AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Stuttgart - Bundeszentrale für politische Bildung
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71. Jahrgang, 5–6/2021, 1. Februar 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Stuttgart Kodimey Awokou Heiner Barz MEIN STUTTGART STUTTGART – HAUPTSTADT DER FREIDENKER Anna Katharina Hahn UND ANTHROPOSOPHEN? ZUR CHILLEREICHE. KLEINER VERSUCH Claudia Diehl · Bentley Schieckoff ÜBER STUTTGART INTEGRATION DURCH ERWERBSARBEIT Roland Müller EIN GANG DURCH Jürgen Dispan DIE STADTGESCHICHTE TRANSFORMATION DER SCHLÜSSELINDUSTRIEN Simon Teune ALS HERAUSFORDERUNG FÜR PROTEST 2010 UND 2020. DIE REGIONALWIRTSCHAFT ZWEI HERAUSFORDERUNGEN DER DEMOKRATIE ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Stuttgart APuZ 5–6/2021 KODIMEY AWOKOU HEINER BARZ MEIN STUTTGART STUTTGART – HAUPTSTADT DER FREIDENKER Krawallnächte und Protestbewegungen haben UND ANTHROPOSOPHEN? Stuttgart in letzter Zeit eher unrühmliche Den Titel einer „Hauptstadt des Nonkonfor- Aufmerksamkeit beschert. Darüber wird leicht mismus“ trägt Stuttgart sicherlich zu Unrecht. vergessen, wie gut hier die Balance zwischen Gleichwohl lohnt ein Blick auf die dortigen Tradition und Weltoffenheit gelingt. Eine Anfänge der Waldorfpädagogik und der Anthro- Liebeserklärung an eine Stadt. posophie sowie ihrer Verbindungen zu heutigen Seite 04–07 Protestbewegungen. Seite 26–32 ANNA KATHARINA HAHN ZUR CHILLEREICHE. CLAUDIA DIEHL · BENTLEY SCHIECKOFF KLEINER VERSUCH ÜBER STUTTGART INTEGRATION DURCH ERWERBSARBEIT Stuttgart gehört nicht unbedingt zu den Die erfolgreiche Arbeitsmarktintegration zuge- populärsten Städten in den einschlägigen wanderter Personen hängt neben individuellen Beliebtheitsrankings. Wer aber einen zweiten Merkmalen vor allem vom Aufnahmekontext ab. Blick wagt, der findet einen Ort voller liebens- Besondere Bedeutung kommt der kommunalen werter Eigenheiten, unbekannter Schätze und Ebene zu. Hier hat die Stadt Stuttgart vieles gechillt-schwäbischer Lässigkeit. richtig gemacht. Seite 08–11 Seite 33–39 ROLAND MÜLLER JÜRGEN DISPAN EIN GANG DURCH DIE STADTGESCHICHTE TRANSFORMATION DER SCHLÜSSELINDUSTRIEN Die Geschichte Stuttgarts wird vor allem in ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE Bezug auf die Doppelfunktion der Stadt als REGIONALWIRTSCHAFT Kommune und Residenz- beziehungsweise Die Region Stuttgart zählt zu den wirtschafts- Hauptstadt einerseits und die Wechselbeziehung und innovationsstärksten in Europa. Aufgrund zwischen Stadt und (Um-)Land andererseits mit der doppelten Transformation durch Digita- den daraus resultierenden Spezifika dargestellt. lisierung und Elektromobilität stehen die ihre Seite 12–19 Regionalwirtschaft prägenden Wirtschaftscluster vor großen Herausforderungen. Seite 40–46 SIMON TEUNE PROTEST 2010 UND 2020. ZWEI HERAUSFORDERUNGEN DER DEMOKRATIE Die Proteste in Stuttgart 2010 und 2020 fordern die Demokratie auf unterschiedliche Weise heraus. Ging es bei „Stuttgart 21“ um die Legitimität von Mehrheitsverfahren, verschwim- men seit 2020 die Grenzen zwischen legitimem Protest und organisiertem Rechtsextremismus. Seite 20–25
EDITORIAL Stuttgart gilt als Musterstadt der Integration. Die „New York Times“ ernannte die baden-württembergische Landeshauptstadt im „Flüchtlingsherbst“ 2015 zum weltweiten Vorbild gelungener Integrationspolitik, und auch im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik steht die Stadt spätestens seit den 1950er Jahren für die erfolgreiche Verbindung von Migration und Integration, die erst die Grundlage schuf für materiellen Wohlstand, hohe Lebensqualität und ausge- prägten Bürgerstolz. Die Frage, ob „wir das schaffen“, stellte sich in Stuttgart eigentlich nie – es wurde einfach „geschafft“, beim Daimler, beim Porsche oder beim Bosch. Diese integrationspolitische Erfolgsgeschichte mag vor dem Hintergrund, dass in Stuttgart heute Menschen aus 190 Herkunftsnationen leben und 44 Pro- zent der Stuttgarterinnen und Stuttgarter aus Familien mit Migrationserfahrung stammen, umso beeindruckender erscheinen. Möglicherweise ist sie aber schlicht das Resultat liberaler Traditionen, weltoffener Gesinnung, wirtschaftlicher Prosperität und einer konsequenten städtischen Integrationspolitik, die sich, unterstützt durch eine vitale Zivilgesellschaft, schon früh gegen den bundes- und parteipolitischen Mainstream gestemmt hat. Seit den Protesten gegen „Stuttgart 21“, den Ausschreitungen im Sommer 2020 und der Gründung der „Querdenken“-Bewegung bröckelt das Image der Musterstadt. Möglicherweise führt Stuttgart aber nur im Kleinen vor, welche desintegrativen Kräfte und Herausforderungen an der Gesellschaft insgesamt derzeit zerren. Werden gesellschaftliche Probleme nicht adäquat adressiert und verarbeitet und geraten politisches Handeln und individuelle Problemwahrneh- mungen aus dem Lot, dann ist das Aufkommen zivilgesellschaftlicher Proteste nicht überraschend. Es scheint, als würde in Stuttgart derzeit stellvertretend für den Rest der Republik gerungen und gestritten. Darin darf man ruhig auch ein positives Zeichen sehen. Sascha Kneip 03
APuZ 5–6/2021 ESSAY MEIN STUTTGART Kodimey Awokou Die Krawallnacht von Stuttgart vom 20. Juni 2020, Stadt, in der das Zusammenleben unterschiedlichs- in der Polizisten attackiert, Schaufensterscheiben ter Kulturen gut funktioniert, nicht gerecht. „Wir eingeschlagen und Geschäfte geplündert wurden, sollten es mit Multikulti nicht übertreiben“,01 war hat Narben hinterlassen. Das Sicherheitsgefühl, das die erste Äußerung des Innenministers von Baden- seit ich denken kann in Stuttgart vorherrscht, wur- Württemberg, Thomas Strobl, die ich zu diesem de mit einem Schlag erschüttert. Selbstverständlich Thema vernommen habe. Ich glaube, Herr Strobl kennen wir auch hier Kriminalität aller Art; dennoch hat nie wirklich in Stuttgart gelebt – richtig gut zu würde ich behaupten, dass in Stuttgart eine friedli- kennen scheint er diese Stadt jedenfalls nicht. che Atmosphäre überwiegt, die es den Menschen er- laubt, sich nicht ständig um ihre Sicherheit sorgen AFRO-SCHWABE zu müssen. Daher kam besagte Nacht für die meis- ten von uns auch so unerwartet. Im Herzen meiner Mein Name ist übrigens Kodimey Awokou. Ich Stadt, vor dem Gebäude, in dem wir viele Jahre unse- bin 1980 in Stuttgart geboren, meine Mutter kam re Büros hatten, eskalierte die Situation und gefähr- ebenfalls hier zur Welt, und mein Vater stammt det einen Frieden, den wir hier alle vielleicht zu sehr aus Togo. Westafrika. Das sag ich immer so, wenn als gegeben erachten. man mich nach meiner Herkunft fragt. Ich habe Die Krawallnacht selbst war schon schlimm. immer das Gefühl, man erwartet das. Ich würde Noch schockierter war ich aber von der darauf fol- am liebsten einfach sagen: „Ich komme aus Stutt- genden