AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Stuttgart - Bundeszentrale für politische Bildung

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Stuttgart - Bundeszentrale für politische Bildung
71. Jahrgang, 5–6/2021, 1. Februar 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
     Stuttgart
       Kodimey Awokou                              Heiner Barz
     MEIN STUTTGART                     STUTTGART – HAUPTSTADT
                                            DER FREIDENKER
     Anna Katharina Hahn
                                        UND ANTHROPOSOPHEN?
     ZUR CHILLEREICHE.
     KLEINER VERSUCH                    Claudia Diehl · Bentley Schieckoff
      ÜBER STUTTGART                       INTEGRATION DURCH
                                              ERWERBSARBEIT
        Roland Müller
     EIN GANG DURCH                               Jürgen Dispan
   DIE STADTGESCHICHTE                     TRANSFORMATION
                                       DER SCHLÜSSELINDUSTRIEN
         Simon Teune
                                      ALS HERAUSFORDERUNG FÜR
  PROTEST 2010 UND 2020.
                                       DIE REGIONALWIRTSCHAFT
 ZWEI HERAUSFORDERUNGEN
      DER DEMOKRATIE

                 ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                      FÜR POLITISCHE BILDUNG
             Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Stuttgart - Bundeszentrale für politische Bildung
Stuttgart
                                       APuZ 5–6/2021
KODIMEY AWOKOU                                     HEINER BARZ
MEIN STUTTGART                                     STUTTGART – HAUPTSTADT DER FREIDENKER
Krawallnächte und Protestbewegungen haben          UND ANTHROPOSOPHEN?
Stuttgart in letzter Zeit eher unrühmliche         Den Titel einer „Hauptstadt des Nonkonfor-
Aufmerksamkeit beschert. Darüber wird leicht       mismus“ trägt Stuttgart sicherlich zu Unrecht.
vergessen, wie gut hier die Balance zwischen       Gleichwohl lohnt ein Blick auf die dortigen
Tradition und Weltoffenheit gelingt. Eine          Anfänge der Waldorfpädagogik und der Anthro-
Liebeserklärung an eine Stadt.                     posophie sowie ihrer Verbindungen zu heutigen
Seite 04–07                                        Protestbewegungen.
                                                   Seite 26–32
ANNA KATHARINA HAHN
ZUR CHILLEREICHE.                                  CLAUDIA DIEHL · BENTLEY SCHIECKOFF
KLEINER VERSUCH ÜBER STUTTGART                     INTEGRATION DURCH ERWERBSARBEIT
Stuttgart gehört nicht unbedingt zu den            Die erfolgreiche Arbeitsmarktintegration zuge-
populärsten Städten in den einschlägigen           wanderter Personen hängt neben individuellen
Beliebtheitsrankings. Wer aber einen zweiten       Merkmalen vor allem vom Aufnahmekontext ab.
Blick wagt, der findet einen Ort voller liebens-   Besondere Bedeutung kommt der kommunalen
werter Eigenheiten, unbekannter Schätze und        Ebene zu. Hier hat die Stadt Stuttgart vieles
gechillt-schwäbischer Lässigkeit.                  richtig gemacht.
Seite 08–11                                        Seite 33–39

ROLAND MÜLLER                                      JÜRGEN DISPAN
EIN GANG DURCH DIE STADTGESCHICHTE                 TRANSFORMATION DER SCHLÜSSELINDUSTRIEN
Die Geschichte Stuttgarts wird vor allem in        ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE
Bezug auf die Doppelfunktion der Stadt als         REGIONALWIRTSCHAFT
Kommune und Residenz- beziehungsweise              Die Region Stuttgart zählt zu den wirtschafts-
Hauptstadt einerseits und die Wechselbeziehung     und innovationsstärksten in Europa. Aufgrund
zwischen Stadt und (Um-)Land andererseits mit      der doppelten Transformation durch Digita-
den daraus resultierenden Spezifika dargestellt.   lisierung und Elektromobilität stehen die ihre
Seite 12–19                                        Regionalwirtschaft prägenden Wirtschaftscluster
                                                   vor großen Herausforderungen.
                                                   Seite 40–46
SIMON TEUNE
PROTEST 2010 UND 2020.
ZWEI HERAUSFORDERUNGEN
DER DEMOKRATIE
Die Proteste in Stuttgart 2010 und 2020
fordern die Demokratie auf unterschiedliche
Weise heraus. Ging es bei „Stuttgart 21“ um die
Legitimität von Mehrheitsverfahren, verschwim-
men seit 2020 die Grenzen zwischen legitimem
Protest und organisiertem Rechtsextremismus.
Seite 20–25
EDITORIAL
Stuttgart gilt als Musterstadt der Integration. Die „New York Times“ ernannte
die baden-württembergische Landeshauptstadt im „Flüchtlingsherbst“ 2015
zum weltweiten Vorbild gelungener Integrationspolitik, und auch im kulturellen
Gedächtnis der Bundesrepublik steht die Stadt spätestens seit den 1950er Jahren
für die erfolgreiche Verbindung von Migration und Integration, die erst die
Grundlage schuf für materiellen Wohlstand, hohe Lebensqualität und ausge-
prägten Bürgerstolz. Die Frage, ob „wir das schaffen“, stellte sich in Stuttgart
eigentlich nie – es wurde einfach „geschafft“, beim Daimler, beim Porsche oder
beim Bosch.
   Diese integrationspolitische Erfolgsgeschichte mag vor dem Hintergrund,
dass in Stuttgart heute Menschen aus 190 Herkunftsnationen leben und 44 Pro-
zent der Stuttgarterinnen und Stuttgarter aus Familien mit Migrationserfahrung
stammen, umso beeindruckender erscheinen. Möglicherweise ist sie aber schlicht
das Resultat liberaler Traditionen, weltoffener Gesinnung, wirtschaftlicher
Prosperität und einer konsequenten städtischen Integrationspolitik, die sich,
unterstützt durch eine vitale Zivilgesellschaft, schon früh gegen den bundes- und
parteipolitischen Mainstream gestemmt hat.
   Seit den Protesten gegen „Stuttgart 21“, den Ausschreitungen im Sommer
2020 und der Gründung der „Querdenken“-Bewegung bröckelt das Image der
Musterstadt. Möglicherweise führt Stuttgart aber nur im Kleinen vor, welche
desintegrativen Kräfte und Herausforderungen an der Gesellschaft insgesamt
derzeit zerren. Werden gesellschaftliche Probleme nicht adäquat adressiert und
verarbeitet und geraten politisches Handeln und individuelle Problemwahrneh-
mungen aus dem Lot, dann ist das Aufkommen zivilgesellschaftlicher Proteste
nicht überraschend. Es scheint, als würde in Stuttgart derzeit stellvertretend für
den Rest der Republik gerungen und gestritten. Darin darf man ruhig auch ein
positives Zeichen sehen.

                                                       Sascha Kneip

                                                                                03
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                                                     ESSAY

