AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Corona-Krise - Bundeszentrale für ...

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Corona-Krise - Bundeszentrale für ...
70. Jahrgang, 35–37/2020, 24. August 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
   Corona-Krise
     Hans-Jürgen Papier                       Aladin El-Mafaalani
 VERFASSUNGSRECHTLICHE                    „LASST DIE LEHRKRÄFTE
      PERSPEKTIVEN                         IN RUHE, ABER NICHT
                                              DIE SCHULEN“ –
      Nathalie Behnke
                                              EIN GESPRÄCH
  FÖDERALISMUS IN DER
    (CORONA-)KRISE?                                Frank Biess
                                             CORONA-ANGST
      Annelies G. Blom
                                           UND DIE GESCHICHTE
 ZUM GESELLSCHAFTLICHEN
                                           DER BUNDESREPUBLIK
    UMGANG MIT DER
   CORONA-PANDEMIE                                Philipp Ther
                                        DIE CORONA-PANDEMIE
       Evelyn Moser
                                       ALS HERAUSFORDERUNG
        RÜCKZUG
                                         FÜR DEMOKRATIE UND
    DES POLITISCHEN?
                                      EUROPÄISCHE INTEGRATION

                 ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                      FÜR POLITISCHE BILDUNG
             Beilage zur Wochenzeitung
Corona-Krise
                                      APuZ 35–37/2020
HANS-JÜRGEN PAPIER                                    ALADIN EL-MAFAALANI
VERFASSUNGSRECHTLICHE PERSPEKTIVEN                    „LASST DIE LEHRKRÄFTE IN RUHE,
Die Corona-Pandemie stellt den Staat vor die          ABER NICHT DIE SCHULEN“ – EIN GESPRÄCH
schwierige Aufgabe, einen angemessenen Aus-           Mitte März 2020 wurden deutschlandweit die
gleich zwischen Freiheit und Sicherheit herzu-        Schulen geschlossen. Präsenzunterricht soll
stellen. Dabei gilt, die für Grundrechtseingriffe     erst im Schuljahr 2020/2021 wieder zur Regel
erforderliche demokratische Legitimation zu           werden. Wer ist im Bildungsbereich von der
stärken und Rechtssicherheit zu gewährleisten.        Corona-Pandemie am stärksten betroffen, und
Seite 04–08                                           wie lässt sich Ungleichheiten entgegenwirken?
                                                      Seite 29–32
NATHALIE BEHNKE
FÖDERALISMUS IN DER (CORONA-)KRISE?                   FRANK BIESS
Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie in               CORONA-ANGST UND DIE GESCHICHTE
Deutschland Anfang 2020 ist auch der deutsche         DER BUNDESREPUBLIK
Föderalismus wieder einmal verstärkt in die           Die in Deutschland bislang relativ erfolgreiche
öffentliche Kritik geraten. Entgegen der land­        Bewältigung der Corona-Pandemie ist auch ein
läufigen Kritik hat sich dieser gerade in der Krise   Produkt historisch gewachsener Krisenkompe-
als effizient und leistungsfähig erwiesen.            tenz. Die Diskussion über langfristige Folgen
Seite 09–15                                           und den Status des Ereignisses in der globalen
                                                      Moderne hat indes erst begonnen.
                                                      Seite 33–39
ANNELIES G. BLOM
ZUM GESELLSCHAFTLICHEN UMGANG
MIT DER CORONA-PANDEMIE                               PHILIPP THER
Welche Konsequenzen hat die Corona-Krise              DIE CORONA-PANDEMIE ALS HERAUS­
für das Zusammenleben in Deutschland? Die             FORDERUNG FÜR DEMOKRATIE
Antworten auf diese Frage sind vielfältig, zeigen     UND EUROPÄISCHE INTEGRATION
aber, dass die Bevölkerung die implementierten        Im Umgang mit der Corona-Pandemie
Maßnahmen gerade am Beginn der Pandemie im            lassen sich mit China und den USA zwei Pole
Allgemeinen als sinnvoll einschätzte.                 ausmachen. Hat die EU trotz des Verfalls der
Seite 16–22                                           Demokratie in manchen ihrer Mitgliedsstaaten
                                                      eine Chance, als Sieger aus der Konkurrenz
                                                      zwischen zwei Großmächten hervorzugehen?
EVELYN MOSER                                          Seite 40–45
RÜCKZUG DES POLITISCHEN?
Die deutsche Krisenpolitik zeigt, dass eine
liberale Demokratie zu einer erfolgreichen
Pandemiebekämpfung fähig ist, dabei jedoch
über ihre eigenen Prinzipien stolpern kann. Dies
gilt es zu reflektieren, um für künftige, ähnlich
gelagerte Probleme gewappnet zu sein.
Seite 23–28
EDITORIAL
Knapp ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem ab Mitte März 2020 bei dem Ver-
such, die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus in Deutschland einzugren-
zen, das wirtschaftliche und öffentliche Leben für mehrere Wochen weitgehend
heruntergefahren und tief in Grundrechte eingegriffen wurde. So etwas wie
diesen – im Vergleich zu anderen Ländern mit rigiden Ausgangsbeschränkungen
milden – „Shutdown“ hatte es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie
zuvor gegeben. Mit Blick auf registrierte Infektionszahlen und Todesfälle, die
mit dem Virus in Verbindung gebracht werden, ist die Pandemie in Deutschland
bisher relativ glimpflich verlaufen.
   Der Staat stand und steht dabei vor der schwierigen Aufgabe, einen angemes-
senen Ausgleich zwischen der Freiheit und dem Schutz des Lebens seiner Bür-
gerinnen und Bürger herzustellen. Die Verhältnismäßigkeit und demokratische
Legitimation von Grundrechtsbeschränkungen sind auch unter pandemischen
Bedingungen von zentraler Bedeutung. Mit Blick auf die vielfach als „Flicken-
teppich“ kritisierte Regelungsvielfalt im Föderalismus steht hingegen die Frage
im Raum, ob dieser in der Corona-Krise als Ursache von Problemen gelten kann
oder nicht vielmehr hilft, sie zu überwinden.
   Ein Ende der Pandemie ist indes noch nicht absehbar. Bei Überlegungen, wie
mit ihren langfristigen Folgen umgegangen werden kann, gewinnen Fragen nach
der Problemlösungskompetenz von liberalen Demokratien, den Handlungs-
möglichkeiten der EU und der Gestaltung von (De-)Globalisierungsprozessen
an Relevanz. Viele der Aspekte, die auf nationaler und internationaler Ebene
in den vergangenen Monaten negativ hervorgetreten sind, sind nicht neu. Um
nicht nur für den weiteren Verlauf der Corona-Krise, sondern auch für künftige,
ähnlich gelagerte Probleme gewappnet zu sein, gilt es mehr denn je, den gesell-
schaftlichen Umgang mit diesen zu reflektieren.

                                                   Frederik Schetter

                                                                             03
APuZ 35–37/2020

 UMGANG MIT DER CORONA-PANDEMIE:
     VERFASSUNGSRECHTLICHE
          PERSPEKTIVEN
                                      Hans-Jürgen Papier