öffentlichen Diskussion. Als im Nachgang gart“, aber das reicht den meisten nicht. Ich kann bei einigen Tätern, trotz deutschem Pass, die Her- ihnen das nicht verübeln, bei vielen ist es einfach kunft der Eltern ermittelt wurde, fühlte ich mich nur Interesse. Aber es ist schon ermüdend, das persönlich angegriffen. Das tat weh. Ganz unab- immer wieder erläutern zu müssen. Fast wie eine hängig davon, dass solche Gewaltausbrüche selbst- Rechtfertigung, die einem abverlangt wird. Als verständlich nicht tolerierbar sind, zeigte die De- müsste ich meine Zugehörigkeit zu meiner Hei- batte doch sehr hässlich den Kern des Problems: matstadt begründen. Ab wann ist man Deutscher? Ab wann gehört man Aufgewachsen bin ich am Stöckach, dem pulsie- dazu? Wieso bei denen, die hier geboren sind und renden Verkehrsknotenpunkt, an dem sich der oft die einen deutschen Pass haben, auf die Herkunft der leichtfertig übersehene Stuttgarter Osten mit dem Eltern schauen? Das wirkte auf mich so, als würde Rest der Stadt verbindet. Ich liebe diesen Teil der man die Gewaltausbrüche mit allen Mitteln außer- Stadt besonders. Einmal natürlich wegen der vie- halb der Stuttgarter Gesellschaft verorten wollen. len Erinnerungen, die ich damit verbinde, aber auch Als würde man versuchen, den Grund für die Ge- dank der Einfachheit und Echtheit, der man hier, walt, die die Stadt in eine Art Schockstarre versetzte, fernab von Gentrifizierung und hippen Start-Up- auszulagern. Als könnten das keine Stuttgarter ge- Unternehmen, noch begegnen kann. wesen sein. „In Stuttgart gibt es das nicht“, und da- Die vielen Arbeitersiedlungen in direkter her macht man sich auf die Suche nach dem fremden Nachbarschaft zu schwäbischem Wohlstand auf Übel, selbst wenn man dafür bis zum Geburtsort der relativ engem Raum schaffen eine für mich nach Eltern ausholen muss. wie vor faszinierende, einzigartige Mischung. Es Natürlich muss man nach einer solchen Tat ge- ist bunt, oft auch laut, man kann hier sein, wie nau hinschauen, wer aus welchen Gründen gewalt- man halt ist. Die in Verruf geratene schwäbische tätig geworden ist. Die reflexhafte Art aber, mit der Ordnung, die sich bei genauem Hinsehen als man den Grund für die Gewalt in der Herkunft durchaus nützlich und gar liebenswert erweisen suchte, war verletzend und wurde Stuttgart, einer kann, findet man trotzdem auch hier. 04
Stuttgart APuZ Hier lebten wir als Familie zu viert in der ich ging dort zur Schule, und in meiner Grund- Hackstraße. Mal gab’s Linsen mit Spätzle, am Tag schulklasse hatte weit mehr als die Hälfte der darauf Akume oder Fufu. Falco und afrikanische Schülerinnen und Schüler einen „Migrationshin- Highlife-Hits dröhnten im Wechsel aus der Stereo- tergrund“ (irgendwie mag ich den Begriff nicht). anlage. Der Häuserkomplex war eine ehemalige Zi- Ich kann mich nicht daran erinnern, dass „Her- garettenfabrik, riesig, mit sehr vielen Wohneinhei- kunft“ in irgendeiner Form Thema an der Schu- ten und unterschiedlichsten Familien. Man sprach le war. Nur von einem Jungen weiß ich noch, des- Deutsch, Türkisch, Kroatisch, Tigrinya, Rumä- sen Mutter ihm am ersten Schultag mit besorgter nisch. Die Mutter des einen arbeitete als Ärztin, Stimme befahl: „Setz dich nicht neben einen Tür- der große Bruder des anderen machte eine Aus- ken!“ Dieses laute Flüstern, das keiner hören soll, bildung beim Daimler, und manche arbeiteten, wie aber doch jeder hört. Wir fanden es damals schon mein Vater, als Karosseriebauer bei Porsche. Für seltsam, so was zu sagen. Ich glaube, er saß dann uns war das alles nicht „Multikulti“ und vor allem die ganze 1. Klasse über neben Ercan. nicht übertrieben. Das war einfach Stuttgart. Der Grund für den Besuch der Kanzlerin war Hier ist es anders, als es in Diskussionen über ein erfreulicher: Die Ostheimer Schule in Stutt- „Brennpunkte“ gerne dargestellt wird. Die Men- gart galt – und gilt immer noch, denke ich – als schen leben zusammen Seite an Seite. Zwar mit ein Beispiel „gelungener Integration“. Eine Schu- den üblichen Reibereien, aber im Großen und le mit Kindern aus verschiedenen Kulturen, an Ganzen friedlich. Bestimmt ist das zum Teil auch der man schnell merkte: So unterschiedlich sind der wirtschaftlichen Situation in Stuttgart zu ver- wir gar nicht. Alle freuten sich auf die große Pau- danken. Eine Unterteilung nach Wohngebieten se, alle wollten Panini-Sticker tauschen (in den – hier das „Araberviertel“, dort das „Türken- 1980ern zumindest) und Tischtennis spielen. Vie- viertel“ –, so etwas gibt es in Stuttgart nicht wirk- le Hausaufgaben mochte Ercan genauso wenig lich. Klar, die Reichen wohnen eher auf dem Hü- wie sein ungehorsamer Sitznachbar. gel, die mit weniger Einkommen im Kessel, aber Zu der Zeit von Kanzlerin Merkels Besuch war man begegnet sich in dieser Stadt früher oder spä- ich Student und wohnte in einer kleinen Wohnung ter immer. Man kann sich nicht einfach in sei- am Ostendplatz, nur ein paar Straßen entfernt von nen Wohlfühlbereich zurückziehen. Allein schon meiner alten Schule, weshalb ich mich entschied, wegen der überschaubaren Größe und Einwoh- dem Spektakel beizuwohnen. Ich erinnere mich nerzahl Stuttgarts lässt sich die Begegnung mit nicht mehr daran, was Frau Merkel genau gesagt Andersdenkenden oder Andersgläubigen nicht hat; ich weiß nur noch, ich fand es gut, dass sie was verhindern. Besser so für alle. gesagt hat, dass sie gekommen war und damit ein Zeichen gesetzt hatte. Allein mit ihrer Anwesen- ALTE SCHULE heit stellte sie sich dem nach den Berliner Ereignis- sen im Raum stehenden Verdacht entgegen, dass Als 2008, zwei Jahre nach den Vorkommnissen an ein friedliches Zusammensein an einer Schule al- der Berliner Rütli-Schule,02 das Thema Integration lein schon durch einen hohen Anteil an Migranten immer noch hochkochte, besuchte Bundeskanzle- gefährdet sei. Und das in meiner Stadt. rin Angela Merkel die Ostheimer Grund- und Re- alschule in Stuttgart-Ost. Schon meine Mutter war WAS DER OPA NOCH WUSSTE auf diese Schule gegangen. Sie verbrachte dort ihre gesamte Schulzeit, und ich erinnere mich, wie sie Auf der Spurensuche nach dem Ursprung meiner mal zu mir sagte, dass es in der Schule damals kei- Heimatliebe zu Stuttgart lande ich unausweichlich ne Kinder aus anderen Ländern gab. Das änderte bei meinen Großeltern. Ich denke, ich habe mich sich innerhalb einer Generation rapide. Denn auch nirgends so wohl und so zuhause gefühlt wie bei ihnen – egal, wo ich mit ihnen war; ob in ihrem 01 „Mit Multikulti nicht übertreiben“ – „Bild“-Chefredakteur Julian bis ins Detail liebevoll gepflegten Garten oder in Reichelt im Interview mit Thomas Strobl (Stuttgart), 22. 6. 2020, ihrer stets wohlig warm temperierten Wohnung. www.youtube.com/watch?v=y3JCrxTgHtk. Mein Opa, ein Stuttgarter Urgestein, lebte mir 02 2006 löste ein Brief von Lehrerinnen und Lehrern der Schu- le an den Berliner Bildungssenator eine öffentliche Debatte über so viele Eigenschaften vor, die uns Schwaben oft das deutsche Bildungssystem und die Integration von Kindern als negative Klischees vorgehalten werden: ein und Jugendlichen aus Einwandererfamilien aus (Anm. d. Red.). Sinn für Ordnung und Sauberkeit, Pünktlichkeit 05
