AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Corona-Krise - Bundeszentrale für ...
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70. Jahrgang, 35–37/2020, 24. August 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Corona-Krise Hans-Jürgen Papier Aladin El-Mafaalani VERFASSUNGSRECHTLICHE „LASST DIE LEHRKRÄFTE PERSPEKTIVEN IN RUHE, ABER NICHT DIE SCHULEN“ – Nathalie Behnke EIN GESPRÄCH FÖDERALISMUS IN DER (CORONA-)KRISE? Frank Biess CORONA-ANGST Annelies G. Blom UND DIE GESCHICHTE ZUM GESELLSCHAFTLICHEN DER BUNDESREPUBLIK UMGANG MIT DER CORONA-PANDEMIE Philipp Ther DIE CORONA-PANDEMIE Evelyn Moser ALS HERAUSFORDERUNG RÜCKZUG FÜR DEMOKRATIE UND DES POLITISCHEN? EUROPÄISCHE INTEGRATION ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Corona-Krise APuZ 35–37/2020 HANS-JÜRGEN PAPIER ALADIN EL-MAFAALANI VERFASSUNGSRECHTLICHE PERSPEKTIVEN „LASST DIE LEHRKRÄFTE IN RUHE, Die Corona-Pandemie stellt den Staat vor die ABER NICHT DIE SCHULEN“ – EIN GESPRÄCH schwierige Aufgabe, einen angemessenen Aus- Mitte März 2020 wurden deutschlandweit die gleich zwischen Freiheit und Sicherheit herzu- Schulen geschlossen. Präsenzunterricht soll stellen. Dabei gilt, die für Grundrechtseingriffe erst im Schuljahr 2020/2021 wieder zur Regel erforderliche demokratische Legitimation zu werden. Wer ist im Bildungsbereich von der stärken und Rechtssicherheit zu gewährleisten. Corona-Pandemie am stärksten betroffen, und Seite 04–08 wie lässt sich Ungleichheiten entgegenwirken? Seite 29–32 NATHALIE BEHNKE FÖDERALISMUS IN DER (CORONA-)KRISE? FRANK BIESS Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie in CORONA-ANGST UND DIE GESCHICHTE Deutschland Anfang 2020 ist auch der deutsche DER BUNDESREPUBLIK Föderalismus wieder einmal verstärkt in die Die in Deutschland bislang relativ erfolgreiche öffentliche Kritik geraten. Entgegen der land Bewältigung der Corona-Pandemie ist auch ein läufigen Kritik hat sich dieser gerade in der Krise Produkt historisch gewachsener Krisenkompe- als effizient und leistungsfähig erwiesen. tenz. Die Diskussion über langfristige Folgen Seite 09–15 und den Status des Ereignisses in der globalen Moderne hat indes erst begonnen. Seite 33–39 ANNELIES G. BLOM ZUM GESELLSCHAFTLICHEN UMGANG MIT DER CORONA-PANDEMIE PHILIPP THER Welche Konsequenzen hat die Corona-Krise DIE CORONA-PANDEMIE ALS HERAUS für das Zusammenleben in Deutschland? Die FORDERUNG FÜR DEMOKRATIE Antworten auf diese Frage sind vielfältig, zeigen UND EUROPÄISCHE INTEGRATION aber, dass die Bevölkerung die implementierten Im Umgang mit der Corona-Pandemie Maßnahmen gerade am Beginn der Pandemie im lassen sich mit China und den USA zwei Pole Allgemeinen als sinnvoll einschätzte. ausmachen. Hat die EU trotz des Verfalls der Seite 16–22 Demokratie in manchen ihrer Mitgliedsstaaten eine Chance, als Sieger aus der Konkurrenz zwischen zwei Großmächten hervorzugehen? EVELYN MOSER Seite 40–45 RÜCKZUG DES POLITISCHEN? Die deutsche Krisenpolitik zeigt, dass eine liberale Demokratie zu einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung fähig ist, dabei jedoch über ihre eigenen Prinzipien stolpern kann. Dies gilt es zu reflektieren, um für künftige, ähnlich gelagerte Probleme gewappnet zu sein. Seite 23–28
EDITORIAL Knapp ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem ab Mitte März 2020 bei dem Ver- such, die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus in Deutschland einzugren- zen, das wirtschaftliche und öffentliche Leben für mehrere Wochen weitgehend heruntergefahren und tief in Grundrechte eingegriffen wurde. So etwas wie diesen – im Vergleich zu anderen Ländern mit rigiden Ausgangsbeschränkungen milden – „Shutdown“ hatte es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie zuvor gegeben. Mit Blick auf registrierte Infektionszahlen und Todesfälle, die mit dem Virus in Verbindung gebracht werden, ist die Pandemie in Deutschland bisher relativ glimpflich verlaufen. Der Staat stand und steht dabei vor der schwierigen Aufgabe, einen angemes- senen Ausgleich zwischen der Freiheit und dem Schutz des Lebens seiner Bür- gerinnen und Bürger herzustellen. Die Verhältnismäßigkeit und demokratische Legitimation von Grundrechtsbeschränkungen sind auch unter pandemischen Bedingungen von zentraler Bedeutung. Mit Blick auf die vielfach als „Flicken- teppich“ kritisierte Regelungsvielfalt im Föderalismus steht hingegen die Frage im Raum, ob dieser in der Corona-Krise als Ursache von Problemen gelten kann oder nicht vielmehr hilft, sie zu überwinden. Ein Ende der Pandemie ist indes noch nicht absehbar. Bei Überlegungen, wie mit ihren langfristigen Folgen umgegangen werden kann, gewinnen Fragen nach der Problemlösungskompetenz von liberalen Demokratien, den Handlungs- möglichkeiten der EU und der Gestaltung von (De-)Globalisierungsprozessen an Relevanz. Viele der Aspekte, die auf nationaler und internationaler Ebene in den vergangenen Monaten negativ hervorgetreten sind, sind nicht neu. Um nicht nur für den weiteren Verlauf der Corona-Krise, sondern auch für künftige, ähnlich gelagerte Probleme gewappnet zu sein, gilt es mehr denn je, den gesell- schaftlichen Umgang mit diesen zu reflektieren. Frederik Schetter 03
APuZ 35–37/2020 UMGANG MIT DER CORONA-PANDEMIE: VERFASSUNGSRECHTLICHE PERSPEKTIVEN Hans-Jürgen Papier Ab Mitte März 2020 wurden in Deutschland auf- AUSGLEICH ZWISCHEN grund der Corona-Pandemie flächendeckende FREIHEIT UND SICHERHEIT Grundrechtsbeschränkungen eingeführt, die in ihrem Ausmaß und in ihrer Tragweite für die- Die Corona-Pandemie stellt den Staat und seine se rechtsstaatliche Demokratie bislang einmalig zuständigen Organe vor die schwierige Aufgabe, sind. Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkun- einen angemessenen Ausgleich zwischen Freiheit gen betrafen die allgemeine Handlungsfreiheit und Sicherheit herzustellen. Grundrechte sind in und das Grundrecht der Bewegungsfreiheit. Das erster Linie dazu bestimmt, die Freiheit des Ein- Verbot, Gottesdienste abzuhalten, schränkte die zelnen vor ungerechtfertigten und unverhältnis- Religionsfreiheit ein, insbesondere die Freiheit mäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu der Religionsausübung. Inhaberinnen und Inha- schützen: Sie sind Abwehr- oder Freiheitsrech- bern von Unternehmen verschiedener Branchen te der Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat. war es durch Betriebsschließungen und -ein- In dieser Funktionsausrichtung liegt ihr histo- schränkungen mehr oder weniger nicht möglich, rischer Entstehungsgrund. Die zweite Schutz- ihre Berufsfreiheit auszuüben. Viele Selbständi- funktion der Grundrechte besteht darin, dass ge unterlagen oder unterliegen quasi einem zeit- sie als objektive Verfassungsprinzipien staatliche weiligen Berufsverbot. Dies gilt ebenso für viele Schutzpflichten den Bürgerinnen und Bürgern künstlerisch Tätige, sodass auch die Kunstfreiheit gegenüber begründen und dadurch die prinzipi- hier erörtert werden