PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - HEVs

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - HEVs
Bildung Beratung Arbeitsmarkt

    PANORAMA
      Nr. 5 2020

                                  Agilität
                                  Agilität als organisationale Grundkompetenz.
                                  Stolpersteine bei der Transformation zum agilen Unternehmen.
                                  Agile öffentlich-private Zusammenarbeit made in Sweden.

                                  Digitalisierung der Lehrstellensuche
                                  Jugendliche trainieren online für das Bewerbungsverfahren. | Seite 16

                                  Gesprächshypnose in der Beratung
                                  Was anderswo funktioniert, soll auch in der BSLB Einzug halten. | Seite 22

                                  Der gemeinsame Weg in die Normalität
                                  Psychiatrie und Arbeitsintegration spannen im Kanton Baselland
                                  zusammen. | Seite 30

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EDITORIAL

                                                                                          Von Stefan Krucker, Chefredaktor

       Agilität
                                                                                          Agile Methoden brauchen Geduld. Dabei as-
       		FOKUS                                                                            soziieren wir mit Agilität doch: Bewegung,
         4 Agilität als organisationale Grundkompetenz | J. Krapf                         schnell reagieren, flexibel sein. Was im ersten
       		   Das Thema ist nicht nur für IT-getriebene Start-ups relevant.                 Moment als Widerspruch erscheint, ist wohl
        6 Das Dilemma guter Schulführung | D. Fleischmann                                 keiner. Zwei Beispiele:
       		 Gefragt sind Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe.                                    Dany Gehrig, CEO von Globetrotter, hatte
                                                                                          ein Problem: Der Umsatz brach wegen der
        8 «Viele kleine Bausteine» | Interview: L. Perret Ducommun
       		 Interview mit CEO Michel Perrin zur agilen Unternehmensführung.                 Coronapandemie gegen 80 Prozent ein. Ent-
                                                                                          lassungen wurden unumgänglich. Gehrig
       10 Mit Umschulungen die Folgen der Coronakrise mildern | A. Lenders et al.         verkündete, dass in seinem Unternehmen
       		 Agile öffentlich-private Zusammenarbeit made in Sweden.
                                                                                          nicht die Chefs entscheiden würden, wer ge-
                                                                                          hen müsse, sondern die Mitarbeitenden selbst,
                                                                                          dies im Sinne des partizipativen Führungs-
        		BERUFSBILDUNG
                                                                                          modells namens Soziokratie. Dass dieses Mo-
       14		 Einige Hoffnungen erfüllt, aber Schwachstellen bleiben | C. Hofmann et al.    dell eingeführt werde, erfuhren die Mitarbei-
       		   EBA und PrA: Die Unterstützung ist zu wenig gut koordiniert.                  tenden gemäss «Tagesanzeiger» kurz vorher.
       16		 Digitalisierung der Lehrstellensuche | F. Montellier                              Die Kommentare in den Medien waren
       		 Jugendliche trainieren online für das Bewerbungsverfahren.                      vernichtend. Matthias Mölleney, letzter Per-
                                                                                          sonalchef der Swissair, sagte dem «Tagesan-
                                                                                          zeiger» zur Idee, Mitarbeitende über Kündi-
       		BERUFSBERATUNG                                                                   gungen entscheiden zu lassen: «Man kann das
       20 Entwicklung der Berufswahlbereitschaft von Jugendlichen | J. Marciniak et al.   grundsätzlich machen, wenn das Unterneh-
       		 Der traditionelle Passungsansatz hat auch seine Vorteile.                       men schon länger auf partizipative Führung
       22 Gesprächshypnose für die Beratung | M. Schweizer                                setzt und sich das Aufteilen der Verantwor-
       		 Was anderswo funktioniert, soll auch in der BSLB Einzug halten.                 tung eingespielt hat. Ein solches Modell den
                                                                                          Angestellten aufzuzwingen, wenn die Firma
       25 Introvertierte und extravertierte Menschen wirksam beraten | S. Bardill
       		 Fundamentale Unterschiede, in der Laufbahnberatung zu berücksichtigen.
                                                                                          mit dem Rücken zur Wand steht, ist aber das
                                                                                          denkbar schlechteste Vorgehen.» Etwas mehr
                                                                                          Geduld wäre Gehrig wohl gut angestanden.
            ARBEITSMARKT
                                                                                              Michel Perrin, CEO des IT-Unternehmens
                                                                                          UDITIS SA, hat auch so seine Erfahrungen
       29		 Transparenter werden | Interview: D. Fleischmann
       		   Nicole Hostettler, neue Präsidentin des VSAA, will stärker kommunizieren.     gemacht: Vor vier Jahren hatte er seinen Mit-
                                                                                          arbeitenden eröffnet, dass er die bisherige
       30 Der gemeinsame Weg in die Normalität | D. Fleischmann                           Organisation auflösen und sie in ein befreites
       		 WorkMed kombiniert psychiatrische Abklärung mit Arbeitstraining.
                                                                                          Unternehmen ohne Reglemente und Hierar-
       31 Chronifizierungen vermeiden | D. Fleischmann                                    chien überführen wolle. Im Interview (Seite 8)
       		 Eine Fachstelle im Kanton Baselland beschleunigt die Abklärung.
                                                                                          räumt er ein, dass auch er viel zu schnell ge-
       32 Sozialfirmen als Stellenvermittler | V. Antonin-Tattini, M. Pitteloud           startet sei und dadurch ein Chaos veranstaltet
       		 An der Schnittstelle zwischen erstem und zweitem Arbeitsmarkt.                  habe. Er hat dann trotzdem noch die Kurve
                                                                                          gekriegt. Gemeinsam habe man ein internes
                                                                                          Reglement erarbeitet und der weitere Prozess
       		CARTOON                                                                          sei durch ein Coaching begleitet worden.
       34		 Mit Agilität zum Erfolg | Ch. Biedermann                                          Von Geduld und von Coaching kann sie
                                                                                          ein Liedchen singen: Tabea von Mühlenen
                                                                                          vom BTV Bern übt, wird korrigiert, übt wie-
                                                                                          der. Mal für Mal, Stunde für Stunde. Nur so
                                                                                          erreicht sie, was sie am Schluss leicht und
                                                                                          geschmeidig – agil – vorturnt (Fotostrecke).

                                                                                                   PANORAMA 5 | 2020 — 3

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FOKUS                         Agilität

       Agilität als organisationale
       Grundkompetenz
       Lange war Agilität nur etwas für Start-ups oder Grossfirmen, deren Geschäftserfolg von einer
       agilen IT abhängig war. Aufgrund der zunehmenden Digitalisierung ist Agilität mittlerweile
       zu einer Grundkompetenz geworden, die alle Organisationen beherrschen müssen.
       Von Joël Krapf, Head Transformation Management beim Migros-Genossenschafts-Bund

       Die Coronakrise hat uns vor Augen ge-         intensiv in Organisationen eingeführt,        thoden und Modelle, um Organisationen
       führt, wie rasch Normalität über den Hau-     nicht zuletzt aufgrund des grossen Praxis-    agiler zu machen.
       fen geworfen werden kann. Während für         interesses an den «Lean-Prinzipien» von
       einige Berufstätige Homeoffice zuvor          Toyota. Im Zuge der zunehmenden Digita-           «Der Schnelle frisst
       kaum vorstellbar war, können sie sich ein     lisierung war es dann vor allem die IT, die       den Langsamen»
       Leben ohne Homeoffice nun gar nicht           die agilen Praktiken weiterentwickelt hat.    Doch auch nach 2001 blieb Agilität bei vie-
       mehr vorstellen. Innert kürzester Zeit        Aus diesem Grund wird die Geburtsstunde       len Organisationen höchstens ein Schlag-
       wurde Ungewöhnliches völlig normal: die       der Agilität oftmals auch mit dem «Agilen     wort in einem Strategiepapier. Denn abgese-
       Hände desinfizieren, Abstand halten oder      Manifest» verknüpft, das im Jahr 2001 von     hen von Start-ups oder Unternehmen, deren
       im öffentlichen Verkehr einen Mund-           Software-Entwicklern        veröffentlicht    Geschäftserfolg von einer agilen IT abhing,
       schutz tragen.                                wurde. Parallel zur IT haben aber auch        sahen wenige Firmen die Notwendigkeit, in
          Wenn eine Organisation die Fähigkeit       andere Disziplinen wie HR, Finanzen oder      ihre Agilität zu investieren. Erst seit etwa
       besitzt, sich an eine dynamische Umge-        Produktion festgestellt, dass die Digitali-   fünf Jahren hat das Thema im breiten Be-
       bung anzupassen, dann wird sie als agil       sierung und die damit einhergehende Vo-       rufsalltag Aufwind bekommen, sodass es
       bezeichnet. Die Agilität von Organisatio-     latilität, Unsicherheit, Komplexität und      mittlerweile kaum mehr ein Unternehmen
       nen wird seit über 70 Jahren von der Wis-     Ambiguität («VUCA-Welt») neu definiert,       gibt, das sich nicht mit Agilität beschäftigt.
       senschaft untersucht. Im gleichen Zeit-       wie kollaborative Wertschöpfung abläuft.          Mit COVID-19 hat die Dringlichkeit der
       raum wurden Teilaspekte der Agilität          Daraus entstanden weitere Praktiken, Me-      Agilität auch die traditionellen KMU er-