                                 MEIN STUTTGART
                                            Kodimey Awokou

Die Krawallnacht von Stuttgart vom 20. Juni 2020,         Stadt, in der das Zusammenleben unterschiedlichs-
in der Polizisten attackiert, Schaufensterscheiben        ter Kulturen gut funktioniert, nicht gerecht. „Wir
eingeschlagen und Geschäfte geplündert wurden,            sollten es mit Multikulti nicht übertreiben“,01 war
hat Narben hinterlassen. Das Sicherheitsgefühl, das       die erste Äußerung des Innenministers von Baden-
seit ich denken kann in Stuttgart vorherrscht, wur-       Württemberg, Thomas Strobl, die ich zu diesem
de mit einem Schlag erschüttert. Selbstverständlich       Thema vernommen habe. Ich glaube, Herr Strobl
kennen wir auch hier Kriminalität aller Art; dennoch      hat nie wirklich in Stuttgart gelebt – richtig gut zu
würde ich behaupten, dass in Stuttgart eine friedli-      kennen scheint er diese Stadt jedenfalls nicht.
che Atmosphäre überwiegt, die es den Menschen er-
laubt, sich nicht ständig um ihre Sicherheit sorgen                       AFRO-SCHWABE
zu müssen. Daher kam besagte Nacht für die meis-
ten von uns auch so unerwartet. Im Herzen meiner          Mein Name ist übrigens Kodimey Awokou. Ich
Stadt, vor dem Gebäude, in dem wir viele Jahre unse-      bin 1980 in Stuttgart geboren, meine Mutter kam
re Büros hatten, eskalierte die Situation und gefähr-     ebenfalls hier zur Welt, und mein Vater stammt
det einen Frieden, den wir hier alle vielleicht zu sehr   aus Togo. Westafrika. Das sag ich immer so, wenn
als gegeben erachten.                                     man mich nach meiner Herkunft fragt. Ich habe
    Die Krawallnacht selbst war schon schlimm.            immer das Gefühl, man erwartet das. Ich würde
Noch schockierter war ich aber von der darauf fol-        am liebsten einfach sagen: „Ich komme aus Stutt-
genden öffentlichen Diskussion. Als im Nachgang           gart“, aber das reicht den meisten nicht. Ich kann
bei einigen Tätern, trotz deutschem Pass, die Her-        ihnen das nicht verübeln, bei vielen ist es einfach
kunft der Eltern ermittelt wurde, fühlte ich mich         nur Interesse. Aber es ist schon ermüdend, das
persönlich angegriffen. Das tat weh. Ganz unab-           immer wieder erläutern zu müssen. Fast wie eine
hängig davon, dass solche Gewaltausbrüche selbst-         Rechtfertigung, die einem abverlangt wird. Als
verständlich nicht tolerierbar sind, zeigte die De-       müsste ich meine Zugehörigkeit zu meiner Hei-
batte doch sehr hässlich den Kern des Problems:           matstadt begründen.
Ab wann ist man Deutscher? Ab wann gehört man                 Aufgewachsen bin ich am Stöckach, dem pulsie-
dazu? Wieso bei denen, die hier geboren sind und          renden Verkehrsknotenpunkt, an dem sich der oft
die einen deutschen Pass haben, auf die Herkunft der      leichtfertig übersehene Stuttgarter Osten mit dem
Eltern schauen? Das wirkte auf mich so, als würde         Rest der Stadt verbindet. Ich liebe diesen Teil der
man die Gewaltausbrüche mit allen Mitteln außer-          Stadt besonders. Einmal natürlich wegen der vie-
halb der Stuttgarter Gesellschaft verorten wollen.        len Erinnerungen, die ich damit verbinde, aber auch
Als würde man versuchen, den Grund für die Ge-            dank der Einfachheit und Echtheit, der man hier,
walt, die die Stadt in eine Art Schockstarre versetzte,   fernab von Gentrifizierung und hippen Start-Up-
auszulagern. Als könnten das keine Stuttgarter ge-        Unternehmen, noch begegnen kann.
wesen sein. „In Stuttgart gibt es das nicht“, und da-         Die vielen Arbeitersiedlungen in direkter
her macht man sich auf die Suche nach dem fremden         Nachbarschaft zu schwäbischem Wohlstand auf
Übel, selbst wenn man dafür bis zum Geburtsort der        relativ engem Raum schaffen eine für mich nach
Eltern ausholen muss.                                     wie vor faszinierende, einzigartige Mischung. Es
    Natürlich muss man nach einer solchen Tat ge-         ist bunt, oft auch laut, man kann hier sein, wie
nau hinschauen, wer aus welchen Gründen gewalt-           man halt ist. Die in Verruf geratene schwäbische
tätig geworden ist. Die reflexhafte Art aber, mit der     Ordnung, die sich bei genauem Hinsehen als
man den Grund für die Gewalt in der Herkunft              durchaus nützlich und gar liebenswert erweisen
suchte, war verletzend und wurde Stuttgart, einer         kann, findet man trotzdem auch hier.

04
Stuttgart APuZ

    Hier lebten wir als Familie zu viert in der                       ich ging dort zur Schule, und in meiner Grund-
Hackstraße. Mal gab’s Linsen mit Spätzle, am Tag                      schulklasse hatte weit mehr als die Hälfte der
darauf Akume oder Fufu. Falco und afrikanische                        Schülerinnen und Schüler einen „Migrationshin-
Highlife-Hits dröhnten im Wechsel aus der Stereo-                     tergrund“ (irgendwie mag ich den Begriff nicht).
anlage. Der Häuserkomplex war eine ehemalige Zi-                      Ich kann mich nicht daran erinnern, dass „Her-
garettenfabrik, riesig, mit sehr vielen Wohneinhei-                   kunft“ in irgendeiner Form Thema an der Schu-
ten und unterschiedlichsten Familien. Man sprach                      le war. Nur von einem Jungen weiß ich noch, des-
Deutsch, Türkisch, Kroatisch, Tigrinya, Rumä-                         sen Mutter ihm am ersten Schultag mit besorgter
nisch. Die Mutter des einen arbeitete als Ärztin,                     Stimme befahl: „Setz dich nicht neben einen Tür-
der große Bruder des anderen machte eine Aus-                         ken!“ Dieses laute Flüstern, das keiner hören soll,
bildung beim Daimler, und manche arbeiteten, wie                      aber doch jeder hört. Wir fanden es damals schon
mein Vater, als Karosseriebauer bei Porsche. Für                      seltsam, so was zu sagen. Ich glaube, er saß dann
uns war das alles nicht „Multikulti“ und vor allem                    die ganze 1. Klasse über neben Ercan.
nicht übertrieben. Das war einfach Stuttgart.                             Der Grund für den Besuch der Kanzlerin war
    Hier ist es anders, als es in Diskussionen über                   ein erfreulicher: Die Ostheimer Schule in Stutt-
„Brennpunkte“ gerne dargestellt wird. Die Men-                        gart galt – und gilt immer noch, denke ich – als
schen leben zusammen Seite an Seite. Zwar mit                         ein Beispiel „gelungener Integration“. Eine Schu-
den üblichen Reibereien, aber im Großen und                           le mit Kindern aus verschiedenen Kulturen, an
Ganzen friedlich. Bestimmt ist das zum Teil auch                      der man schnell merkte: So unterschiedlich sind
der wirtschaftlichen Situation in Stuttgart zu ver-                   wir gar nicht. Alle freuten sich auf die große Pau-
danken. Eine Unterteilung nach Wohngebieten                           se, alle wollten Panini-Sticker tauschen (in den
– hier das „Araberviertel“, dort das „Türken-                         1980ern zumindest) und Tischtennis spielen. Vie-
viertel“ –, so etwas gibt es in Stuttgart nicht wirk-                 le Hausaufgaben mochte Ercan genauso wenig
lich. Klar, die Reichen wohnen eher auf dem Hü-                       wie sein ungehorsamer Sitznachbar.
gel, die mit weniger Einkommen im Kessel, aber                            Zu der Zeit von Kanzlerin Merkels Besuch war
man begegnet sich in dieser Stadt früher oder spä-                    ich Student und wohnte in einer kleinen Wohnung
ter immer. Man kann sich nicht einfach in sei-                        am Ostendplatz, nur ein paar Straßen entfernt von
nen Wohlfühlbereich zurückziehen. Allein schon                        meiner alten Schule, weshalb ich mich entschied,
wegen der überschaubaren Größe und Einwoh-                            dem Spektakel beizuwohnen. Ich erinnere mich
nerzahl Stuttgarts lässt sich die Begegnung mit                       nicht mehr daran, was Frau Merkel genau gesagt
Andersdenkenden oder Andersgläubigen nicht                            hat; ich weiß nur noch, ich fand es gut, dass sie was
verhindern. Besser so für alle.                                       gesagt hat, dass sie gekommen war und damit ein
                                                                      Zeichen gesetzt hatte. Allein mit ihrer Anwesen-
                       ALTE SCHULE                                    heit stellte sie sich dem nach den Berliner Ereignis-
                                                                      sen im Raum stehenden Verdacht entgegen, dass
Als 2008, zwei Jahre nach den Vorkommnissen an                        ein friedliches Zusammensein an einer Schule al-
der Berliner Rütli-Schule,02 das Thema Integration                    lein schon durch einen hohen Anteil an Migranten
immer noch hochkochte, besuchte Bundeskanzle-                         gefährdet sei. Und das in meiner Stadt.
rin Angela Merkel die Ostheimer Grund- und Re-
alschule in Stuttgart-Ost. Schon meine Mutter war                            WAS DER OPA NOCH WUSSTE
auf diese Schule gegangen. Sie verbrachte dort ihre
gesamte Schulzeit, und ich erinnere mich, wie sie                     Auf der Spurensuche nach dem Ursprung meiner
mal zu mir sagte, dass es in der Schule damals kei-                   Heimatliebe zu Stuttgart lande ich unausweichlich
ne Kinder aus anderen Ländern gab. Das änderte                        bei meinen Großeltern. Ich denke, ich habe mich
sich innerhalb einer Generation rapide. Denn auch                     nirgends so wohl und so zuhause gefühlt wie bei
                                                                      ihnen – egal, wo ich mit ihnen war; ob in ihrem
01 „Mit Multikulti nicht übertreiben“ – „Bild“-Chefredakteur Julian   bis ins Detail liebevoll gepflegten Garten oder in
Reichelt im Interview mit Thomas Strobl (Stuttgart), 22. 6. 2020,     ihrer stets wohlig warm temperierten Wohnung.
www.youtube.com/watch?v=y3JCrxTgHtk.
                                                                      Mein Opa, ein Stuttgarter Urgestein, lebte mir
02 2006 löste ein Brief von Lehrerinnen und Lehrern der Schu-
le an den Berliner Bildungssenator eine öffentliche Debatte über
                                                                      so viele Eigenschaften vor, die uns Schwaben oft
das deutsche Bildungssystem und die Integration von Kindern           als negative Klischees vorgehalten werden: ein
und Jugendlichen aus Einwandererfamilien aus (Anm. d. Red.).          Sinn für Ordnung und Sauberkeit, Pünktlichkeit