könnte. Durch die weitge- elle Geltungskraft der Grundrechte in der Gesell- hende Schließung der Universitäten war die For- schaft verstärken. schungs- und Lehrfreiheit eingeschränkt. Ange- Wie die staatlichen Organe den grundrecht- sichts der wirtschaftlichen Auswirkungen dieses lichen Schutzpflichten nachkommen, ist grund- weitgehenden Lockdowns stellen sich ferner Fra- sätzlich von ihnen in eigener Verantwortung zu gen der Eigentumsfreiheit. entscheiden. Das Grundgesetz (GG) verlangt Inzwischen sind viele dieser Beschränkungen aber vom Gesetzgeber, von der Verwaltung und wieder aufgehoben worden – angesichts immer der Justiz eine permanente Rückbesinnung auf noch bestehender Ungewissheiten und Unwäg- die vom Staat zu verteidigenden Freiheitsrech- barkeiten möglicherweise nur vorläufig. Zahlrei- te und die Herstellung und Wahrung einer an- che Freiheitsbeschränkungen sind aber nach wie gemessenen Balance. Dabei haben sich die Väter vor in Kraft und werden wohl auch noch eine und Mütter des Grundgesetzes dagegen ent- nicht überschaubare Zeit lang bestehen bleiben. schieden, sämtliche verbürgte Grundrechte ab- In Zeiten eines pandemischen Notstands von na- wägbar oder gar „wegwägbar“ zu machen. Die tionaler und internationaler Tragweite ist eine Menschenwürdegarantie und der Menschen- Besinnung auf grundlegende demokratische und würdegehalt der speziellen Freiheitsrechte ge- rechtsstaatliche Prinzipien von Verfassungs we- hören zu diesem absolut geschützten Kernbe- gen geboten. Es gibt verschiedene Aspekte von stand. Anders als frühere deutsche Verfassungen Grundrechtsbeschränkungen, und jede muss im stellt das Grundgesetz die Grundrechte als ein- Einzelnen überprüft werden, ob verfassungs- klagbare Freiheitsrechte des Einzelnen gegen rechtlich ein noch zulässiger, insbesondere ein den Staat in den Mittelpunkt, sie sind nicht noch verhältnismäßiger Eingriff vorliegt. mehr als bloße Programmsätze, verfassungsly- 04
Corona-Krise APuZ rische Verheißungen oder Staatszielbestimmun- Satz 2 GG) und die allgemeine Handlungsfrei- gen zu verstehen. Das zeigt nicht nur die Stel- heit (Art. 2 Abs. 1 GG) als auch für die Ver- lung des Grundrechtekatalogs am Anfang der sammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 2 GG), die Frei- Verfassung, sondern ganz deutlich auch Art. 1 zügigkeit (Art. 11 Abs. 2 GG), die Berufsfreiheit Abs. 3 GG, der die Grundrechte als unmittelbar (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG), die Unverletzlich- geltendes Recht für alle staatlichen Gewalten, keit der Wohnung (Art. 13 GG) und die Eigen- einschließlich der gesetzgebenden Gewalt, für tumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Soweit verbindlich erklärt. Die staatlichen Eingriffe, mit dem Verbot des Abhaltens von Gottes- nicht aber die Geltendmachung der Freiheits- diensten die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 rechte bedürfen der Rechtfertigung. und 2 GG eingeschränkt ist, fehlt zwar im Ver- Bei der Wahl der Mittel zur Erfüllung seiner fassungstext ein ausdrücklicher Gesetzesvor- grundrechtlich fundierten Schutzpflichten ist der behalt. Aber auch diese vorbehaltlosen Grund- Staat also auf die Mittel beschränkt, deren Einsatz rechte, wozu auch die bereits erwähnte Kunst-, mit den rechtsstaatlichen Gehalten der Verfas- Lehr- und Forschungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 sung in Einklang stehen. Dabei gelten für ihn vor GG gehört, unterliegen verfassungsimmanenten allem zwei verfassungsrechtliche Grenzen: Einer- Schranken, soweit es zum Schutz gleichwertiger seits muss er nach dem „Untermaßverbot“ ein Verfassungsgüter, hier des Lebens und der kör- gewisses Mindestmaß an Schutz gewähren. Die- perlichen Integrität der Bevölkerung, geboten ist se Pflicht ist verletzt, wenn die öffentliche Ge- und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit ge- walt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt wahrt werden. nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelun- Der Staat muss unter Hinzuziehung externen gen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet sind, Sachverstands stets prüfen, welche Gefahrenab- das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheb- wehr- und Vorsorgemaßnahmen angemessen im lich dahinter zurückbleiben.01 Andererseits folgt Verhältnis zur aktuellen Gefahrenlage sind. Die- aus der bereits angesprochenen Abwehrfunktion se Fragen der rechtlichen Abwägung sind zwin- der Grundrechte ein „Übermaßverbot“, es dür- gend interdisziplinär zu beantworten und dürfen fen also keine unverhältnismäßigen Grundrechts- nicht ausschließlich Virologinnen, Medizinern, eingriffe vorgenommen werden. Epidemiologinnen und Naturwissenschaftlern überlassen werden. Vor dem Hintergrund der in VERHÄLTNISMÄ ẞ IGKEIT wissenschaftlicher Hinsicht mitunter schwer zu DER EINGRIFFE beantwortenden Fragen nach der Effektivität von bestimmten Schutzmaßnahmen und dem Gefähr- Im Rahmen seiner Schutzpflichterfüllung gegen dungsgrad der Bevölkerung durch das neuartige die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus Corona-Virus ist den zuständigen Organen des aufgrund des Grundrechts auf Leben und kör- Staates zwingend ein gewisser Einschätzungs- und perliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG Beurteilungsspielraum zuzubilligen, dessen Ein- hat der Staat daher stets die Verhältnismäßigkeit haltung die Gerichte nur unter Vertretbarkeitsge- der Eingriffe in die konfligierenden Grundrech- sichtspunkten nachprüfen können. Die gesetzli- te zu prüfen:02 Je größer die Gefahren für Leben chen Befugnisnormen in § 28 Abs. 1 und § 32 des und Gesundheit der Bevölkerung sind, desto Infektionsschutzgesetzes (IfSG) sind notgedrun- umfassender und massiver dürfen die Freiheits- gen sehr weit gefasst: Es sind demnach die „not- beschränkungen sein. In diesem Zusammenhang wendigen Schutzmaßnahmen“ zu treffen, „soweit ist darauf hinzuweisen, dass die hier von den und solange es zur Verhinderung der Verbreitung Schutzmaßnahmen vorrangig betroffenen Frei- übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“. heitsrechte einen ausdrücklichen Vorbehalt ge- Immer noch besteht kein hinreichendes Maß setzlicher Beschränkungen enthalten. Das gilt an Gewissheit über Inhalt und Umfang der Ge- sowohl für die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 fahren sowie über die Eignung und Erforder- lichkeit der ergriffenen beziehungsweise alter- nativer Maßnahmen. Weil wir darüber nicht 01 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 125, 39 (78 f.); BVerfGE 88, 203 (159 f.). genügend wissen, kann niemand sagen, dass die 02 Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 10. 4. 2020 – 1 BvQ 28/20 angeordneten Ausgangs- und Kontaktbeschrän- Rn. 14. kungen von vornherein unverhältnismäßig ge- 05