APuZ 5–6/2021 aus Respekt vor seinem Gegenüber, Strebsamkeit man zur Kultur beisteuerte, zählte. Vielleicht ver- und natürlich die Treue zum VfB. Dazu noch der klärt die Nostalgie meinen Blick auf diese Ära ein Wunsch nach Harmonie und die tiefe Liebe für wenig, aber ich erinnere mich tatsächlich nur an ein die schwäbische Küche meiner Oma. positives Grundgefühl, eine elektrisierende Auf- Ich hatte ein sehr enges und vertrauensvolles bruchstimmung, die die ganze Stadt antrieb und Verhältnis zu meinen Großeltern und versuchte in vieles hier in Gang gesetzt hat. Gesprächen mit ihnen immer herauszufinden, wie Auch der Grundstein für meine berufliche das Leben in Stuttgart in ihrer Jugend war. Mein Laufbahn wurde in jener Zeit gelegt. Vor mittler- Opa erzählte mir etwa, dass es in seiner Jugend weile über 20 Jahren gründeten Freunde und ich schon Tradition war, dass sich die Raitelsberger im Herzen Stuttgarts das Hip-Hop-Label Chim- mit den Hallschlägern vor einer stadtbekannten perator Productions, das langsam aber stetig wuchs Wirtschaft zu regelmäßigen Prügeleien verabrede- und Künstler wie Die Orsons oder Cro hervor- ten. Stuttgarter wissen, wovon ich rede. Ich fand brachte. Mittlerweile sind aus der Schnapsidee von das interessant, weil beide Viertel in meiner Jugend ein paar Jungs im Jugendhaus Mitte eine Platten- das waren, was man heute wohl als „Problembe- firma, eine Booking-Agentur und eine Spielstät- zirk“ bezeichnen würde. Auch hier wurde die Ur- te entstanden, die allesamt zum Kulturbetrieb in sache von Problemen häufig einem hohen Auslän- Stuttgart beitragen dürfen. Bei all unseren Unter- deranteil zugeschrieben. Mein Opa wurde 1929 nehmungen versuchen wir immer, den Geist der geboren – und schon damals hat man sich dort, goldenen Ära des Stuttgarter Raps und dessen ganz ohne Ausländer, gerne regelmäßig was auf Werte einfließen zu lassen. die Nase gegeben. Die damalige Bewegung einer Jugend, die nicht direkt politisch war, aber doch gemeinsame Nor- NEUE SCHULE men und Werte wie Toleranz und Weltoffenheit pflegte, war ansteckend und weitreichend. Die Dass Stuttgart eine Brutstätte für subkulturelle Stuttgarter Vorwahl 0711, die zum Gütesiegel für Bewegungen ist, trägt einen großen Teil zur Le- Rapkultur aus dem Kessel wurde, steht bis heute bensqualität der Stadt bei – auch wenn das neben für „ein Stuttgart der Solidarität und der Gemein- dem sonstigen, ebenfalls beindruckenden Kultur- schaft, für ein Konzept von Stadt, in dem Men- betrieb wie der Oper oder dem Theater oft nicht schen unterschiedlicher Nationalitäten und Hin- genug zur Geltung kommt. tergründe friedlich miteinander leben“,03 wie es in Für mich und andere besonders prägend, weit einem von sehr vielen Stuttgarter Kulturschaffen- über Stuttgarts Grenzen hinaus, war zweifellos die den unterstützten offenen Brief der 0711-Gründer Stuttgarter Hip-Hop-Kultur der 1990er Jahre. Die heißt, der als Reaktion auf die sogenannte Quer- Kolchose, ein Zusammenschluss aus Bands und denker-Bewegung initiiert wurde, die sich die Künstlern wie Freundeskreis, Massive Töne, Afrob 0711-Vorwahl ebenfalls zu eigen zu machen ver- und anderen, war unser Vorbild und hat sehr viel in suchte – eine Vereinigung, die unter anderem mit der Stadt bewegt. Die Texte handelten vom Leben Nazis durch Berlin zieht und sich dabei anmaßt, in einer Stadt, wie wir sie täglich erlebten, abseits unsere „Süße aus dem Süden mit dem Dialekt“04 einer Ghetto-Sehnsucht nach den USA, fernab zu repräsentieren. Dazu heißt es in dem offenen des bedrückenden Alltags französischer Banlieu- Brief weiter: „Wir verurteilen den Missbrauch des es. So wichtig diese harten Formen des Hip-Hops Symbols 0711 für populistische Zwecke und den auch waren und nach wie vor sind, sie spiegelten Versuch, Popkultur aus hetzerischen und spalte- nicht die Realität der Stadt am Neckar wider. Plät- rischen Gründen umzudeuten, auf das Schärfste. ze, Menschen und Ereignisse aus Stuttgart tauchten Die Corona-Maßnahmen kritisch zu hinterfragen, plötzlich in Texten auf, regionale Sprüche wurden ist wichtig. Auf Demos Seite an Seite mit Reichs- Zeitgeist, man traf sich an den Hotspots und Krea- kriegsflaggenträgern zu marschieren, ist dagegen tivzentren der Stadt und schaffte etwas gemeinsam, unverzeihlich.“05 Dem ist nichts hinzuzufügen. vereint durch die Ausdrucksform, die man lebte, alles für die Stadt, die man repräsentierte. Stuttgart 03 Stuttgarter Künstlerkollektiv, An alle 0711er, 7. 11. 2020, war am Puls der Zeit, und man spürte das an jeder http://kolchose.tv/#prettyPhoto/11. Ecke. Dabei spielte es nie eine Rolle, woher die El- 04 Max Herre, 1ste Liebe, 2004, Four Music Productions. tern kamen, ob sie reich oder arm waren; nur, was 05 Stuttgarter Künstlerkollektiv (Anm. 3). 06
Stuttgart APuZ SCHIMPFEN PLUS ken begründet. Man findet bei kleinsten Regelver- stößen schon auch das gehässige, oft neiderfüllte Spreche ich mit Menschen aus anderen Städten, Meckern. Regelverstöße sind oft zu viel für das kommt immer wieder die Frage nach der Stuttgar- schwäbische Gemüt, und so können die zu hohe ter Protestkultur auf, die Frage, warum wir hier un- Hecke oder die spielenden Kinder im Hinterhof ten ständig meckern, uns dafür zusammentun und schnell zum Streitfall werden. Häufig fehlt das ge- auf die Straße gehen. Allen voran kommt den meis- sunde Maß beziehungsweise der angemessene Ton ten die Protestbewegung gegen „Stuttgart 21“ in den im Umgang mit den Mitmenschen. Und so ent- Sinn, die bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Stutt- puppt sich das Bruddeln oft als Hindernis im fried- garter aller Altersklassen und politischer Gesin- lichen Miteinander und trägt dazu bei, dass wir in nungen waren vereint gegen das Milliardenprojekt. anderen Teilen Deutschlands mitunter als nicht be- Auch wenn es wohl nicht die Mehrheit der Bürger- sonders sympathisch wahrgenommen werden. schaft war, die sich dem Protest anschloss, so schien es doch ein Querschnitt durch eine sehr vielfälti- WOHIN GEHT’S? ge Stadtgesellschaft zu sein. Mit anhaltender Dauer flachte der Protest aus vielerlei Gründen ab. Es wur- Was Stuttgart immer besonders machte, war nicht den Fakten geschaffen, und meiner Meinung nach zuletzt der andauernde Tanz, den das sogenann- hat sich der Protest irgendwann verrannt. Ich erin- te Spießertum mit den progressiven Kräften auf- nere mich an eine Veranstaltung am Schlossplatz, auf