                                                                                                                         05
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aus Respekt vor seinem Gegenüber, Strebsamkeit           man zur Kultur beisteuerte, zählte. Vielleicht ver-
und natürlich die Treue zum VfB. Dazu noch der           klärt die Nostalgie meinen Blick auf diese Ära ein
Wunsch nach Harmonie und die tiefe Liebe für             wenig, aber ich erinnere mich tatsächlich nur an ein
die schwäbische Küche meiner Oma.                        positives Grundgefühl, eine elektrisierende Auf-
    Ich hatte ein sehr enges und vertrauensvolles        bruchstimmung, die die ganze Stadt antrieb und
Verhältnis zu meinen Großeltern und versuchte in         vieles hier in Gang gesetzt hat.
Gesprächen mit ihnen immer herauszufinden, wie               Auch der Grundstein für meine berufliche
das Leben in Stuttgart in ihrer Jugend war. Mein         Laufbahn wurde in jener Zeit gelegt. Vor mittler-
Opa erzählte mir etwa, dass es in seiner Jugend          weile über 20 Jahren gründeten Freunde und ich
schon Tradition war, dass sich die Raitelsberger         im Herzen Stuttgarts das Hip-Hop-Label Chim-
mit den Hallschlägern vor einer stadtbekannten           perator Productions, das langsam aber stetig wuchs
Wirtschaft zu regelmäßigen Prügeleien verabrede-         und Künstler wie Die Orsons oder Cro hervor-
ten. Stuttgarter wissen, wovon ich rede. Ich fand        brachte. Mittlerweile sind aus der Schnapsidee von
das interessant, weil beide Viertel in meiner Jugend     ein paar Jungs im Jugendhaus Mitte eine Platten-
das waren, was man heute wohl als „Problembe-            firma, eine Booking-Agentur und eine Spielstät-
zirk“ bezeichnen würde. Auch hier wurde die Ur-          te entstanden, die allesamt zum Kulturbetrieb in
sache von Problemen häufig einem hohen Auslän-           Stuttgart beitragen dürfen. Bei all unseren Unter-
deranteil zugeschrieben. Mein Opa wurde 1929             nehmungen versuchen wir immer, den Geist der
geboren – und schon damals hat man sich dort,            goldenen Ära des Stuttgarter Raps und dessen
ganz ohne Ausländer, gerne regelmäßig was auf            Werte einfließen zu lassen.
die Nase gegeben.                                            Die damalige Bewegung einer Jugend, die nicht
                                                         direkt politisch war, aber doch gemeinsame Nor-
                  NEUE SCHULE                            men und Werte wie Toleranz und Weltoffenheit
                                                         pflegte, war ansteckend und weitreichend. Die
Dass Stuttgart eine Brutstätte für subkulturelle         Stuttgarter Vorwahl 0711, die zum Gütesiegel für
Bewegungen ist, trägt einen großen Teil zur Le-          Rapkultur aus dem Kessel wurde, steht bis heute
bensqualität der Stadt bei – auch wenn das neben         für „ein Stuttgart der Solidarität und der Gemein-
dem sonstigen, ebenfalls beindruckenden Kultur-          schaft, für ein Konzept von Stadt, in dem Men-
betrieb wie der Oper oder dem Theater oft nicht          schen unterschiedlicher Nationalitäten und Hin-
genug zur Geltung kommt.                                 tergründe friedlich miteinander leben“,03 wie es in
    Für mich und andere besonders prägend, weit          einem von sehr vielen Stuttgarter Kulturschaffen-
über Stuttgarts Grenzen hinaus, war zweifellos die       den unterstützten offenen Brief der 0711-Gründer
Stuttgarter Hip-Hop-Kultur der 1990er Jahre. Die         heißt, der als Reaktion auf die sogenannte Quer-
Kolchose, ein Zusammenschluss aus Bands und              denker-Bewegung initiiert wurde, die sich die
Künstlern wie Freundeskreis, Massive Töne, Afrob         0711-Vorwahl ebenfalls zu eigen zu machen ver-
und anderen, war unser Vorbild und hat sehr viel in      suchte – eine Vereinigung, die unter anderem mit
der Stadt bewegt. Die Texte handelten vom Leben          Nazis durch Berlin zieht und sich dabei anmaßt,
in einer Stadt, wie wir sie täglich erlebten, abseits    unsere „Süße aus dem Süden mit dem Dialekt“04
einer Ghetto-Sehnsucht nach den USA, fernab              zu repräsentieren. Dazu heißt es in dem offenen
des bedrückenden Alltags französischer Banlieu-          Brief weiter: „Wir verurteilen den Missbrauch des
es. So wichtig diese harten Formen des Hip-Hops          Symbols 0711 für populistische Zwecke und den
auch waren und nach wie vor sind, sie spiegelten         Versuch, Popkultur aus hetzerischen und spalte-
nicht die Realität der Stadt am Neckar wider. Plät-      rischen Gründen umzudeuten, auf das Schärfste.
ze, Menschen und Ereignisse aus Stuttgart tauchten       Die Corona-Maßnahmen kritisch zu hinterfragen,
plötzlich in Texten auf, regionale Sprüche wurden        ist wichtig. Auf Demos Seite an Seite mit Reichs-
Zeitgeist, man traf sich an den Hotspots und Krea-       kriegsflaggenträgern zu marschieren, ist dagegen
tivzentren der Stadt und schaffte etwas gemeinsam,       unverzeihlich.“05 Dem ist nichts hinzuzufügen.
vereint durch die Ausdrucksform, die man lebte,
alles für die Stadt, die man repräsentierte. Stuttgart
                                                         03 Stuttgarter Künstlerkollektiv, An alle 0711er, 7. 11. 2020,
war am Puls der Zeit, und man spürte das an jeder        http://kolchose.tv/#prettyPhoto/11.
Ecke. Dabei spielte es nie eine Rolle, woher die El-     04 Max Herre, 1ste Liebe, 2004, Four Music Productions.
tern kamen, ob sie reich oder arm waren; nur, was        05 Stuttgarter Künstlerkollektiv (Anm. 3).

