Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung - Sabine Leidig (Hrsg.) - Oekom Verlag
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Inhaltsverzeichnis Vorwort ...........................................................................................................8 PERSÖNLICHES Ich ließ mich überzeugen................................................................................ 9 Bärbel Romanowski Als Quereinsteigerin in die Vollen.................................................................10 Solidarisch mobil...........................................................................................12 Ulrich Brand PROGRAMMATISCHES Solidarische Mobilität & Verkehrspolitik mit links.......................................14 Vermachtetes Gelände..................................................................................20 Kuscheln mit Auto-Konzernen......................................................................26 Nina Katzemich Koalitionen für Kapitalismus versus Klima..................................................28 Wir brauchen neue Bilder für die Zukunft der Mobilität..............................32 Anton Brokow-Loga Spürbar frischer Wind ... of Change.............................................................34 Fridays for Future in der Autofabrik.............................................................40 Cedric Büchling Kompetenz der Vielen: Demokratisierung tut Not.......................................41 Mit mehr Demokratie zu Tempolimit und Verkehrswende.........................47 Ralf-Uwe Beck Kampfplatz Verkehr.......................................................................................48 AfD: Autofanatisten.......................................................................................50 Gerd Wiegel Die imperiale Lebensweise auf den Straßen überwinden...........................52 Rohstoffpolitik geht jede*n an......................................................................57 Merle Groneweg INFRASTRUKTUR & SUBVENTIONEN Wer Straßen sät, wird Autoverkehr ernten...................................................58 Aus guten Gründen aktiv gegen Privatisierung...........................................64 Laura Valentukeviciute und Carl Waßmuth Autobahn-Baustopp – der „Mietendeckel der Mobilität“............................66 Wald statt Asphalt.........................................................................................69 Torsten Felstehausen Makro-Ökonomie: Kolossale Kosten............................................................70 Axel Troost Verkehrswende lohnt sich für Kommunen..................................................72 Mit Turbo in die falsche Richtung.................................................................74 Jörg Cezanne 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 5 08.04.21 17:54
ÖFFENTLICHER NAHVERKEHR Die Öffis treten aus dem Schatten...............................................................78 ÖPNV braucht Zukunft, braucht Klimaschutz, braucht gute Arbeit............84 Mira Ball und Knut Steinkopf Besser verkehren...........................................................................................86 Rika Müller-Vahl Ohne eigenes Auto mobil – nicht nur in der Großstadt..............................87 Ingrid Remmers und Bastian Kettner Nahverkehr für alle........................................................................................91 Violetta Bock Nulltarif ist nicht umsonst............................................................................92 Hier und überall: Lasst uns mehr Straßenbahn wagen...............................98 Fritz R. Viertel FUSS UND FAHRRAD Fuß und Fahrrad vor!...................................................................................100 Fahrradrevolution........................................................................................102 Isabell Eberlein Fahrradlust und Straßenfrust01...................................................................106 Doroteja Jakovic Fahrradlust und Straßenfrust02...................................................................107 Karl-Heinz Ludewig Per Pedes für alle – preiswert, aber nicht umsonst..................................110 Stefan Lieb Die Macht des Verkehrsrechts brechen.....................................................112 BAHN (NOCH) BESSER Bahn: Borniertheit und Bewegung im Bundestag......................................116 Kooperation statt Wettbewerb und Integration statt Spaltung................122 Ein Besuch bei mobifair lehrt uns das Fürchten........................................126 Züge statt Flüge: Leuchtendes Beispiel LunaLiner...................................129 Wir wollten nach Paris und nicht an die Börse..........................................134 Joachim Holstein LOKbuch – lehrreiches Praktikum bei der Güterbahn...............................138 Eisenbahn – da ist Musik drin....................................................................141 Dirk Flege VIELERLEI VERKEHRTER VERKEHR Wachstumswahn im Sinkflug.....................................................................142 Wir geben kein Ruhe....................................................................................146 Eric Ludwig Streiflicht Lärm und Lebensgefahr.............................................................148 Die Last mit den Lastern und die Lust am/auf Protest.............................152 Logistikzentrum, mach dich vom Acker!....................................................158 Achim Lotz Vereint gegen Amazon................................................................................162 Hamid Mohseni Seeverkehrt..................................................................................................167 Martin Wegner Wachstumskritik konkret............................................................................172 Solidarische Mobilität als Teil der Postwachstumsökonomie.................176 Nina Treu Mein Extra zu Stuttgart 21: Oben bleiben!.................................................177 Auch in schwierigen Zeiten: Oben bleiben!................................................180 Tom Adler 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 6 08.04.21 17:54