führte. Eine echte Aufbruchstimmung ist in Stutt- der ein Redner lauthals schreiend behauptete, das mit gart allerdings schon länger nicht mehr zu spüren. „Stuttgart 21“ sei genauso wie mit den Kriegen in Die Stadt wirkt unentschlossen – als könne sie sich Afghanistan und im Irak, weil auch hier die Bürger nicht entscheiden zwischen bewährter Sicherheit bevormundet würden. Bei solch abstrusem Quatsch, durch Autoindustrie, Handwerk und Law and der Opfer von Krieg und Gewalt verhöhnt, sind die Order einerseits und sozialem und ökologischem gemäßigten Stuttgarter dann halt irgendwann raus Wandel andererseits. aus der Sache. Es ging schließlich um einen Bahnhof. Doch wie dem auch sei: Ich liebe diese Stadt. Aber ja, man kann schon sagen, dass wir Stutt- Hier bin ich geboren, und ich mag den Gedan- garter gerne schimpfen, und das reicht von der ken, irgendwann am Bergfriedhof die letzte Ruhe Oma am Fenster, die Falschparker mit einem be- zu finden, wo die U4 ihre Kurve zum Ostend- herzten „Des isch koi Parkplatz!“ begrüßt, bis hin platz fährt und das Leben in Stuttgart-Ost pul- zu einer ganzen Bewegung, die einen vermeintli- siert. Hier habe ich meine Frau kennengelernt, chen Missstand anprangert. Wir Schwaben werfen hier wachsen unsere Kinder mit dem Selbstver- gerne den Blick auf den Teil einer Sache, der nicht ständnis auf, Teil dieser Stadt zu sein. Sie werden funktioniert und der einer Optimierung bedarf. ihre Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft noch Mein Opa war auch hierfür ein gutes Beispiel: weniger infrage stellen, als es meine Frau und ich Er hatte stets im Blick, was schieflaufen konnte (Migrationshintergrund, weisch?) vielleicht noch und wollte dafür sorgen, jegliche Gefahr des Kon- mussten. Ich denke, wir sind hier in der Kessel- trollverlusts zu minimieren. Das reichte vom Klei- stadt auf einem guten Weg, wenn wir uns weiter- nen bis ins Große: vom randvollen Spezi-Glas, das hin durch Stimmungsmacher und Spalter nicht zu nah am Tischrand stand und bei jeder unkont- aus der Ruhe bringen lassen. rollierten Fuchtelei des Enkels auf dem Boden zu Das weltoffene, das warmherzige Stuttgart, das landen drohte, bis hin zu weitreichenden Entschei- in den richtigen Momenten liebenswert provinzi- dungen für die Absicherung der Familie. Ich habe ell anmutet, das ab und an stur bleibt und dann das nie als störend empfunden, im Gegenteil, eher konservativ ist, wenn es Dinge zu bewahren gilt, als Rückhalt. Man wusste immer, da ist jemand in die all seinen Bürgerinnen und Bürgern nutzen, der Familie, auf den Verlass ist, der die Dinge bes- das Traditionen pflegt, aber stets den Blick auf die ser macht, wenn sie mal nicht laufen. Daher ist Welt und nach vorne wagt: Das ist mein Stuttgart. das Stuttgarter Schimpfen auch kein klassisches Schimpfen, sondern eher ein „Bruddeln“, wie man KODIMEY AWOKOU hier gerne sagt, quasi ein upgedatetes Schimpfen. ist studierter Germanist und Anglist, Produzent und Doch leider liegt die Stuttgarter Mecker-Kultur Geschäftsführer von Chimperator Productions. nicht nur in dem genannten Optimierungsgedan- kody@chimperator.de 07
APuZ 5–6/2021 ESSAY ZUR CHILLEREICHE Kleiner Versuch über Stuttgart Anna Katharina Hahn Bielefeld wurde schon unterstellt, einfach nicht Sehnsucht nach dem Vergangenen bewahrt die zu existieren. Auch Hannover hat es nicht leicht. Erinnerung an gewesene Schönheit für alle, die Aber Stuttgart? Ist nicht mal einen lauen Witz ihn lesend begleiten. wert. Stattdessen lassen sich mühelos Hasszitate Ich habe aufgehört, mich für Stuttgart zu recht- sammeln, wann immer Stuttgart es in die über- fertigen. Für das Erscheinungsbild meiner Stadt, regionalen Schlagzeilen schafft. Auch bei Be- ihren Reichtum, den Dialekt, die Lebensart ih- liebtheitsumfragen in ganz Deutschland zählt die rer Einwohnerinnen und Einwohner. Von den Be- Landeshauptstadt nie zu den Gewinnerinnen. schimpfungen habe ich die Nase voll, aber auch von Stuttgart-Bashing scheint unzerstörbar in der meinem eigenen, fast demütigen Dagegenhalten. DNA aller Nicht-Schwaben verhäkelt zu sein. Lieber mache ich den Versuch, diesen Ort zu Der „Porno-Hippie-Schwabe“, das Berliner Ge- ergründen, subjektiv und selbstverständlich fast spenst der Nullerjahre, hat sich tief ins deutsche ohne Fußnoten. Mein Verhältnis zu Stuttgart ist Gedächtnis eingefräst, ebenso die Abkürzung enger, als es sich für einen Geburts- oder Wohn- „TSH“ – totaler Schwabenhass. Jan Böhmermann ort gehört. Die Stadt ist meine Bühne, der Schau- findet Stuttgart „so schön wie zwei ineinander ver- platz meiner Romane, meine ewige Baustelle und keilte Porsche Cayenne“, und Alan Posener ora- mein Arbeitsplatz. Dabei kommt sie mir so leben- kelt in der „Zeit“ allen Ernstes, die Stadt sei „eine dig vor wie eine Person, ein altes Mädchen, rup- Verkörperung der existenziellen Tristesse“, und in pig und struppig, schön und liebenswert, verranzt ihrer Luft sei „etwas Verkrampftes, Unfrohes“.01 und wild, bodenständig und verrückt. Manchmal Ich diskutiere nicht mehr über Stuttgart. Jahr- hasse ich sie regelrecht, bin froh, wenn ich ihr zehntelang habe ich versucht, auf seine Vorzüge entkommen, in den Zug steigen kann, plane den hinzuweisen. Stuttgart lässt sich nur begreifen, Umzug in eine richtige Metropole – und bin doch wenn der zweite Blick eine Chance bekommt. unendlich erleichtert, wenn ich den Fernsehturm Schriftsteller wie Hermann Lenz und Wilhelm wiedersehe, den Hügelkranz der Weinberge, den Genazino haben eine geheime Schule der lie- Stern überm Hauptbahnhof. bevollen Betrachtung ihrer durch den Zweiten Weltkrieg unansehnlich gewordenen Städte gebil- SOUND UND STOLZ det. Der eine beschrieb damit Stuttgart vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre, der Häberle und Pfleiderer stehen ganz in der Nähe andere streifte durch Mannheim und das Frank- der Stuttgarter Börse, am Fuß des Friedrichsbaus. furt der alten Bundesrepublik. Spärlicher Januarschnee weißelt ihre Hüte. Dem Jede Neu-Stuttgarterin, jeder Neu-Stuttgarter Häberle hängt ein Regenschirm über dem Arm, sollte im Bürgerbüro einen Roman aus dem Eu- Pfleiderer umklammert eine Flasche Wein, ver- gen-Rapp-Zyklus von Hermann Lenz als Will- mutlich Trollinger. Zu ihren Füßen wartet der kommensgeschenk erhalten. Wenn dieser zy- Spitz Napoleonle, eine aus der Mode gekommene nisch-sanfte Antiheld an Nachkriegsruinen oder Hunderasse. Niemand beachtet die beiden Bron- den Hässlichkeiten des Wiederaufbaus vorbei- zemänner auf ihrem Sockel. Kaum ein Passant zockelt, murmelt er oft: „Eigentlich scheißlich.“ unter 50 kann mit ihrem halb gejodelten, halb ge- Sein nostalgisches Gejammer um jedes Straßen- jammerten Erkennungsruf „So so! – Ja ja!“ noch schild in Fraktur, jede schmiedeeiserne Zaun- etwas anfangen. Pfleiderer, ein knitzer, also bau- verzierung kann gelegentlich nerven, aber seine ernschlauer, grober und immer leicht am Prolo 08