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Stuttgart APuZ

                SCHIMPFEN PLUS                          ken begründet. Man findet bei kleinsten Regelver-
                                                        stößen schon auch das gehässige, oft neiderfüllte
Spreche ich mit Menschen aus anderen Städten,           Meckern. Regelverstöße sind oft zu viel für das
kommt immer wieder die Frage nach der Stuttgar-         schwäbische Gemüt, und so können die zu hohe
ter Protestkultur auf, die Frage, warum wir hier un-    Hecke oder die spielenden Kinder im Hinterhof
ten ständig meckern, uns dafür zusammentun und          schnell zum Streitfall werden. Häufig fehlt das ge-
auf die Straße gehen. Allen voran kommt den meis-       sunde Maß beziehungsweise der angemessene Ton
ten die Protestbewegung gegen „Stuttgart 21“ in den     im Umgang mit den Mitmenschen. Und so ent-
Sinn, die bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Stutt-    puppt sich das Bruddeln oft als Hindernis im fried-
garter aller Altersklassen und politischer Gesin-       lichen Miteinander und trägt dazu bei, dass wir in
nungen waren vereint gegen das Milliardenprojekt.       anderen Teilen Deutschlands mitunter als nicht be-
Auch wenn es wohl nicht die Mehrheit der Bürger-        sonders sympathisch wahrgenommen werden.
schaft war, die sich dem Protest anschloss, so schien
es doch ein Querschnitt durch eine sehr vielfälti-                      WOHIN GEHT’S?
ge Stadtgesellschaft zu sein. Mit anhaltender Dauer
flachte der Protest aus vielerlei Gründen ab. Es wur-   Was Stuttgart immer besonders machte, war nicht
den Fakten geschaffen, und meiner Meinung nach          zuletzt der andauernde Tanz, den das sogenann-
hat sich der Protest irgendwann verrannt. Ich erin-     te Spießertum mit den progressiven Kräften auf-
nere mich an eine Veranstaltung am Schlossplatz, auf    führte. Eine echte Aufbruchstimmung ist in Stutt-
der ein Redner lauthals schreiend behauptete, das mit   gart allerdings schon länger nicht mehr zu spüren.
„Stuttgart 21“ sei genauso wie mit den Kriegen in       Die Stadt wirkt unentschlossen – als könne sie sich
Afghanistan und im Irak, weil auch hier die Bürger      nicht entscheiden zwischen bewährter Sicherheit
bevormundet würden. Bei solch abstrusem Quatsch,        durch Autoindustrie, Handwerk und Law and
der Opfer von Krieg und Gewalt verhöhnt, sind die       Order einerseits und sozialem und ökologischem
gemäßigten Stuttgarter dann halt irgendwann raus        Wandel andererseits.
aus der Sache. Es ging schließlich um einen Bahnhof.        Doch wie dem auch sei: Ich liebe diese Stadt.
    Aber ja, man kann schon sagen, dass wir Stutt-      Hier bin ich geboren, und ich mag den Gedan-
garter gerne schimpfen, und das reicht von der          ken, irgendwann am Bergfriedhof die letzte Ruhe
Oma am Fenster, die Falschparker mit einem be-          zu finden, wo die U4 ihre Kurve zum Ostend-
herzten „Des isch koi Parkplatz!“ begrüßt, bis hin      platz fährt und das Leben in Stuttgart-Ost pul-
zu einer ganzen Bewegung, die einen vermeintli-         siert. Hier habe ich meine Frau kennengelernt,
chen Missstand anprangert. Wir Schwaben werfen          hier wachsen unsere Kinder mit dem Selbstver-
gerne den Blick auf den Teil einer Sache, der nicht     ständnis auf, Teil dieser Stadt zu sein. Sie werden
funktioniert und der einer Optimierung bedarf.          ihre Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft noch
    Mein Opa war auch hierfür ein gutes Beispiel:       weniger infrage stellen, als es meine Frau und ich
Er hatte stets im Blick, was schieflaufen konnte        (Migrationshintergrund, weisch?) vielleicht noch
und wollte dafür sorgen, jegliche Gefahr des Kon-       mussten. Ich denke, wir sind hier in der Kessel-
trollverlusts zu minimieren. Das reichte vom Klei-      stadt auf einem guten Weg, wenn wir uns weiter-
nen bis ins Große: vom randvollen Spezi-Glas, das       hin durch Stimmungsmacher und Spalter nicht
zu nah am Tischrand stand und bei jeder unkont-         aus der Ruhe bringen lassen.
rollierten Fuchtelei des Enkels auf dem Boden zu            Das weltoffene, das warmherzige Stuttgart, das
landen drohte, bis hin zu weitreichenden Entschei-      in den richtigen Momenten liebenswert provinzi-
dungen für die Absicherung der Familie. Ich habe        ell anmutet, das ab und an stur bleibt und dann
das nie als störend empfunden, im Gegenteil, eher       konservativ ist, wenn es Dinge zu bewahren gilt,
als Rückhalt. Man wusste immer, da ist jemand in        die all seinen Bürgerinnen und Bürgern nutzen,
der Familie, auf den Verlass ist, der die Dinge bes-    das Traditionen pflegt, aber stets den Blick auf die
ser macht, wenn sie mal nicht laufen. Daher ist         Welt und nach vorne wagt: Das ist mein Stuttgart.
das Stuttgarter Schimpfen auch kein klassisches
Schimpfen, sondern eher ein „Bruddeln“, wie man         KODIMEY AWOKOU
hier gerne sagt, quasi ein upgedatetes Schimpfen.       ist studierter Germanist und Anglist, Produzent und
    Doch leider liegt die Stuttgarter Mecker-Kultur     Geschäftsführer von Chimperator Productions.
nicht nur in dem genannten Optimierungsgedan-           kody@chimperator.de

                                                                                                              07
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                                                   ESSAY

                              ZUR CHILLEREICHE
                           Kleiner Versuch über Stuttgart
                                       Anna Katharina Hahn

Bielefeld wurde schon unterstellt, einfach nicht        Sehnsucht nach dem Vergangenen bewahrt die
zu existieren. Auch Hannover hat es nicht leicht.       Erinnerung an gewesene Schönheit für alle, die
Aber Stuttgart? Ist nicht mal einen lauen Witz          ihn lesend begleiten.
wert. Stattdessen lassen sich mühelos Hasszitate            Ich habe aufgehört, mich für Stuttgart zu recht-
sammeln, wann immer Stuttgart es in die über-           fertigen. Für das Erscheinungsbild meiner Stadt,
regionalen Schlagzeilen schafft. Auch bei Be-           ihren Reichtum, den Dialekt, die Lebensart ih-
liebtheitsumfragen in ganz Deutschland zählt die        rer Einwohnerinnen und Einwohner. Von den Be-
Landeshauptstadt nie zu den Gewinnerinnen.              schimpfungen habe ich die Nase voll, aber auch von
    Stuttgart-Bashing scheint unzerstörbar in der       meinem eigenen, fast demütigen Dagegenhalten.
DNA aller Nicht-Schwaben verhäkelt zu sein.                 Lieber mache ich den Versuch, diesen Ort zu
Der „Porno-Hippie-Schwabe“, das Berliner Ge-            ergründen, subjektiv und selbstverständlich fast
spenst der Nullerjahre, hat sich tief ins deutsche      ohne Fußnoten. Mein Verhältnis zu Stuttgart ist
Gedächtnis eingefräst, ebenso die Abkürzung             enger, als es sich für einen Geburts- oder Wohn-
„TSH“ – totaler Schwabenhass. Jan Böhmermann            ort gehört. Die Stadt ist meine Bühne, der Schau-
findet Stuttgart „so schön wie zwei ineinander ver-     platz meiner Romane, meine ewige Baustelle und
keilte Porsche Cayenne“, und Alan Posener ora-          mein Arbeitsplatz. Dabei kommt sie mir so leben-
kelt in der „Zeit“ allen Ernstes, die Stadt sei „eine   dig vor wie eine Person, ein altes Mädchen, rup-
Verkörperung der existenziellen Tristesse“, und in      pig und struppig, schön und liebenswert, verranzt
ihrer Luft sei „etwas Verkrampftes, Unfrohes“.01        und wild, bodenständig und verrückt. Manchmal
    Ich diskutiere nicht mehr über Stuttgart. Jahr-     hasse ich sie regelrecht, bin froh, wenn ich ihr
zehntelang habe ich versucht, auf seine Vorzüge         entkommen, in den Zug steigen kann, plane den
hinzuweisen. Stuttgart lässt sich nur begreifen,        Umzug in eine richtige Metropole – und bin doch
wenn der zweite Blick eine Chance bekommt.              unendlich erleichtert, wenn ich den Fernsehturm
Schriftsteller wie Hermann Lenz und Wilhelm             wiedersehe, den Hügelkranz der Weinberge, den
Genazino haben eine geheime Schule der lie-             Stern überm Hauptbahnhof.
bevollen Betrachtung ihrer durch den Zweiten
Weltkrieg unansehnlich gewordenen Städte gebil-                      SOUND UND STOLZ
det. Der eine beschrieb damit Stuttgart vom Ende
des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre, der       Häberle und Pfleiderer stehen ganz in der Nähe
andere streifte durch Mannheim und das Frank-           der Stuttgarter Börse, am Fuß des Friedrichsbaus.
furt der alten Bundesrepublik.                          Spärlicher Januarschnee weißelt ihre Hüte. Dem
    Jede Neu-Stuttgarterin, jeder Neu-Stuttgarter       Häberle hängt ein Regenschirm über dem Arm,
sollte im Bürgerbüro einen Roman aus dem Eu-            Pfleiderer umklammert eine Flasche Wein, ver-
gen-Rapp-Zyklus von Hermann Lenz als Will-              mutlich Trollinger. Zu ihren Füßen wartet der
kommensgeschenk erhalten. Wenn dieser zy-               Spitz Napoleonle, eine aus der Mode gekommene
nisch-sanfte Antiheld an Nachkriegsruinen oder          Hunderasse. Niemand beachtet die beiden Bron-
den Hässlichkeiten des Wiederaufbaus vorbei-            zemänner auf ihrem Sockel. Kaum ein Passant
zockelt, murmelt er oft: „Eigentlich scheißlich.“       unter 50 kann mit ihrem halb gejodelten, halb ge-
Sein nostalgisches Gejammer um jedes Straßen-           jammerten Erkennungsruf „So so! – Ja ja!“ noch
schild in Fraktur, jede schmiedeeiserne Zaun-           etwas anfangen. Pfleiderer, ein knitzer, also bau-
verzierung kann gelegentlich nerven, aber seine         ernschlauer, grober und immer leicht am Prolo