AUTOKORREKTUR #Autokorrektur für Carmany.......................................................................182 Sand im Getriebe der Automobilindustrie..................................................186 Janna Aljets Technik ist nicht a-sozial............................................................................188 Elektroautos sind auch Autos.....................................................................190 Winfried Wolf Autos ohne Menschen................................................................................194 Gerrit Schrammen Wunderwaffe Wasserstoff?........................................................................198 Lorenz Gösta Beutin Abgasbetrug ohne Ende..............................................................................200 Herbert Behrens Gemeinsam umbauen.................................................................................202 Olaf Bandt Vom Bohren dicker Bretter..........................................................................203 Mario Candeias und Stephan Krull Bewegung in globalen Lieferketten............................................................209 Michel Brandt POLITIK (BESSER) MACHEN Ein linker grüner neuer Deal........................................................................210 Bernd Riexinger Feministische Mobilität..............................................................................214 Elsa Koester Das Private ist politisch – und umgekehrt.................................................217 Attac lässt grüßen.......................................................................................220 Stephanie Handtmann Wie geht Verkehrswende, wenn Partei-Linke mitregieren?.......................222 Nachhaltig links...........................................................................................226 Heike Sudmann Reichweite durch Konflikt...........................................................................227 Pedram Shahyar Das Institut Solidarische Moderne.............................................................230 Andrea Ypsilanti Beweglich im Parlament.............................................................................232 Bernd Brouns, Corinna Genschel SoliMob – auf ein Neues?...........................................................................233 Digital und auf Papier..................................................................................235 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 7 08.04.21 17:54
Vorwort Liebe Leser*innen und Neugierige, Herzlichen Dank! jedes Buch hat einen Charakter. Um es gleich vor- Ein großes Dankeschön an meine wissenschaftli- wegzusagen: Dies ist kein wissenschaftliches chen Mitarbeiter, von denen ich viel lernen durfte. Fachbuch, sondern ein politisches Lesebuch. Wir arbeiteten intensiv und freundschaftlich zu- Im Frühling 2020 machte ich mich ans Werk, sammen: Winnie Wolf (bis 2017), Bernhard Knie- zuerst mit einem Exposé. Darin benannte ich Ziele, rim, Dominik Fette, Karl-Heinz Ludewig und Ludwig die ich hier nun voranstelle, in der Hoffnung, dass Lindner (ab 2017). Danke auch an Doroteja Jako- sie erfüllt werden: Das Buch soll Interesse an der vic, die als Büroleiterin im Trubel gut alle Teller jon- Verkehrswende wecken und die wichtige Verknüp- glieren kann. Und danke an die „guten Geister“ im fung mit neuen sozialökologischen Bewegungen Social-Media-Hintergrund und in Hessen, die mich darlegen und fördern: Klimagerechtigkeit, De- über die Jahre unterstützt und bereichert haben. growth, Changing Cities … Es soll engagierte Ein- Es war mir ein besonderes Anliegen, dass poli- steiger*innen unterstützen und verkehrspolitische tische Freund*innen und Weggefährt*innen an Hintergründe beleuchten. Es soll Erfahrungen und diesem Buchprojekt mitwirken, auch um Verbun- Erzählungen aus zwölf Jahren Verkehrspolitik im denheit zu stärken und Vernetzung anzuregen. Bundestag und im ganzen Land transportieren. Es Für die inspirierenden Gastbeiträge bedanke ich soll linke Verkehrspolitik und solidarische Mobili- mich herzlich bei Achim Lotz, Andrea Ypsilanti, tät verständlich machen. Und es soll meinen En- Anton Brokow-Loga, Axel Troost, Bärbel Roman- kelkindern einmal nahebringen, was ihre Oma tut, owski, Bastian Kettner, Bernd Brouns, Bernd Rie- wenn sie „bei der Arbeit“ ist. xinger, Carl Waßmuth, Cedric Büchling, Corinna Die Texte sollen gut lesbares Wissen vermitteln Genschel , Dirk Flege, Elsa Koester, Eric Ludwig, und Mut machen für eine solidarische Umwälzung Fritz Viertel, Gerd Wiegel, Gerrit Schrammen, Ha- unserer Gesellschaft. „System Change, not Clima- mid Mohseni, Heike Sudmann, Herbert Behrens, te Change“ gilt auch für Mobilität und Verkehr. Ingrid Remmers, Isabell Eberlein, Janna Alljets, Dieses Buchprojekt war mir ein Herzensanlie- Joachim Holstein, Jörg Cezanne, Knut Steinkopf, gen. Es steht auch als Abschluss einer Lebenspha- Laura Valentukeviciute, Lorenz Gösta Beutin, Ma- se: Zwölf Jahre Bundestag sind genug. Nun freue rio Candeias, Martin Wegner, Merle Groneweg, Mi- ich mich, dass etwas davon hier aufbereitet ist, chel Brandt, Mira Ball, Nina Katzemich, Nina Treu, sichtbar bleibt und unter die Leute kommt. Olaf Bandt, Pedram Shahyar, Ralf-Uwe Beck, Rika „Das wird ein besonders schönes Anden- Müller-Vahl, Stefan Lieb, Stephan Krull, Stephanie ken“, sagte Doroteja – und da hat sie recht. Ich Handtmann, Tom Adler, Torsten Felstehausen & wünsche allen Leser*innen viel Freude damit. Kröte, Ulrich Brand, Violetta Bock. Für die feine Gestaltung danke ich Marco Hei- Sabine Leidig nig, Katrin Kusche für das hilfreiche Lektorat und Clemens Hermann für die Ermunterung, im oekom verlag zu publizieren. 8 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 8 08.04.21 17:54
Aus guten Gründen aktiv gegen Privatisierung … auch wenn es um Autobahnen geht Am Freitag, dem 19. Mai 2017, knirschte es im Getrie- be der Großen Koalition. Für das Parlament war es ein besonderer Tag, denn die Pläne der Bundesregierung sollten nicht aufgehen. Laura Valentukeviciute und Carl Waßmuth Eigentlich sollte der Bundestag am 19. Mai 2017 Gegen das Vorhaben hatte sich ab 2015 Wider- über eine umfangreiche Grundgesetzänderung ab- stand gebildet – in der parlamentarischen Opposi- stimmen. Stattdessen erhielten die Abgeordneten tion und außerhalb des Parlaments. vor der Plenarsitzung nur eine grobe Übersicht über Änderungen zu Änderungen am geplanten Umweltschutz verträgt keine Gesetz. Was war passiert? Die Abstimmung war Autobahnprivatisierung von der Tagesordnung abgesetzt worden, weil Eine maßgebliche Akteurin an der Schnittstel- sich die Große Koalition der zugehörigen Mehrhei- le zwischen parlamentarischer Opposition und ten nicht mehr sicher war. Das Grundgesetz hätte Nichtregierungsorganisationen war Sabine Leidig, an dreizehn Stellen geändert werden sollen, eine verkehrspolitische Sprecherin der Linken im Bun- zentrale Änderung zielte auf die Privatisierung der destag, die als erste zu einem Treffen von Abge- Autobahnen. Dabei ging es nicht um einen Verkauf ordneten und Verbänden wegen der Autobahn-Pri- im Sinne einer Veräußerung von Asphaltstrecken vatisierungspläne einlud. Daraus entwickelte sich und Betonbrücken. In ganz Europa werden seit ein Bündnis, im dem Ver.di, der Bund für Umwelt Jahren Autobahnen privatisiert, ohne