Stuttgart APuZ entlangschrammender Typus, wurde vom Schau- Stutengarten. Mehr ist nicht verbürgt. Manch- spieler Willi Reichert verkörpert. Den eher poe- mal denke ich, gerade aus dieser Leere entsteht tisch veranlagten Träumer Häberle gab der ehe- ein besonderer Erfindungsreichtum. Berühmte- malige Buchhändler Oscar Heiler. re und schönere Städte verschwinden zuweilen Auf Youtube sind einige Sketche des Komiker- fast unter einem Firnis aus Filmen, Erzählungen, duos wie schwarzweiße Erinnerungen zu sehen. Mythen. In Stuttgart musste man zu anderen Mit- Die Harmlosigkeit ihrer Späßle offenbart sich so- teln greifen: Johann Gottlieb Munder, ein findiger fort. Nur selten und versteckt wird Politisches ge- Buchdrucker und Redakteur der kleinformati- boten, dafür menschelt es allenthalben. Der starke gen Tageszeitung „Die Stuttgarter Stadt-Glocke“ schwäbische Dialekt tut ein Übriges. Sie wirken dachte sich jede Menge „uralter“ Sagen aus und fremd, fast exotisch, besonders auf Norddeutsche. füllte damit sein Blättchen. Diese unterhaltsamen „Furchtlos und treu“ lautet der Wahlspruch und identitätsstiftenden Geschichten wurden so des erst 1817 von Napoleons Gnaden gegründeten oft nachgedruckt – selbstverständlich ohne den Königreichs Württemberg. Auch der VfB Stutt- Verfasser zu nennen –, dass die Landeshauptstadt gart schreibt sich diesen Spruch seit 2014 auf die heute „Das große Stuttgarter Sagenbuch“ ihr Ei- Fahnen. Treu sind die Stuttgarter, denn es gehört gen nennen kann, in dem es von Geistern, verbor- schon etwas dazu, zwei erfundene Kerle in Bron- genen Schätzen und Erdleutle nur so wimmelt.02 ze zu gießen. Von 1933 bis in die späten Siebziger Passend zum stolzen Wappen-Gaul führen waren Häberle und Pfleiderer nicht nur auf der verschiedene Konditoreien „Roßbolla“, also Pfer- Theaterbühne, sondern auch in Radio und Fern- deäpfel, eine beliebte Pralinenspezialität. An wei- sehen präsent, als beliebte Werbeträger und bun- teren Devotionalien besteht Bedarf. Daher hat desweite Vertreter der „typischen Schwaben“. sich hinter den Sandsteinsäulen des Königsbaus 2021 taugen die beiden Herren sicher nicht am Schlossplatz das „Kaufhaus Mitte“ angesiedelt. mehr als Botschafter Stuttgarts. Eher schon der Es versorgt seine Kundschaft nicht nur mit bunten Comedian Özcan Cosar. Wahrscheinlich ver- Socken, Marmelade in Tuben und lokalem Gin, körpern Häberle und Pfleiderer sogar etwas, das sondern auch mit Insignien, die zeigen, dass ein der Stadt mehr geschadet als genutzt hat, selbst Bekenntnis zu „Stuggi“ nicht peinlich, sondern wenn es lustig ist: das Behäbige, Altmodische und der Ausdruck großstädtischen Lebensgefühls ist, Selbstgenügsame, das Stuttgart anhaftet wie Pech dem alten „I love NY“-Sticker durchaus ebenbür- und Schwefel. tig. Als ich dort neulich einige Hipster in „Benz- Doch wenn ich den Versuch unternehme, town rockt so“-Hoodies bewunderte, dachte ich: meine Heimatstadt zu erklären, gehören die bei- „Gar nicht übel, dieses Selbstbewusstsein“, bis den dazu, ein vergangener Teil des Ganzen, der mein Blick auf ein Buch mit dem Titel „55 Grün- manchmal wieder an die Oberfläche treibt. Be- de, Stuttgart trotzdem zu lieben“ fiel.03 Ganz so sonders, wenn die Leute reden, auch die ganz leicht fällt er also doch nicht, der neue Stolz. jungen. Denn sie reden immer noch vom „Ve- schper“, wenn sie ihr Pausenbrot meinen, wis- HÄSSLICH UND PRAKTISCH sen, dass ein „Ranzen“ keine Schultasche ist, son- dern ein Schmerbauch und kreuzen die Arme Heute hat Stuttgart nichts mehr davon, in Vor- über der Brust, wenn man ihnen sagt, sie sollen kriegsreiseführern als eine der schönsten deut- „Brezelärmle“ machen. Der Sound ist geblieben, schen Städte gepriesen zu werden. Besonders der auch wenn die Wurzeln vieler Stuttgarterinnen alte Marktplatz muss eine Augenweide gewesen und Stuttgarter mittlerweile in 190 verschiedenen sein. München, die andere Großstadt Süddeutsch- Ländern liegen. lands, liegt nicht weit entfernt; dem Charme der Vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass bayerischen Prinzessin kann das Schwabenmädle die Stadt mit dem schwarzen Rössle im Wap- wenig entgegensetzen. pen keine eigene Gründungssage hat. Ein schnö- der Pferdehof hat ihr den Namen geschenkt, ein 02 Ulrich Gohl (Hrsg.), Das große Stuttgarter Sagenbuch, Stuttgart 2012. 01 Erklärungen jenseits von Alkohol und Testosteron, 03 Heiko Volz, 55 Gründe, Stuttgart trotzdem zu lieben. 22. 6. 2020, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/ Denkwürdige Geschichten aus dem Leben eines Eingeborenen, stuttgart-ausschreitungen-wutbuerger-party-gewalt-polizei-elend. Stuttgart 2020. 09
APuZ 5–6/2021 „Quadratisch, praktisch, gut“ – so lautet der Stuttgart“, eine Bürgerinitiative, die unter ande- Werbeslogan der bekannten Schokolade, die im rem die Überdachung der verkehrsreichen Kon- nahen Waldenbuch hergestellt wird. Er stammt aus rad-Adenauer-Straße fordert, damit die an ihren dem Jahr 1970 und passt trotzdem hervorragend Seiten gelagerten Theater, Museen, Bibliotheken zur Mentalität, mit der die Nachkriegsgeneration und Parks nicht mehr von der Fahrbahn getrennt an den Wiederaufbau ihrer Städte heranging. Als werden. Für mich gehört die vielfältige Szene der wichtiges Industriezentrum und Verkehrsknoten- Stuttgarter Writer gleichwertig zu diesen eher punkt war Stuttgart zu 68 Prozent zerstört wor- bürgerlichen Versuchen, das eigene Lebensum- den. Beim Wiederaufbau ging es rabiat zu, nach feld zu verändern. Mit großflächigen Graffiti und dem Leitbild einer Autostadt, in der man moto- zahllosen Tags, mit Stickern an jedem Laternen- risiert möglichst schnell von A nach B gelangen mast schreiben sich Leute in das oft graue Gesicht konnte. Plätze und ganze Viertel werden heute ein, das sie umgibt, hinterlassen ihre Botschaften von mehrspurigen Straßen durchtrennt. Abriss- und Bilder. bürgermeister Arnulf Klett opferte ohne Not die Hohe Karlsschule und den Kronprinzenbau, die LÄNDLICH UND GECHILLT die Bomben überstanden hatten. Fast überall, wo neu gebaut wird, sprießen entsetzliche Kreationen Nüchtern wie Leitungswasser wirkt die Eintei- hervor, als lebte im Mutterboden dieser Stadt, de- lung des Stadtkerns in fünf Viertel: Mitte, Süd, ren Architektur-Ausbildung durchaus Renommée West, Nord und Ost. Über den Kessel hinaus hat genießt, ein Pilzmyzel, das uns unermüdlich mit sich Stuttgart ausgedehnt, indem es im Umland frischen Scheußlichkeiten versorgt. Dorf um Dorf verschluckte und heute 23 Bezir- Das Europaviertel hinter der riesigen Bahn- ke umfasst. Die Namen der ehemaligen Weingärt- hofsbaustelle mit seinen nach Fernweh klingen- ner- und Bauernflecken, die inzwischen allesamt den