeiter, von denen ich viel lernen durfte.
                      Fachbuch, sondern ein politisches Lesebuch.           Wir arbeiteten intensiv und freundschaftlich zu-
                          Im Frühling 2020 machte ich mich ans Werk,        sammen: Winnie Wolf (bis 2017), Bernhard Knie-
                      zuerst mit einem Exposé. Darin benannte ich Ziele,    rim, Dominik Fette, Karl-Heinz Ludewig und Ludwig
                      die ich hier nun voranstelle, in der Hoffnung, dass   Lindner (ab 2017). Danke auch an Doroteja Jako-
                      sie erfüllt werden: Das Buch soll Interesse an der    vic, die als Büroleiterin im Trubel gut alle Teller jon-
                      Verkehrswende wecken und die wichtige Verknüp-        glieren kann. Und danke an die „guten Geister“ im
                      fung mit neuen sozialökologischen Bewegungen          Social-Media-Hintergrund und in Hessen, die mich
                      darlegen und fördern: Klimagerechtigkeit, De-         über die Jahre unterstützt und bereichert haben.
                      growth, Changing Cities … Es soll engagierte Ein-         Es war mir ein besonderes Anliegen, dass poli-
                      steiger*innen unterstützen und verkehrspolitische     tische Freund*innen und Weggefährt*innen an
                      Hintergründe beleuchten. Es soll Erfahrungen und      diesem Buchprojekt mitwirken, auch um Verbun-
                      Erzählungen aus zwölf Jahren Verkehrspolitik im       denheit zu stärken und Vernetzung anzuregen.
                      Bundestag und im ganzen Land transportieren. Es       Für die inspirierenden Gastbeiträge bedanke ich
                      soll linke Verkehrspolitik und solidarische Mobili-   mich herzlich bei Achim Lotz, Andrea Ypsilanti,
                      tät verständlich machen. Und es soll meinen En-       Anton Brokow-Loga, Axel Troost, Bärbel Roman-
                      kelkindern einmal nahebringen, was ihre Oma tut,      owski, Bastian Kettner, Bernd Brouns, Bernd Rie-
                      wenn sie „bei der Arbeit“ ist.                        xinger, Carl Waßmuth, Cedric Büchling, Corinna
                          Die Texte sollen gut lesbares Wissen vermitteln   Genschel , Dirk Flege, Elsa Koester, Eric Ludwig,
                      und Mut machen für eine solidarische Umwälzung        Fritz Viertel, Gerd Wiegel, Gerrit Schrammen, Ha-
                      unserer Gesellschaft. „System Change, not Clima-      mid Mohseni, Heike Sudmann, Herbert Behrens,
                      te Change“ gilt auch für Mobilität und Verkehr.       Ingrid Remmers, Isabell Eberlein, Janna Alljets,
                          Dieses Buchprojekt war mir ein Herzensanlie-      Joachim Holstein, Jörg Cezanne, Knut Steinkopf,
                      gen. Es steht auch als Abschluss einer Lebenspha-     Laura Valentukeviciute, Lorenz Gösta Beutin, Ma-
                      se: Zwölf Jahre Bundestag sind genug. Nun freue       rio Candeias, Martin Wegner, Merle Groneweg, Mi-
                      ich mich, dass etwas davon hier aufbereitet ist,      chel Brandt, Mira Ball, Nina Katzemich, Nina Treu,
                      sichtbar bleibt und unter die Leute kommt.            Olaf Bandt, Pedram Shahyar, Ralf-Uwe Beck, Rika
                          „Das wird ein besonders schönes Anden-            Müller-Vahl, Stefan Lieb, Stephan Krull, Stephanie
                      ken“, sagte Doroteja – und da hat sie recht. Ich      Handtmann, Tom Adler, Torsten Felstehausen &
                      wünsche allen Leser*innen viel Freude damit.          Kröte, Ulrich Brand, Violetta Bock.
                                                                                Für die feine Gestaltung danke ich Marco Hei-
                      Sabine Leidig                                         nig, Katrin Kusche für das hilfreiche Lektorat
                                                                            und Clemens Hermann für die Ermunterung, im
                                                                            oekom verlag zu publizieren.

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Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung - Sabine Leidig (Hrsg.) - Oekom Verlag
Aus guten Gründen aktiv
                                            gegen Privatisierung
                                                                              … auch wenn es um Autobahnen geht

                      Am Freitag, dem 19. Mai 2017, knirschte es im Getrie-
                      be der Großen Koalition. Für das Parlament war es ein
                      besonderer Tag, denn die Pläne der Bundesregierung
                      sollten nicht aufgehen.

                      Laura Valentukeviciute und Carl Waßmuth

                      Eigentlich sollte der Bundestag am 19. Mai 2017         Gegen das Vorhaben hatte sich ab 2015 Wider-
                      über eine umfangreiche Grundgesetzänderung ab-          stand gebildet – in der parlamentarischen Opposi-
                      stimmen. Stattdessen erhielten die Abgeordneten         tion und außerhalb des Parlaments.
                      vor der Plenarsitzung nur eine grobe Übersicht
                      über Änderungen zu Änderungen am geplanten              Umweltschutz verträgt keine
                      Gesetz. Was war passiert? Die Abstimmung war            Autobahnprivatisierung
                      von der Tagesordnung abgesetzt worden, weil             Eine maßgebliche Akteurin an der Schnittstel-
                      sich die Große Koalition der zugehörigen Mehrhei-       le zwischen parlamentarischer Opposition und
                      ten nicht mehr sicher war. Das Grundgesetz hätte        Nichtregierungsorganisationen war Sabine Leidig,
                      an dreizehn Stellen geändert werden sollen, eine        verkehrspolitische Sprecherin der Linken im Bun-
                      zentrale Änderung zielte auf die Privatisierung der     destag, die als erste zu einem Treffen von Abge-
                      Autobahnen. Dabei ging es nicht um einen Verkauf        ordneten und Verbänden wegen der Autobahn-Pri-
                      im Sinne einer Veräußerung von Asphaltstrecken          vatisierungspläne einlud. Daraus entwickelte sich
                      und Betonbrücken. In ganz Europa werden seit            ein Bündnis, im dem Ver.di, der Bund für Umwelt
                      Jahren Autobahnen privatisiert, ohne dass ein ein-      und Naturschutz, die NaturFreunde, Attac, Ge-
                      ziger Streckenkilometer per se verkauft werden          meingut in BürgerInnenhand (GiB) und weitere
                      muss. Das zugehörige Privatisierungsmodell heißt        ebenso aktiv waren wie Bundestagsabgeordnete
                      öffentlich-private Partnerschaft (ÖPP). Dabei baut,     der Linken, der Grünen und sogar der mitregie-
                      saniert und betreibt ein privater Konzern Autobahn-     renden SPD. Die Umweltverbände schlossen sich
                      abschnitte 30 Jahre lang und erhält dafür Geld          dem Bündnis an, weil ÖPP Autobahnneubau be-
                      vom Staat. Der Bundesrechnungshof hat schon             fördert und Ausstiege erschwert. Im Zeitraum von
                      2014 gerügt, dass für fünf Autobahn-ÖPP-Projekte        2007 bis 2016 waren schon mehr als die Hälfte al-
                      mit einem Gesamtvolumen von 5,1 Milliarden Euro         ler neu gebauten Autobahn-Kilometer im Rahmen
                      Mehrkosten von 1,9 Milliarden Euro entstehen.           öffentlich-privater Partnerschaften umgesetzt
                      Also 38 Prozent mehr Steuergeld aus dem Bundes-         worden. Jüngstes Beispiel von Autobahn-Neubau
                      haushalt. Dennoch sollte ÖPP nun flächendeckend         per ÖPP ist die A49 durch den Dannenröder Forst:
                      zum Einsatz kommen. Größtes Problem: Die Ver-           Der im Sommer 2020 unterzeichnete ÖPP-Vertrag
                      waltung der Autobahnen lag laut Grundgesetz bei         wird von der Bundesregierung auf ein Volumen
                      den Bundesländern. Die Länder aber wehrten sich         von 1,45 Milliarden Euro beziffert. Der Neubau
                      zunehmend gegen ÖPP. Deshalb sollte das Grund-          soll durch Schutzgebiete führen und die Rodung
                      gesetz geändert und die Zuständigkeit auf den           von 100 Hektar eines 300 Jahre alten Laub- und
                      Bund übertragen werden. Der Privatisierung soll-        Mischwalds erfordern. Gegen das Vorhaben gibt
                      te die Zentralisierung vorgeschaltet werden. Dazu       es heftigen Protest.
                      war das Zusammenziehen aller Kompetenzen auf
                      eine formal private Autobahn GmbH vorgesehen.