dass ein ein- und Naturschutz, die NaturFreunde, Attac, Ge- ziger Streckenkilometer per se verkauft werden meingut in BürgerInnenhand (GiB) und weitere muss. Das zugehörige Privatisierungsmodell heißt ebenso aktiv waren wie Bundestagsabgeordnete öffentlich-private Partnerschaft (ÖPP). Dabei baut, der Linken, der Grünen und sogar der mitregie- saniert und betreibt ein privater Konzern Autobahn- renden SPD. Die Umweltverbände schlossen sich abschnitte 30 Jahre lang und erhält dafür Geld dem Bündnis an, weil ÖPP Autobahnneubau be- vom Staat. Der Bundesrechnungshof hat schon fördert und Ausstiege erschwert. Im Zeitraum von 2014 gerügt, dass für fünf Autobahn-ÖPP-Projekte 2007 bis 2016 waren schon mehr als die Hälfte al- mit einem Gesamtvolumen von 5,1 Milliarden Euro ler neu gebauten Autobahn-Kilometer im Rahmen Mehrkosten von 1,9 Milliarden Euro entstehen. öffentlich-privater Partnerschaften umgesetzt Also 38 Prozent mehr Steuergeld aus dem Bundes- worden. Jüngstes Beispiel von Autobahn-Neubau haushalt. Dennoch sollte ÖPP nun flächendeckend per ÖPP ist die A49 durch den Dannenröder Forst: zum Einsatz kommen. Größtes Problem: Die Ver- Der im Sommer 2020 unterzeichnete ÖPP-Vertrag waltung der Autobahnen lag laut Grundgesetz bei wird von der Bundesregierung auf ein Volumen den Bundesländern. Die Länder aber wehrten sich von 1,45 Milliarden Euro beziffert. Der Neubau zunehmend gegen ÖPP. Deshalb sollte das Grund- soll durch Schutzgebiete führen und die Rodung gesetz geändert und die Zuständigkeit auf den von 100 Hektar eines 300 Jahre alten Laub- und Bund übertragen werden. Der Privatisierung soll- Mischwalds erfordern. Gegen das Vorhaben gibt te die Zentralisierung vorgeschaltet werden. Dazu es heftigen Protest. war das Zusammenziehen aller Kompetenzen auf eine formal private Autobahn GmbH vorgesehen. 64 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 64 08.04.21 17:54
INFRASTRUKTUR & SUBVENTIONEN Mit vereinten Kräften das Schlimmste verhindert sendung, die E-Mail-Kampagne oder alles zu- Gemeingut in BürgerInnenhand will verhindern, sammen. Im Jahr 2017 hatte die Große Koalition dass Entscheidungen wie zur A49 der parlamenta- eine komfortable Mehrheit von 80 Prozent der rischen Steuerung entzogen und privaten Investo- Abgeordneten – und damit deutlich mehr als die ren übertragen werden. Deshalb organisierten wir für eine Grundgesetzänderung erforderliche Zwei- eine Kampagne gegen die Gründung der geplan- drittelmehrheit. Aber in nichtöffentlichen Pro- ten Autobahn GmbH. Dazu betrieben wir Aufklä- beabstimmungen zeigten sich unerwartet viele rungsarbeit mit vielen Beiträgen im Internet, einem Bundestagsabgeordnete kritisch gegenüber der Video-Clip, mit Flyern und Unterschriftensamm- Autobahnprivatisierung. So wurde die geplante lungen, Kundgebungen und E-Mail-Aktionen. Der Abstimmung ausgesetzt, und der Gesetzentwurf Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) er- eilig noch einmal verändert. Dabei wurde der vor- hielt an einem einzigen Tag mehr als 2.000 Pro- gesehenen Möglichkeit, die Autobahn GmbH ganz testmails – und kündigte danach tatsächlich an, oder teilweise zu verkaufen, ein Riegel vorgescho- gegen die Privatisierungspläne zu stimmen. Die ben. Außerdem wurde eine Obergrenze für öf- ZDF-Sendung „Die Anstalt“ verarbeitete die Argu- fentlich-private Partnerschaften ins Grundgesetz mente unserer Bündnis-Kampagne; darauf melde- aufgenommen. Das so geänderte Gesetz wurde te sich ein Spender und bezahlte eine halbseitige dann am 1. Juni 2017 zur Abstimmung gestellt Anzeige in der Süddeutschen Zeitung. Im Stile ei- und mit 72,2 Prozent der Stimmen angenommen. nes Autobahnschildes erschien samstags: „Liebe Die Bürger*innen wählten am 24. September 2017 Abgeordnete, Ihr habt am 19. Mai die Wahl: Auto- den Bundestag neu – die Große Koalition verlor an bahnprivatisierung – Ja oder Nein.“ Es gab ein dem Tag ihre Zweidrittelmehrheit. Sternchen hinter „Ihr habt die Wahl“. Unten stand Sabine Leidig ist Gründungspatin von GiB und dazu: „Wir auch. Am 24. September“, das war das unterstützt die Organisation seit mehr als zehn Datum der damals anstehenden Bundestagswahl. Jahren kontinuierlich im Kampf gegen Privatisie- Eine von GiB in Auftrag gegebene repräsentati- rungen – politisch und finanziell. Vielen Dank, Sa- ve Meinungsumfrage hatte ergeben, dass 63 Pro- bine! zent der Menschen in Deutschland es nicht gut fin- den, wenn private Unternehmen Bau und Betrieb von Autobahnabschnitten übernehmen. Laura und Carl sind treibende Kräfte von Gemeingut in BürgerInnenhand. Ein kleiner Erfolg auf einem langen Weg Es ist schwer zu sagen, was genau die Rädchen https://www.gemeingut.org/ im Getriebe der Bundesregierung durcheinander- gebracht hat: die Zeitungsanzeige, die Fernseh- 65 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 65 08.04.21 17:54
Autobahn-Baustopp – der „Mietendeckel der Mobilität“ Was der „Hambi“ für den Kohleausstieg ist, kann der „Danni“ für den Ausstieg aus dem Autobahnbau sein Der Bau neuer Autobahnen stellt das Rückgrat der Schneller-schwerer-weiter-Ideologie dar. Ein Baustopp für Autobahnen ist die rote Linie gegen die Fortsetzung falscher Verkehrspolitik in der Klimakrise. Es müssen alte Verbindlichkeiten und Verträge aufgekündigt wer- den, damit neue Abkommen nicht gebrochen werden, und zwar jetzt. 21. November 2020. Ich schreibe diesen Text, bauprojekt werden örtliche Verkehrsprobleme zur während Räumung und Rodung im Dannenröder Begründung benutzt, obwohl es im Kern um die Wald mit zunehmender Brutalität vorangetrieben transeuropäischen Verbindungen der „Exportna- werden. Während ein offener Brief namhafter tion“ geht. Beim „Lückenschluss“ der A49 sollen Akteur*innen unverzügliches Innehalten fordert, mehr als 1,4 Milliarden Euro in ein ÖPP-Projekt und die evangelischen Pröbste darum bitten, we- gepumpt werden. Die öffentlich-private-Partner- nigstens am Sonntag den Polizeieinsatz zu unter- schaft (ÖPP) verspricht dem Kapitalinvestor Ge- brechen, schweigten die schwarze und die grüne winne – zulasten der Allgemeinheit. Dabei geht Landesspolitikprominenz dröhnend. Während So- es wie bei allen neuen Autobahnen gar nicht um lidaritätsaktionen vor Parteizentrale oder Landtag Unterstützung für eine Region, sondern vor allem abgeräumt werden, verkündet Robert Habeck, der um den transeuropäischen Transportverkehr in Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, beim wachsenden Lastwagenkolonnen, um Ausweich- Online-Parteitag, dass der Bundesverkehrswege- routen für die „rollenden Lagerhallen“ und für die plan gestoppt werden müsse. Derweil lässt der fortgesetzte „Amazonisierung“ der Warenwelt. grüne Landesverkehrsminister im Einvernehmen Folgerichtig ist auch an diesem Autobahnab- mit dem CDU-Innenminister den Bau der anachro- schnitt