Ab Mitte März 2020 wurden in Deutschland auf-                  AUSGLEICH ZWISCHEN
grund der Corona-Pandemie flächendeckende                     FREIHEIT UND SICHERHEIT
Grundrechtsbeschränkungen eingeführt, die in
ihrem Ausmaß und in ihrer Tragweite für die-         Die Corona-Pandemie stellt den Staat und seine
se rechtsstaatliche Demokratie bislang einmalig      zuständigen Organe vor die schwierige Aufgabe,
sind. Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkun-          einen angemessenen Ausgleich zwischen Freiheit
gen betrafen die allgemeine Handlungsfreiheit        und Sicherheit herzustellen. Grundrechte sind in
und das Grundrecht der Bewegungsfreiheit. Das        erster Linie dazu bestimmt, die Freiheit des Ein-
Verbot, Gottesdienste abzuhalten, schränkte die      zelnen vor ungerechtfertigten und unverhältnis-
Religionsfreiheit ein, insbesondere die Freiheit     mäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu
der Religionsausübung. Inhaberinnen und Inha-        schützen: Sie sind Abwehr- oder Freiheitsrech-
bern von Unternehmen verschiedener Branchen          te der Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat.
war es durch Betriebsschließungen und -ein-          In dieser Funktionsausrichtung liegt ihr histo-
schränkungen mehr oder weniger nicht möglich,        rischer Entstehungsgrund. Die zweite Schutz-
ihre Berufsfreiheit auszuüben. Viele Selbständi-     funktion der Grundrechte besteht darin, dass
ge unterlagen oder unterliegen quasi einem zeit-     sie als objektive Verfassungsprinzipien staatliche
weiligen Berufsverbot. Dies gilt ebenso für viele    Schutzpflichten den Bürgerinnen und Bürgern
künstlerisch Tätige, sodass auch die Kunstfreiheit   gegenüber begründen und dadurch die prinzipi-
hier erörtert werden könnte. Durch die weitge-       elle Geltungskraft der Grundrechte in der Gesell-
hende Schließung der Universitäten war die For-      schaft verstärken.
schungs- und Lehrfreiheit eingeschränkt. Ange-           Wie die staatlichen Organe den grundrecht-
sichts der wirtschaftlichen Auswirkungen dieses      lichen Schutzpflichten nachkommen, ist grund-
weitgehenden Lockdowns stellen sich ferner Fra-      sätzlich von ihnen in eigener Verantwortung zu
gen der Eigentumsfreiheit.                           entscheiden. Das Grundgesetz (GG) verlangt
    Inzwischen sind viele dieser Beschränkungen      aber vom Gesetzgeber, von der Verwaltung und
wieder aufgehoben worden – angesichts immer          der Justiz eine permanente Rückbesinnung auf
noch bestehender Ungewissheiten und Unwäg-           die vom Staat zu verteidigenden Freiheitsrech-
barkeiten möglicherweise nur vorläufig. Zahlrei-     te und die Herstellung und Wahrung einer an-
che Freiheitsbeschränkungen sind aber nach wie       gemessenen Balance. Dabei haben sich die Väter
vor in Kraft und werden wohl auch noch eine          und Mütter des Grundgesetzes dagegen ent-
nicht überschaubare Zeit lang bestehen bleiben.      schieden, sämtliche verbürgte Grundrechte ab-
In Zeiten eines pandemischen Notstands von na-       wägbar oder gar „wegwägbar“ zu machen. Die
tionaler und internationaler Tragweite ist eine      Menschenwürdegarantie und der Menschen-
Besinnung auf grundlegende demokratische und         würdegehalt der speziellen Freiheitsrechte ge-
rechtsstaatliche Prinzipien von Verfassungs we-      hören zu diesem absolut geschützten Kernbe-
gen geboten. Es gibt verschiedene Aspekte von        stand. Anders als frühere deutsche Verfassungen
Grundrechtsbeschränkungen, und jede muss im          stellt das Grundgesetz die Grundrechte als ein-
Einzelnen überprüft werden, ob verfassungs-          klagbare Freiheitsrechte des Einzelnen gegen
rechtlich ein noch zulässiger, insbesondere ein      den Staat in den Mittelpunkt, sie sind nicht
noch verhältnismäßiger Eingriff vorliegt.            mehr als bloße Programmsätze, verfassungsly-

04
Corona-Krise APuZ

rische Verheißungen oder Staatszielbestimmun-                  Satz 2 GG) und die allgemeine Handlungsfrei-
gen zu verstehen. Das zeigt nicht nur die Stel-                heit (Art. 2 Abs. 1 GG) als auch für die Ver-
lung des Grundrechtekatalogs am Anfang der                     sammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 2 GG), die Frei-
Verfassung, sondern ganz deutlich auch Art. 1                  zügigkeit (Art. 11 Abs. 2 GG), die Berufsfreiheit
Abs. 3 GG, der die Grundrechte als unmittelbar                 (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG), die Unverletzlich-
geltendes Recht für alle staatlichen Gewalten,                 keit der Wohnung (Art. 13 GG) und die Eigen-
einschließlich der gesetzgebenden Gewalt, für                  tumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Soweit
verbindlich erklärt. Die staatlichen Eingriffe,                mit dem Verbot des Abhaltens von Gottes-
nicht aber die Geltendmachung der Freiheits-                   diensten die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1
rechte bedürfen der Rechtfertigung.                            und 2 GG eingeschränkt ist, fehlt zwar im Ver-
    Bei der Wahl der Mittel zur Erfüllung seiner               fassungstext ein ausdrücklicher Gesetzesvor-
grundrechtlich fundierten Schutzpflichten ist der              behalt. Aber auch diese vorbehaltlosen Grund-
Staat also auf die Mittel beschränkt, deren Einsatz            rechte, wozu auch die bereits erwähnte Kunst-,
mit den rechtsstaatlichen Gehalten der Verfas-                 Lehr- und Forschungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3
sung in Einklang stehen. Dabei gelten für ihn vor              GG gehört, unterliegen verfassungsimmanenten
allem zwei verfassungsrechtliche Grenzen: Einer-               Schranken, soweit es zum Schutz gleichwertiger
seits muss er nach dem „Untermaßverbot“ ein                    Verfassungsgüter, hier des Lebens und der kör-
gewisses Mindestmaß an Schutz gewähren. Die-                   perlichen Integrität der Bevölkerung, geboten ist
se Pflicht ist verletzt, wenn die öffentliche Ge-              und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit ge-
walt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt                     wahrt werden.
nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelun-                  Der Staat muss unter Hinzuziehung externen
gen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet sind,                    Sachverstands stets prüfen, welche Gefahrenab-
das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheb-              wehr- und Vorsorgemaßnahmen angemessen im
lich dahinter zurückbleiben.01 Andererseits folgt              Verhältnis zur aktuellen Gefahrenlage sind. Die-
aus der bereits angesprochenen Abwehrfunktion                  se Fragen der rechtlichen Abwägung sind zwin-
der Grundrechte ein „Übermaßverbot“, es dür-                   gend interdisziplinär zu beantworten und dürfen
fen also keine unverhältnismäßigen Grundrechts-                nicht ausschließlich Virologinnen, Medizinern,
eingriffe vorgenommen werden.                                  Epidemiologinnen und Naturwissenschaftlern
                                                               überlassen werden. Vor dem Hintergrund der in
             VERHÄLTNISMÄ ẞ IGKEIT                             wissenschaftlicher Hinsicht mitunter schwer zu
                DER EINGRIFFE                                  beantwortenden Fragen nach der Effektivität von
                                                               bestimmten Schutzmaßnahmen und dem Gefähr-
Im Rahmen seiner Schutzpflichterfüllung gegen                  dungsgrad der Bevölkerung durch das neuartige
die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus                    Corona-Virus ist den zuständigen Organen des
aufgrund des Grundrechts auf Leben und kör-                    Staates zwingend ein gewisser Einschätzungs- und
perliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG                  Beurteilungsspielraum zuzubilligen, dessen Ein-
hat der Staat daher stets die Verhältnismäßigkeit              haltung die Gerichte nur unter Vertretbarkeitsge-
der Eingriffe in die konfligierenden Grundrech-                sichtspunkten nachprüfen können. Die gesetzli-
te zu prüfen:02 Je größer die Gefahren für Leben               chen Befugnisnormen in § 28 Abs. 1 und § 32 des
und Gesundheit der Bevölkerung sind, desto                     Infektionsschutzgesetzes (IfSG) sind notgedrun-
umfassender und massiver dürfen die Freiheits-                 gen sehr weit gefasst: Es sind demnach die „not-
beschränkungen sein. In diesem Zusammenhang                    wendigen Schutzmaßnahmen“ zu treffen, „soweit
ist darauf hinzuweisen, dass die hier von den                  und solange es zur Verhinderung der Verbreitung
Schutzmaßnahmen vorrangig betroffenen Frei-                    übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“.
heitsrechte einen ausdrücklichen Vorbehalt ge-                     Immer noch besteht kein hinreichendes Maß
setzlicher Beschränkungen enthalten. Das gilt                  an Gewissheit über Inhalt und Umfang der Ge-
sowohl für die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2              fahren sowie über die Eignung und Erforder-
                                                               lichkeit der ergriffenen beziehungsweise alter-
                                                               nativer Maßnahmen. Weil wir darüber nicht
01 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfGE) 125, 39 (78 f.); BVerfGE 88, 203 (159 f.).
                                                               genügend wissen, kann niemand sagen, dass die
02 Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 10. 4. 2020 – 1 BvQ 28/20   angeordneten Ausgangs- und Kontaktbeschrän-
Rn. 14.                                                        kungen von vornherein unverhältnismäßig ge-