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Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung - Sabine Leidig (Hrsg.) - Oekom Verlag
INFRASTRUKTUR & SUBVENTIONEN

                      Mit vereinten Kräften das Schlimmste verhindert       sendung, die E-Mail-Kampagne oder alles zu-
                      Gemeingut in BürgerInnenhand will verhindern,         sammen. Im Jahr 2017 hatte die Große Koalition
                      dass Entscheidungen wie zur A49 der parlamenta-       eine komfortable Mehrheit von 80 Prozent der
                      rischen Steuerung entzogen und privaten Investo-      Abgeordneten – und damit deutlich mehr als die
                      ren übertragen werden. Deshalb organisierten wir      für eine Grundgesetzänderung erforderliche Zwei-
                      eine Kampagne gegen die Gründung der geplan-          drittelmehrheit. Aber in nichtöffentlichen Pro-
                      ten Autobahn GmbH. Dazu betrieben wir Aufklä-         beabstimmungen zeigten sich unerwartet viele
                      rungsarbeit mit vielen Beiträgen im Internet, einem   Bundestagsabgeordnete kritisch gegenüber der
                      Video-Clip, mit Flyern und Unterschriftensamm-        Autobahnprivatisierung. So wurde die geplante
                      lungen, Kundgebungen und E-Mail-Aktionen. Der         Abstimmung ausgesetzt, und der Gesetzentwurf
                      Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) er-         eilig noch einmal verändert. Dabei wurde der vor-
                      hielt an einem einzigen Tag mehr als 2.000 Pro-       gesehenen Möglichkeit, die Autobahn GmbH ganz
                      testmails – und kündigte danach tatsächlich an,       oder teilweise zu verkaufen, ein Riegel vorgescho-
                      gegen die Privatisierungspläne zu stimmen. Die        ben. Außerdem wurde eine Obergrenze für öf-
                      ZDF-Sendung „Die Anstalt“ verarbeitete die Argu-      fentlich-private Partnerschaften ins Grundgesetz
                      mente unserer Bündnis-Kampagne; darauf melde-         aufgenommen. Das so geänderte Gesetz wurde
                      te sich ein Spender und bezahlte eine halbseitige     dann am 1. Juni 2017 zur Abstimmung gestellt
                      Anzeige in der Süddeutschen Zeitung. Im Stile ei-     und mit 72,2 Prozent der Stimmen angenommen.
                      nes Autobahnschildes erschien samstags: „Liebe        Die Bürger*innen wählten am 24. September 2017
                      Abgeordnete, Ihr habt am 19. Mai die Wahl: Auto-      den Bundestag neu – die Große Koalition verlor an
                      bahnprivatisierung – Ja oder Nein.“ Es gab ein        dem Tag ihre Zweidrittelmehrheit.
                      Sternchen hinter „Ihr habt die Wahl“. Unten stand         Sabine Leidig ist Gründungspatin von GiB und
                      dazu: „Wir auch. Am 24. September“, das war das       unterstützt die Organisation seit mehr als zehn
                      Datum der damals anstehenden Bundestagswahl.          Jahren kontinuierlich im Kampf gegen Privatisie-
                          Eine von GiB in Auftrag gegebene repräsentati-    rungen – politisch und finanziell. Vielen Dank, Sa-
                      ve Meinungsumfrage hatte ergeben, dass 63 Pro-        bine!
                      zent der Menschen in Deutschland es nicht gut fin-
                      den, wenn private Unternehmen Bau und Betrieb
                      von Autobahnabschnitten übernehmen.                        Laura und Carl sind treibende Kräfte von
                                                                                 Gemeingut in BürgerInnenhand.
                      Ein kleiner Erfolg auf einem langen Weg
                      Es ist schwer zu sagen, was genau die Rädchen              https://www.gemeingut.org/
                      im Getriebe der Bundesregierung durcheinander-
                      gebracht hat: die Zeitungsanzeige, die Fernseh-

                                                                                                                                  65

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Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung - Sabine Leidig (Hrsg.) - Oekom Verlag
Autobahn-Baustopp –
                                               der „Mietendeckel
                                                    der Mobilität“
                                                                                       Was der „Hambi“ für den Kohleausstieg ist,
                                                                                       kann der „Danni“ für den Ausstieg aus dem
                                                                                       Autobahnbau sein

                      Der Bau neuer Autobahnen stellt das Rückgrat der
                      Schneller-schwerer-weiter-Ideologie dar. Ein Baustopp
                      für Autobahnen ist die rote Linie gegen die Fortsetzung
                      falscher Verkehrspolitik in der Klimakrise. Es müssen
                      alte Verbindlichkeiten und Verträge aufgekündigt wer-
                      den, damit neue Abkommen nicht gebrochen werden,
                      und zwar jetzt.