Straßennamen zeigt sich als Mangelgebiet ein großes S vor ihrem Ortsnamen stehen haben, schöpferischer Fantasie, geradezu menschen- bringen nicht nur klanglich Abwechslung: Bot feindlich. Wirkliche Lebensorte sucht man hier nang, Rohracker, Möhringen, Obertürkheim. Sie vergebens. Hässlich und funktional nach dem sorgen auch für einen Hauch von Landlust in- Motto: „Hauptsache, es tut“ siegt in Stuttgart lei- mitten der Großstadt. Der augenfälligste Wein- der fast immer über alles, das schön, prächtig oder berg liegt gleich hinter dem Hauptbahnhof. Hier wenigstens gemütlich-verranzt sein könnte. Ob keltert die Stadt ihre eigenen Roten und Weißen, der neue Hauptbahnhof und die Bebauung der gelesen von ehrenamtlichen Helfern. Viele Häu- freiwerdenden Gleisflächen sich in diese ungute ser, besonders in den Vororten, besitzen noch die Tradition einreihen werden, bleibt abzuwarten. riesigen hölzernen Torflügel vor ihren Kellern, Kaum ein Ort, wo sie nicht flattern: an Fas- aus denen die Fässer gerollt wurden. In den Gär- saden und Mauern, Müllcontainern und Bus- ten dahinter gedeihen nicht nur Thujahecken und häuschen – zwei ausgebreitete Engelsflügel. Mit Bambus, sondern auch Quitten und Rhabarber, ihrer pummeligen Form und den lockigen Rän- und zwischen Zwiebeln, Lauch und Salat leuchtet dern könnten sie auch eine Kumuluswolke dar- die Vielfalt der Blumenstauden. Nicht von unge- stellen. Stuttgarts unspektakuläre freie Flächen fähr gibt es in Stuttgart zahlreiche Wochenmärkte. werden durch diese anonyme Schöpfung sicht- Doch Anbau und Verkauf findet auch auf barer, auch wenn viele sich über sie ärgern. Die andere Weise statt: Selbst an furchteinflößen- Flügelwolke ist momentan wohl das bekanntes- den Durchfahrtsstraßen kann man noch auf so- te illegale Graffito der Landeshauptstadt. Gleich- genannte Hauslädle stoßen. Eine alte Obstkiste, zeitig zeigt die Sprayer-Szene in der leeren Bahn- ein Küchenstuhl werden gefällig mit einem sau- hofshalle auf Hunderten von Quadratmetern ihr beren Geschirrtuch bedeckt, darauf präsentie- Können – ganz im Rahmen des Gesetzes und un- ren sich ein paar Schalen Zwetschgen, Walnüsse, ter der Schirmherrschaft des Kunstmuseums und Weintrauben, im Sommer Kirschen oder was- seiner Direktorin Ulrike Groos. sergefüllte Marmeladengläser mit einfachen Blu- Viele Stuttgarter leiden unter den zahlreichen mensträußen, Cosmea, Zinnie, Aster und Ringel- Gruselecken ihrer Heimat, versuchen immer wie- blume. Ein handgeschriebenes Schild verrät die der, die unwirtlichen Teile der Stadt zu gestalten. stets niedrigen Preise, in die Dosen daneben legt Zu solchen Bemühungen gehört der „Aufbruch die ehrliche Kundschaft ihr Kleingeld, passend 10
Stuttgart APuZ abgezählt. Die Inhaber bekommt man nie zu Ge- Aussichtspunkte abklappern, überall andere Leu- sicht. Im Herbst kaufte ich in Obertürkheim, nur te treffen. Von der Sünderstaffel zur Eugenstaffel, eine S-Bahnstation hinter den Daimlerwerken, zur Karlshöhe, weiter auf die Oscar-Heiler- und ein paar hellgrün und violett gestreifte, pflückfri- dann zur Willi-Reichert-Staffel, denn jeder Ko- sche Feigen, das Stück zu 50 Cent, wobei ich das miker hat seine eigene. Am Ende reicht die Puste Geld in den Briefkasten am Haus zu werfen hatte. vielleicht noch für den Aufstieg an den Waldrand, „Wenn man durch Stuttgart streift (…) riecht’s zur Schillereiche, in deren Nähe Friedrich Schil- immer nach angeschwitzten Zwiebeln“, stellt der ler angeblich seinen Freunden „Die Räuber“ vor- Stuttgarter Künstler und Koch Mario Ohno im gelesen hat. Zwar ist dies historisch falsch, aber Dokumentarfilm „Stuttgart, ich hänge an dir“ die Vorstellung bleibt schön. Noch besser gefällt fest.04 Natürlich riecht es im Kessel auch nach Dö- mir die aktualisierte Beschriftung des Straßen- ner, nach Hopfen und Malz aus den Brauereien, schilds. Dem Schiller ist sein S abhandengekom- nach Pizza, Gyros, Benzin, Kastanienblüten, dem men, sodass man nun unter der Chillereiche ab- Schwefel der Mineralquellen, Stadionwurst, nach hängen kann. Volksfest-Zuckerwatte und verbrannten Gummi- reifen. Wenn ich im Herbst die Steilhänge hinter HOFFNUNGSVOLLE ZUKUNFT Hedelfingen hinauflaufe, steigt es scharf und ver- ODER NECKAR-DETROIT? goren aus den Tresterhaufen auf, diesen braunvi- oletten, von Fruchtfliegen umsummten Bergen Natürlich denke ich manchmal über Stuttgarts gekelterter Trauben, die an den Wegrändern der Zukunft nach. Weniger Autos täten gut. Allein Weinberge liegen. Sobald es ein bisschen wärmer die Vorstellung, einen Teil der Parkplätze als wird, hängen Marihuanawolken über der Stadt. Grünflächen zu nutzen. Frischluft für eine Stadt „Stadtkind“, ein Stuttgarter Online-Maga- im Klimawandel. Aber ein Leben im Kessel ohne zin, stellt unter der Rubrik „10 Fehler, die man die uns alle fütternde Schlüsselindustrie? In mei- in Stuttgart vermeiden sollte“ Tipps für Neulinge nem letzten Roman „Aus und davon“ schauen die vor. Gleich an zweiter Stelle mahnt die Autorin: Teenagerin Stella und ihre Clique eine selbstver- „Feiern gehen wollen – und über Eintrittspreise ständlich fiktive Serie namens „Chinese Beams“. diskutieren. Ja, es kostet Eintritt. Just accept it.“ Darin hat sich Stuttgart samt Umgebung in eine Billig ist hier nichts. Mieten und Baugrund ge- Agrarregion verwandelt, die wohlhabende älte- hören zu den teuersten bundesweit, im Alltags- re Chinesen als Erholungsort besuchen. Ehema- leben sieht es auch nicht besser aus. Stuttgart ist lige Daimler-Ingenieurinnen versuchen, sich und eine junge Stadt. Gern wird vergessen, dass das ihre Familien mit Oldtimer-Fahrten, der Zucht Durchschnittsalter ihrer Einwohnerschaft bei von Hausgrillen und schwäbisch-asiatischen Re- 42 Jahren liegt. Jugendliche haben selten genug staurants über Wasser zu halten. In China wurde Geld für Restaurant- oder Barbesuche. Im Som- das Beamen erfunden, nach alter Star-Trek-Ma- mer gibt es die Stäffele, schwäbisch für Trepp- nier lässt sich jede Entfernung spielend überwin- chen. Durch viele Hänge ziehen sich diese lan- den. Autos, egal mit welchem Antrieb, sind damit gen, steilen Treppen, über 500 sollen es insgesamt endgültig passé. sein. Ursprünglich dienten sie den Winzern dazu, Längst ist der Strukturwandel in vollem Gan- ihre Weinberge zu erklimmen und zu bearbeiten. ge. Stuttgart spürt seine Auswirkungen bereits: Als sich Stuttgart um 1850 ausdehnte, baute man Arbeitsplätze, die Infrastruktur, die Sicherheit, die alten Weinbergstaffeln um, häufig zu pracht- gut aufgestellt zu sein – das alles fühlt sich wacke- vollen Treppenanlagen mit Zwischenwegen und lig an. Der legendäre schwäbische Erfindergeist Aussichtspunkten. Auf den Stäffele sitzt es sich muss dringend aus der Flasche kommen. Bequem ganz umsonst. Knutschen, reden, feiern, kif- darf man es sich im Kessel nicht machen. fen, chillen – umgeben von Häusern, Hinterhö- fen und Gärten. Viele lieben die Stadt gerade we- ANNA KATHARINA HAHN gen ihrer Überschaubarkeit, man kommt schnell ist Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie in überall hin, kann an einem Abend die schönsten Stuttgart. Zuletzt erschien 2020 im Suhrkamp Verlag ihr vierter Roman „Aus und davon“ , für den sie mit 04 Goggo Gensch, Stuttgart, ich hänge an Dir, Dokumentar- dem Preis der Stiftung Ravensburger ausgezeichnet film, 18. 6. 2020, SWR Fernsehen. wurde. 11