08
Stuttgart APuZ

entlangschrammender Typus, wurde vom Schau-                        Stutengarten. Mehr ist nicht verbürgt. Manch-
spieler Willi Reichert verkörpert. Den eher poe-                   mal denke ich, gerade aus dieser Leere entsteht
tisch veranlagten Träumer Häberle gab der ehe-                     ein besonderer Erfindungsreichtum. Berühmte-
malige Buchhändler Oscar Heiler.                                   re und schönere Städte verschwinden zuweilen
    Auf Youtube sind einige Sketche des Komiker-                   fast unter einem Firnis aus Filmen, Erzählungen,
duos wie schwarzweiße Erinnerungen zu sehen.                       Mythen. In Stuttgart musste man zu anderen Mit-
Die Harmlosigkeit ihrer Späßle offenbart sich so-                  teln greifen: Johann Gottlieb Munder, ein findiger
fort. Nur selten und versteckt wird Politisches ge-                Buchdrucker und Redakteur der kleinformati-
boten, dafür menschelt es allenthalben. Der starke                 gen Tageszeitung „Die Stuttgarter Stadt-Glocke“
schwäbische Dialekt tut ein Übriges. Sie wirken                    dachte sich jede Menge „uralter“ Sagen aus und
fremd, fast exotisch, besonders auf Norddeutsche.                  füllte damit sein Blättchen. Diese unterhaltsamen
    „Furchtlos und treu“ lautet der Wahlspruch                     und identitätsstiftenden Geschichten wurden so
des erst 1817 von Napoleons Gnaden gegründeten                     oft nachgedruckt – selbstverständlich ohne den
Königreichs Württemberg. Auch der VfB Stutt-                       Verfasser zu nennen –, dass die Landeshauptstadt
gart schreibt sich diesen Spruch seit 2014 auf die                 heute „Das große Stuttgarter Sagenbuch“ ihr Ei-
Fahnen. Treu sind die Stuttgarter, denn es gehört                  gen nennen kann, in dem es von Geistern, verbor-
schon etwas dazu, zwei erfundene Kerle in Bron-                    genen Schätzen und Erdleutle nur so wimmelt.02
ze zu gießen. Von 1933 bis in die späten Siebziger                      Passend zum stolzen Wappen-Gaul führen
waren Häberle und Pfleiderer nicht nur auf der                     verschiedene Konditoreien „Roßbolla“, also Pfer-
Theaterbühne, sondern auch in Radio und Fern-                      deäpfel, eine beliebte Pralinenspezialität. An wei-
sehen präsent, als beliebte Werbeträger und bun-                   teren Devotionalien besteht Bedarf. Daher hat
desweite Vertreter der „typischen Schwaben“.                       sich hinter den Sandsteinsäulen des Königsbaus
    2021 taugen die beiden Herren sicher nicht                     am Schlossplatz das „Kaufhaus Mitte“ angesiedelt.
mehr als Botschafter Stuttgarts. Eher schon der                    Es versorgt seine Kundschaft nicht nur mit bunten
Comedian Özcan Cosar. Wahrscheinlich ver-                          Socken, Marmelade in Tuben und lokalem Gin,
körpern Häberle und Pfleiderer sogar etwas, das                    sondern auch mit Insignien, die zeigen, dass ein
der Stadt mehr geschadet als genutzt hat, selbst                   Bekenntnis zu „Stuggi“ nicht peinlich, sondern
wenn es lustig ist: das Behäbige, Altmodische und                  der Ausdruck großstädtischen Lebensgefühls ist,
Selbstgenügsame, das Stuttgart anhaftet wie Pech                   dem alten „I love NY“-Sticker durchaus ebenbür-
und Schwefel.                                                      tig. Als ich dort neulich einige Hipster in „Benz-
    Doch wenn ich den Versuch unternehme,                          town rockt so“-Hoodies bewunderte, dachte ich:
meine Heimatstadt zu erklären, gehören die bei-                    „Gar nicht übel, dieses Selbstbewusstsein“, bis
den dazu, ein vergangener Teil des Ganzen, der                     mein Blick auf ein Buch mit dem Titel „55 Grün-
manchmal wieder an die Oberfläche treibt. Be-                      de, Stuttgart trotzdem zu lieben“ fiel.03 Ganz so
sonders, wenn die Leute reden, auch die ganz                       leicht fällt er also doch nicht, der neue Stolz.
jungen. Denn sie reden immer noch vom „Ve-
schper“, wenn sie ihr Pausenbrot meinen, wis-                                HÄSSLICH UND PRAKTISCH
sen, dass ein „Ranzen“ keine Schultasche ist, son-
dern ein Schmerbauch und kreuzen die Arme                          Heute hat Stuttgart nichts mehr davon, in Vor-
über der Brust, wenn man ihnen sagt, sie sollen                    kriegsreiseführern als eine der schönsten deut-
„Brezelärmle“ machen. Der Sound ist geblieben,                     schen Städte gepriesen zu werden. Besonders der
auch wenn die Wurzeln vieler Stuttgarterinnen                      alte Marktplatz muss eine Augenweide gewesen
und Stuttgarter mittlerweile in 190 verschiedenen                  sein. München, die andere Großstadt Süddeutsch-
Ländern liegen.                                                    lands, liegt nicht weit entfernt; dem Charme der
    Vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass                   bayerischen Prinzessin kann das Schwabenmädle
die Stadt mit dem schwarzen Rössle im Wap-                         wenig entgegensetzen.
pen keine eigene Gründungssage hat. Ein schnö-
der Pferdehof hat ihr den Namen geschenkt, ein
                                                                   02 Ulrich Gohl (Hrsg.), Das große Stuttgarter Sagenbuch,
                                                                   Stuttgart 2012.
01 Erklärungen jenseits von Alkohol und Testosteron,               03 Heiko Volz, 55 Gründe, Stuttgart trotzdem zu lieben.
22. 6. 2020, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/       Denkwürdige Geschichten aus dem Leben eines Eingeborenen,
stuttgart-ausschreitungen-wutbuerger-party-gewalt-polizei-elend.   Stuttgart 2020.