weitere Flächenversiegelung für den „Lo- nistischen A49 vorantreiben. Als Linkspartei in gistikstandort“ vorgesehen. Hessen sind wir seit Jahren gut begründet gegen Für die Region liegen gute Alternativkonzep- dieses fossile Infrastrukturprojekt aufgestellt und te vor. Mit ihnen könnten die Verkehrsprobleme seit Monaten an der Seite der Widerstandsbewe- schneller gelöst, Hunderte Millionen Euro gespart gung aktiv: mit Initiativen im Parlament, mit Öf- und die Umwelt geschützt werden. Verbände und fentlichkeitsarbeit und mit Parlamentarischen Be- Bürgerinitiativen machen sich für drei Bahnpro- obachter*innen im Wald1. jekte stark, die regionale Verbindungen schaffen, Gütertransporte auf der Schiene erleichtern, vie- Bus & Bahn statt Autobahn len Pendler*innen Staustrecken ersparen und eine Fünf Jahre nach dem Paris-Abkommen ist es ein Alternative zur Autofahrerei bieten können. Dabei fatales Signal, dass für noch mehr Autobahn und müsste relativ wenig neu gebaut werden, weil still- damit noch mehr Kfz-Verkehr wertvoller Misch- gelegte Gleise reaktiviert werden können. wald verstümmelt und ein Natur- und Wasser- schutzgebiet gefährdet werden. Der Bundesver- Bemerkenswerte Bewegung kehrswegeplan 2030, der auch der A49 höchste Im Herbst 2019 begannen Aktivist*innen, erste Priorität einräumt, ist auf Zuwachs von Pkw- und Baumhäuser und eine Mahnwache zu errichten. Lkw-Verkehr ausgerichtet. In fast jedem Straßen- Rasch gelang die Vernetzung mit den „alten“ Bür- gerinitiativen gegen den bevorstehenden Baube- ginn. Mit der gegenseitigen Unterstützung nahm 1 Unseren Bericht haben wir am 20. Dezember 2020 fertig- gestellt. Er ist unter anderem auf www.nachhaltig-links. die Auseinandersetzung schnell Fahrt auf: Im de/mobilität unter dem Titel „Sicherheit vor Schnelligkeit – Juni urteilte das Bundesverwaltungsgericht gegen eine zweifelhafte Losung“ zu finden. die Klage des Bund für Umwelt und Naturschutz 66 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 66 08.04.21 17:54
INFRASTRUKTUR & SUBVENTIONEN (BUND), dass dem wachsenden Verkehr ein hö- Automobil- und Logistikstandort sowie wachsen- heres öffentliches Interesse zukomme als dem de (transnationale) Verkehrsströme als Sinnbild Natur-, Klima- und Wasserschutz. Innerhalb weni- des Wohlstandes zementieren will, steht die For- ger Wochen entwickelte sich der Kampf um den derung nach einem Baustopp neuer Autobahnen „Danni“ von einer lokalen Protestaktion zu einem für einen Richtungswechsel in der Verkehrs- und bundesweiten Bezugspunkt der Klimagerechtig- Wirtschaftspolitik. Für die Hoffnung auf klimage- keitsbewegung. Die Strukturen des zivilen Unge- rechte (Verkehrs-)Verhältnisse. Der „Autobahnaus- horsams zeigten im Zusammenspiel mit lokalen baudeckel“ kann zu einem wichtigen Kristallisati- Bürgerinitiativen, betroffenen Dörfern und Verbän- onspunkt der sozialökologischen Verkehrswende den wie BUND, Campact, Greenpeace oder Attac werden und hat das Potential zum „Mietendeckel beachtliche Vernetzungskompetenz und zivilge- der Mobilität“2. sellschaftliche Größe. Ähnlich breite und zugleich radikale Zusammenarbeit gab es auch für den Ein Dreh- und Angelpunkt für „Hambi“, den Hambacher Wald, vor dem (faulen) solidarische Perspektiven Kohleausstieg. Mit der Erfahrung und dem Können Der Autobahndeckel zeigt wie der Mietendeckel von Baumbeschützer*innen – auch aus anderen an: Ein „Weiter so“ darf es nicht geben! Wer weiter europäischen Ländern –-, mit der gewaltfreien Autobahnen baut, ist im Unrecht! In diesem Zu- Blockadeübung von Ende Gelände oder Sand im sammenhang ist der Beitrag von Carola Rackete Getriebe und mit der Dynamik von Fridays for Futu- und Luisa Neubauer im Spiegel vom 12. Novem- re, gelang der Sprung in die bundesweite Medien- ber 2020 bemerkenswert. Sie stellen fest, dass es berichterstattung deutlich schneller, als das beim nicht möglich sein wird, zugleich den völkerrecht- „Hambi“ der Fall war. lich verbindlichen Klimaschutzvertrag und die be- Allerdings sind die Bündnisgrünen hier nicht reits geschlossenen Verträge im Bereich fossiler „natürliche Verbündete“. Zu tief ist die Kluft zwi- Rohstoffe und Infrastrukturen einzuhalten: „On pa- schen dem Bekenntnis zur sozialökologischen per [auf dem Papier] haben wir den globalen ökolo- Verkehrswende und dem tatsächlichen Handeln gischen Zusammenbruch schon längst vertraglich unter grüner Regierungsbeteiligung. Die Enttäu- besiegelt. Wenn man alle Verträge zusammen- schung in Teilen der Klimagerechtigkeitsbewe- zählt, die wir Menschen zum heutigen Zeitpunkt gung ist zu Recht groß: Mit Verkehrsinfrastruktur schon unterschrieben haben, kommen wir bei wird zukünftige Entwicklung im wahrsten Sinne in einer vertraglich abgestimmten globalen Erwär- Beton gegossen. Deshalb müssen die 850 zusätz- mung von weit mehr als zwei Grad Celsius an.“ Mit lichen Autobahnkilometer, die im Bundesverkehrs- Blick auf den Koalitionsvertrag in Hessen und den wegeplan bis 2030 vorgesehen sind, nicht nur auf ÖPP-Vertrag zum Bau der Autobahn schreiben sie: den Prüfstand, sondern diese widersinnige Ver- „Wir werden in den nächsten Jahren immer weiter, schwendung muss schnellstens gestoppt werden. immer mehr Verträge brechen müssen. Die Fra- Derzeit entwickelt sich eine Vernetzung, die ge ist nur, welche das sein werden – und wer die auch an anderen Stellen den Neu- oder Ausbau Macht hat zu entscheiden welche. Systemfragen von Autobahnen mit neuem Schwung in Frage halt.“ Damit haben die beiden Frauen eine zentra- stellt: Tausende radeln wieder gegen die A100 in le Herausforderung formuliert, vor der sich kein*e Berlin, neue Bündnisse bilden sich in Oberhausen, Politiker*in hinter Verwaltungsgerichtsurteilen Hamburg oder Kiel, in Niedersachsen oder Sach- oder selbstgeschmiedeten Ausbaugesetzesketten sen-Anhalt erstarkt der Widerstand ebenso wie verstecken kann. Die Zeit des „Abarbeitens“ alter im Rhein-Main-Gebiet. Der „Danni“ markiert schon Pläne ist vorbei. jetzt einen Wendepunkt, den wir den „Wald statt Asphalt!“-Aktivist*innen verdanken. 2 Der Begriff „Mietendeckel der Mobilität“ stammt von Mario Ein im Oktober 2020 vom Wuppertal Institut Candeias, Leiter der Abteilung Politikanalyse bei der Ro- vorgelegtes Papier beantwortet Frage, was bis sa-Luxemburg-Stiftung: https://www.zeitschrift-luxemburg. 2035 bei uns geändert werden müsste, damit die de/mietendeckel-der-mobilitaet/. weitere Erderhitzung auf maximal 1,5 Grad be- grenzt werden kann. Die Autor*innen treffen für den Verkehrssektor eine klare Ansage: Der Auto- verkehr muss halbiert und der Lkw-Verkehr redu- ziert werden. Während die politische Rechte den 67 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 67 08.04.21 17:54