APuZ 35–37/2020 wesen sind. Daher können auch keine generellen ser Quadratmeterzahlbeschränkung von vornhe- rechtlichen Bedenken gegen die im März erlas- rein ausgenommen. Das ist für Bürgerinnen und senen Maßnahmen erhoben werden, obgleich sie Bürger und insbesondere für die Geschäftsleute, zu schwerwiegenden Eingriffen in die erwähnten die von der Schließung oder der nur partiellen Grundrechte führten. Auch die gegen diese Maß- Öffnung nachteilig betroffen sind, nicht einsich- nahmen angerufenen Gerichte sehen sich – wie tig. Die in den Eilverfahren entscheidenden Ver- die Politik und die Exekutive – mit diesen Un- waltungsgerichte sehen das zu einem großen Teil gewissheiten über Art und Ausmaß der Gefah- ebenso.04 ren sowie die Eignung und Erforderlichkeit der eingesetzten Mittel konfrontiert. Angesichts die- PARLAMENTSVORBEHALT ser Lage kommen auch sie gar nicht umhin, den zuständigen Organen der zweiten Gewalt einen Im Kontext der Grundrechtsbeschränkungen erheblichen Einschätzungs- und Beurteilungs- durch die Corona-Schutzmaßnahmen drängt sich spielraum sowie einen Ermessensspielraum bei ein weiteres Problem auf: Nach den grundgesetz- der Auswahl der Einzelmaßnahmen einzuräu- lichen Strukturprinzipien von Demokratie und men. Es konnte nicht erwartet werden, dass die Rechtsstaat im Sinne des Art. 20 GG, die den ver- Gerichte abweichend von den Beurteilungen und fassungsrechtlichen „Wesentlichkeitsgrundsatz“ Einschätzungen der Exekutive die Verantwor- insbesondere bei Grundrechtsbeschränkungen tung dafür übernehmen, den Schutz von Leben enthalten, sind alle wesentlichen Entscheidun- und Gesundheit einer unbestimmten Zahl von gen zur Grundrechtsausübung und -einschrän- Menschen hintanzustellen. kung durch das unmittelbar durch Wahlen vom Da es sich allerdings um besonders schwer- Volk legitimierte Parlament zu treffen. Der Ge- wiegende Grundrechtseingriffe handelt, die setzgeber ist in den Worten des Bundesverfas- sich mit fortschreitender Zeit weiter intensivie- sungsgerichts dazu verpflichtet, „in grundlegen- ren können, wird das Anforderungsprofil an die den normativen Bereichen, zumal im Bereich der Rechtfertigung der Eingriffe mit zunehmender Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Dauer wachsen. Mit anderen Worten: Nicht die Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Ent- Lockerungen der Corona-Beschränkungen be- scheidungen selbst zu treffen“.05 dürfen einer Rechtfertigung, sondern ihre Auf- Dies betrifft nicht allein die Frage, ob ein be- rechterhaltung oder Wiedereinführung. stimmter Sachbereich überhaupt gesetzlich zu re- Es bestehen berechtigte Zweifel, ob die recht- geln ist, sondern auch den Detaillierungsgrad ei- fertigungsbedürftigen Beschränkungen – gera- ner parlamentsgesetzlichen Regelung, also die de in den Zeiten einer Lockerung – vonseiten Frage, „wie weit diese Regelungen im Einzelnen der Entscheidungsträgerinnen und -träger immer zu gehen haben“.06 Das Parlament darf insbeson- richtig und plausibel begründet werden können. dere die Festlegung der sachlichen Voraussetzun- Wenn beispielsweise zeitweilig bestimmt wurde, gen für die Vornahme von Grundrechtseingriffen dass Ladengeschäfte öffnen dürfen, es sei denn und die Regelung der wesentlichen Eingriffsmo- ihre Verkaufsfläche liegt über 800 Quadratme- dalitäten nicht durch allzu weit und unbestimmt ter,03 dann konnte man sich fragen, ob dies un- gefasste Eingriffsermächtigungen der Exeku- ter infektionsschutzrechtlichen Gesichtspunkten tive überlassen. Diese Anforderungen des Par- gerechtfertigt ist. Es stellt sich nämlich die Frage, lamentsvorbehalts decken sich mit dem rechts- ob nicht auch großflächige Geschäfte für die Ein- staatlichen Bestimmtheitsgebot. Dieses verlangt haltung der Abstands- und Hygieneregeln sor- vom Gesetzgeber, der Regierung und Verwaltung gen können – und dies vielleicht sogar besser als kleinräumige Geschäfte, wo sich die Kunden sehr viel mehr drängeln können. Zum anderen wurden 04 Vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom bestimmte großflächigere Geschäfte, etwa Mö- 27. 4. 2020 – 20 NE 2.793; Verwaltungsgericht Hamburg, belhäuser oder Garten- und Baumärkte, von die- Beschluss vom 21. 4. 2020 – 3 E 1675/20. 05 BVerfGE 49, 89 (126). Vgl. auch BVerfGE 98, 218 (251); BVerfGE 101, 1 (34). 03 Vgl. z. B. Daniel Pokraka, 800-qm-Regel sorgt für Kopf- 06 BVerfGE 101, 1 (34). Vgl. auch BVerfGE 34, 165 (192); schütteln, 16. 4. 2020, www.tagesschau.de/i nland/corona- BVerfGE 49, 89 (127 ff.); BVerfGE 57, 295 (327); BVerfGE 83, massnahmen-117.html. 130 (142). 06
Corona-Krise APuZ „steuernde und begrenzende Handlungsmaßstä- EIGENTUM be“ vorzugeben.07 Dies ist Voraussetzung dafür, UND BERUFSFREIHEIT dass die Gerichte eine wirksame Rechtskontrolle vornehmen können. Nur bei einer hinreichenden Von den ergriffenen Schutzmaßnahmen sind vie- Bestimmtheit und Klarheit des Gesetzes können le Unternehmen, etwa Handels- und Dienstleis- sich die Normunterworfenen auf sie zukommen- tungsbetriebe, die Gastronomie sowie Beherber- de Belastungen rechtzeitig einstellen.08 Wie hoch gungsunternehmen in besonderem Maße betroffen. die Anforderungen an präzise gesetzliche Vor- Angesichts der empfindlichen, nicht selten exis- gaben und an die Bestimmtheit gesetzlicher Re- tenzbedrohenden wirtschaftlichen Verluste die- gelungen sind, richtet sich dabei danach, ob und ser Unternehmen ist zu fragen, ob in diesen Fällen wie intensiv durch die gesetzlichen Regelungen in nicht gesetzliche Entschädigungsregelungen von Grundrechte Dritter eingegriffen wird oder ein- Verfassungs wegen geboten wären. Die Unter- gegriffen werden kann.09 nehmensinhaberinnen und -inhaber sind in diesen Die Corona-Schutzmaßnahmen sind mitt- Fällen nicht betroffen, weil sie krankheits- oder lerweile in allen Bundesländern durch Rechts- ansteckungsverdächtig sind, ihnen wird aufgrund verordnungen geregelt worden, gestützt auf die der Betriebsschließungen gewissermaßen ein §§ 28 und 32 IfSG.10 Die Eingriffsermächtigung „Sonderopfer“ zum Wohle der Allgemeinheit ab- nach § 32 IfSG mag hinreichend rechtsstaatlich verlangt. Es geht hier nicht um klassische Enteig- und demokratiestaatlich adäquat sein, soweit nungen, aber um Eingriffe in das Eigentum und in es um zeitlich, regional und personell limitierte die Berufsfreiheit, die man als „ausgleichspflichti- Maßnahmen der Gefahrenabwehr und -vorsorge ge Sozialbindungen“ bezeichnen kann.11 geht. Ein sogenannter Shutdown nationalen Aus- Solche Eingriffe müssten an sich von Verfas- maßes ist aber in diesem Gesetz weder angespro- sungs wegen durch gesetzliche Ausgleichs- bezie- chen noch in grundsätzlicher Hinsicht geregelt. hungsweise Entschädigungsansprüche abgefedert Eine derartige massive und nicht nur kurzzeitige werden. Zwar sieht das Infektionsschutzgesetz Einschränkung des gesamten gesellschaftlichen durchaus Entschädigungsregelungen vor (§ 56 und individuellen Lebens sollte nicht auf eine IfSG), aber eben nur für Personen, die anste- solche Generalklausel gestützt werden dürfen, ckungs- oder krankheitsverdächtig sind und des- also dem weitgehenden Ermessen von 