                      21. November 2020. Ich schreibe diesen Text,                     bauprojekt werden örtliche Verkehrsprobleme zur
                      während Räumung und Rodung im Dannenröder                        Begründung benutzt, obwohl es im Kern um die
                      Wald mit zunehmender Brutalität vorangetrieben                   transeuropäischen Verbindungen der „Exportna-
                      werden. Während ein offener Brief namhafter                      tion“ geht. Beim „Lückenschluss“ der A49 sollen
                      Akteur*innen unverzügliches Innehalten fordert,                  mehr als 1,4 Milliarden Euro in ein ÖPP-Projekt
                      und die evangelischen Pröbste darum bitten, we-                  gepumpt werden. Die öffentlich-private-Partner-
                      nigstens am Sonntag den Polizeieinsatz zu unter-                 schaft (ÖPP) verspricht dem Kapitalinvestor Ge-
                      brechen, schweigten die schwarze und die grüne                   winne – zulasten der Allgemeinheit. Dabei geht
                      Landesspolitikprominenz dröhnend. Während So-                    es wie bei allen neuen Autobahnen gar nicht um
                      lidaritätsaktionen vor Parteizentrale oder Landtag               Unterstützung für eine Region, sondern vor allem
                      abgeräumt werden, verkündet Robert Habeck, der                   um den transeuropäischen Transportverkehr in
                      Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, beim                   wachsenden Lastwagenkolonnen, um Ausweich-
                      Online-Parteitag, dass der Bundesverkehrswege-                   routen für die „rollenden Lagerhallen“ und für die
                      plan gestoppt werden müsse. Derweil lässt der                    fortgesetzte „Amazonisierung“ der Warenwelt.
                      grüne Landesverkehrsminister im Einvernehmen                     Folgerichtig ist auch an diesem Autobahnab-
                      mit dem CDU-Innenminister den Bau der anachro-                   schnitt weitere Flächenversiegelung für den „Lo-
                      nistischen A49 vorantreiben. Als Linkspartei in                  gistikstandort“ vorgesehen.
                      Hessen sind wir seit Jahren gut begründet gegen                      Für die Region liegen gute Alternativkonzep-
                      dieses fossile Infrastrukturprojekt aufgestellt und              te vor. Mit ihnen könnten die Verkehrsprobleme
                      seit Monaten an der Seite der Widerstandsbewe-                   schneller gelöst, Hunderte Millionen Euro gespart
                      gung aktiv: mit Initiativen im Parlament, mit Öf-                und die Umwelt geschützt werden. Verbände und
                      fentlichkeitsarbeit und mit Parlamentarischen Be-                Bürgerinitiativen machen sich für drei Bahnpro-
                      obachter*innen im Wald1.                                         jekte stark, die regionale Verbindungen schaffen,
                                                                                       Gütertransporte auf der Schiene erleichtern, vie-
                      Bus & Bahn statt Autobahn                                        len Pendler*innen Staustrecken ersparen und eine
                      Fünf Jahre nach dem Paris-Abkommen ist es ein                    Alternative zur Autofahrerei bieten können. Dabei
                      fatales Signal, dass für noch mehr Autobahn und                  müsste relativ wenig neu gebaut werden, weil still-
                      damit noch mehr Kfz-Verkehr wertvoller Misch-                    gelegte Gleise reaktiviert werden können.
                      wald verstümmelt und ein Natur- und Wasser-
                      schutzgebiet gefährdet werden. Der Bundesver-                    Bemerkenswerte Bewegung
                      kehrswegeplan 2030, der auch der A49 höchste                     Im Herbst 2019 begannen Aktivist*innen, erste
                      Priorität einräumt, ist auf Zuwachs von Pkw- und                 Baumhäuser und eine Mahnwache zu errichten.
                      Lkw-Verkehr ausgerichtet. In fast jedem Straßen-                 Rasch gelang die Vernetzung mit den „alten“ Bür-
                                                                                       gerinitiativen gegen den bevorstehenden Baube-
                                                                                       ginn. Mit der gegenseitigen Unterstützung nahm
                      1 Unseren Bericht haben wir am 20. Dezember 2020 fertig-
                        gestellt. Er ist unter anderem auf www.nachhaltig-links.
                                                                                       die Auseinandersetzung schnell Fahrt auf: Im
                        de/mobilität unter dem Titel „Sicherheit vor Schnelligkeit –   Juni urteilte das Bundesverwaltungsgericht gegen
                        eine zweifelhafte Losung“ zu finden.                           die Klage des Bund für Umwelt und Naturschutz

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Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung - Sabine Leidig (Hrsg.) - Oekom Verlag
INFRASTRUKTUR & SUBVENTIONEN

                      (BUND), dass dem wachsenden Verkehr ein hö-           Automobil- und Logistikstandort sowie wachsen-
                      heres öffentliches Interesse zukomme als dem          de (transnationale) Verkehrsströme als Sinnbild
                      Natur-, Klima- und Wasserschutz. Innerhalb weni-      des Wohlstandes zementieren will, steht die For-
                      ger Wochen entwickelte sich der Kampf um den          derung nach einem Baustopp neuer Autobahnen
                      „Danni“ von einer lokalen Protestaktion zu einem      für einen Richtungswechsel in der Verkehrs- und
                      bundesweiten Bezugspunkt der Klimagerechtig-          Wirtschaftspolitik. Für die Hoffnung auf klimage-
                      keitsbewegung. Die Strukturen des zivilen Unge-       rechte (Verkehrs-)Verhältnisse. Der „Autobahnaus-
                      horsams zeigten im Zusammenspiel mit lokalen          baudeckel“ kann zu einem wichtigen Kristallisati-
                      Bürgerinitiativen, betroffenen Dörfern und Verbän-    onspunkt der sozialökologischen Verkehrswende
                      den wie BUND, Campact, Greenpeace oder Attac          werden und hat das Potential zum „Mietendeckel
                      beachtliche Vernetzungskompetenz und zivilge-         der Mobilität“2.
                      sellschaftliche Größe. Ähnlich breite und zugleich
                      radikale Zusammenarbeit gab es auch für den           Ein Dreh- und Angelpunkt für
                      „Hambi“, den Hambacher Wald, vor dem (faulen)         solidarische Perspektiven
                      Kohleausstieg. Mit der Erfahrung und dem Können       Der Autobahndeckel zeigt wie der Mietendeckel
                      von Baumbeschützer*innen – auch aus anderen           an: Ein „Weiter so“ darf es nicht geben! Wer weiter
                      europäischen Ländern –-, mit der gewaltfreien         Autobahnen baut, ist im Unrecht! In diesem Zu-
                      Blockadeübung von Ende Gelände oder Sand im           sammenhang ist der Beitrag von Carola Rackete
                      Getriebe und mit der Dynamik von Fridays for Futu-    und Luisa Neubauer im Spiegel vom 12. Novem-
                      re, gelang der Sprung in die bundesweite Medien-      ber 2020 bemerkenswert. Sie stellen fest, dass es
                      berichterstattung deutlich schneller, als das beim    nicht möglich sein wird, zugleich den völkerrecht-
                      „Hambi“ der Fall war.                                 lich verbindlichen Klimaschutzvertrag und die be-
                          Allerdings sind die Bündnisgrünen hier nicht      reits geschlossenen Verträge im Bereich fossiler
                      „natürliche Verbündete“. Zu tief ist die Kluft zwi-   Rohstoffe und Infrastrukturen einzuhalten: „On pa-
                      schen dem Bekenntnis zur sozialökologischen           per [auf dem Papier] haben wir den globalen ökolo-
                      Verkehrswende und dem tatsächlichen Handeln           gischen Zusammenbruch schon längst vertraglich
                      unter grüner Regierungsbeteiligung. Die Enttäu-       besiegelt. Wenn man alle Verträge zusammen-
                      schung in Teilen der Klimagerechtigkeitsbewe-         zählt, die wir Menschen zum heutigen Zeitpunkt
                      gung ist zu Recht groß: Mit Verkehrsinfrastruktur     schon unterschrieben haben, kommen wir bei
                      wird zukünftige Entwicklung im wahrsten Sinne in      einer vertraglich abgestimmten globalen Erwär-
                      Beton gegossen. Deshalb müssen die 850 zusätz-        mung von weit mehr als zwei Grad Celsius an.“ Mit
                      lichen Autobahnkilometer, die im Bundesverkehrs-      Blick auf den Koalitionsvertrag in Hessen und den
                      wegeplan bis 2030 vorgesehen sind, nicht nur auf      ÖPP-Vertrag zum Bau der Autobahn schreiben sie:
                      den Prüfstand, sondern diese widersinnige Ver-        „Wir werden in den nächsten Jahren immer weiter,
                      schwendung muss schnellstens gestoppt werden.         immer mehr Verträge brechen müssen. Die Fra-
                          Derzeit entwickelt sich eine Vernetzung, die      ge ist nur, welche das sein werden – und wer die
                      auch an anderen Stellen den Neu- oder Ausbau          Macht hat zu entscheiden welche. Systemfragen
                      von Autobahnen mit neuem Schwung in Frage             halt.“ Damit haben die beiden Frauen eine zentra-
                      stellt: Tausende radeln wieder gegen die A100 in      le Herausforderung formuliert, vor der sich kein*e
                      Berlin, neue Bündnisse bilden sich in Oberhausen,     Politiker*in hinter Verwaltungsgerichtsurteilen
                      Hamburg oder Kiel, in Niedersachsen oder Sach-        oder selbstgeschmiedeten Ausbaugesetzesketten
                      sen-Anhalt erstarkt der Widerstand ebenso wie         verstecken kann. Die Zeit des „Abarbeitens“ alter
                      im Rhein-Main-Gebiet. Der „Danni“ markiert schon      Pläne ist vorbei.
                      jetzt einen Wendepunkt, den wir den „Wald statt
                      Asphalt!“-Aktivist*innen verdanken.
                                                                            2 Der Begriff „Mietendeckel der Mobilität“ stammt von Mario
                          Ein im Oktober 2020 vom Wuppertal Institut          Candeias, Leiter der Abteilung Politikanalyse bei der Ro-
                      vorgelegtes Papier beantwortet Frage, was bis           sa-Luxemburg-Stiftung: https://www.zeitschrift-luxemburg.
                      2035 bei uns geändert werden müsste, damit die          de/mietendeckel-der-mobilitaet/.
                      weitere Erderhitzung auf maximal 1,5 Grad be-
                      grenzt werden kann. Die Autor*innen treffen für
                      den Verkehrssektor eine klare Ansage: Der Auto-
                      verkehr muss halbiert und der Lkw-Verkehr redu-
                      ziert werden. Während die politische Rechte den
                                                                                                                                          67