       4 — PANORAMA 5 | 2020

4-11_FOK_Panorama_DE_5_20.indd 4                                                                                                             13.10.20 12:16
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reicht, und dies nicht nur aufgrund der       dership», «t-shaped skills», «Management         der Praxis bewährt haben. Auf manches Un-
       plötzlichen Belastung für viele Unterneh-     3.0» oder «Beta-Kodex» einen ersten Einstieg     ternehmen wirkt das Modell allerdings eher
       men in dieser speziellen Zeit. Auch der Di-   in die Thematik. Viele Organisationen erar-      abschreckend, weil es tatsächlich kaum ei-
       gitalisierungsprozess wurde deutlich be-      beiten hierzu eigene Werteleitbilder, die sie    nen Aspekt der organisationalen Zusam-
       schleunigt. Zwar sind die zu beobachtenden    in moderne Führungsgrundsätze giessen.           menarbeit unberührt lässt.
       Veränderungen technologisch gesehen           An Arbeitsweisen und Methoden existiert               Die Erfahrung zeigt, dass SAFe für viele
       noch sehr trivial, denn besonders neu sind    eine unbegrenzte Auswahl. Insbesondere           Organisationen ein attraktives Zielbild ist.
       weder E-Commerce noch bargeldloses Zah-       Methoden wie «Scrum», «Kanban», «Design          Allerdings brauchen einige Organisatio-
       len noch Online-Kollaborationstools wie       Thinking» oder «Lean Startup» sind mittler-      nen für dessen Erreichung zusätzlich noch
       Teams, Slack, Skype oder Zoom. Doch da-       weile fast so grundlegend wie der professio-     ein paar kleinere Schritte wie das Experi-
       durch, dass eine breite Masse von Organisa-   nelle Umgang mit einem Computer. In Be-          mentieren mit neuen Arbeitsweisen oder
       tionen zum ersten Mal dazu gezwungen          zug auf Struktur und Governance fällt es         den Aufbau von entsprechenden Kompe-
       war, auf diese digitalen Alternativen umzu-   den meisten Unternehmen derzeit noch am          tenzen.
       steigen, wurde der Grundstein dafür gelegt,   schwersten, grundlegende Veränderungen                Agilität ist in der breiten Arbeitswelt
       noch weiter gehende Digitalisierungs-         in die Praxis umzusetzen. Ansätze wie            angekommen. Interessierte das Phänomen
       schritte zu vollziehen. Diese beschleunigte   «OKR» («Objectives and Key Results»), «Holo-     vor 70 Jahren vor allem Wissenschaftler und
       Digitalisierung wird für alle Organisatio-    kratie» oder «Teal Organisation» sind noch       vor 20 Jahren vor allem Software-Entwick-
       nen den Druck erhöhen, agiler zu werden.      in sehr wenigen Unternehmen etabliert.           ler, so ist es mittlerweile eine Grundkompe-
       Das Darwin’sche Gesetz für Organisationen                                                      tenz, die jede Organisation besitzen muss,
       lautet dann künftig nicht mehr «Der Grosse        Ein ganzheitliches Agilitätsmodell           wenn sie in einer rasch ändernden Umwelt
       frisst den Kleinen», sondern «Der Schnelle    Das «Scaled Agile Framework» (SAFe) ist ein      überleben möchte. Viele Organisationen
       frisst den Langsamen».                        holistisches Modell für die Agilität von Or-     müssen deshalb in den drei Gestaltungsfel-
                                                     ganisationen und damit wohl jener Refe-          dern «Werte und Kompetenzen», «Arbeits-
           Die drei Dimensionen von Agilität         renzrahmen, der die drei Gestaltungsdi-          weisen und Methoden» sowie «Struktur und
       Um agil zu werden, muss eine Organisa-        mensionen der Agilität am ganzheitlichsten       Governance» signifikante Veränderungen
       tion Anpassungen in drei Dimensionen          abdeckt. So bietet SAFe den Organisationen       vornehmen. Agilität verändert jedoch nicht
       vornehmen:                                    eine Grundlage für Werte und Kompetenzen         nur Organisationen, sondern auch die Men-
       • Agile Werte und Kompetenzen veran-          («Core Values», SAFe-Prinzipien, «Lean-Agile     schen, die dort arbeiten. Für die Mitarbeiten-
         kern das neue Paradigma im individuel-      Mindset»), konkrete Praktiken für Struktur       den bedeutet das zum einen, dass sich die
         len Verhalten, um eine homogene agile       und Governance sowie die Aufnahme etab-          Anforderungen an Kompetenzen und Ar-
         Kultur in der Gruppe sicherzustellen.       lierter Arbeitsweisen wie Scrum, Kanban          beitsweisen verändern. Zum andern wird
       • Agile Arbeitsweisen und Methoden stel-      oder Design Thinking.                            sich auch das organisationale Umfeld und
         len ein iteratives und inkrementelles –         Zahlreiche Organisationen orientieren        damit die Arbeitswelt für alle deutlich da-
         also schrittweises und auf den vorigen      sich am SAFe-Modell. Dieses hat den grossen      von unterscheiden, was heute für viele noch
         Schritten aufbauendes – Vorgehen si-        Vorteil, dass es auf einem Referenzrahmen        Alltag ist.
         cher, um aus Feedback und Praxiserfah-      basiert, dessen einzelne Elemente aufeinan-
         rung rasch zu lernen und das Risiko von     der abgestimmt sind und sich mehrfach in         www.joel-krapf.com
         Irrtümern zu minimieren.
       • Agile Strukturen und Governance unter-      Die drei Gestaltungsdimensionen von Agilität
         stützen einen raschen und auf den Kun-
         den ausgerichteten Entscheidungspro-
         zess. Teams sind selbst organisiert und
         interdisziplinär und stellen so eine ge-
         samtheitliche Sicht sicher.                                                 Struktur &
       Aufgrund der grossen Verbreitung der Agi-                                     Governance
       lität gibt es mittlerweile für jede Dimen-
       sion unzählige Praktiken, Methoden und
       Modelle, die Organisationen Ansatzpunkte                                        Agilität

       für den agilen Wandel bieten.
           Bei den Werten und Kompetenzen bie-                       Werte &                         Arbeitsweisen
       ten Konzepte wie das «Agile Manifest»,                      Kompetenzen                        & Methoden
                                                                                                                             Quelle: Joël Krapf, 2017
       «Transformationale Führung», «Servant Lea-

                                                                                                               PANORAMA 5 | 2020 — 5

4-11_FOK_Panorama_DE_5_20.indd 5                                                                                                                   13.10.20 12:16
PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - HEVs
FOKUS Agilität

       Projekt «Kontextsteuerung und Leitungshandeln an Schulen»

       Das Dilemma guter Schulführung
       Eine gute Schulführung sorgt für eine hohe Unterrichtsqualität, doch sie kratzt auch
       an der pädagogischen Autonomie der Lehrpersonen. Das birgt Sprengstoff. Ein Projekt
       des Schweizerischen Zentrums für die Mittelschule fand interessante Lösungen.
       Von Daniel Fleischmann, PANORAMA-Redaktor