16 Lan- wegen Beschränkungen, etwa eine Quarantäne, desregierungen und ihrer nachgeordneten Be- hinnehmen müssen.12 Diese gesetzlich vorgese- hörden überantwortet sein. Für die freiheitli- henen Entschädigungsregelungen treffen aber che Ordnung des gesamten Gemeinwesens nach für Unternehmerinnen und Unternehmer, die Art, Ausmaß und Dauer wesentliche Einschnitte schwerwiegende wirtschaftliche Folgen tragen müssen im förmlichen Verfahren der parlamen- müssen, nicht unmittelbar zu. Offenbar hat beim tarischen Gesetzgebung bestimmt werden und Erlass des Infektionsschutzgesetzes im Jahr 2000 dürfen nicht anderen Normgebern überlassen niemand mit einer solchen Tragweite von Ge- werden. Nur dann verfügen sie über die notwen- und Verboten gerechnet. dige demokratische Legitimation, nur so sind Eine rechtsstaatliche Aufarbeitung des Ge- auch Öffentlichkeit, Transparenz und Rechtssi- schehenen wird diesen Aspekt aufgreifen und cherheit gewährleistet. etwa das Gesetz entsprechend novellieren müs- sen. Das Problem ist in politischer Hinsicht zu- nächst dadurch etwas entschärft worden, weil 07 Vgl. BVerfGE 110, 33 (106); BVerfGE 128, 282 (317 f. m. w. Bund und Länder mit haushaltsgesetzlich aus- Nachw.). gewiesenen Finanzleistungen oder Kreditgewäh- 08 Vgl. BVerfGE 145, 20 (Rn. 125 m. w. Nachw.). 09 Vgl. BVerfGE 145, 20 (Rn. 125); BVerfGE 93, 213 (238); rungen reagiert haben. Aber von Verfassungs BVerfGE 102, 254 (337); BVerfGE 131, 88 (123); BVerfGE 133, wegen wird man feststellen müssen, dass der Ge- 277 (336 f., Rn. 140). 10 Zuvor waren die Maßnahmen in manchen Bundesländern noch durch Allgemeinverfügung im Sinne von § 35 Satz 2 Ver- 11 Vgl. etwa Entscheidung zum Denkmalschutzrecht im Hinblick waltungsverfahrensgesetz geregelt. Für zwei Einzelfälle wurden auf Art. 14 GG: BVerfGE 100, 226 (245 f.). sie in Bayern vom Verwaltungsgericht (VG) München deshalb als 12 Vgl. Landgericht Heilbronn, Urteil vom 29. 4. 2020 – formell rechtswidrig erachtet, vgl. VG München, Beschlüsse vom I 4 O 82/20; Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom 24. 3. 2020 – M 26 S 20.1252 und M 26 S 20.1255. 23. 4. 2020 – 13 MN 96/20 Rn. 37. 07
APuZ 35–37/2020 setzgeber in der Pflicht steht, selbst Art und Aus- Schutzmaßnahmen erreichen. Regionalen und maß der Entschädigungen oder des sonstigen fi- örtlichen Besonderheiten könnte durch gesetz- nanziellen Ausgleichs zu regeln. liche Öffnungsklauseln zugunsten landesrechtli- cher Regelungen Rechnung getragen werden, die KRITIK AM für eine zielgenauere Präzisierung, Lockerung FÖDERALISMUS oder Verschärfung der im Grundsatz bundesge- setzlich geregelten pandemischen Notstandsord- Der Föderalismus, der zum Identitätskern der nung sorgen könnten. verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesre- publik gehört, wird in der politischen Öffent- AUSBLICK lichkeit immer wieder als hemmend diskredi- tiert. Der Vorwurf der „Kleinstaaterei“ und des Die Grundprinzipien unseres Verfassungsstaa- „Flickenteppichs“ ist immer wieder schnell zur tes, nämlich Rechtsstaatlichkeit und Demokra- Hand und wird auch im Kontext der Corona- tie, verlangen, dass der Gesetzgeber sich besser Maßnahmen vorgebracht. Die Bundesstaatlich- auf epidemische und pandemische Notlagen nati- keit Deutschlands ist aber ein wichtiger Faktor onaler beziehungsweise internationaler Tragwei- für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, ins- te aufstellt. Das bisherige Instrumentarium des besondere für die Gewaltenteilung und für das Infektionsschutzgesetzes musste angesichts der Selbstbestimmungsrecht des Volkes, das auf be- akuten Gefährdungslage deshalb genutzt werden, stimmten Feldern in kleineren politischen Ein- weil es keine besseren rechtlichen Instrumentari- heiten eher möglich ist als in größeren. Es mag en gab. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob die sein, dass das Infektionsschutzgesetz des Bun- zuständigen staatlichen Instanzen es viel zu lan- des an einigen Stellen ergänzungsbedürftig ist, ge versäumt hatten, die notwendigen und geeig- aber die generelle Zuständigkeit der Länder für neten Maßnahmen zu treffen und nach solchen den Vollzug dieses Bundesgesetzes sollte nicht Versäumnissen mit den schärfsten Mitteln re- infrage gestellt werden. Prinzipiell sind die Län- agieren mussten. Zu erwähnen ist hier vor allem der schneller in der Lage, den örtlichen oder re- die lange Zeit versäumte Anordnung des Tragens gionalen Gegebenheiten gebührend Rechnung zu von Schutzmasken in der Öffentlichkeit, obwohl tragen. Das Infektionsschutzgesetz geht von In- eine solche die Grundrechte der Bürgerinnen und fektionslagen aus, die in aller Regel regional spe- Bürger am wenigsten beeinträchtigt. Der Gesetz- zifisch oder lokal begrenzt verlaufen. Es macht geber sollte daraus lernen und Rechtsstaatlichkeit daher durchaus Sinn, dass die regionalen Behör- und Demokratie auch in dieser Hinsicht krisen- den – etwa Oberste oder Obere Landesbehörden fest machen. Für den Verteidigungsfall, also wenn oder die örtlichen Gesundheitsämter – auf diese das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen regionalen Herausforderungen angemessen re- wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht, agieren können. Die gegenwärtige Besonderheit ist vor Jahrzehnten durch Etablierung einer soge- ist aber, dass die Corona-Pandemie Deutschland nannten Notstandsverfassung im Grundgesetz in insgesamt und die ganze Welt erfasst. Zwar gab rechtlicher Hinsicht Vorsorge getroffen worden. es bisher auch gewisse regionale Schwerpunk- Für den epidemischen Notstand von nationalem te, aber grundsätzlich war die Infektionslage auf Ausmaß fehlt indes nach wie vor eine rechtlich ihrem Höhepunkt relativ gleich verteilt. Gerade hinreichende Vorsorge. Dieser Frage sollte man wenn es um die Frage der Verhältnismäßigkeit umgehend nachgehen und sie zukunftsorientiert der Beschränkungen geht, ist es deshalb nicht angemessen lösen. sonderlich sinnvoll, dies von Land zu Land un- terschiedlich zu beurteilen und zu entscheiden. Diesen Konflikt könnte man im konkre- ten Fall auflösen, indem man den bundesweiten HANS-JÜRGEN PAPIER Parlamentsvorbehalt umsetzt. Auf diese Weise ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht könnte man einerseits die für derartig schwer- an der Ludwig-Maximilians-Universität München wiegende Grundrechtseingriffe erforderliche de- und war von 2002 bis 2010 Präsident des Bundes mokratische Legitimation stärken und anderer- verfassungsgerichts. seits eine national einheitliche Grundstruktur der hans-juergen@prof-papier.de 08