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     „Quadratisch, praktisch, gut“ – so lautet der    Stuttgart“, eine Bürgerinitiative, die unter ande-
Werbeslogan der bekannten Schokolade, die im          rem die Überdachung der verkehrsreichen Kon-
nahen Waldenbuch hergestellt wird. Er stammt aus      rad-Adenauer-Straße fordert, damit die an ihren
dem Jahr 1970 und passt trotzdem hervorragend         Seiten gelagerten Theater, Museen, Bibliotheken
zur Mentalität, mit der die Nachkriegsgeneration      und Parks nicht mehr von der Fahrbahn getrennt
an den Wiederaufbau ihrer Städte heranging. Als       werden. Für mich gehört die vielfältige Szene der
wichtiges Industriezentrum und Verkehrsknoten-        Stuttgarter Writer gleichwertig zu diesen eher
punkt war Stuttgart zu 68 Prozent zerstört wor-       bürgerlichen Versuchen, das eigene Lebensum-
den. Beim Wiederaufbau ging es rabiat zu, nach        feld zu verändern. Mit großflächigen Graffiti und
dem Leitbild einer Autostadt, in der man moto-        zahllosen Tags, mit Stickern an jedem Laternen-
risiert möglichst schnell von A nach B gelangen       mast schreiben sich Leute in das oft graue Gesicht
konnte. Plätze und ganze Viertel werden heute         ein, das sie umgibt, hinterlassen ihre Botschaften
von mehrspurigen Straßen durchtrennt. Abriss-         und Bilder.
bürgermeister Arnulf Klett opferte ohne Not die
Hohe Karlsschule und den Kronprinzenbau, die                    LÄNDLICH UND GECHILLT
die Bomben überstanden hatten. Fast überall, wo
neu gebaut wird, sprießen entsetzliche Kreationen     Nüchtern wie Leitungswasser wirkt die Eintei-
hervor, als lebte im Mutterboden dieser Stadt, de-    lung des Stadtkerns in fünf Viertel: Mitte, Süd,
ren Architektur-Ausbildung durchaus Renommée          West, Nord und Ost. Über den Kessel hinaus hat
genießt, ein Pilzmyzel, das uns unermüdlich mit       sich Stuttgart ausgedehnt, indem es im Umland
frischen Scheußlichkeiten versorgt.                   Dorf um Dorf verschluckte und heute 23 Bezir-
     Das Europaviertel hinter der riesigen Bahn-      ke umfasst. Die Namen der ehemaligen Weingärt-
hofsbaustelle mit seinen nach Fernweh klingen-        ner- und Bauernflecken, die inzwischen allesamt
den Straßennamen zeigt sich als Mangelgebiet          ein großes S vor ihrem Ortsnamen stehen haben,
schöpferischer Fantasie, geradezu menschen-           bringen nicht nur klanglich Abwechslung: Bot­
feindlich. Wirkliche Lebensorte sucht man hier        nang, Rohracker, Möhringen, Obertürkheim. Sie
vergebens. Hässlich und funktional nach dem           sorgen auch für einen Hauch von Landlust in-
Motto: „Hauptsache, es tut“ siegt in Stuttgart lei-   mitten der Großstadt. Der augenfälligste Wein-
der fast immer über alles, das schön, prächtig oder   berg liegt gleich hinter dem Hauptbahnhof. Hier
wenigstens gemütlich-verranzt sein könnte. Ob         keltert die Stadt ihre eigenen Roten und Weißen,
der neue Hauptbahnhof und die Bebauung der            gelesen von ehrenamtlichen Helfern. Viele Häu-
freiwerdenden Gleisflächen sich in diese ungute       ser, besonders in den Vororten, besitzen noch die
Tradition einreihen werden, bleibt abzuwarten.        riesigen hölzernen Torflügel vor ihren Kellern,
     Kaum ein Ort, wo sie nicht flattern: an Fas-     aus denen die Fässer gerollt wurden. In den Gär-
saden und Mauern, Müllcontainern und Bus-             ten dahinter gedeihen nicht nur Thujahecken und
häuschen – zwei ausgebreitete Engelsflügel. Mit       Bambus, sondern auch Quitten und Rhabarber,
ihrer pummeligen Form und den lockigen Rän-           und zwischen Zwiebeln, Lauch und Salat leuchtet
dern könnten sie auch eine Kumuluswolke dar-          die Vielfalt der Blumenstauden. Nicht von unge-
stellen. Stuttgarts unspektakuläre freie Flächen      fähr gibt es in Stuttgart zahlreiche Wochenmärkte.
werden durch diese anonyme Schöpfung sicht-               Doch Anbau und Verkauf findet auch auf
barer, auch wenn viele sich über sie ärgern. Die      andere Weise statt: Selbst an furchteinflößen-
Flügelwolke ist momentan wohl das bekanntes-          den Durchfahrtsstraßen kann man noch auf so-
te illegale Graffito der Landeshauptstadt. Gleich-    genannte Hauslädle stoßen. Eine alte Obstkiste,
zeitig zeigt die Sprayer-Szene in der leeren Bahn-    ein Küchenstuhl werden gefällig mit einem sau-
hofshalle auf Hunderten von Quadratmetern ihr         beren Geschirrtuch bedeckt, darauf präsentie-
Können – ganz im Rahmen des Gesetzes und un-          ren sich ein paar Schalen Zwetschgen, Walnüsse,
ter der Schirmherrschaft des Kunstmuseums und         Weintrauben, im Sommer Kirschen oder was-
seiner Direktorin Ulrike Groos.                       sergefüllte Marmeladengläser mit einfachen Blu-
     Viele Stuttgarter leiden unter den zahlreichen   mensträußen, Cosmea, Zinnie, Aster und Ringel-
Gruselecken ihrer Heimat, versuchen immer wie-        blume. Ein handgeschriebenes Schild verrät die
der, die unwirtlichen Teile der Stadt zu gestalten.   stets niedrigen Preise, in die Dosen daneben legt
Zu solchen Bemühungen gehört der „Aufbruch            die ehrliche Kundschaft ihr Kleingeld, passend

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Stuttgart APuZ

abgezählt. Die Inhaber bekommt man nie zu Ge-               Aussichtspunkte abklappern, überall andere Leu-
sicht. Im Herbst kaufte ich in Obertürkheim, nur            te treffen. Von der Sünderstaffel zur Eugenstaffel,
eine S-Bahnstation hinter den Daimlerwerken,                zur Karlshöhe, weiter auf die Oscar-Heiler- und
ein paar hellgrün und violett gestreifte, pflückfri-        dann zur Willi-Reichert-Staffel, denn jeder Ko-
sche Feigen, das Stück zu 50 Cent, wobei ich das            miker hat seine eigene. Am Ende reicht die Puste
Geld in den Briefkasten am Haus zu werfen hatte.            vielleicht noch für den Aufstieg an den Waldrand,
    „Wenn man durch Stuttgart streift (…) riecht’s          zur Schillereiche, in deren Nähe Friedrich Schil-
immer nach angeschwitzten Zwiebeln“, stellt der             ler angeblich seinen Freunden „Die Räuber“ vor-
Stuttgarter Künstler und Koch Mario Ohno im                 gelesen hat. Zwar ist dies historisch falsch, aber
Dokumentarfilm „Stuttgart, ich hänge an dir“                die Vorstellung bleibt schön. Noch besser gefällt
fest.04 Natürlich riecht es im Kessel auch nach Dö-         mir die aktualisierte Beschriftung des Straßen-
ner, nach Hopfen und Malz aus den Brauereien,               schilds. Dem Schiller ist sein S abhandengekom-
nach Pizza, Gyros, Benzin, Kastanienblüten, dem             men, sodass man nun unter der Chillereiche ab-
Schwefel der Mineralquellen, Stadionwurst, nach             hängen kann.
Volksfest-Zuckerwatte und verbrannten Gummi-
reifen. Wenn ich im Herbst die Steilhänge hinter                    HOFFNUNGSVOLLE ZUKUNFT
Hedelfingen hinauflaufe, steigt es scharf und ver-                   ODER NECKAR-DETROIT?
goren aus den Tresterhaufen auf, diesen braunvi-
oletten, von Fruchtfliegen umsummten Bergen                 Natürlich denke ich manchmal über Stuttgarts
gekelterter Trauben, die an den Wegrändern der              Zukunft nach. Weniger Autos täten gut. Allein
Weinberge liegen. Sobald es ein bisschen wärmer             die Vorstellung, einen Teil der Parkplätze als
wird, hängen Marihuanawolken über der Stadt.                Grünflächen zu nutzen. Frischluft für eine Stadt
    „Stadtkind“, ein Stuttgarter Online-Maga-               im Klimawandel. Aber ein Leben im Kessel ohne
zin, stellt unter der Rubrik „10 Fehler, die man            die uns alle fütternde Schlüsselindustrie? In mei-
in Stuttgart vermeiden sollte“ Tipps für Neulinge           nem letzten Roman „Aus und davon“ schauen die
vor. Gleich an zweiter Stelle mahnt die Autorin:            Teenagerin Stella und ihre Clique eine selbstver-
„Feiern gehen wollen – und über Eintrittspreise             ständlich fiktive Serie namens „Chinese Beams“.
diskutieren. Ja, es kostet Eintritt. Just accept it.“       Darin hat sich Stuttgart samt Umgebung in eine
Billig ist hier nichts. Mieten und Baugrund ge-             Agrarregion verwandelt, die wohlhabende älte-
hören zu den teuersten bundesweit, im Alltags-              re Chinesen als Erholungsort besuchen. Ehema-
leben sieht es auch nicht besser aus. Stuttgart ist         lige Daimler-Ingenieurinnen versuchen, sich und
eine junge Stadt. Gern wird vergessen, dass das             ihre Familien mit Oldtimer-Fahrten, der Zucht
Durchschnittsalter ihrer Einwohnerschaft bei                von Hausgrillen und schwäbisch-asiatischen Re-
42 Jahren liegt. Jugendliche haben selten genug             staurants über Wasser zu halten. In China wurde
Geld für Restaurant- oder Barbesuche. Im Som-               das Beamen erfunden, nach alter Star-Trek-Ma-
mer gibt es die Stäffele, schwäbisch für Trepp-             nier lässt sich jede Entfernung spielend überwin-
chen. Durch viele Hänge ziehen sich diese lan-              den. Autos, egal mit welchem Antrieb, sind damit
gen, steilen Treppen, über 500 sollen es insgesamt          endgültig passé.
sein. Ursprünglich dienten sie den Winzern dazu,                Längst ist der Strukturwandel in vollem Gan-
ihre Weinberge zu erklimmen und zu bearbeiten.              ge. Stuttgart spürt seine Auswirkungen bereits:
Als sich Stuttgart um 1850 ausdehnte, baute man             Arbeitsplätze, die Infrastruktur, die Sicherheit,
die alten Weinbergstaffeln um, häufig zu pracht-            gut aufgestellt zu sein – das alles fühlt sich wacke-
vollen Treppenanlagen mit Zwischenwegen und                 lig an. Der legendäre schwäbische Erfindergeist
Aussichtspunkten. Auf den Stäffele sitzt es sich            muss dringend aus der Flasche kommen. Bequem
ganz umsonst. Knutschen, reden, feiern, kif-                darf man es sich im Kessel nicht machen.
fen, chillen – umgeben von Häusern, Hinterhö-
fen und Gärten. Viele lieben die Stadt gerade we-           ANNA KATHARINA HAHN
gen ihrer Überschaubarkeit, man kommt schnell               ist Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie in
überall hin, kann an einem Abend die schönsten              Stuttgart. Zuletzt erschien 2020 im Suhrkamp Verlag
                                                            ihr vierter Roman „Aus und davon“ , für den sie mit
04 Goggo Gensch, Stuttgart, ich hänge an Dir, Dokumentar-   dem Preis der Stiftung Ravensburger ausgezeichnet
film, 18. 6. 2020, SWR Fernsehen.                           wurde.