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Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung - Sabine Leidig (Hrsg.) - Oekom Verlag
Im Feld der Wohnungspolitik ist der Stopp für Miet-    Die neue Allianz der Gewerkschaften Ver.di und
                      erhöhungen, der „Mietendeckel“, ein Dreh- und          EVG mit Fridays for Future, BUND, BUND-Jugend,
                      Angelpunkt für linke Perspektiven geworden. Die        Attac, VCD, Changing Cities, NaturFreunden und
                      ganze soziale Misere einer von Kapitalinteressen       Campact veröffentlichte im September 2020 ein
                      getriebenen Mietenpolitik wird damit kritisiert;       gemeinsames Forderungspapier. Anlass war der
                      plötzlich kommen die Interessen auf den Tisch,         Tarifkampf für bessere Arbeitsbedingungen im
                      wird die „Gesetzmäßigkeit“ von Immobilienrendite       öffentlichen Personennahverkehr. Ein wesentli-
                      in Frage gestellt. In der Diskussion um diese rote     cher Punkt darin ist, „dass die autozentrierte Ver-
                      Linie, werden viel weitergehende Veränderungen         kehrsplanung der letzten Jahrzehnte beendet und
                      gefordert und Konzepte entwickelt. Auch in die-        die Mittel aus dem Fernstraßenneubau zu Guns-
                      sem Feld steht die gesellschaftliche Linke deut-       ten des Umweltverbundes umgewidmet werden“3.
                      lich erkennbar gegen die gesellschaftliche Rechte.     Immerhin geht es um zig Milliarden Euro, die nach
                      Mobilisierung entsteht dabei aus konkreter Betrof-     den jetzigen „Bedarfsplänen“ des Bundes in den
                      fenheit, aus Solidarität und dem Wunsch nach ge-       Bau zusätzlicher Fernstraßen gesteckt werden sol-
                      rechten (Wohn-)Verhältnissen.                          len. Mittel, die für sozial und ökologisch gerechte
                          Eine ähnliche Rolle kann der „Autobahnde-          Verkehrskonzepte gebraucht werden, für Auswege
                      ckel“ spielen. Auch hier sind es zunächst meist        aus imperialen Verkehrsverhältnissen und für soli-
                      direkt Betroffene, die ihr Anliegen politisieren und   darische Mobilität.
                      sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensräume vor
                      Ort einsetzen. Auch der Autobahndeckel ist eine
                      Basis, von der aus weitergehende gesellschaft-         3 Das ganze Bündnis-Positionspapier zum Beispiel unter
                                                                               www.attac.de/kampagnen/verkehrswende/verdi-at-
                      liche Veränderungen gedacht, diskutiert und er-          tac-tvn2020/positionspapier-verkehrswende/.
                      rungen werden können. Das Umsteuern öffent-
                      licher Investitionen zur Stärkung von Bahn, Öffis,
                      Fuß- und Fahrradmobilität ist naheliegend. Die
                      Unterstützung regionaler (Land-)Wirtschaft und
                      Transparenz über die Frage, was eigentlich warum
                      transportiert wird und wer darüber entscheidet,
                      kommen auf die Tagesordnung. Solche Themen
                      gehen kommunal-, landes- und bundespolitisch
                      Hand in Hand, bieten Chancen für kleinere und
                      größere Aktionen und viel Raum für Bündnisarbeit.
                      Auch in die Betriebe hinein – zu Gewerkschaften
                      und Betriebsrät*innen. Wir sollten Städte und Ge-
                      meinden für soziales Leben umgestalten, statt den
                      Durchgangsverkehr zu verwalten.

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INFRASTRUKTUR & SUBVENTIONEN

                                                      Wald statt Asphalt
                                                                                  Die Waldbesetzung ist mehr als Protest gegen
                                                                                  eine Autobahn

                      Neben dem Widerstand von Bürgerinitiativen, Umwelt-
                      verbänden und Kirchen entstand im Herbst 2019 eine
                      neue Protestform gegen den Weiterbau der A49.