Im Feld der Wohnungspolitik ist der Stopp für Miet- Die neue Allianz der Gewerkschaften Ver.di und erhöhungen, der „Mietendeckel“, ein Dreh- und EVG mit Fridays for Future, BUND, BUND-Jugend, Angelpunkt für linke Perspektiven geworden. Die Attac, VCD, Changing Cities, NaturFreunden und ganze soziale Misere einer von Kapitalinteressen Campact veröffentlichte im September 2020 ein getriebenen Mietenpolitik wird damit kritisiert; gemeinsames Forderungspapier. Anlass war der plötzlich kommen die Interessen auf den Tisch, Tarifkampf für bessere Arbeitsbedingungen im wird die „Gesetzmäßigkeit“ von Immobilienrendite öffentlichen Personennahverkehr. Ein wesentli- in Frage gestellt. In der Diskussion um diese rote cher Punkt darin ist, „dass die autozentrierte Ver- Linie, werden viel weitergehende Veränderungen kehrsplanung der letzten Jahrzehnte beendet und gefordert und Konzepte entwickelt. Auch in die- die Mittel aus dem Fernstraßenneubau zu Guns- sem Feld steht die gesellschaftliche Linke deut- ten des Umweltverbundes umgewidmet werden“3. lich erkennbar gegen die gesellschaftliche Rechte. Immerhin geht es um zig Milliarden Euro, die nach Mobilisierung entsteht dabei aus konkreter Betrof- den jetzigen „Bedarfsplänen“ des Bundes in den fenheit, aus Solidarität und dem Wunsch nach ge- Bau zusätzlicher Fernstraßen gesteckt werden sol- rechten (Wohn-)Verhältnissen. len. Mittel, die für sozial und ökologisch gerechte Eine ähnliche Rolle kann der „Autobahnde- Verkehrskonzepte gebraucht werden, für Auswege ckel“ spielen. Auch hier sind es zunächst meist aus imperialen Verkehrsverhältnissen und für soli- direkt Betroffene, die ihr Anliegen politisieren und darische Mobilität. sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensräume vor Ort einsetzen. Auch der Autobahndeckel ist eine Basis, von der aus weitergehende gesellschaft- 3 Das ganze Bündnis-Positionspapier zum Beispiel unter www.attac.de/kampagnen/verkehrswende/verdi-at- liche Veränderungen gedacht, diskutiert und er- tac-tvn2020/positionspapier-verkehrswende/. rungen werden können. Das Umsteuern öffent- licher Investitionen zur Stärkung von Bahn, Öffis, Fuß- und Fahrradmobilität ist naheliegend. Die Unterstützung regionaler (Land-)Wirtschaft und Transparenz über die Frage, was eigentlich warum transportiert wird und wer darüber entscheidet, kommen auf die Tagesordnung. Solche Themen gehen kommunal-, landes- und bundespolitisch Hand in Hand, bieten Chancen für kleinere und größere Aktionen und viel Raum für Bündnisarbeit. Auch in die Betriebe hinein – zu Gewerkschaften und Betriebsrät*innen. Wir sollten Städte und Ge- meinden für soziales Leben umgestalten, statt den Durchgangsverkehr zu verwalten. 68 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 68 08.04.21 17:54
INFRASTRUKTUR & SUBVENTIONEN Wald statt Asphalt Die Waldbesetzung ist mehr als Protest gegen eine Autobahn Neben dem Widerstand von Bürgerinitiativen, Umwelt- verbänden und Kirchen entstand im Herbst 2019 eine neue Protestform gegen den Weiterbau der A49. Torsten Felstehausen In schwindelerregender Höhe von zum Teil über Und, geht es? 20 Metern haben sich gut 100 Aktivist*innen in Kröte: Ja, vor allem mit Solidarität. Wir essen mehreren Baumhausdörfern entlang der geplan- hier vegan, nutzen viele Dinge, die wir gebraucht ten Trasse eingerichtet und mit Plattformen, Sei- gespendet bekommen haben. Aber wir retten auch len, Hängebrücken im wahrsten Sinne des Wortes weggeworfene Lebensmittel durch Containern, vernetzt. Ich sprach mit Kröte1, einem der Aktivisti was nach geltendem Recht eine Straftat ist. Wir über die Motivation der Waldbesetzer*innen: wollen uns unserer Verantwortung stellen und et- Ihr kommt aus unterschiedlichen Bereichen und was gegen die weltweite politische und wirtschaft- Regionen – was verbindet euch, und was sind eure liche Ungerechtigkeit tun. Ziele? Es wurde behauptet, ihr würdet Drahtseile span- Kröte: Na, den Wald zu erhalten und den Wei- nen, um berittene Polizei zu verletzen. Was ist dran terbau der A49 zu verhindern. Aber es gibt noch an den Vorwürfen? mehr. Wir nutzen den Freiraum hier, um ein an- Kröte: Das ist Blödsinn. Wir laden alle ein, sich deres Zusammenleben Wirklichkeit werden zu hier selbst ein Bild zu machen. Es gibt eine Menge lassen. Herrschaftsstrukturen abzubauen, gegen Seile im Wald, aber alle Konstruktionen dienen aus- den täglichen Sexismus und den allgegenwärti- schließlich der Sicherung unserer Blockadestruk- gen Rassismus anzugehen gehört dazu. Der Auto- turen. Zum Glück gibt es Parlamentarische Beob- bahnbau ist für uns ein Symbol für die ungerechte achter*innen hier. Es wird immer wieder versucht, Wirtschaftsordnung. Wir brauchen einen System- den Widerstand zu kriminalisieren und zu spalten wechsel. – wir halten mit unserer Offenheit dagegen. In den Und wenn 100 Menschen aus dem System aus- letzten Wochen waren über 1.000 Menschen hier steigen, bleibt das Eis an den Polkappen erhalten … im Wald; sie können aus erster Hand berichten, Kröte: Selbstverständlich ist das Leben in was sie gesehen haben. Baumhütten ohne fließendes Wasser nicht das Ziel. Aber wir wollen uns nicht einfach einbinden lassen in das „Weiter so“, in eine Gesellschaft, die Torsten Felstehausen ist Mitglied der Links- aufgebaut ist auf Kinderarbeit, Umweltzerstörung fraktion im hessischen Landtag und ein toller und Unterdrückung. Wir haben mehr, als wir essen Genosse in Nordhessen. können, wir haben mehr, als wir anziehen können, aber die Industrie will uns weismachen, dass wir mehr konsumieren müssen, mehr brauchen. Wir wollen erleben, dass es anders gehen kann. Lesetipp 1 Die Namen von Kröte, Hase, Charly Linde, Lola Löwen- Die Homepage: wald-statt-asphalt.net zahn, Scully und all den anderen Waldbeschützer*innen im zivilen Ungehorsam sind vorübergehende, wie auch die Die TV-Doku von arte (im Auftrag des hr): Namen der Barrios im Wald. Unterwex, Zwischendurch, „Re:Generation Waldbesetzer – im Baumhaus Morgen oder Flying Angel und weitere Baumsiedlungen im Danni, Mauli und Herri wurden von Polizei und Rodungs- gegen die Klimakrise“ trupps zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Zu finden in der arte-Mediathek. 69 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 69 08.04.21 17:54