       Schulen sind wie Dörfer. Da gibt es Begeg-    Fachschaften gut, dass die Lernenden ver-      len. Um sie zu optimieren, wurden Schu-
       nungsorte und Rückzugsräume, kleine           mehrt selbstgesteuert lernen sollen? Was       len plötzlich als Organisationseinheiten
       und grosse Gemeinderäte, Gewissheiten         sollen Rektorate tun, damit die Lehrper-       gesehen, die es zu standardisieren und zu
       und Geschwätz. Wenn man Beatrice Gre-         sonen fit für Office 365 werden? Welche        kontrollieren gelte – über eine Zentralma-
       gus fragt, welches Bild ihr für ihre Schule   Parameter sind sinnvoll, wenn man Un-          turität etwa oder über fixe Qualitätskrite-
       in den Sinn kommt, dann ist es dieses. Ihr    terrichtsqualität messen will? Themen          rien. «Diese politischen Diskussionen ha-
       Dorf besteht aus drei Abteilungen mit         wie diese führen Schulleitungen in ein         ben die Schulen herausgefordert», sagt
       rund 1000 Studierenden und Lernenden,         Dilemma, das alle komplexeren Organisa-        Ursula Käser. «Und sie lösten eine Gegen-
       70 Lehrpersonen und einer Vielzahl von        tionen auszeichnet: Es muss gelingen,          bewegung aus, die schliesslich zur alten
       Fachschaften, Fachbereichen und Projekt-      agil zu strategiekonformen Entscheidun-        Erkenntnis führte, dass gute Schulen
       gruppen. Gregus hätte auch von einem          gen zu finden, aber die Lehrpersonen und       nicht wie Maschinen zu steuern oder zu
       mittleren KMU reden können. Ihre Schule       Arbeitsgruppen nicht zu übergehen. Bea-        standardisieren sind.» Ein wichtige Refe-
       ist das Bildungszentrum für Gesundheit        trice Gregus spürt das täglich: Die Aktivi-    renz war Helmut Willke. Der deutsche
       und Soziales (BfGS) in Weinfelden.            täten der Fachbereiche oder Projektteams       Soziologe hatte unter dem Titel der
           In so einem Dorf namens Schule gibt       seien essenziell wichtig, unterstützten        Kontextsteuerung beschrieben, dass
       es bindende und fliehende Kräfte. Sie zu      und entlasteten enorm, sagt sie, zum Bei-      komplexe Systeme nur dann erfolgreich
       lenken, gehört zu den zentralen Aufga-        spiel wenn revidierte Bildungsverordnun-       geführt werden können, wenn die Steue-
       ben einer Schulleitung. Finden es alle        gen auf Schulebene heruntergebrochen           rungsinstanz die Autonomie der Organi-
                                                     werden müssen. Gleichzeitig müsse sie          sationseinheiten respektiert und Bedin-
                                                     dafür sorgen, dass Entscheide den Mög-         gungen schafft, unter denen diese sich
        Projekt des ZEM CES:                         lichkeiten der Schule und den Bedürfnis-       selbst zu steuern beginnen. «Dieser Ge-
        «Überraschend grosse                         sen der Anspruchsgruppen entsprechen.          danke Willkes wirkte wie eine Befreiung»,
        Energie»                                     «Nach oben setze ich mich für die Lehrper-     erinnert sich Ursula Käser. Statt von Stan-
        Das Schweizerische Zentrum für die           sonen und ihre Fachschaften ein, nach          dards sprach man jetzt von Entwicklungs-
        Mittelschule (ZEM CES) lancierte 2018        unten aber muss ich die grossen strategi-      zielen und Leistungsvereinbarungen,
        gemeinsam mit dem Landesamt für              schen Linien – darunter auch enge zeitli-      statt von Kontrolle von Vertrauen. Alle
        Schule und Bildung, Standort Dresden/        che und finanzielle Ressourcen – erklären.     beteiligten Teilsysteme sollten sich in ei-
        Sachsen das Projekt «Kontextsteuerung        Das kann man eigentlich fast nie ganz          nem gemeinsamen Diskurs auf Augen-
        und Leitungshandeln an Schulen».             richtig machen.»                               höhe begegnen.
        In diesem Rahmen ermittelten zwölf
        Mittelschulen Elemente und Formen                Schulen sind keine Maschinen                   Gegen den stillen Boykott
        zur inner- und ausserschulischen             Wie können Schulleitungen für eine hohe            der Lehrpersonen
        Kontextgestaltung. Die Ergebnisse            Unterrichtsqualität sorgen, ohne die päd-      Statt Vorschriften Verständigung – das
        bildeten Gegenstand eines ganztägigen        agogische Freiheit der Lehrpersonen ein-       klingt einfacher, als es ist. Noch heute
        Workshops, an dem, wie sich Ursula           zuschränken und sie damit zu demotivie-        scheitern schulische Organisationsent-
        Käser (Direktorin Campus Muristal-           ren? Auch dieses Dilemma treibt die            wicklungen immer wieder daran, dass
        den) erinnert, «in verschiedenen             Schulen seit vielen Jahren um. Ursula          sich Lehrpersonen übergangen fühlen
        informellen Kontexten plötzlich eine         Käser, die Direktorin des privaten, teilsub-   und in einen stillen Boykott treten. Am
        überraschend grosse Energie für das          ventionierten Campus Muristalden in            Schweizerischen Zentrum für die Mittel-
        Thema» entstand. Die Arbeiten sind in        Bern, weiss davon zu erzählen. Sie war         schule (ZEM CES) weiss man das. Die Agen-
        einer Kurzfassung für den Gebrauch in        von 2009 bis 2018 im Mittelschul- und          tur, die im Auftrag der Erziehungsdirekto-
        der Schulleitungspraxis aufbereitet.         Berufsbildungsamt des Kantons Bern tä-         renkonferenz handelt, startete darum vor
        www.zemces.ch                                tig und erinnert sich an die damaligen         zwei Jahren das Projekt «Kontextsteue-
                                                     Diskussionen über die Qualität der Schu-       rung und Leitungshandeln an Schulen».

       6 — PANORAMA 5 | 2020

4-11_FOK_Panorama_DE_5_20.indd 6                                                                                                           13.10.20 12:16
PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - HEVs
chenschaft darüber abzulegen. Das erfor-
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                                                                                                      Teilsysteme, die Fähigkeit zur Selbstbeob-
                                                                                                      achtung und -beschreibung und zum Ver-
                                                                                                      stehen der anderen Teilsysteme. Das ge-
                                                                                                      lingt nicht immer optimal, wie Ursula
                                                                                                      Käser, die auch im Rahmen von Schuleva-
                                                                                                      luationen tätig ist, weiss: «Ein Entwick-
                                                                                                      lungsfeld vieler Schulen der Sekundar-
                                                                                                      stufe II besteht darin, dass die Teilsysteme
                                                                                                      – die Fachschaften etwa – zu wenig wis-
                                                                                                      sen, was die anderen tun.» Dabei erarbei-
                                                                                                      teten diese Gremien zum Teil interessante
                                                                                                      Innovationen, zum Beispiel zur Frage,
                                                                                                      wie man valide Beurteilungssituationen
                                                                                                      schafft oder faire, nachhaltige Feedbacks
                                                                                                      gibt. Ursula Käser spricht von einer «Scheu
                                                                                                      der Teilsysteme, über die eigene Arbeit zu
                                                                                                      berichten». Beatrice Gregus sagt dazu:
       Kultur der offenen Türen: Schulleitungen tun gut daran, ihren Fachschaften Räume der Autono-   «Von Scheu würde ich nicht sprechen.
       mie zu gewähren. Aber sie haben auch Verpflichtungen.                                          Eher von engen Zeitbudgets und vielleicht
                                                                                                      von unterschiedlich verstandenen Priori-
                                                                                                      sierungen.»
       Sein Ziel war es, den Blick für die komple-     dass Schulen in ihren Qualitätsleitbildern
       xen Rollen, Abhängigkeiten und Prozesse         selbst die Sollvorgaben festlegen, nach de-        Aushandlungsprozesse
       in diesem Dorf namens Schule zu schärfen.       nen die schulinterne Qualitätsentwick-             auf Augenhöhe
       Dazu gehört das Verständnis für die ambi-       lung und -evaluation erfolgen soll. Damit      Mit dem Konzept der Kontextsteuerung
       valente Aufgabenstellung von Schulleitun-       macht es die Lehrpersonen selbst zu Akteu-     können nicht nur innerschulische
       gen. Diese müssen den Teilsystemen ein          ren von Veränderungen.                         Schnittstellen gestaltet werden, sondern
       hohes Mass an Autonomie und Entschei-                                                          auch die Beziehungen zu den umgeben-
       dungskompetenz zugestehen. Aber sie                 Gegenüber dem Gesamtsystem                 den Systemen der Behörden oder der Bil-
       müssen auch dafür sorgen, dass sie im               Rechenschaft ablegen                       dungspolitik. Hier sind Themen der
       Sinne des Gesamtsystems agieren und ein         Im Rahmen des Projektes des ZEM CES            Schul-, Qualitäts- oder Personalentwick-
       bestimmtes Mass an pädagogischer Quali-         haben zwölf Schulleitungen aus der             lung zu bearbeiten, und auch hier ist es
       tät erreichen. Ohne Führung keine Unter-        Schweiz und dem deutschen Bundesland           nützlich, Strukturen für die Kommuni-
       richtsqualität. Ohne Kommunikation kein         Sachsen zusammengetragen, welche Ver-          kation und Kooperation einzurichten, die
       Konsens. Ohne Transparenz kein Ver-             fahren, Organe und Leitlinien für die not-     Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe
       trauen. Ohne Vertrauen keine Motivation.        wendigen Aushandlungsprozesse geeig-           erlauben. Wie das gelingen kann, illust-
       Beatrice Gregus sagt: «Vor zwanzig Jahren       net sind. Da ist die Rede von pädagogischen    riert Ursula Käser am Beispiel von exter-
       begriff man Schulentwicklung, Qualitäts-        Teams und Rektoraten, Schulkonferenzen         nen Schulevaluationen. Man könne den
       sicherung oder Weiterbildung als vonein-        und dem Schülerrat, Fachschaften und           Schulen solche Berichte einfach zustel-
       ander getrennte Aufgaben. Heute weiss           QM-Gruppen. Sie alle haben im Rahmen           len. Viel besser aber sei es, wenn Schulbe-
       man, dass sie zusammengehören.» Rekto-          einer gelingenden Kontextsteuerung eine        hörden und Schulleitungen sie in einem
       rate haben darum auch eine Verantwor-           doppelte Aufgabe. Sie organisieren sich        gemeinsamen Suchprozess auf ihre Ver-
       tung für die Qualität des Unterrichts; sie      autonom und treiben die von ihnen ge-          besserungspotenziale hin diskutierten.
       ist keine Privatsache der Lehrpersonen.         wählten Themen voran. Und sie stellen          «Denn erst auf der Basis gemeinsam for-
       Umgekehrt haben die Lehrpersonen die            die Ergebnisse dieser Arbeit in geeigneter     mulierter Erkenntnisse und Zielvereinba-
       Aufgabe und das Recht, sich an der Ent-         Form den weiteren Gremien der Schule           rungen können Evaluationen ihre Wir-
       wicklung der Gesamtstrategie der Schule         zur Verfügung.                                 kung erzielen. » Dass das wirklich gelingt,
       zu beteiligen. Dieser Gedanke zeigt sich            Der Freiheit der Teilsysteme, Themen       ist nicht nur eine Frage von geeigneten
       etwa im Qualitätsmanagement Q2E, mit            zu gestalten, steht also die Pflicht gegen-    Strukturen oder Rollenzuschreibungen.
       dem auch das BfGS arbeitet. Q2E sieht vor,      über, dem Gesamtsystem der Schule Re-          Sondern auch eine Frage der Haltung.