                      Torsten Felstehausen

                      In schwindelerregender Höhe von zum Teil über               Und, geht es?
                      20 Metern haben sich gut 100 Aktivist*innen in                  Kröte: Ja, vor allem mit Solidarität. Wir essen
                      mehreren Baumhausdörfern entlang der geplan-                hier vegan, nutzen viele Dinge, die wir gebraucht
                      ten Trasse eingerichtet und mit Plattformen, Sei-           gespendet bekommen haben. Aber wir retten auch
                      len, Hängebrücken im wahrsten Sinne des Wortes              weggeworfene Lebensmittel durch Containern,
                      vernetzt. Ich sprach mit Kröte1, einem der Aktivisti        was nach geltendem Recht eine Straftat ist. Wir
                      über die Motivation der Waldbesetzer*innen:                 wollen uns unserer Verantwortung stellen und et-
                         Ihr kommt aus unterschiedlichen Bereichen und            was gegen die weltweite politische und wirtschaft-
                      Regionen – was verbindet euch, und was sind eure            liche Ungerechtigkeit tun.
                      Ziele?                                                          Es wurde behauptet, ihr würdet Drahtseile span-
                         Kröte: Na, den Wald zu erhalten und den Wei-             nen, um berittene Polizei zu verletzen. Was ist dran
                      terbau der A49 zu verhindern. Aber es gibt noch             an den Vorwürfen?
                      mehr. Wir nutzen den Freiraum hier, um ein an-                  Kröte: Das ist Blödsinn. Wir laden alle ein, sich
                      deres Zusammenleben Wirklichkeit werden zu                  hier selbst ein Bild zu machen. Es gibt eine Menge
                      lassen. Herrschaftsstrukturen abzubauen, gegen              Seile im Wald, aber alle Konstruktionen dienen aus-
                      den täglichen Sexismus und den allgegenwärti-               schließlich der Sicherung unserer Blockadestruk-
                      gen Rassismus anzugehen gehört dazu. Der Auto-              turen. Zum Glück gibt es Parlamentarische Beob-
                      bahnbau ist für uns ein Symbol für die ungerechte           achter*innen hier. Es wird immer wieder versucht,
                      Wirtschaftsordnung. Wir brauchen einen System-              den Widerstand zu kriminalisieren und zu spalten
                      wechsel.                                                    – wir halten mit unserer Offenheit dagegen. In den
                         Und wenn 100 Menschen aus dem System aus-                letzten Wochen waren über 1.000 Menschen hier
                      steigen, bleibt das Eis an den Polkappen erhalten …         im Wald; sie können aus erster Hand berichten,
                         Kröte: Selbstverständlich ist das Leben in               was sie gesehen haben.
                      Baumhütten ohne fließendes Wasser nicht das
                      Ziel. Aber wir wollen uns nicht einfach einbinden
                      lassen in das „Weiter so“, in eine Gesellschaft, die             Torsten Felstehausen ist Mitglied der Links-
                      aufgebaut ist auf Kinderarbeit, Umweltzerstörung                 fraktion im hessischen Landtag und ein toller
                      und Unterdrückung. Wir haben mehr, als wir essen                 Genosse in Nordhessen.
                      können, wir haben mehr, als wir anziehen können,
                      aber die Industrie will uns weismachen, dass wir
                      mehr konsumieren müssen, mehr brauchen. Wir
                      wollen erleben, dass es anders gehen kann.
                                                                                     Lesetipp
                      1 Die Namen von Kröte, Hase, Charly Linde, Lola Löwen-           Die Homepage: wald-statt-asphalt.net
                        zahn, Scully und all den anderen Waldbeschützer*innen
                        im zivilen Ungehorsam sind vorübergehende, wie auch die        Die TV-Doku von arte (im Auftrag des hr):
                        Namen der Barrios im Wald. Unterwex, Zwischendurch,
                                                                                       „Re:Generation Waldbesetzer – im Baumhaus
                        Morgen oder Flying Angel und weitere Baumsiedlungen im
                        Danni, Mauli und Herri wurden von Polizei und Rodungs-         gegen die Klimakrise“
                        trupps zerstört und dem Erdboden gleichgemacht.                Zu finden in der arte-Mediathek.

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Makro-Ökonomie:
                                                      kolossale Kosten
                                                                                  Die wahren Kosten des Verkehrs werden
                                                                                  abgewälzt und totgeschwiegen

                      Für Arbeit, Freizeit und Handel werden immer größere
                      Entfernungen zurückgelegt. Was eine Tankfüllung, die
                      Kfz-Versicherung oder ein Flugticket kostet ist bekannt.
                      Und Unternehmen wissen, wie viel sie für die Fracht
                      kalkulieren müssen. Aber das ist längt nicht alles. Viele
                      Verkehrsfolgen haben die Verursacher*innen gar nicht
                      auf dem Zettel. Aber es sind gigantische Summen.

                      Axel Troost

                      Das Abwälzen negativer Folgen des eigenen Ver-              typischerweise in Geld, und die Gesamtschäden
                      haltens auf andere nennt man Externalisierung.              werden dann addiert. Dies ist leichter gesagt als
                      Sie durchzieht inzwischen so viele Lebensberei-             getan: Wie will man erfassen, welche Klimaschä-
                      che, dass der Soziologe Stephan Lessenich von               den durch eine bestimmte Menge an Autoabgasen
                      einer Externalisierungsgesellschaft spricht. Dabei          in den nächsten Jahrzehnten beziehungsweise
                      hat er vor allem das westliche Wohlstandsmodell             Jahrhunderten verursacht werden? Welcher Wert
                      vor Augen, das Ausbeutung und Umweltzerstö-                 wird einem Verkehrsunfallopfer zugewiesen, und
                      rung im Globalen Süden in Kauf nimmt. Auch der              soll es dabei einen Unterschied machen, ob ein
                      Verkehr hat längst ein Ausmaß angenommen, das               Kind, ein Rentner oder eine Bankdirektorin zu Scha-
                      die Lebensqualität und unseren Planeten ernsthaft           den gekommen ist? Es ist daher unvermeidlich,
                      bedroht. Wenn die Pole schmelzen, Lärm und Ab-              jede Menge Annahmen zu treffen. Entsprechend
                      gase die Gesundheit bedrohen und die Landschaft             werden die Kostenschätzungen auch immer wie-
                      durch Straßen, Parkplätze und Schienen zerschnit-           der mit guten und schlechten Argumenten in Fra-
                      ten und versiegelt wird, dann liegt dies auch daran,        ge gestellt. Doch klar ist: Die externen Kosten sind
                      wie wir uns fortbewegen. Wobei „wir“ den Kern der           real und werden nicht etwa dadurch fiktiv, dass sie
                      Sache nicht trifft, denn individuell gibt es große Un-      von den Verursacherinnen und Verursachern nicht
                      terschiede: Wer reich ist, kann sich nicht nur mehr         getragen werden.
                      Verkehrsaufwand leisten, sondern sich meist auch               Dem aktuellen, von der EU-Kommission her-
                      besser vor den negativen Folgen des Verkehrs                ausgegebenen Handbuch über die externen Kos-
                      schützen. Die Forschung hierzu ist unterbelich-             ten des Verkehrs1 zufolge werden in der gesamten
                      tet, aber Recherchen des Umweltbundesamts zur               Europäischen Union durch den Verkehr jährlich ex-
                      Umweltgerechtigkeit in Deutschland haben ge-                terne Kosten von 987 Milliarden Euro verursacht,
                      zeigt, dass Haushalte mit hohem ökonomischem                davon 83 Prozent durch den Straßenverkehr2. Von
                      Status deutlich mehr Autos besitzen und auch                den Gesamtkosten entfallen 70 Prozent auf den
                      die Unterwegszeiten mit dem Einkommen wach-                 Personenverkehr, der Rest auf den Güterverkehr.
                      sen. Hingegen sind sozial benachteiligte Familien           Auf den Kilometer bezogen schneiden im Perso-
                      überproportional von Lärm, Schadstoffen und dem             nenverkehr Motorräder wegen ihrer hohen Laut-
                      Straßenbau betroffen, mit drastischen Folgen für            stärke und der hohen Unfallkosten mit 24,5 Cent
                      Gesundheit und Lebenserwartung. Besonders be-               pro Personenkilometer (Pkm) besonders schlecht
                      troffen sind einkommensschwache Haushalte, Äl-
                      tere, Kinder, Behinderte und Menschen mit Migra-
                                                                                  1 European Commission (2019): „Handbook on the external
                      tionshintergrund.
                                                                                    costs of transport”, Version 2019, als PDF abrufbar unter
                          Um das Problem besser greifbar zu machen,                 https://ec.europa.eu.
                      versuchen Ökonominnen und Ökonomen die Ex-                  2 Inklusive Staukosten, bei denen umstritten ist, ob es sich
                      ter-nalisierung zu messen. Jeder Schaden muss                 tatsächlich um externe Kosten handelt, weil die Verur-
                      dazu in die gleiche Maßeinheit überführt werden,              sa-chenden auch die Geschädigten sind.
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03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 70                                                                                                           08.04.21 17:54
INFRASTRUKTUR & SUBVENTIONEN