                                                                                                               11
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            STUTTGART – EIN GANG DURCH
                DIE STADTGESCHICHTE
                                            Roland Müller

Stuttgarts Geschichte ist in hohem Maße von            ten Wirtschaftszweig. Zuvor schon ist eine Stadt-
der Topografie sowie von der Doppelfunktion            werdung unter dem Markgrafen Hermann von
als Kommune und Residenz beziehungsweise               Baden anzunehmen. Durch Heirat 1251 an die
Hauptstadt geprägt, mithin von der Wechselbe-          Grafen von Württemberg gelangt, geriet Stuttgart
ziehung zwischen Stadt und Herrschaft einerseits       in die nachstaufischen Territorialkonflikte und
und Stadt und (Um-)Land andererseits. Beide            1312 für drei Jahre unter Verwaltung der benach-
Aspekte sollen bei diesem Versuch eines knappen        barten Reichsstadt Esslingen.
Überblicks besonders gewichtet werden.                     Eine Zäsur bedeutete die Verlegung von Sitz
    Die je nach Perspektive reizvolle oder un-         und Grablege der Württemberger nach Stutt-
günstige Lage beförderte spekulative Aussagen          gart um 1320; hierfür werden strategische Grün-
über das „Wesen“ der Stadt und ihre Einwohner;         de ins Feld geführt. Die Kirche des neuen Hei-
sie wurde auch als politisches Argument instru-        lig-Kreuz-Stiftes übernahm auch die Funktion
mentalisiert, meist negativ als „Kessel“ assoziiert.   einer Stadtpfarrkirche. Stuttgart profitierte von
Eine moderne Stadtgeschichte ist ein Desiderat;        der Stabilisierung des Territoriums. Jenseits der
die Erforschung der Stadtgeschichte wird durch         Stadtbefestigung entstand die Esslinger Vorstadt,
massive Überlieferungsverluste erschwert.              im 15. Jahrhundert wurden Stifts- und Leon-
                                                       hardskirche erweitert, und die in der neuen, der
         ZENTRALORT – DEZENTRAL                        Oberen oder Turnierackervorstadt gebaute drit-
                                                       te spätgotische Kirche überließ der Landesherr
Zweifellos bildet die Entwicklung Stuttgarts ab-       den Dominikanern für die einzige Klostergrün-
seits vom Fluss und von großen Verkehrswegen           dung in der Stadt. Stuttgart hatte jene Gestalt an-
siedlungsgeografisch einen Sonderfall. Auf die         genommen, die kaum verändert bis zum Ende des
günstigere Lage Cannstatts ist wiederholt hin-         Alten Reiches 1806 Bestand hatte.
gewiesen worden. Über dem Neckar errichteten               Eberhard im Bart, 1495 zum Herzog erho-
dort am Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. die       ben, vereinigte die seit 1442 geteilte Herrschaft im
Römer ein Reiterkastell. In der Nähe entstand          Münsinger Vertrag; dort war die Zentralfunkti-
im Frühmittelalter mit einer Martinskirche ein         on Stuttgarts verankert. Mit dem Jerusalempilger
kirchliches Zentrum.                                   und Universitätsgründer kam als Angehöriger
    In der Stadtmitte haben Ausgrabungen zwi-          des Hofgerichts der Humanist Johannes Reuch-
schen 1998 und 2005 Nachweise für einen ins            lin, bekannt als Verteidiger jüdischer Schriften,
8. Jahrhundert reichenden Friedhof und eine            nach Stuttgart. Eberhard aber verwies die Juden
hochmittelalterliche Siedlung erbracht. Unbelegt,      aus Stadt und Land.
aber zumindest plausibel ist die Gründung eines
Gestüts um die Mitte des 10. Jahrhunderts, das                    DIE STADT ALS RESIDENZ
der Stadt Namen und Wappen verlieh.
    Frühester Namensbeleg ist eine auf Mitte           Stuttgart reichte Anfang des 16. Jahrhunderts
des 12. Jahrhunderts datierte Erwähnung eines          mit rund 5000 Einwohnern nicht an die führende
„Hugo von Stuokarten“ im Codex Hirsaugiensis           südwestdeutsche Reichsstadt Ulm heran. Gericht
um 1500. Bis zur ersten urkundlichen Erwähnung         und Rat sind früh belegt, aber kaum greifbar.
dauerte es bis 1229; die von Papst Gregor IX. dem      Der herzogliche Vogt agierte in Doppelfunkti-
Kloster Bebenhausen bestätigten Weinberge ver-         on meist in herrschaftlichem Sinne. Daran soll-
weisen auf den bis ins 18. Jahrhundert wichtigs-       te sich bis 1806 nichts ändern. Die Tätigkeit der

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Stuttgart APuZ

Bürgermeister in der Funktion von Kämmerern            krieg von Zerstörungen verschont. Die Bevölke-
(im heutigen Sinne) dokumentieren die von 1508         rung litt dennoch unter Einquartierungen.
bis 1746 erhaltenen Rechnungen; sie werden der-            Bei der Verleihung des Bürgerrechts sowie
zeit im Stadtarchiv mit Projektfördermitteln der       der Zulassung von auswärtigen Händlern zu
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) digi-           Märkten zeigten sich Interessenkonflikte zwi-
talisiert und versprechen neue Erkenntnisse über       schen dem Landesherrn und dem auf Abwehr
die frühneuzeitliche Wirtschafts- und Sozial­          bedachten Magistrat. Der Wohlstand der Ober-
geschichte.                                            schicht gründete auf dem Weinhandel, während
    Die mit Hof- und Landesherren insbesonde-          die Lohnweingärtner eine karge, von den Unbil-
re ökonomisch eng verbundene Oberschicht hat-          den der Witterung abhängige Existenz fristeten;
te eine starke wirtschaftliche Stellung inne. Dies     auch Handwerker in übersetzten Gewerben be-
zeigte sich beim Aufstand des „Armen Konrad“           saßen kein sicheres Auskommen.
1514, als jene unter Führung von Stuttgart und             Das 18. Jahrhundert eröffnete mit einem Pau-
Tübingen dem Herzog gegen Übernahme der                kenschlag. Herzog Eberhard Ludwig beschloss,
Schulden das Recht zur Steuererhebung sowie            sein „schwäbisches Versailles“ in Ludwigsburg
die Mitbestimmung in wichtigen Angelegenhei-           zu bauen, das er 1718 zur alleinigen Residenz er-
ten durch einen Landtag in Stuttgart abzuringen        hob. Die wirtschaftlichen Folgen für Stuttgart
vermochte.                                             waren gravierend. Der Nachfolger Karl Alexan-
    Nach einem kaiserlich-habsburgischen Inter-        der ist im Stadtgedächtnis geblieben durch die
mezzo eroberte Herzog Ulrich 1534 mit Hilfe            Berufung des Bankiers Joseph Süß Oppenhei-
des hessischen Landgrafen Philipp das Herzog-          mer mit dem Auftrag, dem Herzog Einnahmen
tum zurück und führte die Reformation ein. Sein        zu verschaffen. Die widerstrebende bürgerliche,
Nachfolger Christoph schuf unter anderem mit           protestantische Machtelite (Ehrbarkeit) ließ Op-
einer Landesordnung und der Großen Kirchen-            penheimer nach dem Tod des Herzogs und einem
ordnung die Grundlage des württembergischen            Schauprozess hinrichten.
Staatswesens der Frühen Neuzeit. Der Zug zur               Herzog Carl Eugen wiederum hatte Stutt-
inneren Ordnung erfasste auch die Residenz mit         gart den dauerhaften Sitz von Hof und Regie-
einer Kodifikation städtischer Rechte und Regeln       rung zugesichert. Doch als sich die Landschaft
sowie Verordnungen etwa zu Bau und Feuer­              seiner Ausgabenwirtschaft verweigerte, gar beim
schutz.                                                Reichshofrat Klage erhob, wählte auch er die
    Stuttgart erlebte damals eine fürstliche Pracht-   Option Ludwigsburg. Nach der Bestätigung
entfaltung. Das Schloss wurde im Stil der Renais-      Stuttgarts als Residenz im sogenannten Erbver-
sance umgestaltet. Im erweiterten Schlossgarten        gleich 1770 widmete er sich auch der Stadtgestal-
entstand das spektakuläre Lusthaus, bald darauf        tung, hielt sich jedoch bevorzugt in der Sommer-
als weiterer Prachtbau der sogenannte Neue Bau         residenz Hohenheim sowie auf Schloss Solitude
von Heinrich Schickhardt. Auf den „schwäbi-            auf.
schen Leonardo“ gehen auch die Anlage des Schil-           Die dem Zeitgeist gemäße Repräsentation be-
lerplatzes mit dem „Prinzenbau“ zurück, der mit        scherte Stuttgart einen glänzenden Ruf an den ab-
Altem Schloss, Kanzlei, Fruchtkasten und Stifts-       solutistischen Höfen Europas. Die Stadt profi-
kirche bis heute ein Ensemble bildet, sowie erste      tierte vom herzoglichen Interesse an Kunst und
stolze Bürgerhäuser. Gleichwohl waren die deso-        Kultur. 1761 gründete Carl Eugen die Kunstaka-
laten hygienischen Verhältnisse ein Dauerthema.        demie, 1765 die öffentliche Herzogliche Biblio-
    Im Dreißigjährigen Krieg traf die Kriegsfurie      thek. Eine Besonderheit war 1770 die sogenannte
die Stadt nicht unmittelbar; die Besetzung durch       Hohe Karlsschule, vom Kaiser 1781 zur Univer-
kaiserliche Truppen nach der Schlacht von Nörd-        sität erhoben, mit ihrer Kombination von militä-
lingen 1634 brachte freilich drückende Lasten.         rischer und aufgeklärter Bildungsanstalt. Lands-
Vor allem aber raffte die Pest mehr als die Hälf-      mannschaftliche und religiöse Toleranz sowie die
te der Einwohner hinweg; Zuzug aus dem stark           begeisterte Aufnahme der Ideen der Französi-
zerstörten Umland minderte den absoluten Ver-          schen Revolution durch die Karlsschüler provo-
lust. Anders als große Teile des Südwestens blieb      zierten die Schließung der Einrichtung durch den
Stuttgart bei Vormärschen der Franzosen in den         Geheimen Rat und die Landstände nach dem Tod
1670er Jahren und auch im Pfälzischen Erbfolge-        des Gründers.

