Schweizer Revue - Auslandschweizer-Organisation

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Schweizer Revue - Auslandschweizer-Organisation
DEZEMBER 2022

Schweizer
Revue
Die Zeitschrift für
Auslandschweizer:innen

 Ein würziger Schweizer Käse
 hofft auf milde Richter in Brüssel
 Eine Debatte erfasst die Nation gründlich:
 Was genau bedeutet für uns «Neutralität»?

 Eine strahlende Deponie für die Ewigkeit:
 Die Schweiz plant ihr Atommüll-Endlager
Schweizer Revue - Auslandschweizer-Organisation
Das gesamte Team der Auslandschweizer-Organisation
     SwissCommunity wünscht Ihnen ein glückliches und
                  erfolgreiches Jahr 2023.

  Wir freuen uns darauf, weiterhin gemeinsam für die Inte-
  ressen der rund achthunderttausend im Ausland leben-
  den Schweizerinnen und Schweizer tätig sein zu können.

Unsere Neujahrskarte wurde von Sandra Liscio gestaltet, Schweizer Designerin    Betrachten Sie
                                                                                                 © Sandra Liscio

  und Lettering Artist in London. Lesen Sie das Porträt von Sandra Liscio auf   die animierte
   unserer Community-Plattform: https://swisscommunity.link/sandraliscio        Neujahrskarte

                                    Unsere Partner:
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Inhalt                                                          Editorial                                                                           3

         4        Schwerpunkt                                   Unser Käse, unsere Neutralität
                  Die Schweiz ringt um ihre Neutralität
                  und debattiert über deren Bedeutung

         10       Wirtschaft
                  So ein Käse! Ausländische Produzenten
                  bedrängen den Schweizer Emmentaler

         13       Natur und Umwelt
                  Die Schweiz hat entschieden, wie sie          Wer die ganz plakativen Klischees der Schweiz hervor­
                  ­ihren radioaktiven Müll verwahren will        klaubt, landet früher oder später – beim Käse. Vermut­
                                                                 lich beim Emmentaler. Dieser grosslöchrige Käse ist ge­
                                                                 radezu eine schweizerische Ikone. Nur: Im Ausland wird
                                                                 weit mehr Käse mit dem Etikett «Emmentaler» hergestellt als in der
                                                                 Schweiz. Die Schweizer Käsebranche will deshalb den Schutz der Marke
                                                                verbessern und hat die Gerichtsbarkeit der Europäischen Union ange­
                                                                 rufen (Seite 10). Das ist nicht ohne Reiz: Die «fremden Richter», vor
                                                                ­denen in Schweizer Agrarkreisen oft gewarnt wird, sollen ein Agrar­
                                                                 produkt schützen helfen, das schweizerischer nicht sein könnte. Wie
                                                                 der Fall ­enden wird, ist offen.

                                                                Junger Emmentaler ist übrigens mild. Je nach Reifegrad wird er kräftig,
         16       Politik                                       würzig, rezent. Lässt man ihn lange reifen, verändert sich seine Konsis­
                  Statt bis 64 neu bis 65: Frauen in der        tenz und es bilden sich in den Löchern Salzkristalle. Der Emmentaler
                  Schweiz müssen ein Jahr länger arbeiten       steht also für Vielfalt und ist alles andere als ein neutraler Käse.

         18       Gesellschaft                                  Damit sind wir nun – welch ein Zufall – tatsächlich bei der Neutralität
                  Herausgefordertes Bildungswesen:              gelandet. Über Neutralität wird in der Schweiz gegenwärtig leidenschaft­
                  Der Volksschule fehlen die Lehrkräfte         lich diskutiert. Ist eine Nation, die sich an Sanktionen gegen das kriegs­
                                                                führende Russland beteiligt, noch neutral? Oder ist Neutralität eine Wer­
         20 Reportage                                           tehaltung, die angesichts des Schreckens des Krieges eben gerade
                  Unterwegs auf Schweizer Schienen, auf         Anteilnahme und Engagement ­verlangt? Wegschauen oder hinschauen?
                  dem dichtesten Eisenbahnnetz der Welt
                                                                Was die nähere Betrachtung zeigt: Die Bedeutung der Neutralität wan­
         24 Gesehen                                             delte sich in der Vergangenheit laufend – und sie wandelt sich auch jetzt.
                  Der Schweizer Modefotograf Peter              Manchmal liefert der abstrakte Begriff auch keine klare Antwort, so etwa
                  Knapp wurde in Paris zum Zeitzeugen           auf die Frage, was zu tun ist, wenn Krieg den Kontinent erschüttert.