                                                                                                              05
APuZ 35–37/2020

wesen sind. Daher können auch keine generellen                ser Quadratmeterzahlbeschränkung von vornhe-
rechtlichen Bedenken gegen die im März erlas-                 rein ausgenommen. Das ist für Bürgerinnen und
senen Maßnahmen erhoben werden, obgleich sie                  Bürger und insbesondere für die Geschäftsleute,
zu schwerwiegenden Eingriffen in die erwähnten                die von der Schließung oder der nur partiellen
Grundrechte führten. Auch die gegen diese Maß-                Öffnung nachteilig betroffen sind, nicht einsich-
nahmen angerufenen Gerichte sehen sich – wie                  tig. Die in den Eilverfahren entscheidenden Ver-
die Politik und die Exekutive – mit diesen Un-                waltungsgerichte sehen das zu einem großen Teil
gewissheiten über Art und Ausmaß der Gefah-                   ebenso.04
ren sowie die Eignung und Erforderlichkeit der
eingesetzten Mittel konfrontiert. Angesichts die-                          PARLAMENTS­VORBEHALT
ser Lage kommen auch sie gar nicht umhin, den
zuständigen Organen der zweiten Gewalt einen                  Im Kontext der Grundrechtsbeschränkungen
erheblichen Einschätzungs- und Beurteilungs-                  durch die Corona-Schutzmaßnahmen drängt sich
spielraum sowie einen Ermessensspielraum bei                  ein weiteres Problem auf: Nach den grundgesetz-
der Auswahl der Einzelmaßnahmen einzuräu-                     lichen Strukturprinzipien von Demokratie und
men. Es konnte nicht erwartet werden, dass die                Rechtsstaat im Sinne des Art. 20 GG, die den ver-
Gerichte abweichend von den Beurteilungen und                 fassungsrechtlichen „Wesentlichkeitsgrundsatz“
Einschätzungen der Exekutive die Verantwor-                   insbesondere bei Grundrechtsbeschränkungen
tung dafür übernehmen, den Schutz von Leben                   enthalten, sind alle wesentlichen Entscheidun-
und Gesundheit einer unbestimmten Zahl von                    gen zur Grundrechtsausübung und -einschrän-
Menschen hintanzustellen.                                     kung durch das unmittelbar durch Wahlen vom
    Da es sich allerdings um besonders schwer-                Volk legitimierte Parlament zu treffen. Der Ge-
wiegende Grundrechtseingriffe handelt, die                    setzgeber ist in den Worten des Bundesverfas-
sich mit fortschreitender Zeit weiter intensivie-             sungsgerichts dazu verpflichtet, „in grundlegen-
ren können, wird das Anforderungsprofil an die                den normativen Bereichen, zumal im Bereich der
Rechtfertigung der Eingriffe mit zunehmender                  Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher
Dauer wachsen. Mit anderen Worten: Nicht die                  Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Ent-
Lockerungen der Corona-Beschränkungen be-                     scheidungen selbst zu treffen“.05
dürfen einer Rechtfertigung, sondern ihre Auf-                    Dies betrifft nicht allein die Frage, ob ein be-
rechterhaltung oder Wiedereinführung.                         stimmter Sachbereich überhaupt gesetzlich zu re-
    Es bestehen berechtigte Zweifel, ob die recht-            geln ist, sondern auch den Detaillierungsgrad ei-
fertigungsbedürftigen Beschränkungen – gera-                  ner parlamentsgesetzlichen Regelung, also die
de in den Zeiten einer Lockerung – vonseiten                  Frage, „wie weit diese Regelungen im Einzelnen
der Entscheidungsträgerinnen und -träger immer                zu gehen haben“.06 Das Parlament darf insbeson-
richtig und plausibel begründet werden können.                dere die Festlegung der sachlichen Voraussetzun-
Wenn beispielsweise zeitweilig bestimmt wurde,                gen für die Vornahme von Grundrechtseingriffen
dass Ladengeschäfte öffnen dürfen, es sei denn                und die Regelung der wesentlichen Eingriffsmo-
ihre Verkaufsfläche liegt über 800 Quadratme-                 dalitäten nicht durch allzu weit und unbestimmt
ter,03 dann konnte man sich fragen, ob dies un-               gefasste Eingriffsermächtigungen der Exeku-
ter infektionsschutzrechtlichen Gesichtspunkten               tive überlassen. Diese Anforderungen des Par-
gerechtfertigt ist. Es stellt sich nämlich die Frage,         lamentsvorbehalts decken sich mit dem rechts-
ob nicht auch großflächige Geschäfte für die Ein-             staatlichen Bestimmtheitsgebot. Dieses verlangt
haltung der Abstands- und Hygieneregeln sor-                  vom Gesetzgeber, der Regierung und Verwaltung
gen können – und dies vielleicht sogar besser als
kleinräumige Geschäfte, wo sich die Kunden sehr
viel mehr drängeln können. Zum anderen wurden                 04 Vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom
bestimmte großflächigere Geschäfte, etwa Mö-                  27. 4. 2020 – 20 NE 2.793; Verwaltungsgericht Hamburg,
belhäuser oder Garten- und Baumärkte, von die-                Beschluss vom 21. 4. 2020 – 3 E 1675/20.
                                                              05 BVerfGE 49, 89 (126). Vgl. auch BVerfGE 98, 218 (251);
                                                              BVerfGE 101, 1 (34).
03 Vgl. z. B. Daniel Pokraka, 800-qm-Regel sorgt für Kopf-    06 BVerfGE 101, 1 (34). Vgl. auch BVerfGE 34, 165 (192);
                                          ​
schütteln, 16. 4. 2020, www.tagesschau.de/i nland/​corona-​   BVerfGE 49, 89 (127 ff.); BVerfGE 57, 295 (327); BVerfGE 83,
massnahmen-​117.html.                                         130 (142).

06
Corona-Krise APuZ

„steuernde und begrenzende Handlungsmaßstä-                                         EIGENTUM
be“ vorzugeben.07 Dies ist Voraussetzung dafür,                                 UND BERUFSFREIHEIT
dass die Gerichte eine wirksame Rechtskontrolle
vornehmen können. Nur bei einer hinreichenden                    Von den ergriffenen Schutzmaßnahmen sind vie-
Bestimmtheit und Klarheit des Gesetzes können                    le Unternehmen, etwa Handels- und Dienstleis-
sich die Normunterworfenen auf sie zukommen-                     tungsbetriebe, die Gastronomie sowie Beherber-
de Belastungen rechtzeitig einstellen.08 Wie hoch                gungsunternehmen in besonderem Maße betroffen.
die Anforderungen an präzise gesetzliche Vor-                    Angesichts der empfindlichen, nicht selten exis-
gaben und an die Bestimmtheit gesetzlicher Re-                   tenzbedrohenden wirtschaftlichen Verluste die-
gelungen sind, richtet sich dabei danach, ob und                 ser Unternehmen ist zu fragen, ob in diesen Fällen
wie intensiv durch die gesetzlichen Regelungen in                nicht gesetzliche Entschädigungsregelungen von
Grundrechte Dritter eingegriffen wird oder ein-                  Verfassungs wegen geboten wären. Die Unter-
gegriffen werden kann.09                                         nehmensinhaberinnen und -inhaber sind in diesen
    Die Corona-Schutzmaßnahmen sind mitt-                        Fällen nicht betroffen, weil sie krankheits- oder
lerweile in allen Bundesländern durch Rechts-                    ansteckungsverdächtig sind, ihnen wird aufgrund
verordnungen geregelt worden, gestützt auf die                   der Betriebsschließungen gewissermaßen ein
§§ 28 und 32 IfSG.10 Die Eingriffsermächtigung                   „Sonderopfer“ zum Wohle der Allgemeinheit ab-
nach § 32 IfSG mag hinreichend rechtsstaatlich                   verlangt. Es geht hier nicht um klassische Enteig-
und demokratiestaatlich adäquat sein, soweit                     nungen, aber um Eingriffe in das Eigentum und in
es um zeitlich, regional und personell limitierte                die Berufsfreiheit, die man als „ausgleichspflichti-
Maßnahmen der Gefahrenabwehr und -vorsorge                       ge Sozialbindungen“ bezeichnen kann.11
geht. Ein sogenannter Shutdown nationalen Aus-                       Solche Eingriffe müssten an sich von Verfas-
maßes ist aber in diesem Gesetz weder angespro-                  sungs wegen durch gesetzliche Ausgleichs- bezie-
chen noch in grundsätzlicher Hinsicht geregelt.                  hungsweise Entschädigungsansprüche abgefedert
Eine derartige massive und nicht nur kurzzeitige                 werden. Zwar sieht das Infektionsschutzgesetz
Einschränkung des gesamten gesellschaftlichen                    durchaus Entschädigungsregelungen vor (§ 56
und individuellen Lebens sollte nicht auf eine                   IfSG), aber eben nur für Personen, die anste-
solche Generalklausel gestützt werden dürfen,                    ckungs- oder krankheitsverdächtig sind und des-
also dem weitgehenden Ermessen von 16 Lan-                       wegen Beschränkungen, etwa eine Quarantäne,
desregierungen und ihrer nachgeordneten Be-                      hinnehmen müssen.12 Diese gesetzlich vorgese-
hörden überantwortet sein. Für die freiheitli-                   henen Entschädigungsregelungen treffen aber
che Ordnung des gesamten Gemeinwesens nach                       für Unternehmerinnen und Unternehmer, die
Art, Ausmaß und Dauer wesentliche Einschnitte                    schwerwiegende wirtschaftliche Folgen tragen
müssen im förmlichen Verfahren der parlamen-                     müssen, nicht unmittelbar zu. Offenbar hat beim
tarischen Gesetzgebung bestimmt werden und                       Erlass des Infektionsschutzgesetzes im Jahr 2000
dürfen nicht anderen Normgebern überlassen                       niemand mit einer solchen Tragweite von Ge-
werden. Nur dann verfügen sie über die notwen-                   und Verboten gerechnet.
dige demokratische Legitimation, nur so sind                         Eine rechtsstaatliche Aufarbeitung des Ge-
auch Öffentlichkeit, Transparenz und Rechtssi-                   schehenen wird diesen Aspekt aufgreifen und
cherheit gewährleistet.                                          etwa das Gesetz entsprechend novellieren müs-
                                                                 sen. Das Problem ist in politischer Hinsicht zu-
                                                                 nächst dadurch etwas entschärft worden, weil
07 Vgl. BVerfGE 110, 33 (106); BVerfGE 128, 282 (317 f. m. w.    Bund und Länder mit haushaltsgesetzlich aus-
Nachw.).
                                                                 gewiesenen Finanzleistungen oder Kreditgewäh-
08 Vgl. BVerfGE 145, 20 (Rn. 125 m. w. Nachw.).
09 Vgl. BVerfGE 145, 20 (Rn. 125); BVerfGE 93, 213 (238);
                                                                 rungen reagiert haben. Aber von Verfassungs
BVerfGE 102, 254 (337); BVerfGE 131, 88 (123); BVerfGE 133,      wegen wird man feststellen müssen, dass der Ge-
277 (336 f., Rn. 140).
10 Zuvor waren die Maßnahmen in manchen Bundesländern
noch durch Allgemeinverfügung im Sinne von § 35 Satz 2 Ver-      11 Vgl. etwa Entscheidung zum Denkmalschutzrecht im Hinblick
waltungsverfahrensgesetz geregelt. Für zwei Einzelfälle wurden   auf Art. 14 GG: BVerfGE 100, 226 (245 f.).
sie in Bayern vom Verwaltungsgericht (VG) München deshalb als    12 Vgl. Landgericht Heilbronn, Urteil vom 29. 4. 2020 –
formell rechtswidrig erachtet, vgl. VG München, Beschlüsse vom   I 4 O 82/20; Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom
24. 3. 2020 – M 26 S 20.1252 und M 26 S 20.1255.                 23. 4. 2020 – 13 MN 96/20 Rn. 37.