Makro-Ökonomie: kolossale Kosten Die wahren Kosten des Verkehrs werden abgewälzt und totgeschwiegen Für Arbeit, Freizeit und Handel werden immer größere Entfernungen zurückgelegt. Was eine Tankfüllung, die Kfz-Versicherung oder ein Flugticket kostet ist bekannt. Und Unternehmen wissen, wie viel sie für die Fracht kalkulieren müssen. Aber das ist längt nicht alles. Viele Verkehrsfolgen haben die Verursacher*innen gar nicht auf dem Zettel. Aber es sind gigantische Summen. Axel Troost Das Abwälzen negativer Folgen des eigenen Ver- typischerweise in Geld, und die Gesamtschäden haltens auf andere nennt man Externalisierung. werden dann addiert. Dies ist leichter gesagt als Sie durchzieht inzwischen so viele Lebensberei- getan: Wie will man erfassen, welche Klimaschä- che, dass der Soziologe Stephan Lessenich von den durch eine bestimmte Menge an Autoabgasen einer Externalisierungsgesellschaft spricht. Dabei in den nächsten Jahrzehnten beziehungsweise hat er vor allem das westliche Wohlstandsmodell Jahrhunderten verursacht werden? Welcher Wert vor Augen, das Ausbeutung und Umweltzerstö- wird einem Verkehrsunfallopfer zugewiesen, und rung im Globalen Süden in Kauf nimmt. Auch der soll es dabei einen Unterschied machen, ob ein Verkehr hat längst ein Ausmaß angenommen, das Kind, ein Rentner oder eine Bankdirektorin zu Scha- die Lebensqualität und unseren Planeten ernsthaft den gekommen ist? Es ist daher unvermeidlich, bedroht. Wenn die Pole schmelzen, Lärm und Ab- jede Menge Annahmen zu treffen. Entsprechend gase die Gesundheit bedrohen und die Landschaft werden die Kostenschätzungen auch immer wie- durch Straßen, Parkplätze und Schienen zerschnit- der mit guten und schlechten Argumenten in Fra- ten und versiegelt wird, dann liegt dies auch daran, ge gestellt. Doch klar ist: Die externen Kosten sind wie wir uns fortbewegen. Wobei „wir“ den Kern der real und werden nicht etwa dadurch fiktiv, dass sie Sache nicht trifft, denn individuell gibt es große Un- von den Verursacherinnen und Verursachern nicht terschiede: Wer reich ist, kann sich nicht nur mehr getragen werden. Verkehrsaufwand leisten, sondern sich meist auch Dem aktuellen, von der EU-Kommission her- besser vor den negativen Folgen des Verkehrs ausgegebenen Handbuch über die externen Kos- schützen. Die Forschung hierzu ist unterbelich- ten des Verkehrs1 zufolge werden in der gesamten tet, aber Recherchen des Umweltbundesamts zur Europäischen Union durch den Verkehr jährlich ex- Umweltgerechtigkeit in Deutschland haben ge- terne Kosten von 987 Milliarden Euro verursacht, zeigt, dass Haushalte mit hohem ökonomischem davon 83 Prozent durch den Straßenverkehr2. Von Status deutlich mehr Autos besitzen und auch den Gesamtkosten entfallen 70 Prozent auf den die Unterwegszeiten mit dem Einkommen wach- Personenverkehr, der Rest auf den Güterverkehr. sen. Hingegen sind sozial benachteiligte Familien Auf den Kilometer bezogen schneiden im Perso- überproportional von Lärm, Schadstoffen und dem nenverkehr Motorräder wegen ihrer hohen Laut- Straßenbau betroffen, mit drastischen Folgen für stärke und der hohen Unfallkosten mit 24,5 Cent Gesundheit und Lebenserwartung. Besonders be- pro Personenkilometer (Pkm) besonders schlecht troffen sind einkommensschwache Haushalte, Äl- tere, Kinder, Behinderte und Menschen mit Migra- 1 European Commission (2019): „Handbook on the external tionshintergrund. costs of transport”, Version 2019, als PDF abrufbar unter Um das Problem besser greifbar zu machen, https://ec.europa.eu. versuchen Ökonominnen und Ökonomen die Ex- 2 Inklusive Staukosten, bei denen umstritten ist, ob es sich ter-nalisierung zu messen. Jeder Schaden muss tatsächlich um externe Kosten handelt, weil die Verur- dazu in die gleiche Maßeinheit überführt werden, sa-chenden auch die Geschädigten sind. 70 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 70 08.04.21 17:54
INFRASTRUKTUR & SUBVENTIONEN ab, gefolgt von Pkw mit 12 Cent/Pkm (ohne Stau- nehmenden durch zweckgebundene Steuern und kosten 7,8 Cent/Pkm) mit weitem Abstand vor Bus Abgaben nur zu einem geringen Anteil für die von (3,6 Cent/Pkm) und Bahn (1,3 Cent/Pkm für elek- ihnen verursachten Kosten (externe Kosten und trische Hochgeschwindigkeitszüge bis 3,9 Cent/ Infrastrukturkosten) herangezogen werden. Für Pkm für Dieselzüge). Flüge weisen durchschnitt- die meisten Fahrzeugkategorien sei höchstens lich 3,4 Cent/Pkm und auf Kurzstrecken mit 4,2 ein Viertel dieser Gesamtkosten dadurch gedeckt. Cent/Pkm etwa dreimal so hohe externe Kosten Viele sehen den Ausweg aus dem Externalisie- pro Personenkilometer auf wie Hochgeschwindig- rungsdilemma in der vollständigen Internalisie- keitszüge. Dass der Unterschied nicht noch größer rung der externen Kosten in die Marktpreise: Sprit- ist, liegt an den vergleichsweise geringen Kosten preise und Nutzungsentgelte wie Maut müssen für Unfälle und Flächenverbrauch. Sie müssen je- soweit erhöht werden, dass mit den eingenom- doch in Verbindung mit hohen Kilometerzahlen ge- menen Geldern die Schäden vermieden, behoben sehen werden, die Flugreisen in absoluten Zahlen oder kompensiert werden können. Das entspricht zu echten Klimakillern machen. dem Verursacherprinzip, beseitigt die unfaire Pri- Das Umweltbundesamt kommt für den deut- vilegierung umweltschädlicherer Fortbewegungs- schen Verkehr zu ein wenig anderen Kosten – varianten und ist insofern auch berechtigt. Abge- Pkws und Motorräder schneiden etwas besser ab sehen von den vielen praktischen Problemen, die –, die hohen externen Kosten des motorisierten der Internalisierungsansatz mit sich bringt, leidet Individualverkehrs kommen dort aber gleichfalls er aber auch an einem verengten Blick auf die zum Ausdruck3. Ebenfalls nur auf Deutschland be- Wirklichkeit. Denn Ziel der Verkehrspolitik muss zogen errechnet eine Studie im Auftrag der Allianz ein maßvoller und jeder und jedem offenstehender pro Schiene jährliche externe Kosten in Höhe von Zugang zu Mobilität sein. Hingegen interessiert 149 Milliarden Euro (ohne Staukosten), auch hier- bei der Internalisierung über Marktpreise vor allem bei entfällt der Großteil auf den Straßenverkehr4. die Tatsache, wie zahlungskräftig jemand ist. Si- Der größte Teil entsteht durch Unfälle. Aber auch cher führt kein Weg daran vorbei, die Nutzung von Klimaschäden und vor- und nachgelagerte Pro- Autos und Flugzeugen deutlich teurer zu machen, zesse, also die Produktion und Entsorgung von zum Beispiel durch eine stetig steigende Kohlen- Fahrzeugen, Verkehrswegen und Treibstoffen, dioxid-Steuer oder -Abgabe. Dies darf aber nicht schlagen mit 21 Prozent erheblich zu Buche. Im dazu führen, dass ärmere oder in ländlichen Regio- Unterschied zu den Zahlen der EU-Kommission nen wohnende Menschen vom gesellschaftlichen werden (inländische) Flugreisen mit externen Kos- Leben ausgeschlossen werden. Preissteuernde ten von 12,8 Cent/Pkm als schädlicher angesehen Maßnahmen müssen daher stets auch in ihrem als Pkw-Fahrten (10,8 Cent/Pkm) und schneiden sozialen Kontext gesehen werden und durch einen deutlich schlechter ab als die Bahn (3,2 Cent/ Instrumentenmix aus Ge- und Verboten, Förder- Pkm). Grund ist der höhere Klimakostensatz von und Strukturpolitik und eine Stadtplanungspoli- 180 statt 100 Euro pro Tonne Kohlendioxid. tik der kurzen Wege ergänzt werden, um soziale Was folgt aus diesen Zahlen? Das Handbuch Schieflagen zu vermeiden und trotzdem die not- der EU-Kommission belegt, dass die Verkehrsteil- wendige Verkehrswende zu meistern. 