                                                                                                               PANORAMA 5 | 2020 — 7

4-11_FOK_Panorama_DE_5_20.indd 7                                                                                                              13.10.20 12:16
PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - HEVs
FOKUS Agilität

       Im Unternehmen

       «Agilität setzt sich aus vielen
       kleinen Bausteinen zusammen»
       Michel Perrin ist ein Balancekünstler der organisatorischen Agilität. Der CEO des West-
       schweizer IT-Unternehmens UDITIS SA, das 2020 sein 20-jähriges Bestehen feiert, verwandelt
       sein KMU in eine agile Organisation. Interview mit einem visionären Chef.
       Interview: Laura Perret Ducommun, PANORAMA-Redaktorin

       PANORAMA: Wie definieren Sie Agilität          Wie haben Sie diese Verwandlung                 und werde schon wieder vorbeigehen.
       im Unternehmen?                                umgesetzt?                                      Glücklicherweise konnten wir auf die
       Michel Perrin: Man kann zwischen orga-         Meine Teilhaber und ich haben Bücher            Treue unserer Angestellten zählen – viele
       nisatorischer und operativer Agilität un-      gekauft, Seminare in Paris besucht, uns         von ihnen arbeiten schon seit mehr als
       terscheiden. In unserem Fall handelt es        ausgetauscht und einen Modelltyp erarbei-       zehn Jahren für uns. Das Chaos bot
       sich um organisatorische Agilität. Ich         tet, den wir anwenden wollten. Nicht alle       schliesslich die Gelegenheit, das neue Mo-
       halte mich gerne an die Definition von         Mitarbeitenden sind bereit und offen für        dell gemeinsam zu erarbeiten. Wir haben
       Jérôme Barrand von der Universität Gre-        mehr Autonomie und Verantwortung.               zusammen unser internes Reglement über-
       noble: «Agilität ist die Fähigkeit, sich in    Aber alle sind sehr engagiert. Sie müssen       arbeitet und von 32 auf 7 Seiten gekürzt.
       einem turbulenten Umfeld sowohl indivi-        ihren Beruf als die Person ausüben kön-         Wir einigten uns auf ein Minimum an Re-
       duell als auch kollektiv adäquat zu bewe-      nen, die sie sind, und nicht als die Person,    geln, die für alle verbindlich sind. 2018
       gen.» Das bedeutet, den Mitarbeitenden         als die wir sie gerne hätten. Das Manage-       haben wir eine Gesellschaft dazugekauft
       Sinn zu vermitteln, ihnen Anerkennung          ment muss lernen, mit Individuen zu ar-         und die Befreiung des Unternehmens mit
       zu zollen, sie zu motivieren und wohlwol-      beiten. Es muss die Schwächen der einen         einer professionellen Begleitung in Form
       lend zu begleiten, denn sie sind es, die       mit den Stärken anderer ausgleichen und         eines Coachings fortgesetzt.
       Mehrwert schaffen. Sie engagieren sich         die Vorzüge jedes Einzelnen würdigen.
       und gehen dabei Risiken ein. Wir messen        Defizite mit Weiterbildung beheben zu           Welche Aufgabe hat der CEO in einem
       heute Fach- und Sozialkompetenzen, aber        wollen, ist zwecklos, wenn es sich dabei        befreiten Unternehmen?
       wir haben kaum Instrumente, mit denen          um Bereiche handelt, in denen sich ein          UDITIS ist ein dynamisches Unternehmen
       wir das Engagement von Mitarbeitenden          Mitarbeiter gar nicht weiterentwickeln          in einem anhaltenden Ungleichgewicht.
       einschätzen können.                            kann. Ein Unternehmen ist wie ein riesi-        Meine Aufgabe ist es, dieses permanente
                                                      ges Puzzle mit komplexen Teilen, Lücken         Ungleichgewicht herzustellen und hellhö-
       Warum haben Sie in Ihrem Unterneh-             und Überschneidungen. Diese Mängel sind         rig für Technologien, Kunden und Märkte
       men agiles Management eingeführt?              nicht schlimm, man muss sich ihrer nur          zu sein. In einem Ungleichgewicht ist man
       Einer unserer Teilhaber hat einen EMBA-        bewusst sein. Das Management muss sich          wachsam und somit agil. Aber unter dem
       Studiengang absolviert und dabei neue,         den Individuen anpassen.                        Hochseil, auf dem dieser Balanceakt statt-
       horizontale Organisationsstrukturen ken-                                                       findet, ist ein Sicherheitsnetz aufgespannt.
       nengelernt. Er erzählte mir davon, und wir     Womit haben Sie begonnen?                       Es ist ein kontrolliertes Ungleichgewicht,
       suchten nach einer Methode, um den             Im Dezember 2016 haben wir die Mitarbei-        das keine Angst auslöst, aber stete Auf-
       Mehrwert, aber auch das Wohlbefinden           tenden informiert, dass wir die Organisa-       merksamkeit fordert. Die Sicherheit muss
       der Mitarbeitenden zu steigern. Unsere         tion auflösen und sie in ein befreites Unter-   sorgsam gewahrt werden.
       Idee war, dass die Direktion nur noch in       nehmen ohne Reglemente und Hierarchien
       Notfällen die Entscheidungen trifft. In        verwandeln werden. Sie fragten sich, was        Was hat sich für die Angestellten
       allen anderen Situationen sollte jeweils die   für ein Kraut wir wohl geraucht hätten.         konkret geändert?
       Person entscheiden, die dafür am besten        Wir hatten einfach vergessen, sie schon         Wenn ein Mitarbeiter früher eine neue
       qualifiziert ist. Das Ziel war, eine Organi-   vorher in unsere Überlegungen zu einer          Idee hatte, kam er damit zu mir. Ich versi-
       sationsform einzuführen, in der alle Mit-      möglichen Transformation des Unterneh-          cherte ihm, dass damit alles in Ordnung
       arbeitenden so sein können, wie sie sind,      mens einzuweihen. Eine Veränderung ist          sei, und er fühlte sich bestätigt. Dabei ging
       mit ihren individuellen Stärken und            kein Geschenk. Wir haben den Pflug vor          es um ein Fachgebiet, in dem ich weniger
       Schwächen, und in der sie von der Direkti-     den Ochsen gespannt und damit ein Chaos         kompetent war als er. Wenn ein Mitarbei-
       on unterstützt, statt durch Vorgaben ein-      veranstaltet. Unsere Mitarbeitenden dach-       ter heute eine Idee hat und dafür Informa-
       geschränkt werden.                             ten, das sei nur eine Laune der Direktion       tionen oder Kompetenzen braucht, findet

       8 — PANORAMA 5 | 2020                                                                                            Übersetzung: Rahel Hefti Roth