                                                                                                                          07
APuZ 35–37/2020

setzgeber in der Pflicht steht, selbst Art und Aus-   Schutzmaßnahmen erreichen. Regionalen und
maß der Entschädigungen oder des sonstigen fi-        örtlichen Besonderheiten könnte durch gesetz-
nanziellen Ausgleichs zu regeln.                      liche Öffnungsklauseln zugunsten landesrechtli-
                                                      cher Regelungen Rechnung getragen werden, die
                    KRITIK AM                         für eine zielgenauere Präzisierung, Lockerung
                  FÖDERALISMUS                        oder Verschärfung der im Grundsatz bundesge-
                                                      setzlich geregelten pandemischen Notstandsord-
Der Föderalismus, der zum Identitätskern der          nung sorgen könnten.
verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesre-
publik gehört, wird in der politischen Öffent-                           AUSBLICK
lichkeit immer wieder als hemmend diskredi-
tiert. Der Vorwurf der „Kleinstaaterei“ und des       Die Grundprinzipien unseres Verfassungsstaa-
„Flickenteppichs“ ist immer wieder schnell zur        tes, nämlich Rechtsstaatlichkeit und Demokra-
Hand und wird auch im Kontext der Corona-             tie, verlangen, dass der Gesetzgeber sich besser
Maßnahmen vorgebracht. Die Bundesstaatlich-           auf epidemische und pandemische Notlagen nati-
keit Deutschlands ist aber ein wichtiger Faktor       onaler beziehungsweise internationaler Tragwei-
für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, ins-          te aufstellt. Das bisherige Instrumentarium des
besondere für die Gewaltenteilung und für das         Infektionsschutzgesetzes musste angesichts der
Selbstbestimmungsrecht des Volkes, das auf be-        akuten Gefährdungslage deshalb genutzt werden,
stimmten Feldern in kleineren politischen Ein-        weil es keine besseren rechtlichen Instrumentari-
heiten eher möglich ist als in größeren. Es mag       en gab. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob die
sein, dass das Infektionsschutzgesetz des Bun-        zuständigen staatlichen Instanzen es viel zu lan-
des an einigen Stellen ergänzungsbedürftig ist,       ge versäumt hatten, die notwendigen und geeig-
aber die generelle Zuständigkeit der Länder für       neten Maßnahmen zu treffen und nach solchen
den Vollzug dieses Bundesgesetzes sollte nicht        Versäumnissen mit den schärfsten Mitteln re-
infrage gestellt werden. Prinzipiell sind die Län-    agieren mussten. Zu erwähnen ist hier vor allem
der schneller in der Lage, den örtlichen oder re-     die lange Zeit versäumte Anordnung des Tragens
gionalen Gegebenheiten gebührend Rechnung zu          von Schutzmasken in der Öffentlichkeit, obwohl
tragen. Das Infektionsschutzgesetz geht von In-       eine solche die Grundrechte der Bürgerinnen und
fektionslagen aus, die in aller Regel regional spe-   Bürger am wenigsten beeinträchtigt. Der Gesetz-
zifisch oder lokal begrenzt verlaufen. Es macht       geber sollte daraus lernen und Rechtsstaatlichkeit
daher durchaus Sinn, dass die regionalen Behör-       und Demokratie auch in dieser Hinsicht krisen-
den – etwa Oberste oder Obere Landesbehörden          fest machen. Für den Verteidigungsfall, also wenn
oder die örtlichen Gesundheitsämter – auf diese       das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen
regionalen Herausforderungen angemessen re-           wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht,
agieren können. Die gegenwärtige Besonderheit         ist vor Jahrzehnten durch Etablierung einer soge-
ist aber, dass die Corona-​Pandemie Deutschland       nannten Notstandsverfassung im Grundgesetz in
insgesamt und die ganze Welt erfasst. Zwar gab        rechtlicher Hinsicht Vorsorge getroffen worden.
es bisher auch gewisse regionale Schwerpunk-          Für den epidemischen Notstand von nationalem
te, aber grundsätzlich war die Infektionslage auf     Ausmaß fehlt indes nach wie vor eine rechtlich
ihrem Höhepunkt relativ gleich verteilt. Gerade       hinreichende Vorsorge. Dieser Frage sollte man
wenn es um die Frage der Verhältnismäßigkeit          umgehend nachgehen und sie zukunftsorientiert
der Beschränkungen geht, ist es deshalb nicht         angemessen lösen.
sonderlich sinnvoll, dies von Land zu Land un-
terschiedlich zu beurteilen und zu entscheiden.
    Diesen Konflikt könnte man im konkre-
ten Fall auflösen, indem man den bundesweiten         HANS-JÜRGEN PAPIER
Parlamentsvorbehalt umsetzt. Auf diese Weise          ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht
könnte man einerseits die für derartig schwer-        an der Ludwig-Maximilians-Universität München
wiegende Grundrechtseingriffe erforderliche de-       und war von 2002 bis 2010 Präsident des Bundes­
mokratische Legitimation stärken und anderer-         verfassungsgerichts.
seits eine national einheitliche Grundstruktur der    hans-juergen@prof-papier.de

08
Corona-Krise APuZ

FÖDERALISMUS IN DER (CORONA-)KRISE?
                      Föderale Funktionen, Kompetenzen
                         und Entscheidungsprozesse
                                         Nathalie Behnke

Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie in               lismus.04 Andererseits gibt es gute Argumente
Deutschland Anfang 2020 ist auch der deutsche         dafür, dass Deutschland gerade wegen seiner fö-
Föderalismus wieder einmal verstärkt in die öf-       deralen Staatsorganisation besser durch die Krise
fentliche Kritik geraten. Besonders augenfällig       gekommen ist als andere Staaten. Die freiheitssi-
erschien die Hinderlichkeit der föderalen Staats-     chernden, demokratie- und effizienzsteigernden
organisation im Krisenalltag im Nebeneinander         Vorteile föderaler Koordinations- und Entschei-
von 16 Corona-Verordnungen der Länder. Vom            dungsprozesse werden in der öffentlichen wie in
„Flickenteppich“ war allenthalben die Rede, und       der wissenschaftlichen Diskussion gerne über-
in der Polit-Satire „Heute Show“ wurde fröhlich       sehen. In diesem Beitrag werden daher die the-
das deutsche „Föderallala“ beschworen.01 Durf-        oretisch abgeleiteten Annahmen über Vor- und
te man im baden-württembergischen Teil des All-       Nachteile einer föderalen Staatsorganisation em-
gäus auch zu Hochzeiten des Lockdowns legal           pirisch hinterfragt. Anschauungsbeispiel ist das
mit den eigenen Familienmitgliedern wandern           Infektionsschutzmanagement der deutschen Bun-
und picknicken, riskierte man, beim unsichtbaren      desländer in der Phase des Corona-Lockdowns
Grenzübertritt ins benachbarte Bayern, mit dem        im Frühjahr 2020.
gleichen Freizeitverhalten eine bußgeldpflichti-
ge Ordnungswidrigkeit zu begehen. Für Fern-                        FÖDERALISMUS
busse galten, als sie wieder fahren durften, in den               ALS STAATLICHES
Ländern jeweils unterschiedliche Hygieneregeln,                 ORGANISATIONSPRINZIP
sodass gegebenenfalls Passagiere an der Länder-
grenze hätten ausgeladen werden müssen. Diese         Warum ist Deutschland eigentlich ein Föderal-
und andere Kuriositäten wurden von den Medi-          staat? Ist die föderale Ordnung noch zeitgemäß
en dankbar aufgegriffen und vielfältig bei der Fra-   oder könnte man sie nicht abschaffen? Das sind
ge nach der Krisentauglichkeit des Föderalismus       die Fragen, die implizit in der kritischen Dis-
thematisiert. Andererseits bescheinigte insbeson-     kussion über den deutschen Föderalismus mit-
dere die ausländische Presse Deutschland ein vor-     schwingen. Die Frage nach dem „Warum“ kann
bildliches Pandemie-Management,02 nachdem             man historisch, föderalismustheoretisch oder
relativ schnell die Zahl der täglichen Neuerkran-     auch ökonomisch beantworten.
kungen auf unter 1000 und die Reproduktions-              Historisch reicht die Tradition des Föderalis-
zahl, also die Anzahl der Menschen, an die eine       mus als Staatsorganisationsprinzip bis ins Mit-
mit dem neuartigen Corona-Virus infizierte Per-       telalter zurück und setzte sich über alle histori-
son dieses weitergibt, mit wenigen Ausnahmen          schen Brüche hinweg bis in die Bundesrepublik
auf unter 1.0 gesenkt werden konnten.03               fort.05 Der Föderalismus ist somit gewisserma-
    Tatsächlich zahlen wir im Alltag manchmal         ßen in die DNA der deutschen politischen Kul-
einen Preis der Unbequemlichkeit für unser fö-        tur eingewoben, was sich im Alltag vor allem in
derales System. Unübersichtlichkeit, uneinheitli-     den ausgeprägten Mustern föderaler Koordina-
che Lebensverhältnisse, Unvergleichbarkeit oder       tion und Verhandlung in nahezu allen Politik-
auch Ungerechtigkeit für Lebenschancen lau-           bereichen zeigt.06 Für wie grundlegend die fö-
ten die Vorwürfe der Kritikerinnen und Kritiker,      derale Staatsordnung für das Selbstverständnis
insbesondere mit Blick auf den Bildungsfödera-        der Bundesrepublik erachtet wurde, zeigt die

                                                                                                      09
APuZ 35–37/2020

sogenannte Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3                          eines coming together federalism,08 also durch
Grundgesetz, die die Gliederung des Bundes in                          den freiwilligen Zusammenschluss von Terri-
Länder sowie die Mitwirkung der Länder bei der                         torien mit dem Ziel, Wirtschafts- und Vertei-
Gesetzgebung des Bundes umfasst. Selbst wenn                           digungsmacht zu bündeln, stand er als Staats-
der politische Wille hierzu bestünde, schützt das                      organisationsprinzip für Deutschland in den
Grundgesetz die föderale Ordnung davor, ab-                            „Verfassungsmomenten“ 1848, 1871, 1919 und
geschafft zu werden. Die historische Pfadab-                           1949 aktiv zur Disposition und benötigte weiter-
hängigkeit ist als Rechtfertigungsargument den-                        gehende Begründungen.09 Dominant war hierbei
noch nur begrenzt tauglich. Sie mag zwar eine                          das Motiv der Machtbegrenzung. Weder in der
Begründung liefern, warum es schwer und somit                          Mitte des 19. Jahrhunderts noch nach dem Ers-
unwahrscheinlich ist, von diesem Pfad abzuwei-                         ten Weltkrieg konnte sich die preußische Hege-
chen.07 Dass darüber hinaus der pfadabhängig                           monialmacht gegen die starken Fürsten im Sü-
bestimmte Zustand funktional oder normativ in                          den durchsetzen, obwohl sie von Reformern als
irgendeiner Hinsicht ausgezeichnet sei, ist da-                        Kristallisationspunkt für die Ausbildung und
durch hingegen nicht automatisch begründbar.                           Entwicklung eines deutschen Nationalstaates
Vielmehr belegt die Theorie der Lock-in-Effekte                        gesehen wurde.10 Auch 1949, als die Wiederauf-
mit ihrem bekanntesten Beispiel der nicht mehr                         nahme des Bundesstaatsprinzips in das Grund-
zeitgemäßen, jedoch in historischer Kontinui-                          gesetz von den Alliierten unterstützt wurde, galt
tät weiterhin standardisierten QWERTZ-Tasta-                           deren Augenmerk der Machtbegrenzung. Ob-
tur, dass pfadabhängige Entwicklungen auch in                          wohl diese historisch primär territorial verstan-
Sackgassen führen können.                                              den wurde – vor Großmachtansprüchen Preu-
    Das führt uns zum zweiten Argumentati-                             ßens gegenüber anderen deutschen Territorien
onsstrang: der normativen Theorie des Födera-                          oder eines nationalstaatlichen Deutschlands ge-
lismus. Entwickelte sich der deutsche Födera-                          genüber seinen Nachbarn, denen das Trauma
lismus über lange Jahrhunderte nach der Logik                          zweier von Deutschland begonnener Weltkrie-
                                                                       ge noch in den Knochen steckte –, schützt die
01 Vgl. ZDF, Heute-Show, 15. 5. 2020, www.zdf.de/comedy/               vertikale Gewaltenteilung auch die individuelle
heute-show/heute-show-vom-15-mai-2020-100.html.                        Freiheit. Dieser Aspekt wurde vor allem in der
02 Vgl. etwa Philip Oltermann, Germany’s Devolved Logic Is Hel-
                                                                       Verfassungsdiskussion der USA betont.11 Die
ping It Win the Coronavirus Race, 5. 4. 2020, w  ​ ww.theguardian.
com/​​world/​2020/​apr/​05/​germanys-​devolved-​logic-​is-​helping-​
                                                                       freiheitssichernde Wirkung föderaler Machtbe-
it-​win-​the-​coronavirus-​race; Guy Chazan, How Germany Got           grenzung dadurch, dass Regierungen nur wenige
Coronavirus Right, 4. 6. 2020, www.ft.com/​content/​cc1f650a-​         Entscheidungen autonom treffen können, dass
91c0-​4e1f-​b990-​ee8ceb5339ea.                                        immer ein Mitbestimmen Vieler das „Durchre-
03 Vgl. Robert Koch-Institut, COVID-19-Dashboard Germany,
                                                                       gieren“ verhindert, ist selbst in unseren fried-
3. 8. 2020, https://experience.arcgis.com/experience/4782
20a4c454480e823b17327b2bf1d4; dass., Nowcasting und
                                                                       lichen und stabilen demokratischen Zeiten ein
R-Schätzung: Schätzung der aktuellen Entwicklung der SARS-​            kaum zu überschätzender normativer Vorteil fö-
CoV-2-Epidemie in Deutschland, 3. 8. 2020, www.rki.de/DE/              deraler Staatsorganisation.
Content/InfAZ/​N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/                      Allerdings wird die Beteiligung Vieler an ei-
Nowcasting.html.
                                                                       ner Entscheidung – und somit ein Wesenskern
04 Vgl. Mathias Brodkorb/Katja Koch, Der Abiturbetrug. Vom
Scheitern des deutschen Bildungsföderalismus, Springe 2020.
                                                                       föderaler Organisation – in der rationalen Ent-
05 Vgl. Albert Funk, Kleine Geschichte des Föderalismus. Vom           scheidungstheorie in der Regel nicht primär als
Fürstenbund zur Bundesrepublik, Paderborn 2010; Arthur Benz,           freiheitssichernd gelobt, sondern eher als Effi-
Lehren aus entwicklungsgeschichtlichen und vergleichenden              zienzproblem kritisiert. Ganz allgemein zeigten
Analysen. Thesen zur aktuellen Föderalismusdiskussion, in:
                                                                       schon die Wirtschaftswissenschaftler James M.
Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 32/2001, S. 391–403;
Siegfried Weichlein, Föderalismus und Demokratie in der Bun-
                                                                       Buchanan und Gordon Tullock, dass mit stei-
desrepublik, Stuttgart 2018.
06 Vgl. Yvonne Hegele/Nathalie Behnke, Horizontal Coordi-              08 Vgl. Alfred Stepan, Federalism and Democracy: Beyond the
nation in Cooperative Federalism: The Purpose of Ministerial           U. S. Model, in: Journal of Democracy 4/1999, S. 19–34.
Conferences in Germany, in: Regional & Federal Studies 5/2017,         09 Zur Theorie der Verfassungsmomente vgl. Bruce Ackerman,
S. 529–548.                                                            We the People, Volume 1: Foundations, Cambridge MA 1991.
07 Vgl. Kathleen Thelen, Historical Institutionalism in Compa-         10 Vgl. Funk (Anm. 5), S. 155 ff.
rative Politics, in: Annual Review of Political Science 2/1999,        11 Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die
S. 369–404.                                                            Federalist Papers, Darmstadt 1993 [1787/88].