                      ab, gefolgt von Pkw mit 12 Cent/Pkm (ohne Stau-               nehmenden durch zweckgebundene Steuern und
                      kosten 7,8 Cent/Pkm) mit weitem Abstand vor Bus               Abgaben nur zu einem geringen Anteil für die von
                      (3,6 Cent/Pkm) und Bahn (1,3 Cent/Pkm für elek-               ihnen verursachten Kosten (externe Kosten und
                      trische Hochgeschwindigkeitszüge bis 3,9 Cent/                Infrastrukturkosten) herangezogen werden. Für
                      Pkm für Dieselzüge). Flüge weisen durchschnitt-               die meisten Fahrzeugkategorien sei höchstens
                      lich 3,4 Cent/Pkm und auf Kurzstrecken mit 4,2                ein Viertel dieser Gesamtkosten dadurch gedeckt.
                      Cent/Pkm etwa dreimal so hohe externe Kosten                  Viele sehen den Ausweg aus dem Externalisie-
                      pro Personenkilometer auf wie Hochgeschwindig-                rungsdilemma in der vollständigen Internalisie-
                      keitszüge. Dass der Unterschied nicht noch größer             rung der externen Kosten in die Marktpreise: Sprit-
                      ist, liegt an den vergleichsweise geringen Kosten             preise und Nutzungsentgelte wie Maut müssen
                      für Unfälle und Flächenverbrauch. Sie müssen je-              soweit erhöht werden, dass mit den eingenom-
                      doch in Verbindung mit hohen Kilometerzahlen ge-              menen Geldern die Schäden vermieden, behoben
                      sehen werden, die Flugreisen in absoluten Zahlen              oder kompensiert werden können. Das entspricht
                      zu echten Klimakillern machen.                                dem Verursacherprinzip, beseitigt die unfaire Pri-
                          Das Umweltbundesamt kommt für den deut-                   vilegierung umweltschädlicherer Fortbewegungs-
                      schen Verkehr zu ein wenig anderen Kosten –                   varianten und ist insofern auch berechtigt. Abge-
                      Pkws und Motorräder schneiden etwas besser ab                 sehen von den vielen praktischen Problemen, die
                      –, die hohen externen Kosten des motorisierten                der Internalisierungsansatz mit sich bringt, leidet
                      Individualverkehrs kommen dort aber gleichfalls               er aber auch an einem verengten Blick auf die
                      zum Ausdruck3. Ebenfalls nur auf Deutschland be-              Wirklichkeit. Denn Ziel der Verkehrspolitik muss
                      zogen errechnet eine Studie im Auftrag der Allianz            ein maßvoller und jeder und jedem offenstehender
                      pro Schiene jährliche externe Kosten in Höhe von              Zugang zu Mobilität sein. Hingegen interessiert
                      149 Milliarden Euro (ohne Staukosten), auch hier-             bei der Internalisierung über Marktpreise vor allem
                      bei entfällt der Großteil auf den Straßenverkehr4.            die Tatsache, wie zahlungskräftig jemand ist. Si-
                      Der größte Teil entsteht durch Unfälle. Aber auch             cher führt kein Weg daran vorbei, die Nutzung von
                      Klimaschäden und vor- und nachgelagerte Pro-                  Autos und Flugzeugen deutlich teurer zu machen,
                      zesse, also die Produktion und Entsorgung von                 zum Beispiel durch eine stetig steigende Kohlen-
                      Fahrzeugen, Verkehrswegen und Treibstoffen,                   dioxid-Steuer oder -Abgabe. Dies darf aber nicht
                      schlagen mit 21 Prozent erheblich zu Buche. Im                dazu führen, dass ärmere oder in ländlichen Regio-
                      Unterschied zu den Zahlen der EU-Kommission                   nen wohnende Menschen vom gesellschaftlichen
                      werden (inländische) Flugreisen mit externen Kos-             Leben ausgeschlossen werden. Preissteuernde
                      ten von 12,8 Cent/Pkm als schädlicher angesehen               Maßnahmen müssen daher stets auch in ihrem
                      als Pkw-Fahrten (10,8 Cent/Pkm) und schneiden                 sozialen Kontext gesehen werden und durch einen
                      deutlich schlechter ab als die Bahn (3,2 Cent/                Instrumentenmix aus Ge- und Verboten, Förder-
                      Pkm). Grund ist der höhere Klimakostensatz von                und Strukturpolitik und eine Stadtplanungspoli-
                      180 statt 100 Euro pro Tonne Kohlendioxid.                    tik der kurzen Wege ergänzt werden, um soziale
                          Was folgt aus diesen Zahlen? Das Handbuch                 Schieflagen zu vermeiden und trotzdem die not-
                      der EU-Kommission belegt, dass die Verkehrsteil-              wendige Verkehrswende zu meistern.

                      3 Umweltbundesamt: „Methodenkonvention 3.0 zur                     Axel Troost ist seit einer kleinen Ewigkeit
                        Ermittlung von Umweltkosten“, Kostensätze, Stand
                                                                                         Weggefährte, Geschäftsführer der Memoran-
                        02/2019, erstellt von Astrid Matthey und Björn Bünger,
                        Dessau-Roßlau 2019.                                              dum-Gruppe für Alternative Wirtschaftspoli-
                      4 Infras: „Externe Kosten des Verkehrs in Deutschland.
                                                                                         tik und Mitgründer des Institut Solidarische
                        Straßen-, Schienen-, Luft- und Binnenschiffverkehr 2017“,        Moderne ISM
                        Studie im Auftrag von Allianz pro Schiene e. V., 2019.

                                                          Lesetipp
                                                            Stephan Lessenich: „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesell-
                                                            schaft und ihr Preis“, Hanser, Berlin 2016.
                                                            Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: „Nachhaltige Mobilität aktiv
                                                            gestalten“, in: Memorandum 2020: Gegen Markt- und Politikversagen – aktiv
                                                            in eine soziale und ökologische Zukunft“, PapyRossa, Köln 2020. (kostenlos
                                                            auf: alternative-wirtschaftspolitik.de
                                                            Umweltbundesamt: „Umweltgerechtigkeit – Umwelt, Gesundheit und soziale
                                                            Lage“, Dessau-Roßlau 2019, unter: umweltbundesamt.de.

                                                                                                                                          71

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Bahn: Borniertheit und
                                          Bewegung im Bundestag
                                                                               Von der Börsenbahn zur Bürger*innen-Bahn
                                                                               – ein lohnender Weg

                      Mit der Bahnreform wurde aufs falsche Pferd oder
                      Gleis gesetzt. Die neue Deutsche Bahn AG wandelte
                      sich zu einer gewinnorientierten Schrumpfbahn und
                      gleichzeitig zu einem globalen Konzerngeflecht. Dieser
                      Kurs wird nun verlassen. Doch damit die Richtung
                      stimmt, muss die DB demokratisch umgesteuert wer-
                      den.