4-11_FOK_Panorama_DE_5_20.indd 8                                                                                                                13.10.20 12:16
PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - HEVs
einen einfachen und feinen Rahmen ge-          reich zu werden, aber auch ein geringeres
                                                     schaffen, mit einem Minimum an Regeln,         Risiko, auf die Nase zu fallen. Die Gemein-
                                                     die maximal umgesetzt werden. Sind bei         schaft ist ein Stossdämpfer. In meinen Au-
                                                     einer Regel zu viele Ausnahmen nötig,          gen ist das die beste Strategie für die Dauer-
                                                     muss sie abgeschafft werden. Hält sich ein     haftigkeit des Unternehmens, aber nicht für
                                                     Mitarbeiter nicht an die Regeln, hat er        die Profitoptimierung.
                                                     keinen Platz mehr im Team.
                                                                                                    Wie geht man in einem agilen Unterneh-
                                                     Was ist der nächste Entwicklungs-              men mit Fehlern um?
                                                     schritt für Ihr agiles Unternehmen?            Coaching war meine Cheftherapie, um von
                                                     Es geht nun darum, Unsicherheit zuzulas-       der Haltung des Führens zur Haltung des
                                                     sen und damit zu leben, sich intensiver mit    Begleitens zu gelangen. Daraus ergab sich
                                                     der Gegenwart zu befassen und hypotheti-       eine Kaskade von Veränderungen, die beim
                                                     sche Prognosen zu unterlassen. In der Co-      gesamten Management zu einer anderen
       Michel Perrin, CEO: «Das Management muss      ronakrise hat sich eine Sichtweite von drei    Haltung führte. Man muss das Recht, Fehler
       sich den Individuen anpassen.»                bis sechs Monaten als akzeptabel erwiesen.     zu machen, ins Bewusstsein bringen. Wenn
                                                     Wir haben auch vor, die Lohn- und Arbeits-     der Chef einen Fehler macht, muss er das
                                                     platzmodelle (Arbeit im Büro, beim Kun-        kommunizieren, damit die anderen wissen,
       er die nötige Hilfe anderswo: in einer kla-   den, im Homeoffice) anzupassen. Zudem          dass sie auch das Recht haben, sich zu irren.
       ren Matrix aus Rollen und Rolleninhabern.     möchten wir unsere Erfahrungen wissen-         Wenn Fehler legitim werden, wächst das
       Eine Rolle wird beschrieben durch ihren       schaftlich verankern, um eine solide           Engagement der Mitarbeitenden, die sonst
       Zweck, einen oder mehrere Aufgabenberei-      Grundlage für diesen Ansatz zu schaffen,       Angst hätten, etwas falsch zu machen.
       che und die zu erbringenden Leistungen        der bisher oft als ideologisches Konzept für
       oder Liefergegenstände. Nehmen wir zum        Neu-Achtundsechziger galt.                     Haben Sie eine Zauberformel gefunden?
       Beispiel die Rolle «Marketing»: Niemand                                                      So etwas gibt es nicht. Agilität setzt sich
       kann die Farbe unseres Firmenlogos än-        Welche Vorteile hat Ihnen die Agilität         aus vielen kleinen Bausteinen zusammen.
       dern, ohne das mit dieser Rolle abzuspre-     gebracht?                                      Wir tauschen uns mit anderen Unterneh-
       chen. Der Liefergegenstand ist eine Bildda-   Wir haben den Menschen wieder ins Zent-        men aus, die am Thema Agilität arbeiten.
       tei im PNG-Format, und der Inhaber dieser     rum gestellt und gleichzeitig die Zufrieden-   Früher war die Welt kompliziert, heute ist
       Rolle ist die Person, die dafür am besten     heit unserer Kunden gewährleistet. Wir ha-     sie komplex. Ein Uhrwerk ist kompliziert,
       geeignet ist, unabhängig von ihrer Funkti-    ben auch bessere Umsatzzahlen erzielt, aber    die Natur ist komplex. Ein Unternehmen
       on oder ihrer hierarchischen Stellung.        das ist nicht nur auf die Agilität zurückzu-   ist ein lebendiges Wesen, man spricht
                                                     führen. Dank der breiter verteilten Verant-    nicht umsonst von einer juristischen Per-
       Gibt es also keine Chefs mehr?                wortung wurde die Belastung für einige         son. Um das Unternehmen bei der Ent-
       Es gibt nach wie vor eine hierarchische       Funktionen verringert. Wir haben eine          scheidungsfindung sichtbar zu machen,
       Funktionsstruktur. Jede Person hat mehre-     hervorragende Stimmung, die auch im Lock-      stellen wir manchmal einen leeren Stuhl
       re Rollen und eine Funktion, die ihren        down bestehen blieb. Zudem hatte die Kom-      ins Sitzungszimmer. Wir fragen das Unter-
       Status bestimmt. Bei UDITIS gibt es fünf      munikation über unsere Transformation          nehmen, das durch den Stuhl verkörpert
       Funktionsebenen: Teilhaber, Mentoren,         zum agilen Unternehmen auch einen Mar-         wird, was es von dieser oder jener Entschei-
       Experten, Fachpersonen und Lernende. Ich      ketingeffekt, der uns einen Wettbewerbs-       dung hält. Es gibt einige heikle Punkte. Es
       zum Beispiel habe die Funktion CEO/Teil-      vorteil verschaffte.                           ist zum Beispiel ratsam, nicht schon am
       haber und die Rollen Marketing, digitale                                                     Anfang das Lohnmodell zu ändern. Man
       Transformation und interne Kommunika-         Gab es auch Schwierigkeiten?                   muss zuerst die Leute ins Boot holen, aus-
       tion. Möchte eine Fachperson Experte oder     Mit dem stärkeren Einbezug der Mitarbei-       giebig mit ihnen sprechen und sich bei
       Expertin werden, muss sie von der gesam-      tenden geht das Risiko einher, dass jemand     Entscheidungen und deren Umsetzung das
       ten Belegschaft gewählt werden, was ihr       zu stark für seine Arbeit brennt und in ein    Recht vorbehalten, wieder einen Schritt
       umfassende Legitimität verleiht. Unsere       Burn-out gerät. Wir haben auch weniger         zurück zu machen. Vor allem darf man
       Organisation basiert auf aufrichtigem Ver-    Zukunftssicherheit, was bei allen Akteuren     sich in keine seiner umgesetzten Ideen
       trauen und der Übertragung von Verant-        gewisse Ängste auslösen kann. Ich persön-      verlieben.
       wortung. Unsere Mitarbeitenden sind er-       lich glaube an die Gemeinschaft, andere
       wachsene Erwerbstätige, keine Kinder, die     verlassen sich nur auf sich selbst. In einem
       sich ein Taschengeld verdienen. Wir haben     Kollektiv gibt es eine geringere Chance,       www.uditis.ch

                                                                                                             PANORAMA 5 | 2020 — 9

4-11_FOK_Panorama_DE_5_20.indd 9                                                                                                              13.10.20 12:16
PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - HEVs
FOKUS Agilität

       Agile öffentlich-private Zusammenarbeit

       Mit Umschulungen die Folgen
       der Coronakrise mildern
       Dass sich Erwerbstätige umschulen und in andere Branchen wechseln, geschieht häufig.
       In normalen Zeiten geht eine solche Umorientierung allerdings eher langsam vonstatten.
       Die Gesundheitskrise hat diesen Prozess beschleunigt und intensiviert, wie Beispiele
       aus Schweden zeigen.
       Von Albrecht Lenders, Lars Haggstrom (IMD) und Rafael Lalive (Universität Lausanne)