10
Corona-Krise APuZ

gender Zahl der Entscheidungsbeteiligten die                           langsame Entscheidung ist an sich kein Fehler,
Kosten einer Einigung bis fast ins Unermessli-                         sofern sie dadurch bedingt ist, dass ihr ein län-
che steigen können, weswegen in großen Grup-                           gerer Abwägungs- und Deliberationsprozess
pen eine Einstimmigkeitsregel kaum umsetzbar                           vorausgeht. Sowohl in der Entscheidungstheo-
ist.12 Ähnlich argumentierte der Politikwissen-                        rie, etwa im „Jury Theorem“ vom französischen
schaftler George Tsebelis in der „Vetospieler-                         Aufklärer Marquis de Condorcet,16 als auch in
theorie“: Je mehr Vetospieler vorhanden sei-                           der Institutionenordnung repräsentativer Demo-
en, desto geringer müsse die Veränderung vom                           kratien17 drückt sich die Annahme aus, dass mehr
Status quo ausfallen.13 Explizit auf den Födera-                       Entscheidungsbeteiligte, Diskussion und Berat-
lismus zugeschnitten ist die Theorie der „Poli-                        schlagung die Qualität und die gesellschaftli-
tikverflechtung“, die der Politikwissenschaftler                       che Akzeptanz einer Entscheidung verbessern.18
Fritz W. Scharpf formuliert hat.14 Auch er zeigt,                      Umgekehrt zeichnen sich Entscheidungen, die
dass verflochtene Politikentscheidungen in fö-                         von „starken Staatschefs“ im Alleingang getrof-
deralen Institutionen Ergebnisse hervorbringen,                        fen werden, selten durch umfassende Informati-
die nach langen Verhandlungsprozessen zu Lö-                           onen, ausgewogene Risikoabwägung, Weitsicht
sungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner                            und Zukunftsfähigkeit aus. Die populäre Anzie-
führen. Wenn politische Entscheidungsträgerin-                         hungskraft der neuen Autokraten beispielsweise
nen und -träger aber weder schnelle Maßnahmen                          liegt gerade darin, dass sie sich keiner Machtkon-
ergreifen noch weitreichende Reformen umset-                           trolle unterwerfen. Gegen diese Kontrastfolie ist
zen können, gilt das gemeinhin als Makel in der                        eine Entscheidung von Politikerinnen und Po-
Politik.                                                               litikern klar vorzuziehen, die sich erst intensiv
     Die Frage ist aber, ob beziehungsweise unter                      über das verfügbare Wissen zu Handlungsopti-
welchen Bedingungen verzögerte und schritt-                            onen und deren Konsequenzen informieren und
weise erfolgende Entscheidungen tatsächlich                            mit anderen Akteurinnen und Akteuren beraten,
von Nachteil sind. Klassische Organisationsthe-                        um sich dann gemeinsam auf die wahrscheinlich
orien ebenso wie neuere Theorien des Umgangs                           beste Entscheidung zu einigen. Insofern hat eine
mit Krisen oder mit Komplexität weisen durch-                          föderale Machtteilung nicht nur den Effekt der
gängig darauf hin, dass unter Bedingungen ho-                          Freiheitssicherung, sondern sie reduziert auch
her Unsicherheit über die Auswirkungen einer                           systematisch das Risiko für politische Fehlent-
Handlung dezentrale und schrittweise Entschei-                         scheidungen.
dungen zu bevorzugen sind.15 Auf diese Wei-                                 Aus ökonomischer Sicht schließlich wird ty-
se lässt sich verhindern, dass Fehlentscheidun-                        pischerweise argumentiert, dass eine föderale
gen zu katastrophalen Folgen führen. Auch eine                         Staatsorganisation vorteilhaft sei, da sie eine ef-

12 Vgl. James M. Buchanan/Gordon Tullock, The Calculus                 16 Vgl. Manfred J. Holler, Marquis de Condorcet and the Two-
of Consent. Logical Foundations of Constitutional Democracy,           Dimensional Jury Model, in: Alain Marciano/Giovanni Ramello
Ann Arbor 1962. Buchanan und Tullock verdeutlichen auch die            (Hrsg.), Law and Economics in Europe and the US, Basel 2016,
positive Funktion eines Vetos im Sinne des Minderheitenschut-          S. 155–169; Joachim Behnke, Condorcet und die „soziale Ma-
zes, sehen also durchaus abgewogen die Vorteile und Risiken            thematik“. Eine Einführung in Leben und Werk, in: ders./Carolin
verschiedener Entscheidungsregeln.                                     Stange/Reinhard Zintl (Hrsg.), Condorcet. Ausgewählte Schriften
13 Vgl. George Tsebelis, Veto Players and Institutional Analysis,      zu Wahlen und Abstimmungen, Tübingen 2011, S. 1–48, hier
in: Governance 4/2000, S. 441–474.                                     S. 23 ff.
14 Vgl. Fritz W. Scharpf/Bernd Reissert/Fritz Schnabel, Politik-       17 Vgl. Nadia Urbinati/Mark E. Warren, The Concept of
verflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalis-          Representation in Contemporary Democratic Theory, in: Annual
mus in der Bundesrepublik Deutschland, Kronberg 1976.                  Review of Political Science 1/2008, S. 387–412.
15 Vgl. Charles E. Lindblom, The Science of „Muddling                  18 Vgl. Robert E. Goodin/John S. Dryzek, Deliberative Impacts:
Through“, in: Public Administration Review 2/1959, S. 79–88;           the Macro-Political Uptake of Mini-Publics, in: Politics & Society
Karl E. Weick, Enacted Sensemaking in Crisis Situations, in:           2/2006, S. 219–244; Charles Taylor, Multiculturalism and
Journal of Management Studies 4/1988, S. 305–317; Helen Bri-           the Politics of Recognition: An Essay, Princeton 1992; Arend
assoulis, Policy Integration for Complex Policy Problems: What,        Lijphart, Consociational Democracy, in: World Politics 2/1969,
Why and How, Berlin 2004; Paul Cairney, Complexity Theory              S. 707–725; ders., Constitutional Design for Divided Societies,
in Political Science and Public Policy, in: Political Studies Review   in: Journal of Democracy 2/2004, S. 96–109; Thomas Hueglin,
3/2012, S. 346–358; Arjen Boin et al., The Politics of Crisis Ma-      Treaty Federalism as a Model of Policy Making: Comparing
nagement: Public Leadership under Pressure, Cambridge 2016,            Canada and the European Union, in: Canadian Public Adminis-
S. 49–77.                                                              tration 2/2013, S. 185–202.