3 Umweltbundesamt: „Methodenkonvention 3.0 zur Axel Troost ist seit einer kleinen Ewigkeit Ermittlung von Umweltkosten“, Kostensätze, Stand Weggefährte, Geschäftsführer der Memoran- 02/2019, erstellt von Astrid Matthey und Björn Bünger, Dessau-Roßlau 2019. dum-Gruppe für Alternative Wirtschaftspoli- 4 Infras: „Externe Kosten des Verkehrs in Deutschland. tik und Mitgründer des Institut Solidarische Straßen-, Schienen-, Luft- und Binnenschiffverkehr 2017“, Moderne ISM Studie im Auftrag von Allianz pro Schiene e. V., 2019. Lesetipp Stephan Lessenich: „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesell- schaft und ihr Preis“, Hanser, Berlin 2016. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: „Nachhaltige Mobilität aktiv gestalten“, in: Memorandum 2020: Gegen Markt- und Politikversagen – aktiv in eine soziale und ökologische Zukunft“, PapyRossa, Köln 2020. (kostenlos auf: alternative-wirtschaftspolitik.de Umweltbundesamt: „Umweltgerechtigkeit – Umwelt, Gesundheit und soziale Lage“, Dessau-Roßlau 2019, unter: umweltbundesamt.de. 71 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 71 08.04.21 17:54
Bahn: Borniertheit und Bewegung im Bundestag Von der Börsenbahn zur Bürger*innen-Bahn – ein lohnender Weg Mit der Bahnreform wurde aufs falsche Pferd oder Gleis gesetzt. Die neue Deutsche Bahn AG wandelte sich zu einer gewinnorientierten Schrumpfbahn und gleichzeitig zu einem globalen Konzerngeflecht. Dieser Kurs wird nun verlassen. Doch damit die Richtung stimmt, muss die DB demokratisch umgesteuert wer- den. Wem gehört die Bahn? Diese Frage ist Gegenstand auch im Westen wieder alle Städte ans Bahnnetz einer MDR-Dokumentation, die am 4. Februar 2021 angeschlossen werden und alle Großbetriebe ausgestrahlt wurde. Darin heißt es: „Bis 1989 rollte auch. Bestimmt hätten sie nicht vorgeschlagen, die Deutsche Reichsbahn als das Transportmittel den größten Teil der über 100.000 Eisenbahner- Nummer eins durch die DDR. Sie bewältigte acht- wohnungen an Immobilienhaie zu verkaufen. Und zig Prozent aller Gütertransporte und die Hälfte bestimmt hätten sie nicht 3.500 der 5.200 Bahn- des ostdeutschen Personenverkehrs. Zur Deut- höfe als „nicht betriebsnotwendige Empfangsge- schen Reichsbahn gehörten 14.000 Gleiskilome- bäude“ deklariert und verscherbelt. ter, 1.800 Bahnhöfe, 7.000 Lokomotiven, mehr als Wie wir wissen, lief es anders. Auf dem Höhe- 170.000 Waggons und mindestens 46.000 Hektar punkt neoliberaler Marktgläubigkeit beschloss der Grundstücke sowie Tausende Eisenbahnerwoh- Bundestag die Bahnreform: Das größte öffentliche nungen. Wem gehört all das heute? Denn das alte Unternehmen wurde in eine privatrechtliche Ak- Reichsbahn-Netz wurde mit der Bahnreform 1994 tiengesellschaft umgewandelt wie ein kapitalisti- von der Deutschen Bahn Aktiengesellschaft aus- scher Konzern und sollte sich künftig rentieren. So gedünnt, und viele Immobilien wurden verkauft. hatte es der Bundestag im Dezember 1993 mit 558 Der Leipziger Hauptbahnhof war einer der ersten Ja-Stimmen, 13 Gegenstimmen und 4 Enthaltun- verkauften Bahnhöfe und ging an die Deutsche gen beschlossen und dafür das Grundgesetz ge- Bank. Tausend weitere Bahnhöfe bekam ein briti- ändert (Artikel 87e). Die Deutsche Bahn AG wurde scher Immobilieninvestor.“ gegründet, die Aufgaben der staatlichen Daseins- Was wäre wohl geschehen, wenn die Bahnre- vorsorge wurden von den unternehmerischen form von 1993/94 nicht den Weg bereitet hätte Aufgaben der Bahnen getrennt, der Schienenper- für diese gewaltige Privatisierungswelle? Was sonennahverkehr ging über in die Verantwortung wäre gewesen, wenn nicht eine Kommission der Bundesländer (Regionalisierung) und wurde aus Wirtschaftsvertretern über die Zukunft der mit der nötigen finanziellen Ausstattung versehen. Eisenbahn im vereinten Deutschland beratschlagt Das Schienennetz öffnete sich „diskriminierungs- hätte, sondern wenn die Bahnnutzer*innen und frei“ für andere europäische Bahnen – eine Anfor- die Eisenbahner*innen aus Reichsbahn und Bun- derung der Europäischen Union. desbahn mit ihrer Kompetenz ein Bahnsystem Die Bahnreform hatte drei explizite Ziele: bes- der Zukunft entwickelt hätten? Vielleicht wäre der serer Service, höhere Marktanteile und weniger Leipziger Hauptbahnhof nicht zur Shopping-Mall Subventionen. 20 Jahre später musste der Bun- mit Gleisanschluss mutiert? Vielleicht wäre nicht desrechnungshof allerdings richtigerweise fest- in jedem Großstadtbahnhof der Kommerzteppich stellen: „Die beabsichtigte Verlagerung des Ver- ausgerollt und für Billigflüge geworben worden? kehrs von der Straße auf die Schiene ist nicht Vielleicht wäre ein Programm dabei herausge- eingetreten.“ Und: „Das Ziel, den Bundeshaushalt kommen, wie die technischen Standards und der zu entlasten, ist nicht erreicht worden.“ Service bei der künftigen Deutschen Bürgerbahn Schritt für Schritt verbessert werden können, wie 116 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 116 08.04.21 17:54
BAHN (NOCH) BESSER Auf Börsenkurs mit Mehdorn Widerstand regt sich In der zweiten Stufe der Bahnreform wurden zum Der Börsenkurs war von Anfang an umstritten. Vor 1. Januar 1999 fünf eigenständige Aktiengesell- allem aus der Zivilgesellschaft und von Seiten der schaften unter dem Dach der Deutschen Bahn AG Beschäftigten regte sich Widerstand. Das Exper- gegründet: DB Reise & Touristik AG, DB Regio AG, tenbündnis Bürgerbahn statt Börsenbahn argu- DB Cargo AG, DB Netz AG und DB Station & Service mentierte in Richtung Schweizer Vorbild für Bahn- AG. Damit war schon vorgezeichnet, wohin die Rei- ausbau in der Fläche, für vertaktete öffentliche se gehen sollte: an die Börse. Jede Konzerntochter Verkehre und „schwarze Null“ statt Bilanzgewinn. bekam einen eigenen Vorstand, ein eigenes Ge- Vergeblich. Weil sich die größte Eisenbahngewerk- winnmanagement. Jede wurde auf Kostenreduzie- schaft Transnet damals nicht gegen den Privatisie- rung getrimmt und sollte Gewinne an die Holding rungskurs aufgestellt hatte, entstand mit Bahn von abführen – auch auf Kosten der anderen Töchter. unten ein widerständiger Zusammenschluss in der Eine Fehlkonstruktion, die sich noch rächen sollte. Belegschaft. Und das Bündnis Bahn für Alle stellte Statt sich ein Beispiel an der Schweiz zu neh- viel Gegenöffentlichkeit her. Mit Hermann Scheer, men, eiferte die Regierung unter Kanzler Gerhard dem „Vater“ des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes, Schröder (SPD) dem britischen Modell der Zer- war auch ein prominenter SPD-Politiker auf der schlagung und Privatisierung des Bahnsystems Seite der gesellschaftlichen Opposition. Die öf- nach. Schröder holte Hartmut Mehdorn als Bahn- fentliche Meinung drehte sich und kippte schließ- chef