APuZ 5–6/2021 STUTTGART – EIN GANG DURCH DIE STADTGESCHICHTE Roland Müller Stuttgarts Geschichte ist in hohem Maße von ten Wirtschaftszweig. Zuvor schon ist eine Stadt- der Topografie sowie von der Doppelfunktion werdung unter dem Markgrafen Hermann von als Kommune und Residenz beziehungsweise Baden anzunehmen. Durch Heirat 1251 an die Hauptstadt geprägt, mithin von der Wechselbe- Grafen von Württemberg gelangt, geriet Stuttgart ziehung zwischen Stadt und Herrschaft einerseits in die nachstaufischen Territorialkonflikte und und Stadt und (Um-)Land andererseits. Beide 1312 für drei Jahre unter Verwaltung der benach- Aspekte sollen bei diesem Versuch eines knappen barten Reichsstadt Esslingen. Überblicks besonders gewichtet werden. Eine Zäsur bedeutete die Verlegung von Sitz Die je nach Perspektive reizvolle oder un- und Grablege der Württemberger nach Stutt- günstige Lage beförderte spekulative Aussagen gart um 1320; hierfür werden strategische Grün- über das „Wesen“ der Stadt und ihre Einwohner; de ins Feld geführt. Die Kirche des neuen Hei- sie wurde auch als politisches Argument instru- lig-Kreuz-Stiftes übernahm auch die Funktion mentalisiert, meist negativ als „Kessel“ assoziiert. einer Stadtpfarrkirche. Stuttgart profitierte von Eine moderne Stadtgeschichte ist ein Desiderat; der Stabilisierung des Territoriums. Jenseits der die Erforschung der Stadtgeschichte wird durch Stadtbefestigung entstand die Esslinger Vorstadt, massive Überlieferungsverluste erschwert. im 15. Jahrhundert wurden Stifts- und Leon- hardskirche erweitert, und die in der neuen, der ZENTRALORT – DEZENTRAL Oberen oder Turnierackervorstadt gebaute drit- te spätgotische Kirche überließ der Landesherr Zweifellos bildet die Entwicklung Stuttgarts ab- den Dominikanern für die einzige Klostergrün- seits vom Fluss und von großen Verkehrswegen dung in der Stadt. Stuttgart hatte jene Gestalt an- siedlungsgeografisch einen Sonderfall. Auf die genommen, die kaum verändert bis zum Ende des günstigere Lage Cannstatts ist wiederholt hin- Alten Reiches 1806 Bestand hatte. gewiesen worden. Über dem Neckar errichteten Eberhard im Bart, 1495 zum Herzog erho- dort am Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. die ben, vereinigte die seit 1442 geteilte Herrschaft im Römer ein Reiterkastell. In der Nähe entstand Münsinger Vertrag; dort war die Zentralfunkti- im Frühmittelalter mit einer Martinskirche ein on Stuttgarts verankert. Mit dem Jerusalempilger kirchliches Zentrum. und Universitätsgründer kam als Angehöriger In der Stadtmitte haben Ausgrabungen zwi- des Hofgerichts der Humanist Johannes Reuch- schen 1998 und 2005 Nachweise für einen ins lin, bekannt als Verteidiger jüdischer Schriften, 8. Jahrhundert reichenden Friedhof und eine nach Stuttgart. Eberhard aber verwies die Juden hochmittelalterliche Siedlung erbracht. Unbelegt, aus Stadt und Land. aber zumindest plausibel ist die Gründung eines Gestüts um die Mitte des 10. Jahrhunderts, das DIE STADT ALS RESIDENZ der Stadt Namen und Wappen verlieh. Frühester Namensbeleg ist eine auf Mitte Stuttgart reichte Anfang des 16. Jahrhunderts des 12. Jahrhunderts datierte Erwähnung eines mit rund 5000 Einwohnern nicht an die führende „Hugo von Stuokarten“ im Codex Hirsaugiensis südwestdeutsche Reichsstadt Ulm heran. Gericht um 1500. Bis zur ersten urkundlichen Erwähnung und Rat sind früh belegt, aber kaum greifbar. dauerte es bis 1229; die von Papst Gregor IX. dem Der herzogliche Vogt agierte in Doppelfunkti- Kloster Bebenhausen bestätigten Weinberge ver- on meist in herrschaftlichem Sinne. Daran soll- weisen auf den bis ins 18. Jahrhundert wichtigs- te sich bis 1806 nichts ändern. Die Tätigkeit der 12
Stuttgart APuZ Bürgermeister in der Funktion von Kämmerern krieg von Zerstörungen verschont. Die Bevölke- (im heutigen Sinne) dokumentieren die von 1508 rung litt dennoch unter Einquartierungen. bis 1746 erhaltenen Rechnungen; sie werden der- Bei der Verleihung des Bürgerrechts sowie zeit im Stadtarchiv mit Projektfördermitteln der der Zulassung von auswärtigen Händlern zu Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) digi- Märkten zeigten sich Interessenkonflikte zwi- talisiert und versprechen neue Erkenntnisse über schen dem Landesherrn und dem auf Abwehr die frühneuzeitliche Wirtschafts- und Sozial bedachten Magistrat. Der Wohlstand der Ober- geschichte. schicht gründete auf dem Weinhandel, während Die mit Hof- und Landesherren insbesonde- die Lohnweingärtner eine karge, von den Unbil- re ökonomisch eng verbundene Oberschicht hat- den der Witterung abhängige Existenz fristeten; te eine starke wirtschaftliche Stellung inne. Dies auch Handwerker in übersetzten Gewerben be- zeigte sich beim Aufstand des „Armen Konrad“ saßen kein sicheres Auskommen. 1514, als jene unter Führung von Stuttgart und Das 18. Jahrhundert eröffnete mit einem Pau- Tübingen dem Herzog gegen Übernahme der kenschlag. Herzog Eberhard Ludwig beschloss, Schulden das Recht zur Steuererhebung sowie sein „schwäbisches Versailles“ in Ludwigsburg die Mitbestimmung in wichtigen Angelegenhei- zu bauen, das er 1718 zur alleinigen Residenz er- ten durch einen Landtag in Stuttgart abzuringen hob. Die wirtschaftlichen Folgen für Stuttgart vermochte. waren gravierend. Der Nachfolger Karl Alexan- Nach einem kaiserlich-habsburgischen Inter- der ist im Stadtgedächtnis geblieben durch die mezzo eroberte Herzog Ulrich 1534 mit Hilfe Berufung des Bankiers Joseph Süß Oppenhei- des hessischen Landgrafen Philipp das Herzog- mer mit dem Auftrag, dem Herzog Einnahmen tum zurück und führte die Reformation ein. Sein zu verschaffen. Die widerstrebende bürgerliche, Nachfolger Christoph schuf unter anderem mit protestantische Machtelite (Ehrbarkeit) ließ Op- einer Landesordnung und der Großen Kirchen- penheimer nach dem Tod des Herzogs und einem ordnung die Grundlage des württembergischen Schauprozess hinrichten. Staatswesens der Frühen Neuzeit. Der Zug zur Herzog Carl Eugen wiederum hatte Stutt- inneren Ordnung erfasste auch die Residenz mit gart den dauerhaften Sitz von Hof und Regie- einer Kodifikation städtischer Rechte und Regeln rung zugesichert. Doch als sich die Landschaft sowie Verordnungen etwa zu Bau und Feuer seiner Ausgabenwirtschaft verweigerte, gar beim schutz. Reichshofrat Klage erhob, wählte auch er die Stuttgart erlebte damals eine fürstliche Pracht- Option Ludwigsburg. Nach der Bestätigung entfaltung. Das Schloss wurde im Stil der Renais- Stuttgarts als Residenz im sogenannten Erbver- sance umgestaltet. Im erweiterten Schlossgarten gleich 1770 widmete er sich auch der Stadtgestal- entstand das spektakuläre Lusthaus, bald darauf tung, hielt sich jedoch bevorzugt in der Sommer- als weiterer Prachtbau der sogenannte Neue Bau residenz Hohenheim sowie auf Schloss Solitude von Heinrich Schickhardt. Auf den „schwäbi- auf. schen Leonardo“ gehen auch die Anlage des Schil- Die dem Zeitgeist gemäße Repräsentation be- lerplatzes mit dem „Prinzenbau“ zurück, der mit scherte Stuttgart einen glänzenden Ruf an den ab- Altem Schloss, Kanzlei, Fruchtkasten und Stifts- solutistischen Höfen Europas. Die Stadt profi- kirche bis heute ein Ensemble bildet, sowie erste tierte vom herzoglichen Interesse an Kunst und stolze Bürgerhäuser. Gleichwohl waren die deso- Kultur. 