                                                                                                                                      11
APuZ 35–37/2020

fiziente Verteilung knapper Ressourcen sicher-         Zeitpunktes, an dem bestimmte Regelungen einge-
stelle und damit für die Bürgerinnen und Bür-          führt, verändert oder zurückgenommen wurden,
ger auch materiell von Vorteil sei. Dezentrale         codiert.19
Einheiten können sich besser als zentrale an re-
gionale Notwendigkeiten, Rahmenbedingun-                                     These 1:
gen und Bedürfnisse anpassen. Auch können                              Der Föderalismus führt
sie kurzfristiger und flexibler auf sich ändern-                   zu langsamen Entscheidungen
de Bedarfe reagieren. Dezentraler Verwaltungs-         Nachdem mehrere Covid-19-Fälle Ende Februar
vollzug ist prinzipiell auch ohne eine politische      2020 festgestellt wurden, stiegen die Zahlen der
Dezentralisierung von Kompetenzen möglich.             täglichen Neuinfektionen innerhalb der ersten
Frankreich und Italien haben beispielsweise            zwei Märzwochen sprunghaft an – am 8. März
hochgradig dekonzentrierte Verwaltungskom-             wurde die 1000er-Marke übersprungen, nur
petenzen, die politische Entscheidungsmacht            zwei Tage später die 2000er-Marke und wiede-
bleibt aber vollständig (Frankreich) beziehungs-       rum zwei Tage später, am 12. März, die 3000er-
weise weitgehend (Italien) zentralisiert. Wäh-         Marke.20 Am 12. März fand ein Treffen der Re-
rend dort ein flexibler Verwaltungsvollzug vor         gierungschefinnen und -chefs der Länder mit
Ort ebenso möglich ist wie in Deutschland,             Bundeskanzlerin Angela Merkel statt. Dabei ei-
existiert nur in Deutschland eine unmittelbare         nigte man sich auf Versammlungsverbote und
demokratische Rückbindung der politischen In-          Schulschließungen. Bereits drei Tage später, am
stitutionen an den Wählerwillen.                       15. März, waren von Flensburg bis Garmisch-
                                                       Partenkirchen alle Schulen und Kitas geschlos-
        ARBEITENDER FÖDERALISMUS                       sen, für die Kinder berufstätiger Eltern in soge-
               IN DER KRISE                            nannten systemrelevanten Berufen wurde eine
                                                       Notbetreuung angeboten. In der Woche zuvor
Die föderale Machtteilung hat also erstens eine        hatten bereits 14 von 16 Ländern erste Versamm-
individuell freiheitssichernde Wirkung, indem sie      lungsverbote erlassen, die letzten beiden Länder
staatliche Gewalten in Konkurrenz zueinander           folgten am 17. März. Betretensverbote für alle
bringt; sie erhöht zweitens die sachliche Quali-       Arten von Betreuungs- und Pflegeheimen wur-
tät von Entscheidungen in komplexen Entschei-          den bis zum 15. März in acht Bundesländern
dungssituationen, da mehr Deliberation und             und in der Woche darauf in weiteren sieben Län-
Diskussion stattfinden und ein hoher Rechtferti-       dern eingeführt, nur in Rheinland-Pfalz wurde
gungsdruck für die gefundenen Entscheidungen           eine entsprechende Regel erst am 23. März ein-
herrscht. Und sie sichert drittens eine regional       geführt. Der Lockdown für Geschäfte und Gast-
angemessene, flexible und effiziente Bereitstel-       stätten mit entsprechenden Ausnahmeregelun-
lung öffentlicher Güter und Dienstleistungen.          gen zur Sicherung des täglichen Bedarfs wurde
Diesen Vorteilen gegenüber stehen die vermeint-        flächendeckend in der Woche ab dem 16. März
lichen Nachteile eines langsamen Entscheidungs-        umgesetzt. Etwas verzögert und uneinheitlicher
prozesses und einer für die Bürgerinnen und            sieht es bei den Quarantäne-Verordnungen für
Bürger unübersichtlichen Rechtszersplitterung          Reiseheimkehrerinnen und -heimkehrer aus Ri-
im Territorium.                                        sikogebieten aus: Diese wurden bis zum 15. März
    Inwiefern sich diese Vor- und Nachteile im der-    in acht und in der Woche darauf in weiteren vier
zeitigen pandemiebedingten Krisenalltag des ar-        Bundesländern eingeführt. Die restlichen Län-
beitenden Föderalismus bestätigen lassen, wird im      der zogen erst am 23. März (Rheinland-Pfalz),
Folgenden am Beispiel der sogenannten Corona-­         am 2. April (Berlin) und am 10. April (Sachsen
Verordnungen empirisch überprüft. Hierbei han-         und Sachsen-Anhalt) nach.
delt es sich um die Rechtsvorschriften, die die Lan-
desregierungen seit März 2020 erlassen haben. Im       19 Der Datensatz kann auf Nachfrage von der Autorin für
Wesentlichen sind es Verordnungen, teilweise All-      eigene Analysen angefordert werden. Ich danke sehr herzlich
                                                       meinem Team an Codiererinnen und Codierern (Marie Zegowitz,
gemeinverfügungen und einige wenige formelle
                                                       Vivien Reining, Till Jürgens und Jannis Kupfer), die als studenti-
Dienstanweisungen. Diese wurden für den Zeit-          sche Hilfskräfte diese herkulische Aufgabe in wenigen Wochen
raum vom 9. März bis zum 21. Juni 2020 in allen        bewältigt haben.
16 Bundesländern erhoben und hinsichtlich des          20 Vgl. Robert Koch-Institut (Anm. 3).

12
Corona-Krise APuZ

    Diese Zusammenschau verdeutlicht, dass in       Tätigkeit, der Dauer des Aufenthaltes, der Ent-
Krisenzeiten die föderale Handlungsabstimmung       fernung von der Wohnung und Ähnliches mehr,
kaum zu verzögerten Reaktionen führt. Fast alle     die sich nicht mehr sinnvoll zusammenfassen
als notwendig erkannten Maßnahmen wurden in-        oder vergleichen lassen.
nerhalb weniger Tage flächendeckend realisiert.         Ebenfalls sehr uneinheitlich gestaltete sich
                                                    der Weg aus dem Lockdown heraus. Erste Lo-
                    These 2:                        ckerungen wurden im Einzelhandel bereits ab
             Der Föderalismus führt                 Mitte April 2020 eingeführt, für Gastronomie,
             zu Rechtszersplitterung                Einrichtungen, Sport und Tourismus gingen die
Die Unübersichtlichkeit der geltenden Infekti-      Länder dann in der Rücknahme der Lockdown-
onsschutzregelungen war, wie eingangs aufge-        Maßnahmen sowohl im Zeitverlauf als auch hin-
zeigt, ein augenfälliges Merkmal des deutschen      sichtlich der Schwerpunktsetzung unterschied-
Föderalismus in der Zeit des Corona-Lock-           liche Wege, wobei die Tendenz über alle Länder
downs. Tatsächlich lässt sich dies – zumindest      hinweg einhellig in Richtung Lockerung ging. Ab
in Teilen – empirisch bestätigen. Aus der breiten   dem 27. April durften in zwölf Ländern Schüle-
Vielfalt der Regelungsinhalte in den Corona-Ver-    rinnen und Schüler der Abschlussklassen wieder
ordnungen seien drei Bereiche exemplarisch he-      zur Schule gehen, die übrigen vier Länder zogen
rausgegriffen: erstens die Hygienemaßnahmen,        in der darauffolgenden Woche nach. Erst ab dem
insbesondere Maskenpflicht und Ausgehverbo-         15. Juni hatten alle Schülerinnen und Schüler zu-
te; zweitens die Kontaktbeschränkungen im öf-       mindest phasenweise wieder Präsenzunterricht,
fentlichen und privaten Raum; sowie drittens der    wobei am 25. Juni bereits in einigen Ländern die
Rückweg von Schließungen zur Wiederöffnung          Sommerferien begannen.
von Einrichtungen.                                      Die Beispiele zeigen, dass die Regelungsviel-
    In der Telefonschalte der Regierungschefin-     falt in der Tat erheblich war und leicht zu Un-
nen und -chefs der Länder mit der Bundeskanz-       übersichtlichkeit für die Bürgerinnen und Bür-
lerin am 15. April 2020 wurde eine Empfehlung       ger führen konnten. Diese ist aber nur teilweise
zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes be-            der Uneinheitlichkeit der Regelungen zwischen
schlossen. Zwischen dem 20. und 29. April führ-     den 16 Ländern geschuldet. Mindestens ebenso
ten alle Länder eine Maskenpflicht ein, in den      zur Verwirrung beigetragen hat die hohe Fre-
meisten Ländern war diese Verpflichtung darüber     quenz der Änderungen innerhalb eines Landes.
hinaus bußgeldbewehrt. Wesentlich uneinheitli-      In Nordrhein-Westfalen wurden im Untersu-
cher stellten sich die Ausgehbeschränkungen dar.    chungszeitraum von 15 Kalenderwochen insge-
In fünf Bundesländern (Bayern, Saarland, Sach-      samt 45 Verordnungen, Bereinigungs- und Än-
sen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg) wurden         derungsverordnungen erlassen, also im Schnitt
Ausgehverbote verhängt, die sich im Kern auf        drei pro Woche. Für Bayern lassen sich 81 Re-
den Zeitraum vom 23. März bis zum 26. April er-     gelungsdokumente recherchieren, was fast einer
streckten (in Bayern galten sie vom 9. März bis     Änderung pro Tag entspricht. In Baden-Würt-
zum 3. Mai). In den anderen Ländern setzte man      temberg ging man zunehmend dazu über, neben
auf moralische Appelle und Freiwilligkeit, um       zentralen Rechtsverordnungen der Landesregie-
das Ausgehverhalten zu beschränken.                 rung die Regelungskompetenz für Detailfragen
    Die Kontaktbeschränkungen schließlich va-       an die Fachministerien zu delegieren, sodass ne-
riierten zwischen den Ländern und über die          ben 18 Verordnungen und Allgemeinverordnun-
Zeit hinweg weit von einer Beschränkung auf         gen weit über 50 weniger sichtbare Verfügungen
die Mitglieder des eigenen Haushalts über zah-      und Erlasse von den Fachministerien herausgege-
lenmäßige Begrenzungen (eine, zwei, drei wei-       ben wurden. Die Kritik der Rechtszersplitterung
tere Personen) oder die Beschränkung auf zwei       kann am Beispiel der Corona-Infektionsschutz-
Haushalte. Noch unübersichtlicher waren die         maßnahmen daher zwar prinzipiell bestätigt
Regelungen, die sich auf den Aufenthalt und         werden. Aber es muss in Rechnung gestellt wer-
die Bewegung im öffentlichen Raum bezogen.          den, dass aufgrund der hohen Dynamik, mit der
Hier finden sich viele denkbare Kombinatio-         sich die Situation entwickelte, auch innerhalb der
nen von Abstandsgeboten, personenbezogenen          einzelnen Länder eine unübersichtliche Rechts-
Kontaktbeschränkungen, Einschränkungen der          lage herrschte.