an Bord, einen Mann, der 20 Jahre lang (Spit- lich auch in der SPD gegen Privatisierung. zen-)Manager der Luftverkehrsindustrie (Airbus) Der Verkauf von letztlich 24,9 Prozent der Bahn- gewesen war und danach als Vorstandvorsitzen- aktien an der Börse wurde buchstäblich in letzter der der Heidelberger Druckmaschinen AG das Minute abgesagt. Offizieller Grund war die Finanz- Unternehmen durch eine Expansionsstrategie zu krise, aber auch die öffentliche Meinung spielte in einem Universalanbieter umgebaut und es an die Anbetracht der 2009 anstehenden Bundestags- Börse gebracht hatte. wahl eine erhebliche Rolle. Den Job sollte er nun auch bei der DB AG ma- Eine der üblen „Nebenwirkungen“ des geplan- chen. Mehdorn konzentrierte die Investitionen auf ten Börsengangs betraf die Berliner S-Bahn, die im wenige Großprojekte der Hochgeschwindigkeit. Mai 2009 ins Chaos rollte: Nach einem Radbruch Die Bahn in der Fläche interessierte ihn nicht. Da- konnte die S-Bahn die technische Überprüfung der mit private Anleger Bahnaktien kaufen würden, Fahrzeuge nicht sicherstellen und musste deshalb musste der Konzern Profit versprechen. Zugleich 380 Züge der neuesten Bauart aus dem Verkehr expandierte die DB AG ins weltweite Logistikge- nehmen. Es stellte sich heraus, dass die S-Bahn- schäft und kaufte ein: 2002 das Lkw-Speditions- züge nicht nur technische Probleme mit Achsen unternehmen Stinnes-Schenker für 2,5 Milliarden und Rädern hatten, sondern darüber hinaus auch Euro, 2006 den US-Logistiker Bax Global für knapp mit den Bremsen. Zeitweise konnte nur noch ein eine Milliarde, 2007 die britischen Güterbahn EWS Viertel der Züge eingesetzt werden. Eine fast hun- und die spanische Güterbahn Interfesa, 2008 die dertköpfige Task-Force mit Bahnspezialist*innen Eisenbahngesellschaft Chiltern Railways in Groß- aus ganz Deutschland wurde nach Berlin beordert, britannien. Und Mehdorn verkündete den Einstieg um die Probleme zu beheben. Hartmut Mehdorn in den polnischen Güterbahnmarkt. Während die hatte die Berliner S-Bahn mit drastischen Einspa- DB als Konkurrent andere im europäischen Eisen- rungen „börsenfein“ machen wollen. Die Zahl der bahnmarkt verdrängte, verschwanden daheim S-Bahnwerkstätten war von sieben auf vier und die 9.500 Gleisanschlüsse für die Verladung von Gü- Zahl der Mitarbeiter*innen von 3.766 auf 2.870 re- tern auf die Schiene. Postzugverkehr oder Stück- duziert worden. Verkürzte Zeiten in der Instandhal- gutverkehr wurden gestrichen. tung und eine Reduzierung der Zugflotte von 740 117 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 117 08.04.21 17:54
Wageneinheiten auf 632 prägten diese Jahre der 2010 dann der große Grube-Coup: Die Deutsche Berliner S-Bahn. Bahn kauft Europas größten Busbetreiber Arriva. Reserven wurden gestrichen, die S-Bahn sollte Für 1,8 Milliarden Euro. Im Verkehrsausschuss dem Bahnkonzern mehr Gewinn einbringen. Im des Bundestages verteidigt Grube die Expansions- Jahr 2008 betrug er 56 Millionen Euro; 2009 hätten strategie des bundeseigenen Unternehmens: Im es 87,7 Millionen Euro sein sollen, und für 2010 Inland sei die Deutsche Bahn zunehmendem Wett- war eine satte Gewinnsteigerung auf 125 Millio- bewerb ausgesetzt, deshalb müsse sie woanders nen Euro geplant. Die schweren Betriebsstörungen wachsen. Die Regierung ist zufrieden. brachten der S-Bahn Berlin aber ein Millionende- fizit ein. Und eineinhalb Millionen Menschen, die (K)eine Bilanz nach 20 Jahren Bahnreform täglich mit der S-Bahn unterwegs sind, zahlten mit Es war die Linksfraktion, die mit einer großen An- Ärger, Stress und Zeit. frage3 den Bundestag dazu zwang, sich mit den Nach 10 Jahren musste Hartmut Mehdorn im konkreten Ergebnissen der Bahnreform zu be- April 2009 als Bahnchef zurücktreten. Anlass war, schäftigen. Die Standard-Aussage bei früheren und dass ein massives Überwachungssystem aufflog, weiteren Versuchen, politische Verantwortung zu das er geschaffen hatte, um Bahn-Mitarbeiter*in- wecken, lautete, dass die DB ein „eigenwirtschaft- nen zu kontrollieren, aber auch um gegen Kriti- liches Unternehmen“ sei und die Politik sich raus- ker*innen des Bahn-Börsengangs vorzugehen. zuhalten habe, man wolle nicht „zurück zur Behör- denbahn“. Man glaubte dem „Bahnreform-Pabst“ Der „Global Player“ fährt weiter auf Verschleiß Professor Gerd Aberle. Der schrieb 2013 in der Im November 2009 waren vom neuen Verkehrs- Fachzeitschrift Verkehrsmanager, durch die Bahn- minister Peter Ramsauer kritische Äußerungen zu reform habe sich „das deutsche Eisenbahnsystem lesen: „Man sieht am Beispiel der Berliner S-Bahn, zu einem effizienten und international beispielhaf- wohin es führt, wenn ein Unternehmen zur kurz- ten Vorbild entwickelt“. fristigen Gewinnmaximierung ausgepresst wird“, Ob damit gemeint war, dass durch das Kaputt- Privatisierung sei kein Allheilmittel.1 sparen der Bahnsysteme die Autos aus Deutsch- Allerdings fällt die Botschaft – ebenso, wie die land noch bessere Exportchancen hätten? Als „smartness“ des neuen Bahnchefs Grube2 – unter 2012 erhoben wurde, wie viel Geld europäische die Rubrik Nebelkerzen. Im Koalitionsvertrag der Staaten in ihre Eisenbahninfrastruktur stecken, neuen CDU/FDP-Regierung stand eindeutig: „So- war die Schweiz Spitzenreiter mit 349 Euro pro bald der Kapitalmarkt dies zulässt, werden wir Bürger*in, gefolgt von Österreich mit 258 Euro. eine schrittweise, ertragsoptimierte Privatisierung Beide Alpenländer sehen für ihre Schienennetze der Transport- und Logistiksparten der Deutschen seit Jahren höhere Summen vor als für ihre Stra- Bahn einleiten.“ Bahnchef Grube erzählte, dass ßeninfrastruktur. Doch auch in anderen Ländern es zu diesem Zweck jetzt darauf ankomme, das wird ausgebaut: Schweden brachte 151 Euro pro „Brot-und-Butter-Geschäft“ in Ordnung zu bringen. Bürger*in auf, die Niederlande 129 und Großbri- Aber unter seinem Vorsitz kaufte die DB ein tannien 110, Italien 79 und Frankreich 63 Euro. Verkehrsnetz im Nordosten Englands und mach- Deutschland gehörte mit 51 Euro pro Bundesbür- te große Deals in Abu Dhabi und in Katar. Im Juni ger*in zu den Schlusslichtern. Die DB AG hatte die Eisenbahninfrastruktur in 20 Jahren stark geschwächt: Das Netz war um 1 Interview in der Super Illu, 49/2009 2 Rüdiger Grube gilt als Mehdorns „Ziehsohn“. Er kommt ebenfalls aus der Flugzeugindustrie und war ab 1996 in 3 Große Anfrage der Linksfraktion: „20-Jahres-Bilanz der leitender Funktion beim Daimler-Konzern tätig. Er wurde Bahnreform von 1994 bis 2014“: 136 Fragen, zu denen die Bun- auf Empfehlung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zum desregierung auf 163 Seiten ihre Antworten lieferte: Bundes- Bahnchef gekürt. tagsdrucksache 18/3266. 118 03 210406_Linksverkehr_final 07.pdf 118 08.04.21 17:54
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