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      LANGER WEG ZUR GRO ẞ STADT                     1848 gelangten die Liberalen nach der Revolu-
                                                     tion in Paris rasch in die Regierung. Der Kopf
1806 wurde Stuttgart königliche Residenz und         des „Märzministeriums“, Friedrich Römer, rang
war doch eine bescheidene Stadt. Der Monarch         dem König die Zustimmung zum Grundrechts-
musste sich in Kriegszeiten auf die Fertigstellung   katalog und zur Reichsverfassung vom März
des Schlosses und dessen Umgebung beschrän-          1849 ab; so konnte Stuttgart zum Fluchtpunkt
ken. In der Königstraße entstand mit St. Eber-       der Nationalversammlung werden (wie 1920
hard die erste katholische Kirche. Auch Juden,       beim Kapp-Putsch). Doch bald nach einer festli-
vorwiegend aus ehemaligen Reichsritterschaf-         chen Begrüßung durch die Stadt ließ Römer mit
ten, waren nun württembergische Untertanen.          Waffengewalt die Demokraten des „Rumpfpar-
Privilegien für Bankiersfamilien wie die Familie     laments“ stoppen, die eine Reichsregentschaft
Kaulla, die mit der Abwicklung der königlichen       wählten und ein Reichsheer aufstellen wollten.
Geldgeschäfte betraut war, folgte erst 1828 eine         Nach der Rückkehr aus dem Exil machten
allgemeine Regelung, vier Jahre später die Grün-     Karl Mayer, Ludwig Pfau und Julius Haußmann
dung einer jüdischen Gemeinde.                       Stuttgart zum Zentrum des politischen Liberalis-
    Den Ausbau der Residenz begann recht ei-         mus. Sie gründeten 1864 die Volkspartei; aus de-
gentlich König Wilhelm I., der sich als Baumeis-     ren Versammlung 1866 erwuchs die Tradition des
ter gerierte. Staatsarchiv und Naturalienkabinett,   Dreikönigstreffens.
Staatsgalerie und Prinzessinnenpalais entstanden         In der stark agrarisch geprägten Region ge-
an der Neckarstraße, der heutigen „Kulturmei-        noss nach der Hungerkatastrophe von 1816/17
le“. Die Öffnung nach Süden und Westen war           die Verbesserung der Landwirtschaft Priorität.
eine Weichenstellung: Die Parkanlagen bilden bis     Sichtbares Zeichen war die Gründung einer Ver-
heute die „grüne Lunge“ der Stadt.                   suchsanstalt in Hohenheim, der heutigen Univer-
    Selbstverwaltung und Partizipation blieben       sität. 1829 wurde auch eine Kunst- und Gewerbe-
begrenzt: Die Gemeinderäte wurden (bis 1849)         schule, das Polytechnikum, eröffnet; es sollte die
auf Lebenszeit gewählt, an der Spitze von Rat        Keimzelle der Universität Stuttgart werden.
und Verwaltung stand ein vom König (bis 1890)            Waren schon merkantilistische Manufaktur-
auf Lebenszeit ernannter Stadtschultheiß – trotz     gründungen erfolglos geblieben, spielte Stuttgart
des Ehrentitels „Oberbürgermeister“ unter Auf-       als Produktionsstandort in der Frühindustriali-
sicht eines staatlichen Stadtdirektors. Nach dem     sierung keine Rolle. Hingegen entstanden ent-
Hambacher Fest und der Aufdeckung einer Mi-          lang des Neckars mit günstig verfügbarer Wasser-
litärverschwörung 1833 drohte der König noch-        kraft mechanische Produktionsstätten, so auch in
mals mit dem Auszug nach Ludwigsburg.                Cannstatt und im Weiler Berg, 1836 nach Stuttgart
    Die Aufstellung eines Schiller-Denkmals Ber-     eingemeindet. Gerade für Württemberg und Stutt-
tel Thorvaldsens 1839 durch den Stuttgarter Lie-     gart brachte die Eisenbahn einen enormen Schub.
derkranz geriet zur liberalen Manifestation. Der     Die erste Bahn verkehrte 1845 bezeichnenderwei-
berühmte dänische Bildhauer hatte früh Kontakt       se von Cannstatt nach Esslingen; Stuttgart wurde
zum Stuttgarter Klassizisten Johann Heinrich         durch Tunnel ein Jahr später angeschlossen.
Dannecker, der mit seinem Schwager Gottlob               Leitsektor zu Beginn der Industrialisierung
Heinrich Rapp einen Kreis von Kunstinteres-          war die chemische Industrie. Die Fabrikanten
sierten versammelte und auch die Kunstsamm-          übernahmen – anders als der Mythos vom Tüft-
lung Boisserée ausstellte. Dass man diese 1827       ler besagt – Innovationen aus dem Ausland und
nach München ziehen ließ, mag Ursprung eines         pflegten weitgespannte Handelsverbindungen.
bis heute anhaltenden Neidkomplexes sein. Hin-       An wichtigen Gründungen und Transaktionen in
gegen entwickelte sich nach dem Zuzug des Ver-       Stadt und Land war ein überschaubarer Kreis von
legers Johann Friedrich Cotta 1810, der auch die     Unternehmern und Bankiers beteiligt. Die meis-
Grundlagen für die Verlags- und Buchhandels-         ten waren bei den Bismarck-treuen Nationallibe-
stadt legte, ein reges literarisches Leben auch in   ralen aktiv und auch philanthropisch engagiert,
Salons.                                              zuvörderst Eduard Pfeiffer, Mitbegründer des
    Im Vormärz nahmen die politischen und so-        Arbeiterbildungsvereins und des „Vereins für das
zialen Spannungen zu, verschärft durch Missern-      Wohl der arbeitenden Klassen“. Er wurde 1909
ten kam es im Mai 1847 zu einem Brotkrawall.         erster jüdischer Ehrenbürger Stuttgarts.

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