Corona-Krise APuZ FÖDERALISMUS IN DER (CORONA-)KRISE? Föderale Funktionen, Kompetenzen und Entscheidungsprozesse Nathalie Behnke Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie in lismus.04 Andererseits gibt es gute Argumente Deutschland Anfang 2020 ist auch der deutsche dafür, dass Deutschland gerade wegen seiner fö- Föderalismus wieder einmal verstärkt in die öf- deralen Staatsorganisation besser durch die Krise fentliche Kritik geraten. Besonders augenfällig gekommen ist als andere Staaten. Die freiheitssi- erschien die Hinderlichkeit der föderalen Staats- chernden, demokratie- und effizienzsteigernden organisation im Krisenalltag im Nebeneinander Vorteile föderaler Koordinations- und Entschei- von 16 Corona-Verordnungen der Länder. Vom dungsprozesse werden in der öffentlichen wie in „Flickenteppich“ war allenthalben die Rede, und der wissenschaftlichen Diskussion gerne über- in der Polit-Satire „Heute Show“ wurde fröhlich sehen. In diesem Beitrag werden daher die the- das deutsche „Föderallala“ beschworen.01 Durf- oretisch abgeleiteten Annahmen über Vor- und te man im baden-württembergischen Teil des All- Nachteile einer föderalen Staatsorganisation em- gäus auch zu Hochzeiten des Lockdowns legal pirisch hinterfragt. Anschauungsbeispiel ist das mit den eigenen Familienmitgliedern wandern Infektionsschutzmanagement der deutschen Bun- und picknicken, riskierte man, beim unsichtbaren desländer in der Phase des Corona-Lockdowns Grenzübertritt ins benachbarte Bayern, mit dem im Frühjahr 2020. gleichen Freizeitverhalten eine bußgeldpflichti- ge Ordnungswidrigkeit zu begehen. Für Fern- FÖDERALISMUS busse galten, als sie wieder fahren durften, in den ALS STAATLICHES Ländern jeweils unterschiedliche Hygieneregeln, ORGANISATIONSPRINZIP sodass gegebenenfalls Passagiere an der Länder- grenze hätten ausgeladen werden müssen. Diese Warum ist Deutschland eigentlich ein Föderal- und andere Kuriositäten wurden von den Medi- staat? Ist die föderale Ordnung noch zeitgemäß en dankbar aufgegriffen und vielfältig bei der Fra- oder könnte man sie nicht abschaffen? Das sind ge nach der Krisentauglichkeit des Föderalismus die Fragen, die implizit in der kritischen Dis- thematisiert. Andererseits bescheinigte insbeson- kussion über den deutschen Föderalismus mit- dere die ausländische Presse Deutschland ein vor- schwingen. Die Frage nach dem „Warum“ kann bildliches Pandemie-Management,02 nachdem man historisch, föderalismustheoretisch oder relativ schnell die Zahl der täglichen Neuerkran- auch ökonomisch beantworten. kungen auf unter 1000 und die Reproduktions- Historisch reicht die Tradition des Föderalis- zahl, also die Anzahl der Menschen, an die eine mus als Staatsorganisationsprinzip bis ins Mit- mit dem neuartigen Corona-Virus infizierte Per- telalter zurück und setzte sich über alle histori- son dieses weitergibt, mit wenigen Ausnahmen schen Brüche hinweg bis in die Bundesrepublik auf unter 1.0 gesenkt werden konnten.03 fort.05 Der Föderalismus ist somit gewisserma- Tatsächlich zahlen wir im Alltag manchmal ßen in die DNA der deutschen politischen Kul- einen Preis der Unbequemlichkeit für unser fö- tur eingewoben, was sich im Alltag vor allem in derales System. Unübersichtlichkeit, uneinheitli- den ausgeprägten Mustern föderaler Koordina- che Lebensverhältnisse, Unvergleichbarkeit oder tion und Verhandlung in nahezu allen Politik- auch Ungerechtigkeit für Lebenschancen lau- bereichen zeigt.06 Für wie grundlegend die fö- ten die Vorwürfe der Kritikerinnen und Kritiker, derale Staatsordnung für das Selbstverständnis insbesondere mit Blick auf den Bildungsfödera- der Bundesrepublik erachtet wurde, zeigt die 09
APuZ 35–37/2020 sogenannte Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 eines coming together federalism,08 also durch Grundgesetz, die die Gliederung des Bundes in den freiwilligen Zusammenschluss von Terri- Länder sowie die Mitwirkung der Länder bei der torien mit dem Ziel, Wirtschafts- und Vertei- Gesetzgebung des Bundes umfasst. Selbst wenn digungsmacht zu bündeln, stand er als Staats- der politische Wille hierzu bestünde, schützt das organisationsprinzip für Deutschland in den Grundgesetz die föderale Ordnung davor, ab- „Verfassungsmomenten“ 1848, 1871, 1919 und geschafft zu werden. Die historische Pfadab- 1949 aktiv zur Disposition und benötigte weiter- hängigkeit ist als Rechtfertigungsargument den- gehende Begründungen.09 Dominant war hierbei noch nur begrenzt tauglich. Sie mag zwar eine das Motiv der Machtbegrenzung. Weder in der Begründung liefern, warum es schwer und somit Mitte des 19. Jahrhunderts noch nach dem Ers- unwahrscheinlich ist, von diesem Pfad abzuwei- ten Weltkrieg konnte sich die preußische Hege- chen.07 Dass darüber hinaus der pfadabhängig monialmacht gegen die starken Fürsten im Sü- bestimmte Zustand funktional oder normativ in den durchsetzen, obwohl sie von Reformern als irgendeiner Hinsicht ausgezeichnet sei, ist da- Kristallisationspunkt für die Ausbildung und durch hingegen nicht automatisch begründbar. Entwicklung eines deutschen Nationalstaates Vielmehr belegt die Theorie der Lock-in-Effekte gesehen wurde.10 Auch 1949, als die Wiederauf- mit ihrem bekanntesten Beispiel der nicht mehr nahme des Bundesstaatsprinzips in das Grund- zeitgemäßen, jedoch in historischer Kontinui- gesetz von den Alliierten unterstützt wurde, galt tät weiterhin standardisierten QWERTZ-Tasta- deren Augenmerk der Machtbegrenzung. Ob- tur, dass pfadabhängige Entwicklungen auch in wohl diese historisch primär territorial verstan- Sackgassen führen können. den wurde – vor Großmachtansprüchen Preu- Das führt uns zum zweiten Argumentati- ßens gegenüber anderen deutschen Territorien onsstrang: der normativen Theorie des Födera- oder eines nationalstaatlichen Deutschlands ge- lismus. Entwickelte sich der deutsche Födera- genüber seinen Nachbarn, denen das Trauma lismus über lange Jahrhunderte nach der Logik zweier von Deutschland begonnener Weltkrie- ge noch in den Knochen steckte –, schützt die 01 Vgl. ZDF, Heute-Show, 15. 5. 2020, www.zdf.de/comedy/ vertikale Gewaltenteilung auch die individuelle heute-show/heute-show-vom-15-mai-2020-100.html. Freiheit. Dieser Aspekt wurde vor allem in der 02 Vgl. etwa Philip Oltermann, Germany’s Devolved Logic Is Hel- Verfassungsdiskussion der USA betont.11 Die ping It Win the Coronavirus Race, 5. 4. 2020, w ww.theguardian. com/world/2020/apr/05/germanys-devolved-logic-is-helping- freiheitssichernde Wirkung föderaler Machtbe- it-win-the-coronavirus-race; Guy Chazan, How Germany Got grenzung dadurch, dass Regierungen nur wenige Coronavirus Right, 4. 6. 2020, www.ft.com/content/cc1f650a- Entscheidungen autonom treffen können, dass 91c0-4e1f-b990-ee8ceb5339ea. immer ein Mitbestimmen Vieler das „Durchre- 03 Vgl. Robert Koch-Institut, COVID-19-Dashboard Germany, gieren“ verhindert, ist selbst in unseren fried- 3. 8. 2020, https://experience.arcgis.com/experience/4782 20a4c454480e823b17327b2bf1d4; dass., Nowcasting und lichen und stabilen demokratischen Zeiten ein R-Schätzung: Schätzung der aktuellen Entwicklung der SARS- kaum zu überschätzender normativer Vorteil fö- CoV-2-Epidemie in Deutschland, 3. 8. 2020, www.rki.de/DE/ deraler Staatsorganisation. Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/ Allerdings wird die Beteiligung Vieler an ei- Nowcasting.html. ner Entscheidung – und somit ein Wesenskern 04 Vgl. Mathias Brodkorb/Katja Koch, Der Abiturbetrug. Vom Scheitern des deutschen Bildungsföderalismus, Springe 2020. föderaler Organisation – in der rationalen Ent- 05 Vgl. Albert Funk, Kleine Geschichte des Föderalismus. Vom scheidungstheorie in der Regel nicht primär als Fürstenbund zur Bundesrepublik, Paderborn 2010; Arthur Benz, freiheitssichernd gelobt, sondern eher als Effi- Lehren aus entwicklungsgeschichtlichen und vergleichenden zienzproblem kritisiert. Ganz allgemein zeigten Analysen. Thesen zur aktuellen Föderalismusdiskussion, in: schon die Wirtschaftswissenschaftler James M. Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 32/2001, S. 391–403; Siegfried Weichlein, Föderalismus und Demokratie in der Bun- Buchanan und Gordon Tullock, dass mit stei- desrepublik, Stuttgart 2018. 06 Vgl. Yvonne Hegele/Nathalie Behnke, Horizontal Coordi- 08 Vgl. Alfred Stepan, Federalism and Democracy: Beyond the nation in Cooperative Federalism: The Purpose of Ministerial U. S. Model, in: Journal of Democracy 4/1999, S. 19–34. Conferences in Germany, in: Regional & Federal Studies 5/2017, 09 Zur Theorie der Verfassungsmomente vgl. Bruce Ackerman, S. 529–548. We the People, Volume 1: Foundations, Cambridge MA 1991. 07 Vgl. Kathleen Thelen, Historical Institutionalism in Compa- 10 Vgl. Funk (Anm. 5), S. 155 ff. rative Politics, in: Annual Review of Political Science 2/1999, 11 Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die S. 369–404. Federalist Papers, Darmstadt 1993 [1787/88]. 10
Corona-Krise APuZ gender Zahl der Entscheidungsbeteiligten die langsame Entscheidung ist an sich kein Fehler, Kosten einer Einigung bis fast ins Unermessli- sofern sie dadurch bedingt ist, dass ihr ein län- che steigen können, weswegen in großen Grup- gerer Abwägungs- und Deliberationsprozess pen eine Einstimmigkeitsregel kaum umsetzbar vorausgeht. Sowohl in der Entscheidungstheo- ist.12 Ähnlich argumentierte der Politikwissen- rie, etwa im „Jury Theorem“ vom französischen schaftler George Tsebelis in der „Vetospieler- Aufklärer Marquis de Condorcet,16 als auch in theorie“: Je mehr Vetospieler vorhanden sei- der Institutionenordnung repräsentativer Demo- en, desto geringer müsse die Veränderung vom kratien17 drückt sich die Annahme aus, dass mehr Status quo ausfallen.13 Explizit auf den Födera- Entscheidungsbeteiligte, Diskussion und Berat- lismus zugeschnitten ist die Theorie der „Poli- schlagung die Qualität und die gesellschaftli- tikverflechtung“, die der Politikwissenschaftler che Akzeptanz einer Entscheidung verbessern.18 Fritz W. Scharpf formuliert hat.14 Auch er zeigt, Umgekehrt zeichnen sich Entscheidungen, die dass verflochtene Politikentscheidungen in fö- von „starken Staatschefs“ im Alleingang getrof- deralen Institutionen Ergebnisse hervorbringen, fen werden, selten durch umfassende Informati- die nach langen Verhandlungsprozessen zu Lö- onen, ausgewogene Risikoabwägung, Weitsicht sungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und Zukunftsfähigkeit aus. Die populäre Anzie- führen. Wenn politische Entscheidungsträgerin- hungskraft der neuen Autokraten beispielsweise nen und -träger aber weder schnelle Maßnahmen liegt gerade darin, dass sie sich keiner Machtkon- ergreifen noch weitreichende Reformen umset- trolle unterwerfen. Gegen diese Kontrastfolie ist zen können, gilt das gemeinhin als Makel in der eine Entscheidung von Politikerinnen und Po- Politik. litikern klar vorzuziehen, die sich erst intensiv Die Frage ist aber, ob beziehungsweise unter über das verfügbare Wissen zu Handlungsopti- welchen Bedingungen verzögerte und schritt- onen und deren Konsequenzen informieren und weise erfolgende Entscheidungen tatsächlich mit anderen Akteurinnen und Akteuren beraten, von Nachteil sind. Klassische Organisationsthe- um sich dann gemeinsam auf die wahrscheinlich orien ebenso wie neuere Theorien des Umgangs beste Entscheidung zu einigen. Insofern hat eine mit Krisen oder mit Komplexität weisen durch- föderale Machtteilung nicht nur den Effekt der gängig darauf hin, dass unter Bedingungen ho- Freiheitssicherung, sondern sie reduziert auch her Unsicherheit über die Auswirkungen einer systematisch das Risiko für politische Fehlent- Handlung dezentrale und schrittweise Entschei- scheidungen. dungen zu bevorzugen sind.15 Auf diese Wei- Aus ökonomischer Sicht schließlich wird ty- se lässt sich verhindern, dass Fehlentscheidun- pischerweise argumentiert, dass eine föderale gen zu katastrophalen Folgen führen. Auch eine Staatsorganisation vorteilhaft sei, da sie eine ef- 12 Vgl. James M. Buchanan/Gordon Tullock, The Calculus 16 Vgl. Manfred J. Holler, Marquis de Condorcet and the Two- of Consent. Logical Foundations of Constitutional Democracy, Dimensional Jury Model, in: Alain Marciano/Giovanni Ramello Ann Arbor 1962. Buchanan und Tullock verdeutlichen auch die (Hrsg.), Law and Economics in Europe and the US, Basel 2016, positive Funktion eines Vetos im Sinne des Minderheitenschut- S. 155–169; Joachim Behnke, Condorcet und die „soziale Ma- zes, sehen also durchaus abgewogen die Vorteile und Risiken thematik“. Eine Einführung in Leben und Werk, in: ders./Carolin verschiedener Entscheidungsregeln. Stange/Reinhard Zintl (Hrsg.), Condorcet. Ausgewählte Schriften 13 Vgl. George Tsebelis, Veto Players and Institutional Analysis, zu Wahlen und Abstimmungen, Tübingen 2011, S. 1–48, hier in: Governance 4/2000, S. 441–474. S. 23 ff. 14 Vgl. Fritz W. Scharpf/Bernd Reissert/Fritz Schnabel, Politik- 17 Vgl. Nadia Urbinati/Mark E. Warren, The Concept of verflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalis- Representation in Contemporary Democratic Theory, in: Annual mus in der Bundesrepublik Deutschland, Kronberg 1976. Review of Political Science 1/2008, S. 387–412. 15 Vgl. Charles E. Lindblom, The Science of „Muddling 18 Vgl. Robert E. Goodin/John S. Dryzek, Deliberative Impacts: Through“, in: Public Administration Review 2/1959, S. 79–88; the Macro-Political Uptake of Mini-Publics, in: Politics & Society Karl E. Weick, Enacted Sensemaking in Crisis Situations, in: 2/2006, S. 219–244; Charles Taylor, Multiculturalism and Journal of Management Studies 4/1988, S. 305–317; Helen Bri- the Politics of Recognition: An Essay, Princeton 1992; Arend assoulis, Policy Integration for Complex Policy Problems: What, Lijphart, Consociational Democracy, in: World Politics 2/1969, Why and How, Berlin 2004; Paul Cairney, Complexity Theory S. 707–725; ders., Constitutional Design for Divided Societies, in Political Science and Public Policy, in: Political Studies Review in: Journal of Democracy 2/2004, S. 96–109; Thomas Hueglin, 3/2012, S. 346–358; Arjen Boin et al., The Politics of Crisis Ma- Treaty Federalism as a Model of Policy Making: Comparing nagement: Public Leadership under Pressure, Cambridge 2016, Canada and the European Union, in: Canadian Public Adminis- S. 49–77. tration 2/2013, S. 185–202. 11