       Die COVID-19-Pandemie hat viele Bran-             3. Der Aufbau der Zusammenarbeit der ver-        takte im engmaschigen schwedischen Wirt-
       chen geschwächt, andere dagegen, etwa                schiedenen Akteure (Betriebe, Bildungs-       schaftsgeflecht und wendete sich an Johanna
       das Gesundheitswesen, der Online-Han-                einrichtungen, Behörden usw.) ist eine        Adami, Präsidentin der Universität Sophia-
       del, in einigen Ländern auch die Schulen,            Herausforderung.                              hemmet, einer Pflegefachschule mit Sitz in
       sind gefragter denn je oder gar überlastet.       4. Die Kosten für Umschulungsprogramme           Stockholm. Zusammen erarbeiteten die drei
       Während Millionen von Erwerbstätigen                 sind erheblich, was in Zeiten, in denen die   eine dreieinhalbtägige Schulung, in der sich
       ohne Arbeit dastehen, können sich andere             Staaten wegen der Pandemie ohnehin un-        das entlassene SAS-Bordpersonal zu Pflege-
       vor Arbeit kaum noch retten.                         ter finanziellem Druck stehen, besonders      hilfen ausbilden lassen konnte. Sie alle hat-
           Der durch die Coronakrise verur-                 ins Gewicht fällt.                            ten im Rahmen ihrer Berufstätigkeit bereits
       sachte drastische Rückgang der Konsu-                                                              eine medizinische Grundschulung absol-
       mentennachfrage machte einen massiven                 Vom Cabin Crew Member                        viert und waren im Umgang mit Stresssitu-
       Stellenabbau unvermeidlich. Die meisten               zum Pflegehelfer                             ationen geübt. Aus den zahlreich eingegan-
       Regierungen reagierten mit Erwerbser-             Ein überzeugendes Beispiel für die er-           genen Bewerbungen wurden 30 Personen
       satz- oder Arbeitslosenentschädigungen            wähnte Vorgehensweise findet man in              für eine Pilotschulung ausgewählt, die ge-
       und Sondermassnahmen auf die Krise                Schweden. Dort hat ein Konsortium aus            rade mal zwei Wochen nach dem letzten
       und leisteten damit dringend benötigte            privaten Unternehmen und öffentlichen            Arbeitseinsatz stattfand. Seither haben wei-
       Unterstützung. Wünschenswert wären                Organisationen in nur wenigen Wochen             tere 500 Personen mit vergleichbarem beruf-
       aber auch staatliche Massnahmen gewe-             Angebote erarbeitet, die Arbeitnehmenden         lichem Hintergrund das Programm absol-
       sen, die das Gleichgewicht zwischen Ar-           den Weg in eine andere Branche ebnen. Ent-       viert. Zwei Monate nach der Lancierung der
       beitsangebot und -nachfrage nach diesem           wickelt hat das Programm Oscar Stege Un-         Pilotschulung wurde das Programm sogar
       plötzlichen Wandel wiederherstellen und           ger, Verwaltungsratsmitglied der Flugge-         in den Standard-Bildungskatalog der Univer-
       so die Arbeitnehmer unterstützen. Doch            sellschaft Scandinavian Airlines (SAS), die      sität Sophiahemmet aufgenommen.
       nur wenige Regierungen haben Massnah-             Mitglied im Konsortium ist. «Mitte März
       men auf die Beine gestellt, mit denen Er-         2020 haben wir eine ausserordentliche Sit-           Anschlussprojekte
       werbstätige sich umschulen und in Bran-           zung einberufen und uns entschieden, 90              und Erkenntnisse
       chen mit Fachkräftemangel Fuss fassen             Prozent des Bordpersonals vorläufig zu ent-      Nach den ersten Erfolgen zeigte sich, dass in
       können.                                           lassen», erklärt Oscar Stege Unger. «Uns war     anderen Branchen ebenfalls Potenzial für
           Solche Umschulungsprogramme zu                klar, dass viele Menschen ohne Beschäfti-        ähnliche Vorhaben vorhanden ist, so etwa in
       schaffen und Leute zu finden, die daran           gung dastehen würden, während im Ge-             den Schulen. In Schweden blieben die meis-
       interessiert sind, ist allerdings gar nicht so    sundheitswesen zur gleichen Zeit ein riesi-      ten Schulen während der Coronakrise geöff-
       einfach. Die Hauptgründe dafür sind:              ger Bedarf an Arbeitskräften bestand. Ich        net. Allerdings kam es immer wieder vor,
       1. Viele Länder sind sich zwar bewusst,           habe früher im Umschulungsbereich gear-          dass Mitarbeitende zu Hause bleiben muss-
          dass Umschulungen bei strukturellen            beitet und dachte mir, dass wir eine Kurz-       ten, weil sie Krankheitssymptome hatten.
          Veränderungen wichtig sind, doch nur           ausbildung auf die Beine stellen könnten,        Deshalb wurden dreitägige Schulungen er-
          wenige haben eine kohärente Vision             in der diese Personen das Rüstzeug erlan-        arbeitet, in denen mehreren Dutzend Teil-
          und klare Ziele, die für solche Pro-           gen, um Pflegepersonal und Ärzte bei ihrer       nehmenden verschiedene Themen aus dem
          gramme unabdingbar sind.                       Arbeit zu unterstützen.»                         Schulalltag (Unterrichtsplanung, Pädagogik,
       2. Die Entwicklung von Umschulungspro-                Nach ersten Überlegungen nahm Oscar          alltägliche Unterrichtssituationen usw.) nä-
          jekten wird durch mangelnde Informa-           Stege Unger Kontakt auf mit Fredrik Hillel-      hergebracht wurden. Die Teilnehmerinnen
          tionen über die Laufbahnmöglichkeiten          son, CEO des Personaldienstleisters Novare       und Teilnehmer der Schulungen werden
          eingeschränkt.                                 Human Capital. Hillelson nutzte seine Kon-       seither an mehreren Schulen Stockholms

       10 — PANORAMA 5 | 2020                                                                                               Übersetzung: Martina Amstutz

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PANORAMA Bildung Beratung Arbeitsmarkt - HEVs
eingesetzt und unterstützen dort überlastete
       Lehrpersonen, damit diese sich wieder auf
       ihre Hauptaufgabe konzentrieren können.
       Weitere Projekte gab es auch in der Forstwirt-
       schaft, die in normalen Zeiten stark von aus-
       ländischen Arbeitskräften abhängig ist.
           Die Initiativen könnten über die Coro-
       nakrise hinaus weitergeführt werden. Sie
       sind zwar sehr spezifisch auf den schwedi-
       schen Kontext ausgerichtet, dennoch lassen
       sich aus den Erfahrungen wichtige Lehren
       ableiten. So betonten etwa alle Akteure, wie
       wichtig das Ziel war, das sie einte und ih-
       nen ein schnelles und unkonventionelles
       Handeln ermöglichte. «Es gab zwar schon
       erfolgreiche Vorgängerprojekte; was dieses
       Mal anders war, war, dass alle das gemein-
       same Ziel sehen konnten», erzählt Oscar          Auf die verschiedensten Menschen eingehen: Diese Kompetenz von gekündigtem Kabinenpersonal
       Stege Unger. «So konnten wir das Potenzial       kann nach einer kurzen Umschulung auch in der Pflegeassistenz genutzt werden.

       des bestehenden Wirtschaftsumfelds voll
       ausschöpfen», fügt er an. Tatsächlich waren      stellt Fredrik Hillelson fest. «Ich hoffte, dass   Programm musste schnell eingeführt und
       die Umschulungsprogramme so komplex,             es in dieser Ausnahmesituation anders ist.         seine Wirksamkeit belegt werden. Finanz-
       dass keine Organisation allein in der Lage       Und ich wurde nicht enttäuscht. Statt so-          mittel wurden insbesondere für die Schu-
       gewesen wäre, sie durchzuführen. Für eine        fort Grosses anzustreben, haben wir zuerst         lung der Teilnehmenden und die Vereinfa-
       effiziente Zusammenarbeit brauchte es Ak-        kleine Ziele ins Auge gefasst, gezeigt, dass       chung der Rekrutierungsprozesse benötigt.
       teure, die sich persönlich kannten und ein-      es funktioniert, Lehren gezogen und dann           Die am Projekt beteiligten Organisationen
       ander vertrauten. Oscar Stege Unger ist sich     die Prozesse optimiert.»                           konnten diese Finanzmittel allerdings nicht
       der Bedeutung des engmaschigen schwedi-              Normalerweise sind Umschulungen ein            aufbringen, da sie durch die Krise sowieso
       schen Wirtschaftsgeflechts bewusst: «In          langer Prozess, und es gilt, die Ausbildungen      schon angeschlagen waren. Glücklicher-
       Schweden sind wir der Ansicht, dass die          und angestrebten Abschlüsse sorgfältig aus-        weise trug eine private Stiftung die Kosten
       öffentlich-private Zusammenarbeit der            zuwählen. Bei diesen Initiativen wurden            der Pilotschulungen. Als die Vorteile des Pro-
       Schlüssel zum Erfolg ist.» Schweden pflegt       einzelne Etappen viel schneller abgewickelt.       jekts sichtbar wurden, übernahmen die Spi-
       eine Kultur, in der die branchenübergrei-        Es galt, den Bedarf zu ermitteln, herauszu-        täler und Schulen die Kosten.
       fende Zusammenarbeit gefördert wird. Die         finden, wie viele Arbeitskräfte mit den erfor-         Die Auswirkungen der Coronapande-
       überschaubare Grösse des Landes begüns-          derlichen Kompetenzen überhaupt verfüg-            mie werden uns noch lange beschäftigen,
       tigt das Entstehen solcher Wirtschaftsge-        bar sind, und gleichzeitig festzulegen,            und so dürfte es auch immer häufiger vor-
       flechte.                                         welche Fertigkeiten schnell erworben wer-          kommen, dass Arbeitnehmende von einer
                                                        den müssen, denn bei dieser Art der Qualifi-       Branche in eine andere wechseln. Deshalb
           Schnelle Innovationen                        kation konnten natürlich nicht alle Themen         sollte sich jedes Land die Frage stellen, wie
           aus der Not heraus                           einer herkömmlichen Ausbildung abgedeckt           es diesen Wechsel in andere Beschäfti-
       Die Herausforderungen, die die Corona-           werden. Weiter mussten den Neuqualifizier-         gungsgebiete mit Programmen, die eine
       krise mit sich bringt, sind beispiellos, doch    ten Arbeitsplätze zugewiesen und die Quali-        schnelle Umschulung ermöglichen, erleich-
       die Krise birgt auch die einmalige Chance        tät ihrer Arbeit musste überwacht werden.          tern, fördern und beschleunigen kann. Die
       für eine Systemveränderung. Angesichts           Und nicht zuletzt musste der Wechsel in            Erfahrungen aus Schweden mögen zwar
       des Handlungsdrucks wurden strikte Vor-          andere Branchen attraktiv gestaltet werden,        nur einen kleinen Bereich abdecken, sie
       gaben und Hürden überwunden, von denen           besonders für die Arbeitnehmenden. Die Teil-       zeigen aber auch das grosse Potenzial sol-
       mutige Initiativen wie diese normalerweise       nehmenden haben sich für das Projekt ge-           cher Programme und können als Vorbild
       ausgebremst worden wären. Die Akteure            meldet, weil sie sich nützlich machen woll-        für flächendeckendere Initiativen dienen.
       reagierten rasch mit kleinen Pilotprojekten      ten und hofften, eventuell eine sicherere
       und lösten Probleme, wenn sie sich stellten.     Beschäftigung zu finden. Finanzielle Anreize       Enders, A., Haggstrom, L., Lalive, R. (2020): How
       «Unser System kann sehr träge sein, und die      waren nicht nötig. Ohne finanzielle Unter-         Reskilling Can Soften the Economic Blow of
       Interessen können auseinandergehen»,             stützung ging es dennoch nicht, denn das           Covid-19. In: Harvard Business Review.