                      Wem gehört die Bahn? Diese Frage ist Gegenstand          auch im Westen wieder alle Städte ans Bahnnetz
                      einer MDR-Dokumentation, die am 4. Februar 2021          angeschlossen werden und alle Großbetriebe
                      ausgestrahlt wurde. Darin heißt es: „Bis 1989 rollte     auch. Bestimmt hätten sie nicht vorgeschlagen,
                      die Deutsche Reichsbahn als das Transportmittel          den größten Teil der über 100.000 Eisenbahner-
                      Nummer eins durch die DDR. Sie bewältigte acht-          wohnungen an Immobilienhaie zu verkaufen. Und
                      zig Prozent aller Gütertransporte und die Hälfte         bestimmt hätten sie nicht 3.500 der 5.200 Bahn-
                      des ostdeutschen Personenverkehrs. Zur Deut-             höfe als „nicht betriebsnotwendige Empfangsge-
                      schen Reichsbahn gehörten 14.000 Gleiskilome-            bäude“ deklariert und verscherbelt.
                      ter, 1.800 Bahnhöfe, 7.000 Lokomotiven, mehr als             Wie wir wissen, lief es anders. Auf dem Höhe-
                      170.000 Waggons und mindestens 46.000 Hektar             punkt neoliberaler Marktgläubigkeit beschloss der
                      Grundstücke sowie Tausende Eisenbahnerwoh-               Bundestag die Bahnreform: Das größte öffentliche
                      nungen. Wem gehört all das heute? Denn das alte          Unternehmen wurde in eine privatrechtliche Ak-
                      Reichsbahn-Netz wurde mit der Bahnreform 1994            tiengesellschaft umgewandelt wie ein kapitalisti-
                      von der Deutschen Bahn Aktiengesellschaft aus-           scher Konzern und sollte sich künftig rentieren. So
                      gedünnt, und viele Immobilien wurden verkauft.           hatte es der Bundestag im Dezember 1993 mit 558
                      Der Leipziger Hauptbahnhof war einer der ersten          Ja-Stimmen, 13 Gegenstimmen und 4 Enthaltun-
                      verkauften Bahnhöfe und ging an die Deutsche             gen beschlossen und dafür das Grundgesetz ge-
                      Bank. Tausend weitere Bahnhöfe bekam ein briti-          ändert (Artikel 87e). Die Deutsche Bahn AG wurde
                      scher Immobilieninvestor.“                               gegründet, die Aufgaben der staatlichen Daseins-
                          Was wäre wohl geschehen, wenn die Bahnre-            vorsorge wurden von den unternehmerischen
                      form von 1993/94 nicht den Weg bereitet hätte            Aufgaben der Bahnen getrennt, der Schienenper-
                      für diese gewaltige Privatisierungswelle? Was            sonennahverkehr ging über in die Verantwortung
                      wäre gewesen, wenn nicht eine Kommission                 der Bundesländer (Regionalisierung) und wurde
                      aus Wirtschaftsvertretern über die Zukunft der           mit der nötigen finanziellen Ausstattung versehen.
                      Eisenbahn im vereinten Deutschland beratschlagt          Das Schienennetz öffnete sich „diskriminierungs-
                      hätte, sondern wenn die Bahnnutzer*innen und             frei“ für andere europäische Bahnen – eine Anfor-
                      die Eisenbahner*innen aus Reichsbahn und Bun-            derung der Europäischen Union.
                      desbahn mit ihrer Kompetenz ein Bahnsystem                   Die Bahnreform hatte drei explizite Ziele: bes-
                      der Zukunft entwickelt hätten? Vielleicht wäre der       serer Service, höhere Marktanteile und weniger
                      Leipziger Hauptbahnhof nicht zur Shopping-Mall           Subventionen. 20 Jahre später musste der Bun-
                      mit Gleisanschluss mutiert? Vielleicht wäre nicht        desrechnungshof allerdings richtigerweise fest-
                      in jedem Großstadtbahnhof der Kommerzteppich             stellen: „Die beabsichtigte Verlagerung des Ver-
                      ausgerollt und für Billigflüge geworben worden?          kehrs von der Straße auf die Schiene ist nicht
                      Vielleicht wäre ein Programm dabei herausge-             eingetreten.“ Und: „Das Ziel, den Bundeshaushalt
                      kommen, wie die technischen Standards und der            zu entlasten, ist nicht erreicht worden.“
                      Service bei der künftigen Deutschen Bürgerbahn
                      Schritt für Schritt verbessert werden können, wie

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BAHN (NOCH) BESSER

                      Auf Börsenkurs mit Mehdorn                            Widerstand regt sich
                      In der zweiten Stufe der Bahnreform wurden zum        Der Börsenkurs war von Anfang an umstritten. Vor
                      1. Januar 1999 fünf eigenständige Aktiengesell-       allem aus der Zivilgesellschaft und von Seiten der
                      schaften unter dem Dach der Deutschen Bahn AG         Beschäftigten regte sich Widerstand. Das Exper-
                      gegründet: DB Reise & Touristik AG, DB Regio AG,      tenbündnis Bürgerbahn statt Börsenbahn argu-
                      DB Cargo AG, DB Netz AG und DB Station & Service      mentierte in Richtung Schweizer Vorbild für Bahn-
                      AG. Damit war schon vorgezeichnet, wohin die Rei-     ausbau in der Fläche, für vertaktete öffentliche
                      se gehen sollte: an die Börse. Jede Konzerntochter    Verkehre und „schwarze Null“ statt Bilanzgewinn.
                      bekam einen eigenen Vorstand, ein eigenes Ge-         Vergeblich. Weil sich die größte Eisenbahngewerk-
                      winnmanagement. Jede wurde auf Kostenreduzie-         schaft Transnet damals nicht gegen den Privatisie-
                      rung getrimmt und sollte Gewinne an die Holding       rungskurs aufgestellt hatte, entstand mit Bahn von
                      abführen – auch auf Kosten der anderen Töchter.       unten ein widerständiger Zusammenschluss in der
                      Eine Fehlkonstruktion, die sich noch rächen sollte.   Belegschaft. Und das Bündnis Bahn für Alle stellte
                          Statt sich ein Beispiel an der Schweiz zu neh-    viel Gegenöffentlichkeit her. Mit Hermann Scheer,
                      men, eiferte die Regierung unter Kanzler Gerhard      dem „Vater“ des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes,
                      Schröder (SPD) dem britischen Modell der Zer-         war auch ein prominenter SPD-Politiker auf der
                      schlagung und Privatisierung des Bahnsystems          Seite der gesellschaftlichen Opposition. Die öf-
                      nach. Schröder holte Hartmut Mehdorn als Bahn-        fentliche Meinung drehte sich und kippte schließ-
                      chef an Bord, einen Mann, der 20 Jahre lang (Spit-    lich auch in der SPD gegen Privatisierung.
                      zen-)Manager der Luftverkehrsindustrie (Airbus)           Der Verkauf von letztlich 24,9 Prozent der Bahn-
                      gewesen war und danach als Vorstandvorsitzen-         aktien an der Börse wurde buchstäblich in letzter
                      der der Heidelberger Druckmaschinen AG das            Minute abgesagt. Offizieller Grund war die Finanz-
                      Unternehmen durch eine Expansionsstrategie zu         krise, aber auch die öffentliche Meinung spielte in
                      einem Universalanbieter umgebaut und es an die        Anbetracht der 2009 anstehenden Bundestags-
                      Börse gebracht hatte.                                 wahl eine erhebliche Rolle.
                          Den Job sollte er nun auch bei der DB AG ma-          Eine der üblen „Nebenwirkungen“ des geplan-
                      chen. Mehdorn konzentrierte die Investitionen auf     ten Börsengangs betraf die Berliner S-Bahn, die im
                      wenige Großprojekte der Hochgeschwindigkeit.          Mai 2009 ins Chaos rollte: Nach einem Radbruch
                      Die Bahn in der Fläche interessierte ihn nicht. Da-   konnte die S-Bahn die technische Überprüfung der
                      mit private Anleger Bahnaktien kaufen würden,         Fahrzeuge nicht sicherstellen und musste deshalb
                      musste der Konzern Profit versprechen. Zugleich       380 Züge der neuesten Bauart aus dem Verkehr
                      expandierte die DB AG ins weltweite Logistikge-       nehmen. Es stellte sich heraus, dass die S-Bahn-
                      schäft und kaufte ein: 2002 das Lkw-Speditions-       züge nicht nur technische Probleme mit Achsen
                      unternehmen Stinnes-Schenker für 2,5 Milliarden       und Rädern hatten, sondern darüber hinaus auch
                      Euro, 2006 den US-Logistiker Bax Global für knapp     mit den Bremsen. Zeitweise konnte nur noch ein
                      eine Milliarde, 2007 die britischen Güterbahn EWS     Viertel der Züge eingesetzt werden. Eine fast hun-
                      und die spanische Güterbahn Interfesa, 2008 die       dertköpfige Task-Force mit Bahnspezialist*innen
                      Eisenbahngesellschaft Chiltern Railways in Groß-      aus ganz Deutschland wurde nach Berlin beordert,
                      britannien. Und Mehdorn verkündete den Einstieg       um die Probleme zu beheben. Hartmut Mehdorn
                      in den polnischen Güterbahnmarkt. Während die         hatte die Berliner S-Bahn mit drastischen Einspa-
                      DB als Konkurrent andere im europäischen Eisen-       rungen „börsenfein“ machen wollen. Die Zahl der
                      bahnmarkt verdrängte, verschwanden daheim             S-Bahnwerkstätten war von sieben auf vier und die
                      9.500 Gleisanschlüsse für die Verladung von Gü-       Zahl der Mitarbeiter*innen von 3.766 auf 2.870 re-
                      tern auf die Schiene. Postzugverkehr oder Stück-      duziert worden. Verkürzte Zeiten in der Instandhal-
                      gutverkehr wurden gestrichen.                         tung und eine Reduzierung der Zugflotte von 740