APuZ 35–37/2020 fiziente Verteilung knapper Ressourcen sicher- Zeitpunktes, an dem bestimmte Regelungen einge- stelle und damit für die Bürgerinnen und Bür- führt, verändert oder zurückgenommen wurden, ger auch materiell von Vorteil sei. Dezentrale codiert.19 Einheiten können sich besser als zentrale an re- gionale Notwendigkeiten, Rahmenbedingun- These 1: gen und Bedürfnisse anpassen. Auch können Der Föderalismus führt sie kurzfristiger und flexibler auf sich ändern- zu langsamen Entscheidungen de Bedarfe reagieren. Dezentraler Verwaltungs- Nachdem mehrere Covid-19-Fälle Ende Februar vollzug ist prinzipiell auch ohne eine politische 2020 festgestellt wurden, stiegen die Zahlen der Dezentralisierung von Kompetenzen möglich. täglichen Neuinfektionen innerhalb der ersten Frankreich und Italien haben beispielsweise zwei Märzwochen sprunghaft an – am 8. März hochgradig dekonzentrierte Verwaltungskom- wurde die 1000er-Marke übersprungen, nur petenzen, die politische Entscheidungsmacht zwei Tage später die 2000er-Marke und wiede- bleibt aber vollständig (Frankreich) beziehungs- rum zwei Tage später, am 12. März, die 3000er- weise weitgehend (Italien) zentralisiert. Wäh- Marke.20 Am 12. März fand ein Treffen der Re- rend dort ein flexibler Verwaltungsvollzug vor gierungschefinnen und -chefs der Länder mit Ort ebenso möglich ist wie in Deutschland, Bundeskanzlerin Angela Merkel statt. Dabei ei- existiert nur in Deutschland eine unmittelbare nigte man sich auf Versammlungsverbote und demokratische Rückbindung der politischen In- Schulschließungen. Bereits drei Tage später, am stitutionen an den Wählerwillen. 15. März, waren von Flensburg bis Garmisch- Partenkirchen alle Schulen und Kitas geschlos- ARBEITENDER FÖDERALISMUS sen, für die Kinder berufstätiger Eltern in soge- IN DER KRISE nannten systemrelevanten Berufen wurde eine Notbetreuung angeboten. In der Woche zuvor Die föderale Machtteilung hat also erstens eine hatten bereits 14 von 16 Ländern erste Versamm- individuell freiheitssichernde Wirkung, indem sie lungsverbote erlassen, die letzten beiden Länder staatliche Gewalten in Konkurrenz zueinander folgten am 17. März. Betretensverbote für alle bringt; sie erhöht zweitens die sachliche Quali- Arten von Betreuungs- und Pflegeheimen wur- tät von Entscheidungen in komplexen Entschei- den bis zum 15. März in acht Bundesländern dungssituationen, da mehr Deliberation und und in der Woche darauf in weiteren sieben Län- Diskussion stattfinden und ein hoher Rechtferti- dern eingeführt, nur in Rheinland-Pfalz wurde gungsdruck für die gefundenen Entscheidungen eine entsprechende Regel erst am 23. März ein- herrscht. Und sie sichert drittens eine regional geführt. Der Lockdown für Geschäfte und Gast- angemessene, flexible und effiziente Bereitstel- stätten mit entsprechenden Ausnahmeregelun- lung öffentlicher Güter und Dienstleistungen. gen zur Sicherung des täglichen Bedarfs wurde Diesen Vorteilen gegenüber stehen die vermeint- flächendeckend in der Woche ab dem 16. März lichen Nachteile eines langsamen Entscheidungs- umgesetzt. Etwas verzögert und uneinheitlicher prozesses und einer für die Bürgerinnen und sieht es bei den Quarantäne-Verordnungen für Bürger unübersichtlichen Rechtszersplitterung Reiseheimkehrerinnen und -heimkehrer aus Ri- im Territorium. sikogebieten aus: Diese wurden bis zum 15. März Inwiefern sich diese Vor- und Nachteile im der- in acht und in der Woche darauf in weiteren vier zeitigen pandemiebedingten Krisenalltag des ar- Bundesländern eingeführt. Die restlichen Län- beitenden Föderalismus bestätigen lassen, wird im der zogen erst am 23. März (Rheinland-Pfalz), Folgenden am Beispiel der sogenannten Corona- am 2. April (Berlin) und am 10. April (Sachsen Verordnungen empirisch überprüft. Hierbei han- und Sachsen-Anhalt) nach. delt es sich um die Rechtsvorschriften, die die Lan- desregierungen seit März 2020 erlassen haben. Im 19 Der Datensatz kann auf Nachfrage von der Autorin für Wesentlichen sind es Verordnungen, teilweise All- eigene Analysen angefordert werden. Ich danke sehr herzlich meinem Team an Codiererinnen und Codierern (Marie Zegowitz, gemeinverfügungen und einige wenige formelle Vivien Reining, Till Jürgens und Jannis Kupfer), die als studenti- Dienstanweisungen. Diese wurden für den Zeit- sche Hilfskräfte diese herkulische Aufgabe in wenigen Wochen raum vom 9. März bis zum 21. Juni 2020 in allen bewältigt haben. 16 Bundesländern erhoben und hinsichtlich des 20 Vgl. Robert Koch-Institut (Anm. 3). 12
Corona-Krise APuZ Diese Zusammenschau verdeutlicht, dass in Tätigkeit, der Dauer des Aufenthaltes, der Ent- Krisenzeiten die föderale Handlungsabstimmung fernung von der Wohnung und Ähnliches mehr, kaum zu verzögerten Reaktionen führt. Fast alle die sich nicht mehr sinnvoll zusammenfassen als notwendig erkannten Maßnahmen wurden in- oder vergleichen lassen. nerhalb weniger Tage flächendeckend realisiert. Ebenfalls sehr uneinheitlich gestaltete sich der Weg aus dem Lockdown heraus. Erste Lo- These 2: ckerungen wurden im Einzelhandel bereits ab Der Föderalismus führt Mitte April 2020 eingeführt, für Gastronomie, zu Rechtszersplitterung Einrichtungen, Sport und Tourismus gingen die Die Unübersichtlichkeit der geltenden Infekti- Länder dann in der Rücknahme der Lockdown- onsschutzregelungen war, wie eingangs aufge- Maßnahmen sowohl im Zeitverlauf als auch hin- zeigt, ein augenfälliges Merkmal des deutschen sichtlich der Schwerpunktsetzung unterschied- Föderalismus in der Zeit des Corona-Lock- liche Wege, wobei die Tendenz über alle Länder downs. Tatsächlich lässt sich dies – zumindest hinweg einhellig in Richtung Lockerung ging. Ab in Teilen – empirisch bestätigen. Aus der breiten dem 27. April durften in zwölf Ländern Schüle- Vielfalt der Regelungsinhalte in den Corona-Ver- rinnen und Schüler der Abschlussklassen wieder ordnungen seien drei Bereiche exemplarisch he- zur Schule gehen, die übrigen vier Länder zogen rausgegriffen: erstens die Hygienemaßnahmen, in der darauffolgenden Woche nach. Erst ab dem insbesondere Maskenpflicht und Ausgehverbo- 15. Juni hatten alle Schülerinnen und Schüler zu- te; zweitens die Kontaktbeschränkungen im öf- mindest phasenweise wieder Präsenzunterricht, fentlichen und privaten Raum; sowie drittens der wobei am 25. Juni bereits in einigen Ländern die Rückweg von Schließungen zur Wiederöffnung Sommerferien begannen. von Einrichtungen. Die Beispiele zeigen, dass die Regelungsviel- In der Telefonschalte der Regierungschefin- falt in der Tat erheblich war und leicht zu Un- nen und -chefs der Länder mit der Bundeskanz- übersichtlichkeit für die Bürgerinnen und Bür- lerin am 15. April 2020 wurde eine Empfehlung ger führen konnten. Diese ist aber nur teilweise zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes be- der Uneinheitlichkeit der Regelungen zwischen schlossen. Zwischen dem 20. und 29. April führ- den 16 Ländern geschuldet. Mindestens ebenso ten alle Länder eine Maskenpflicht ein, in