                                                                                                                   PANORAMA 5 | 2020 — 11

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BERUFSBILDUNG

       Berufsbildung 2030                            «Transfer»                                   Studie
       «Top-Ausbildungsbetrieb»                      Newsletter der SGAB                          Am Puls der
       wird offizielles Projekt                      mit neuem Namen                              Lehrstellensituation
       «Top-Ausbildungsbetriebe haben Top-           Die Forschung bildet eine wichtige Stütze    Seit April 2020 erheben die ETH Zürich,
       Lernende. Aus Top-Lernenden werden            der Berufsbildung in der Schweiz. Die        yousty.ch und professional.ch im Rahmen
       Top-Fachkräfte.» So lautet das Motto des      Schweizerische Gesellschaft für ange-        des Forschungsprojekts «LehrstellenPuls»
       Labels «Top-Ausbildungsbetrieb» (TAB). Das    wandte Berufsbildungsforschung (SGAB)        einmal monatlich die Lehrstellensituation
       Projekt wurde Anfang Juli 2020 offiziell in   publiziert die wichtigsten Ergebnisse seit   in der Schweiz. Das Projekt untersucht die
       die Initiative «Berufsbildung 2030»           2016 in einem Newsletter. Nun lanciert       Auswirkungen der Coronakrise auf
       aufgenommen. Es soll dem Fachkräfte-          die SGAB diesen Newsletter unter dem         Lehrbetriebe und Jugendliche und
       mangel entgegenwirken und das Image           Titel «Transfer – Berufsbildung in           konzentriert sich dabei auf drei Zielgrup-
       der dualen Berufsbildung verbessern. Mit      Forschung und Praxis» neu. Zudem erhält      pen: zukünftige Lernende, aktuelle
       dem TAB-Label werden Betriebe zertifi-        das Medium eine französischsprachige         Lernende und Lernende im letzten
       ziert, die sich überdurchschnittlich für      Redaktion (Hervé Munz, Universität           Lehrjahr kurz vor dem Übertritt in den
       eine qualitativ hochstehende Ausbildung       Genf) mit mehr Beiträgen aus der             Arbeitsmarkt. Im Juli 2020 nahmen 2809
       von Lernenden engagieren. Das Projekt         Romandie und mehr Übersetzungen.             Lehrbetriebe unterschiedlicher Grösse aus
       setzt vor allem bei der Unterstützung der     Schliesslich werden die Berichte sofort      allen Kantonen und Branchen an der
       Berufsbildner/innen an, indem es ihre         online geschaltet, wenn sie geprüft und      Erhebung teil. Dabei zeigte sich, dass Ende
       methodischen Kompetenzen, das Bewusst-        redigiert sind. In LinkedIn und über         Juli bereits 90 Prozent der für August 2020
       sein für ihre Vorbildfunktion sowie ihre      Push-Meldungen erhalten interessierte        verfügbaren Lehrstellen besetzt waren.
       Sozialkompetenzen im Umgang mit               Leserinnen und Leser entsprechende           Ausserdem zeichnete sich ab, dass die in
       Jugendlichen stärkt. Das Projekt wird von     Benachrichtigungen. Die Neuerungen           der Regel relativ hohe Zahl von Lernenden,
       vier OdA (Carrosserie Suisse, JardinSuisse,   sind dank der Unterstützung des SBFI         die nach Abschluss der Ausbildung im
       Schweizerischem Maler- und Gipserunter-       möglich. «Transfer» kann man kostenlos       Lehrbetrieb weiterbeschäftigt werden,
       nehmer-Verband und HotellerieSuisse)          abonnieren. dfl                              dieses Jahr um 16 Prozent kleiner ausfal-
       getragen und in Zusammenarbeit mit dem        www.sgab-srfp.ch > Transfer                  len könnte. lp
       EHB umgesetzt. lp                                                                          www.lehrstellenpuls.ch
       www.topausbildungsbetrieb.ch

       12 — PANORAMA 5 | 2020                                                                                       Übersetzung: Rahel Hefti Roth

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Kontroverse um Luzerner Modell                Neues Webportal der Unia                     Wandel des Bildes vom «Lehrling»
       Berufsmatura-Unterricht                       Gegen sexuelle Belästigung                   Nicht mehr nur Arbeitskraft
       schon in der 3. Sek                           Die Gewerkschaft Unia hat rund 800           1969 hielt der damalige Zürcher Stadtprä-
       Leistungsstarke Lernende der 3. Sekundar-     Lernende zum Thema sexuelle Belästi-         sident Sigmund Widmer ein Referat mit
       klassen mit Aussicht auf eine technische      gung in der Lehre befragt. 80 Prozent der    dem Titel «Lehrlinge – Stiefkinder unserer
       oder gewerbliche Berufslehre können ab        jungen Frauen und 48 Prozent der jungen      Gesellschaft»; er sprach von «erschreckend
       Schuljahr 2021/2022 einen Tag pro Woche       Männer gaben an, schon einmal sexuell        bescheidenem Wissen» und beklagte eine
       den Berufsmaturitätsunterricht in Luzern      belästigt worden zu sein. Die Belästigun-    «offensichtliche Unklarheit über die eigene
       besuchen. Das neue Angebot «BM SEK+»          gen fanden am Arbeitsort (33%), in der       Position in der Gesellschaftsordnung»
       wurde von den Dienststellen Volksschulbil-    Schule (34%) und im Privatleben (56%)        dieser jungen Erwachsenen. Redeweisen
       dung und Berufs- und Weiterbildung im         statt. Aufgrund dieses Ergebnisses hat die   wie diese bilden den Gegenstand einer
       Rahmen der Begabtenförderung konzi-           Unia eine Kampagne lanciert, um das          diskursanalytischen Forschungsarbeit
       piert. Neben den Schülerinnen und             Problem anzugehen. Sie ruft die Lehrbe-      über die Veränderungen des Bildes der
       Schülern profitieren auch die Lehrbetrie-     triebe und die Berufsfachschulen auf,        heute als Lernende bezeichneten Lehrlinge
       be, so die Idee. So erklärte Bruno Wicki      gemeinsam gegen Sexismus und sexuelle        zwischen 1950 und 1970. Die Autorin der
       (Schindler AG): «Lernende, die bereits        Belästigung vorzugehen und auch schon        Studie, Lena Freidorfer-Kabashi (Universi-
       während der 3. Sek in die BM einsteigen,      bei schwachen Formen von Sexismus zu         tät Zürich), arbeitet dabei drei Lehrlings-
       gewinnen ein Jahr.» Weil sie die BM dann      reagieren, um einen Kulturwandel             bilder heraus. In den Jahren von 1950 bis
       schon am Ende des 3. Lehrjahres abschlies-    herbeizuführen. Die Gewerkschaft hat         1960 wurde die Jugend in beruflicher
       sen, hätten sie mehr Zeit, sich auf die       ein Online-Portal für Lernende und           Ausbildung überwiegend als «Produktions-
       Lehrabschlussprüfung vorzubereiten und        Lehrbetriebe geschaffen, auf dem sie         faktor» oder «volkswirtschaftlicher Faktor»
       sich mehr auf die Bildung im Betrieb zu       konkrete Massnahmen vorschlägt. Sie          gesehen. Als Subjekte mit individuellen
       konzentrieren. Weiterer Effekt: Mit dem       empfiehlt eine Politik der Nulltoleranz      Bedürfnissen begann man sie erst danach
       Angebot kann sich die Berufsbildung als       bei sexueller Belästigung und fordert        wahrzunehmen, ab etwa 1960, als in der
       Alternative zum Gymnasium positionie-         eine verstärkte Prävention sowie verbind-    Berufserziehung eine stärkere Auseinan-
       ren. Nicht alle Fachleute finden die Idee     liche Reglemente gegen sexuelle Belästi-     dersetzung mit psychologischen und
       gut. So wendet sich der an der PH Zürich      gung in Lehrbetrieben und Berufsfach-        soziologischen Erkenntnissen erfolgte.
       tätige Didaktiker Claudio Caduff gegen das    schulen. Hierfür stellt die Unia ein         Jetzt wurden die Lernenden vermehrt als
       Modell und nennt didaktische, entwick-        Musterreglement und Grundsätze für           in geistiger und körperlicher Entwicklung
       lungspsychologische und bildungstheoreti-     Betriebe zur Verfügung. Als weitere          stehende und dadurch schützenswerte,
       sche Gründe dafür. Der BM-Unterricht          Massnahmen empfiehlt sie vermehrte           junge Menschen thematisiert. Die Jahre ab
       baue in den Fächern Mathematik, Deutsch,      Kontrollen der Arbeitsbedingungen von        1967 brachten weitere Veränderungen des
       Französisch und Englisch idealerweise auf     Lernenden durch die Kantone sowie            Bildes, da sich die Lernenden aus Struktu-
       die bis Ende 3. Sekundarklasse erworbenen     unabhängige, anonym zugängliche              ren des Konformismus lösten und in der
       Kompetenzen, so Caduff. Diesem Prinzip        Beschwerdestellen in allen Betrieben und     Öffentlichkeit, in Printmedien und im
       könne aber nicht nachgelebt werden,           Schulen. lp                                  Fernsehen zu Wort kamen – auch als Folge
       wenn die Kompetenzen der 3. Sek und die       www.belaestigung-in-der-lehre.ch             vieler Protestaktionen. So wandelte sich
       des ersten BM-Jahres parallel erworben                                                     die Fremd- und Selbstdarstellung der
       werden. Zudem erforderten viele Unter-                                                     Lernenden von produktiven und autoritär
       richtsgegenstände in den BM-Fächern eine                                                   anzuleitenden Arbeitskräften hin zu
       gewisse Reife: «14- bzw. knapp 15-Jährige                                                  einem zu erziehenden und zu bildenden
       sind zu jung für vieles, was in der BM                                                     Subjekt – ähnlich den Jugendlichen, die
       gelernt werden soll, dies gilt in besonde-                                                 ein Gymnasium besuchten. Wie weit damit
       rem Masse für überfachliche Kompeten-                                                      der «krasse Unterschied zwischen den
       zen, die nach RLP-Konzept zusammen mit                                                     privilegierten Mittelschülern und den
       fachlichen Konzepten erworben werden.»                                                     gleichaltrigen Lehrlingen» tatsächlich
       Auch habe die BM-Allgemeinbildung sui                                                      schon beseitigt war, den Sigmund Widmer
       generis, also zweckfreie Bildung der                                                       beklagte, müsste in Forschungsarbeiten zu
       jungen Menschen zum Ziel. «Diese wird im                                                   den nachfolgenden Jahrzehnten unter-
       Modell noch stärker vernachlässigt, als das                                                sucht werden. dfl
       schon im herkömmlichen BM-l-Unterricht                                                     www.bwpat.de > Ausgaben > Ausgabe 38
       der Fall ist», so Caduff. dfl