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Wageneinheiten auf 632 prägten diese Jahre der                 2010 dann der große Grube-Coup: Die Deutsche
                      Berliner S-Bahn.                                               Bahn kauft Europas größten Busbetreiber Arriva.
                          Reserven wurden gestrichen, die S-Bahn sollte              Für 1,8 Milliarden Euro. Im Verkehrsausschuss
                      dem Bahnkonzern mehr Gewinn einbringen. Im                     des Bundestages verteidigt Grube die Expansions-
                      Jahr 2008 betrug er 56 Millionen Euro; 2009 hätten             strategie des bundeseigenen Unternehmens: Im
                      es 87,7 Millionen Euro sein sollen, und für 2010               Inland sei die Deutsche Bahn zunehmendem Wett-
                      war eine satte Gewinnsteigerung auf 125 Millio-                bewerb ausgesetzt, deshalb müsse sie woanders
                      nen Euro geplant. Die schweren Betriebsstörungen               wachsen. Die Regierung ist zufrieden.
                      brachten der S-Bahn Berlin aber ein Millionende-
                      fizit ein. Und eineinhalb Millionen Menschen, die              (K)eine Bilanz nach 20 Jahren Bahnreform
                      täglich mit der S-Bahn unterwegs sind, zahlten mit             Es war die Linksfraktion, die mit einer großen An-
                      Ärger, Stress und Zeit.                                        frage3 den Bundestag dazu zwang, sich mit den
                          Nach 10 Jahren musste Hartmut Mehdorn im                   konkreten Ergebnissen der Bahnreform zu be-
                      April 2009 als Bahnchef zurücktreten. Anlass war,              schäftigen. Die Standard-Aussage bei früheren und
                      dass ein massives Überwachungssystem aufflog,                  weiteren Versuchen, politische Verantwortung zu
                      das er geschaffen hatte, um Bahn-Mitarbeiter*in-               wecken, lautete, dass die DB ein „eigenwirtschaft-
                      nen zu kontrollieren, aber auch um gegen Kriti-                liches Unternehmen“ sei und die Politik sich raus-
                      ker*innen des Bahn-Börsengangs vorzugehen.                     zuhalten habe, man wolle nicht „zurück zur Behör-
                                                                                     denbahn“. Man glaubte dem „Bahnreform-Pabst“
                      Der „Global Player“ fährt weiter auf Verschleiß                Professor Gerd Aberle. Der schrieb 2013 in der
                      Im November 2009 waren vom neuen Verkehrs-                     Fachzeitschrift Verkehrsmanager, durch die Bahn-
                      minister Peter Ramsauer kritische Äußerungen zu                reform habe sich „das deutsche Eisenbahnsystem
                      lesen: „Man sieht am Beispiel der Berliner S-Bahn,             zu einem effizienten und international beispielhaf-
                      wohin es führt, wenn ein Unternehmen zur kurz-                 ten Vorbild entwickelt“.
                      fristigen Gewinnmaximierung ausgepresst wird“,                     Ob damit gemeint war, dass durch das Kaputt-
                      Privatisierung sei kein Allheilmittel.1                        sparen der Bahnsysteme die Autos aus Deutsch-
                          Allerdings fällt die Botschaft – ebenso, wie die           land noch bessere Exportchancen hätten? Als
                      „smartness“ des neuen Bahnchefs Grube2 – unter                 2012 erhoben wurde, wie viel Geld europäische
                      die Rubrik Nebelkerzen. Im Koalitionsvertrag der               Staaten in ihre Eisenbahninfrastruktur stecken,
                      neuen CDU/FDP-Regierung stand eindeutig: „So-                  war die Schweiz Spitzenreiter mit 349 Euro pro
                      bald der Kapitalmarkt dies zulässt, werden wir                 Bürger*in, gefolgt von Österreich mit 258 Euro.
                      eine schrittweise, ertragsoptimierte Privatisierung            Beide Alpenländer sehen für ihre Schienennetze
                      der Transport- und Logistiksparten der Deutschen               seit Jahren höhere Summen vor als für ihre Stra-
                      Bahn einleiten.“ Bahnchef Grube erzählte, dass                 ßeninfrastruktur. Doch auch in anderen Ländern
                      es zu diesem Zweck jetzt darauf ankomme, das                   wird ausgebaut: Schweden brachte 151 Euro pro
                      „Brot-und-Butter-Geschäft“ in Ordnung zu bringen.              Bürger*in auf, die Niederlande 129 und Großbri-
                          Aber unter seinem Vorsitz kaufte die DB ein                tannien 110, Italien 79 und Frankreich 63 Euro.
                      Verkehrsnetz im Nordosten Englands und mach-                   Deutschland gehörte mit 51 Euro pro Bundesbür-
                      te große Deals in Abu Dhabi und in Katar. Im Juni              ger*in zu den Schlusslichtern.
                                                                                         Die DB AG hatte die Eisenbahninfrastruktur in
                                                                                     20 Jahren stark geschwächt: Das Netz war um
                      1     Interview in der Super Illu, 49/2009
                      2    Rüdiger Grube gilt als Mehdorns „Ziehsohn“. Er kommt
                           ebenfalls aus der Flugzeugindustrie und war ab 1996 in    3    Große Anfrage der Linksfraktion: „20-Jahres-Bilanz der
                           leitender Funktion beim Daimler-Konzern tätig. Er wurde       Bahnreform von 1994 bis 2014“: 136 Fragen, zu denen die Bun-
                           auf Empfehlung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zum          desregierung auf 163 Seiten ihre Antworten lieferte: Bundes-
                           Bahnchef gekürt.                                              tagsdrucksache 18/3266.
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