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APuZ 35–37/2020

                         These 3:                                  der Wahlen als Krisenmanager oder als besonders
                Der Föderalismus schützt                           volksnah profilieren zu können, wurde durch die-
                 die individuelle Freiheit                         se wechselseitige Beobachtung und Anpassung
Am 25. März 2020 stellte der Deutsche Bundestag                    stillschweigend dem Mainstream wieder angegli-
das Vorliegen einer „epidemischen Lage von nati-                   chen, sodass unter dem Strich – zumindest vergli-
onaler Tragweite“ gemäß dem neu gefassten § 5 des                  chen mit den europäischen Nachbarländern – eine
am selben Tag vom Bundestag geänderten Infekti-                    relativ weniger intensive Einschränkung der Indi-
onsschutzgesetzes (IfSG) fest. Diese Feststellung                  vidualrechte umgesetzt wurde.
ermächtigte das Bundesgesundheitsministerium,
die individuellen Grundrechte einzuschränken                                           These 4:
und in die föderale Kompetenzverteilung nach                                    Der Föderalismus führt
Art. 84 GG einzugreifen.21 Die Sorgen, die von                           zu sachlich besseren Entscheidungen
Verfassungsjuristinnen und -juristen in Reaktion                   Diese These ist empirisch nicht überprüfbar, da
auf die Novelle des IfSG geäußert wurden, schei-                   der Test kontrafaktische Annahmen erfordert.
nen sich aber bislang kaum bestätigt zu haben.22                   Es kann lediglich auf Plausibilitätsargumen-
Hinsichtlich der föderalen Kompetenzverteilung                     te zurückgegriffen werden. Die enge Koordina-
hat das Bundesgesundheitsministerium den Erlass                    tion zwischen den Ländern und mit dem Bund
der Infektionsschutzverordnungen komplett den                      ist ein wichtiger Indikator für einen intensiven
Ländern überlassen und selbst nur wenige Rege-                     Suchprozess nach richtigen Lösungen. Zwischen
lungen beschlossen, die sich auf die Registrierung                 dem 12. März 2020 und dem 17. Juni 2020 fan-
bei der Einreise aus Nicht-EU-Staaten beziehen                     den insgesamt acht offizielle Treffen der Regie-
und somit ohnehin nicht in den Kompetenzbe-                        rungschefinnen und -chefs der Länder mit der
reich der Länder fallen.23                                         Bundeskanzlerin statt, während unter norma-
    Im Hinblick auf die Einschränkung individu-                    len Umständen im selben Zeitraum ein Treffen
eller Rechte sind Versammlungsverbote, Ausgeh-                     stattgefunden hätte. Ergänzt wurden diese Tref-
und Kontaktbeschränkungen und nicht zuletzt                        fen auf höchster politischer Ebene durch Kon-
die Maskenpflicht für Deutschland ungewohn-                        ferenzen der Leiterinnen und Leiter der jewei-
te Maßnahmen. Dennoch zeigt der empirische                         ligen Staatskanzleien sowie regionale Treffen.
Vergleich der Regulierungstätigkeit der Länder,                    Koordinationsgremien zwischen den Akteuren
dass gerade der Wettbewerb zwischen den Län-                       des Gesundheitssystems wurden im Rahmen der
dern den Rechtfertigungsdruck auf die politischen                  Pandemiepläne eingesetzt. Zahlreiche informel-
Entscheiderinnen und Entscheider und damit                         le Meetings, Telefonate und Absprachen sichern
letztlich auch die Transparenz der Begründungen                    schließlich einen stetigen engen Austausch zwi-
deutlich erhöht. Wenn im einen Bundesland Got-                     schen allen Akteurinnen und Akteuren. Der be-
tesdienste schon wieder erlaubt sind und im an-                    ständige Rückgriff auf laufende wissenschaftli-
deren noch nicht, stehen beide Regierungen unter                   che Erkenntnisse ist ein weiteres Kennzeichen
erhöhter Beobachtung der Öffentlichkeit, ob die-                   der Rationalität des Entscheidungsprozesses in
se Maßnahmen den gewünschten Effekt bringen.                       der Krise. Auch der Wettbewerb zwischen den
Manches Vorpreschen eines Ministerpräsidenten,                     Ländern kann zur Rationalisierung der Entschei-
der vielleicht glaubte, sich angesichts herannahen-                dungen beitragen, denn er übt auf die Politike-
                                                                   rinnen und Politiker einen Rechtfertigungs- und
21 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages,       Begründungsdruck aus. Andererseits zeigte sich,
Staatsorganisation und § 5 Infektionsschutzgesetz, WD-3-080-       dass dieser Wettbewerbsdruck auch Spitzenpo-
2020, www.bundestag.de/resource/blob/690262/cb​718​0 05e​
                                                                   litiker der Länder verleitete, von gemeinsamen
6d​37​ecce​82c​991​91​efbec​49/WD-3-080-20-pdf-data.pdf; dies.
Koordinierung der Maßnahmen zur Eindämmung des Coro-
                                                                   Vereinbarungen öffentlichkeitswirksam abzu-
navirus durch die Bundesregierung, WD-3-105-2020, www.             weichen, um sich zu profilieren. Der Effekt des
bundestag.de/resource/blob/692490/5883cb39172f495b6044             Wettbewerbs auf die Qualität der Entscheidun-
317360e67a00/WD-3-105-20-pdf-data.pdf.                             gen ist daher ambivalent. Schließlich deutet der
22 Vgl. dies., Staatsorganisation und § 5 Infektionsschutzgesetz
                                                                   Vergleich des Pandemieverlaufs in Deutschland
(Anm. 21), S. 7.
23 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, Gesetze und Ver-
                                                                   mit anderen westlichen Demokratien darauf hin,
ordnungen, 27. 7. 2020, www.bundesgesundheitsministerium.de/       dass die getroffenen Entscheidungen vermutlich
service/gesetze-und-verordnungen.html.                             sachlich nicht ganz falsch waren.

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