den zur Verwirrung beigetragen hat die hohe Fre- meisten Ländern war diese Verpflichtung darüber quenz der Änderungen innerhalb eines Landes. hinaus bußgeldbewehrt. Wesentlich uneinheitli- In Nordrhein-Westfalen wurden im Untersu- cher stellten sich die Ausgehbeschränkungen dar. chungszeitraum von 15 Kalenderwochen insge- In fünf Bundesländern (Bayern, Saarland, Sach- samt 45 Verordnungen, Bereinigungs- und Än- sen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg) wurden derungsverordnungen erlassen, also im Schnitt Ausgehverbote verhängt, die sich im Kern auf drei pro Woche. Für Bayern lassen sich 81 Re- den Zeitraum vom 23. März bis zum 26. April er- gelungsdokumente recherchieren, was fast einer streckten (in Bayern galten sie vom 9. März bis Änderung pro Tag entspricht. In Baden-Würt- zum 3. Mai). In den anderen Ländern setzte man temberg ging man zunehmend dazu über, neben auf moralische Appelle und Freiwilligkeit, um zentralen Rechtsverordnungen der Landesregie- das Ausgehverhalten zu beschränken. rung die Regelungskompetenz für Detailfragen Die Kontaktbeschränkungen schließlich va- an die Fachministerien zu delegieren, sodass ne- riierten zwischen den Ländern und über die ben 18 Verordnungen und Allgemeinverordnun- Zeit hinweg weit von einer Beschränkung auf gen weit über 50 weniger sichtbare Verfügungen die Mitglieder des eigenen Haushalts über zah- und Erlasse von den Fachministerien herausgege- lenmäßige Begrenzungen (eine, zwei, drei wei- ben wurden. Die Kritik der Rechtszersplitterung tere Personen) oder die Beschränkung auf zwei kann am Beispiel der Corona-Infektionsschutz- Haushalte. Noch unübersichtlicher waren die maßnahmen daher zwar prinzipiell bestätigt Regelungen, die sich auf den Aufenthalt und werden. Aber es muss in Rechnung gestellt wer- die Bewegung im öffentlichen Raum bezogen. den, dass aufgrund der hohen Dynamik, mit der Hier finden sich viele denkbare Kombinatio- sich die Situation entwickelte, auch innerhalb der nen von Abstandsgeboten, personenbezogenen einzelnen Länder eine unübersichtliche Rechts- Kontaktbeschränkungen, Einschränkungen der lage herrschte. 13
APuZ 35–37/2020 These 3: der Wahlen als Krisenmanager oder als besonders Der Föderalismus schützt volksnah profilieren zu können, wurde durch die- die individuelle Freiheit se wechselseitige Beobachtung und Anpassung Am 25. März 2020 stellte der Deutsche Bundestag stillschweigend dem Mainstream wieder angegli- das Vorliegen einer „epidemischen Lage von nati- chen, sodass unter dem Strich – zumindest vergli- onaler Tragweite“ gemäß dem neu gefassten § 5 des chen mit den europäischen Nachbarländern – eine am selben Tag vom Bundestag geänderten Infekti- relativ weniger intensive Einschränkung der Indi- onsschutzgesetzes (IfSG) fest. Diese Feststellung vidualrechte umgesetzt wurde. ermächtigte das Bundesgesundheitsministerium, die individuellen Grundrechte einzuschränken These 4: und in die föderale Kompetenzverteilung nach Der Föderalismus führt Art. 84 GG einzugreifen.21 Die Sorgen, die von zu sachlich besseren Entscheidungen Verfassungsjuristinnen und -juristen in Reaktion Diese These ist empirisch nicht überprüfbar, da auf die Novelle des IfSG geäußert wurden, schei- der Test kontrafaktische Annahmen erfordert. nen sich aber bislang kaum bestätigt zu haben.22 Es kann lediglich auf Plausibilitätsargumen- Hinsichtlich der föderalen Kompetenzverteilung te zurückgegriffen werden. Die enge Koordina- hat das Bundesgesundheitsministerium den Erlass tion zwischen den Ländern und mit dem Bund der Infektionsschutzverordnungen komplett den ist ein wichtiger Indikator für einen intensiven Ländern überlassen und selbst nur wenige Rege- Suchprozess nach richtigen Lösungen. Zwischen lungen beschlossen, die sich auf die Registrierung dem 12. März 2020 und dem 17. Juni 2020 fan- bei der Einreise aus Nicht-EU-Staaten beziehen den insgesamt acht offizielle Treffen der Regie- und somit ohnehin nicht in den Kompetenzbe- rungschefinnen und -chefs der Länder mit der reich der Länder fallen.23 Bundeskanzlerin statt, während unter norma- Im Hinblick auf die Einschränkung individu- len Umständen im selben Zeitraum ein Treffen eller Rechte sind Versammlungsverbote, Ausgeh- stattgefunden hätte. Ergänzt wurden diese Tref- und Kontaktbeschränkungen und nicht zuletzt fen auf höchster politischer Ebene durch Kon- die Maskenpflicht für Deutschland ungewohn- ferenzen der Leiterinnen und Leiter der jewei- te Maßnahmen. Dennoch zeigt der empirische ligen Staatskanzleien sowie regionale Treffen. Vergleich der Regulierungstätigkeit der Länder, Koordinationsgremien zwischen den Akteuren dass gerade der Wettbewerb zwischen den Län- des Gesundheitssystems wurden im Rahmen der dern den Rechtfertigungsdruck auf die politischen Pandemiepläne eingesetzt. Zahlreiche informel- Entscheiderinnen und Entscheider und damit le Meetings, Telefonate und Absprachen sichern letztlich auch die Transparenz der Begründungen schließlich einen stetigen engen Austausch zwi- deutlich erhöht. Wenn im einen Bundesland Got- schen allen Akteurinnen und Akteuren. Der be- tesdienste schon wieder erlaubt sind und im an- ständige Rückgriff auf laufende wissenschaftli- deren noch nicht, stehen beide Regierungen unter che Erkenntnisse ist ein weiteres Kennzeichen erhöhter Beobachtung der Öffentlichkeit, ob die- der Rationalität des Entscheidungsprozesses in se Maßnahmen den gewünschten Effekt bringen. der Krise. Auch der Wettbewerb zwischen den Manches Vorpreschen eines Ministerpräsidenten, Ländern kann zur Rationalisierung der Entschei- der vielleicht glaubte, sich angesichts herannahen- dungen beitragen, denn er übt auf die Politike- rinnen und Politiker einen Rechtfertigungs- und 21 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Begründungsdruck aus. Andererseits zeigte sich, Staatsorganisation und § 5 Infektionsschutzgesetz, WD-3-080- dass dieser Wettbewerbsdruck auch Spitzenpo- 2020, www.bundestag.de/resource/blob/690262/cb7180 05e litiker der Länder verleitete, von gemeinsamen 6d37ecce82c99191efbec49/WD-3-080-20-pdf-data.pdf; dies. Koordinierung der Maßnahmen zur Eindämmung des Coro- Vereinbarungen öffentlichkeitswirksam abzu- navirus durch die Bundesregierung, WD-3-105-2020, www. weichen, um sich zu profilieren. Der Effekt des bundestag.de/resource/blob/692490/5883cb39172f495b6044 Wettbewerbs auf die Qualität der Entscheidun- 317360e67a00/WD-3-105-20-pdf-data.pdf. gen ist daher ambivalent. Schließlich deutet der 22 Vgl. dies., Staatsorganisation und § 5 Infektionsschutzgesetz Vergleich des Pandemieverlaufs in Deutschland (Anm. 21), S. 7. 23 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, Gesetze und Ver- mit anderen westlichen Demokratien darauf hin, ordnungen, 27. 7. 2020, www.bundesgesundheitsministerium.de/ dass die getroffenen Entscheidungen vermutlich service/gesetze-und-verordnungen.html. sachlich nicht ganz falsch waren. 14
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