                                                                                                         PANORAMA 5 | 2020 — 13

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BERUFSBILDUNG

       Zweijährige Grundbildung (EBA) und Praktische Ausbildung (PrA)

       Einige Hoffnungen erfüllt,
       aber Schwachstellen bleiben
       Wer eine zweijährige Grundbildung (EBA) oder eine Praktische Ausbildung (PrA) absolviert, hat
       gute Arbeitsmarkt- und Bildungschancen. Dies zeigt eine neue Studie. Aber auch in diesen
       Ausbildungen ist die Quote der Lehrvertragsauflösungen mit über 20 Prozent hoch. Noch sind
       die Unterstützungsmassnahmen zu wenig gut koordiniert oder zu spät angesetzt.
       Von Claudia Hofmann und Kurt Häfeli (HfH) sowie Barbara Duc und Nadia Lamamra (IFFP), unter Mitarbeit von Xenia Müller und Annette Krauss
       (HfH) sowie Isabelle Bosset (IFFP)

       2004 wurde die zweijährige Grundbildung         Interviews mit 37 Personen direkt nach          nenden: ungenügende Leistungen, zwi-
       mit eidgenössischem Berufsattest (EBA)          der Lehrvertragsauflösung und mit 28 von        schenmenschliche Probleme am Arbeits-
       eingeführt. Mit ihr war die Hoffnung ver-       ihnen eineinhalb Jahre danach.                  platz oder in der Schule, falsche
       bunden, dass sich dank standardisierten                                                         Berufswahl und ungenügende Arbeits-
       Ausbildungsinhalten die Arbeitsmarktfä-             Hohe Zufriedenheit                          oder Ausbildungsbedingungen. Bei den
       higkeit und die Durchlässigkeit in weiter-      Die Ergebnisse zur Herkunft und zu den          EBA-Lernenden kommen zwei weitere
       führende Ausbildungen verbessern. Für           schulischen Laufbahnen der Lernenden            wichtige Gründe hinzu: eine als aufge-
       Jugendliche, die diese Hürde nicht schaf-       offenbaren eine grosse Heterogenität. Vor       zwungen empfundene Berufswahl und
       fen, wurde vom Branchenverband INSOS            dem EBA haben 27 Prozent ausschliesslich        körperliche oder psychische Probleme. Bei
       zudem die Praktische Ausbildung (PrA)           Regelschulen besucht (bei der PrA sind es       den PrA-Lernenden steht die Lehrvertrags-
       lanciert, die in der Regel von der Invaliden-   3%). Vor der PrA haben 34 Prozent aus-          auflösung eher im Zusammenhang mit
       versicherung (IV) mitfinanziert wird. 2019      schliesslich Sonderschulen besucht (beim        einem Entscheid der IV oder einem Wech-
       starteten rund 8500 Jugendliche eine EBA-       EBA sind es 9%). Viele Personen blicken auf     sel in eine EBA-Ausbildung. Viele Lernende
       Ausbildung (10% der neuen Lehrverhält-          nicht lineare Bildungsverläufe zurück           tun sich zudem schwer, dazu zu stehen, in
       nisse) und rund 800 eine PrA. Beide Ausbil-     (Schulen im Ausland und Wechsel zwi-            einer EBA- oder PrA-Ausbildung zu sein; sie
       dungen können in rund 60 Berufen                schen Regel- und Sondersettings). Hinzu         berichten von negativen Reaktionen, was
       absolviert werden.                              kommt, dass Direkteinstiege nach Schul-         auf eine weiterhin ungenügende Akzep-
           Die Erfahrungen mit den beiden Aus-         abschluss mit rund 28 Prozent eher selten       tanz der beiden Bildungsgänge hinweist.
       bildungsgefässen sind positiv, wie Evalua-      sind. Bei der EBA-Ausbildung liegen bei              Eineinhalb Jahre nach der Lehrver-
       tionen zeigen. Dennoch gibt es einige of-       rund der Hälfte der Lernenden sogar zwei        tragsauflösung ist die Situation der 28 be-
       fene Fragen, die in der vorliegenden, vom       oder mehr Jahre zwischen Schulabschluss         fragten Jugendlichen vielfältig. Positiv ist,
       SBFI mitfinanzierten Studie der Hoch-           und Ausbildungsbeginn.                          dass gut 40 Prozent (12) wieder eine Ausbil-
       schule für Heilpädagogik Zürich (HfH)               Die Einschätzungen der Lernenden zur        dung aufgenommen haben; über die
       und des EHB Lausanne (IFFP) geklärt wer-        Ausbildung sind überwiegend positiv, ins-       Hälfte von ihnen absolviert eine Ausbil-
       den:                                            besondere zur Situation im Betrieb und          dung mit höheren Anforderungen, was
       • Wie erleben die Lernenden ihre Situation      mit den betrieblichen Berufsbildenden. Im       von der Durchlässigkeit des Berufsbil-
         in der Berufsfachschule und im Betrieb?       Verlauf der Ausbildung sinkt die Zufrie-        dungssystems zeugt. Ein wesentlicher Teil
       • Welches sind die Gründe und Folgen von        denheit etwas, sie bleibt aber hoch. Die        der Befragten (9) geht einer Erwerbstätig-
         Lehrvertragsauflösungen?                      Lernenden fühlen sich im Betrieb und in         keit nach, wenn auch oft ohne Qualifika-
       • Wie gut sind die Absolventinnen und Ab-       der Schule – im Durchschnitt – nur «ab          tion (5). Sorgen bereitet die bei einem Vier-
         solventen beruflich integriert?               und zu» belastet.                               tel der Jugendlichen (7) festgestellte
       Die Studie kombiniert qualitative und                                                           Entfremdung vom Erwerbsleben; sie befin-
       quantitative Daten, die in der Deutsch-             Situation nach einer                        den sich weder in einer Ausbildung, noch
       und der Westschweiz bei sechs EBA-Beru-             Vertragsauflösung                           gehen sie einer Erwerbstätigkeit nach.
       fen und den entsprechenden PrA erhoben          Rund 21 Prozent der EBA- sowie 27 Prozent            Ob Jugendliche wieder in eine Ausbil-
       wurden. Es fanden Befragungen zu Beginn         der PrA-Lernenden haben ihren Lehrver-          dung einsteigen, hängt massgeblich vom
       (N=788), am Ende der Ausbildung (N=714)         trag aufgelöst, wobei die Quoten je nach        Umfeld ab: Familie und Freunde sind wich-
       und acht Monate danach (N=424) statt.           Branche variieren (zwischen 17% und 28%).       tig, oft aber überfordert. Das berufliche
       Rund ein Fünftel der Befragten waren PrA-       Die Gründe dafür sind gemäss Interviews         Netzwerk (Berufsbildende, Lehrpersonen
       Lernende. Die qualitative Studie umfasste       mit Betroffenen ähnlich wie bei EFZ-Ler-        usw.) ist zwar aktiv, wird von den Jugend-

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