1761 gründete Carl Eugen die Kunstaka- laten hygienischen Verhältnisse ein Dauerthema. demie, 1765 die öffentliche Herzogliche Biblio- Im Dreißigjährigen Krieg traf die Kriegsfurie thek. Eine Besonderheit war 1770 die sogenannte die Stadt nicht unmittelbar; die Besetzung durch Hohe Karlsschule, vom Kaiser 1781 zur Univer- kaiserliche Truppen nach der Schlacht von Nörd- sität erhoben, mit ihrer Kombination von militä- lingen 1634 brachte freilich drückende Lasten. rischer und aufgeklärter Bildungsanstalt. Lands- Vor allem aber raffte die Pest mehr als die Hälf- mannschaftliche und religiöse Toleranz sowie die te der Einwohner hinweg; Zuzug aus dem stark begeisterte Aufnahme der Ideen der Französi- zerstörten Umland minderte den absoluten Ver- schen Revolution durch die Karlsschüler provo- lust. Anders als große Teile des Südwestens blieb zierten die Schließung der Einrichtung durch den Stuttgart bei Vormärschen der Franzosen in den Geheimen Rat und die Landstände nach dem Tod 1670er Jahren und auch im Pfälzischen Erbfolge- des Gründers. 13
APuZ 5–6/2021 LANGER WEG ZUR GRO ẞ STADT 1848 gelangten die Liberalen nach der Revolu- tion in Paris rasch in die Regierung. Der Kopf 1806 wurde Stuttgart königliche Residenz und des „Märzministeriums“, Friedrich Römer, rang war doch eine bescheidene Stadt. Der Monarch dem König die Zustimmung zum Grundrechts- musste sich in Kriegszeiten auf die Fertigstellung katalog und zur Reichsverfassung vom März des Schlosses und dessen Umgebung beschrän- 1849 ab; so konnte Stuttgart zum Fluchtpunkt ken. In der Königstraße entstand mit St. Eber- der Nationalversammlung werden (wie 1920 hard die erste katholische Kirche. Auch Juden, beim Kapp-Putsch). Doch bald nach einer festli- vorwiegend aus ehemaligen Reichsritterschaf- chen Begrüßung durch die Stadt ließ Römer mit ten, waren nun württembergische Untertanen. Waffengewalt die Demokraten des „Rumpfpar- Privilegien für Bankiersfamilien wie die Familie laments“ stoppen, die eine Reichsregentschaft Kaulla, die mit der Abwicklung der königlichen wählten und ein Reichsheer aufstellen wollten. Geldgeschäfte betraut war, folgte erst 1828 eine Nach der Rückkehr aus dem Exil machten allgemeine Regelung, vier Jahre später die Grün- Karl Mayer, Ludwig Pfau und Julius Haußmann dung einer jüdischen Gemeinde. Stuttgart zum Zentrum des politischen Liberalis- Den Ausbau der Residenz begann recht ei- mus. Sie gründeten 1864 die Volkspartei; aus de- gentlich König Wilhelm I., der sich als Baumeis- ren Versammlung 1866 erwuchs die Tradition des ter gerierte. Staatsarchiv und Naturalienkabinett, Dreikönigstreffens. Staatsgalerie und Prinzessinnenpalais entstanden In der stark agrarisch geprägten Region ge- an der Neckarstraße, der heutigen „Kulturmei- noss nach der Hungerkatastrophe von 1816/17 le“. Die Öffnung nach Süden und Westen war die Verbesserung der Landwirtschaft Priorität. eine Weichenstellung: Die Parkanlagen bilden bis Sichtbares Zeichen war die Gründung einer Ver- heute die „grüne Lunge“ der Stadt. suchsanstalt in Hohenheim, der heutigen Univer- Selbstverwaltung und Partizipation blieben sität. 1829 wurde auch eine Kunst- und Gewerbe- begrenzt: Die Gemeinderäte wurden (bis 1849) schule, das Polytechnikum, eröffnet; es sollte die auf Lebenszeit gewählt, an der Spitze von Rat Keimzelle der Universität Stuttgart werden. und Verwaltung stand ein vom König (bis 1890) Waren schon merkantilistische Manufaktur- auf Lebenszeit ernannter Stadtschultheiß – trotz gründungen erfolglos geblieben, spielte Stuttgart des Ehrentitels „Oberbürgermeister“ unter Auf- als Produktionsstandort in der Frühindustriali- sicht eines staatlichen Stadtdirektors. Nach dem sierung keine Rolle. Hingegen entstanden ent- Hambacher Fest und der Aufdeckung einer Mi- lang des Neckars mit günstig verfügbarer Wasser- litärverschwörung 1833 drohte der König noch- kraft mechanische Produktionsstätten, so auch in mals mit dem Auszug nach Ludwigsburg. Cannstatt und im Weiler Berg, 1836 nach Stuttgart Die Aufstellung eines Schiller-Denkmals Ber- eingemeindet. Gerade für Württemberg und Stutt- tel Thorvaldsens 1839 durch den Stuttgarter Lie- gart brachte die Eisenbahn einen enormen Schub. derkranz geriet zur liberalen Manifestation. Der Die erste Bahn verkehrte 1845 bezeichnenderwei- berühmte dänische Bildhauer hatte früh Kontakt se von Cannstatt nach Esslingen; Stuttgart wurde zum Stuttgarter Klassizisten Johann Heinrich durch Tunnel ein Jahr später angeschlossen. Dannecker, der mit seinem Schwager Gottlob Leitsektor zu Beginn der Industrialisierung Heinrich Rapp einen Kreis von Kunstinteres- war die chemische Industrie. Die Fabrikanten sierten versammelte und auch die Kunstsamm- übernahmen – anders als der Mythos vom Tüft- lung Boisserée ausstellte. Dass man diese 1827 ler besagt – Innovationen aus dem Ausland und nach München ziehen ließ, mag Ursprung eines pflegten weitgespannte Handelsverbindungen. bis heute anhaltenden Neidkomplexes sein. Hin- An wichtigen Gründungen und Transaktionen in gegen entwickelte sich nach dem Zuzug des Ver- Stadt und Land war ein überschaubarer Kreis von legers Johann Friedrich Cotta 1810, der auch die Unternehmern und Bankiers beteiligt. Die meis- Grundlagen für die Verlags- und Buchhandels- ten waren bei den Bismarck-treuen Nationallibe- stadt legte, ein reges literarisches Leben auch in ralen aktiv und auch philanthropisch engagiert, Salons. zuvörderst Eduard Pfeiffer, Mitbegründer des Im Vormärz nahmen die politischen und so- Arbeiterbildungsvereins und des „Vereins für das zialen Spannungen zu, verschärft durch Missern- Wohl der arbeitenden Klassen“. Er wurde 1909 ten kam es im Mai 1847 zu einem Brotkrawall. erster jüdischer Ehrenbürger Stuttgarts. 14
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