         26 Literatur                                             Höchstwahrscheinlich werden die Schweizerinnen und Schweizer in
                  Autor Jenö Marton wollte einfach nur          absehbarer Zukunft an der Urne zur Neutralität Stellung beziehen
                  Schweizer wie jeder andere sein                ­können (Seite 4). Das ist durchaus ein Privileg, denn Neutralität stellt
                                                                nur dann einen soliden Grundwert dar, wenn wir uns darauf einigen,
         28 Kultur                                              wie wir sie verstehen wollen. Wer jetzt in die Diskussion einsteigen will,
                  Jürgen Strauss setzt mit seinem               wird übrigens verblüfft merken: Über Neutralität kann man gar nicht
                  ­Tonstudio neue Massstäbe                     ­neutral diskutieren.
                                                                                                                       MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR
         32 Aus dem Bundeshaus
                  Eine neue App für die
                  ­Auslandschweizergemeinschaft

         35 SwissCommunity-News

         38 Diskurs

                                                                                             Herausgeberin der «Schweizer Revue»,
         Titelbild: Emmentaler Käse.                                               des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz,
         Foto StockFood / Michael Wissing, Cartoon Max Spring                                ist die Auslandschweizer-Organisation.

Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
Schweizer Revue - Auslandschweizer-Organisation
4                   Schwerpunkt
Cartoon: Max Spring

                                    Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
Schweizer Revue - Auslandschweizer-Organisation
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              In Europa herrscht Krieg –
              und die Schweiz ringt
              um ihre Neutralität.
              Kaum ein anderes Land praktiziert die Neutralität so lange wie die Schweiz.
              Doch ist sie noch zeitgemäss? Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine
              ist die politische Debatte dazu neu aufgeflammt. Früher oder später wird die
              Grundsatzfrage an der Urne entschieden.

               THEODORA PETER                             Denn als neutraler Staat darf die          als neutrale und von ­     a llen Seiten
               Wie die direkte Demokratie gehört die      Schweiz gemäss dem Haager Abkom­           ­akzeptierte Vermittlerin. Bereits die
               Neutralität zur Identität der Schweiz.     men von 1907 keine Kriegspartei be­         frühere Aussenministerin Micheline
               Man mischt sich nicht in fremde Kon­       vorteilen.                                 Calmy-Rey (SP) hatte während ihrer
               flikte ein, hilft aber bei humanitären                                                Amtszeit (2003−2011) den Begriff e ­ iner
               Krisen und bietet sich als Vermittlerin    «Kooperative» und                          «aktiven Neutralität» geprägt. Das
               an. Dieses Rollenverständnis stiess        «aktive» Neutralität                        Land sei von einer «aus der Not gebo­
               in der Vergangenheit international                                                     renen Neutralität, die auf ihrem Sicher­
               auf ein zwiespältiges Echo. Zuspruch       Zur Neutralität gab und gibt es im Lauf    heitsbedürfnis beruhte, zu einer akti­
               gab es für den Willen und die Bemü­         der Jahrhunderte verschiedene Kon­        ven Neutralität übergegangen, die sich
               hungen zur Friedensförderung, Kritik       zepte und Begrifflichkeiten, wie der        auf das Völkerrecht stützt», schreibt
               für das Abseitsstehen und Profitden­        Historiker Marco Jorio in seinem Bei­      die alt Bundesrätin im 2020 erschiene­
               ken – etwa während dem Zweiten             trag («Welche Neutralität?», Seite 7)       nen Buch «Die Neutralität. Zwischen
               Weltkrieg oder der Apartheid.              ­illustriert. Zuletzt proklamierte Bun­    Mythos und Vorbild». Gar als Paradig­
                   Das helvetische Selbstbild der Un­      des­rat Cassis im Mai am Weltwirt­         menwechsel bezeichnet Calmy-Rey
               parteilichkeit steht erneut auf dem         schaftsforum Davos die «kooperative        darin den Beitritt der Schweiz zu den
               Prüfstand, seit Russland im Februar        Neutralität». An die Adresse der Welt­     Vereinten Nationen im Jahr 2002 sowie
               dieses Jahres in der Ukraine einmar­        öffentlichkeit gerichtet, unterstrich      die 2011 vom Bundesrat beschlossene
               schierte. Nach anfänglichem Zögern          der Aussenminister, dass sich die          Kandidatur für einen nicht ständigen
               übernahm auch die Schweiz in nie da­        Schweiz als neutrales Land sowohl für      Sitz im UNO-Sicherheitsrat. Diese Auf­
               gewesenem Ausmass die harten                die eigenen wie auch für die ge­mein­      gabe wird die Schweiz erstmals in den
               Sanktionen der Europäischen Union           samen Grundwerte einsetze. «Des­          Jahren 2023/2024 übernehmen.
               (EU). «Einem Aggressor in die Hände        halb steht die Schweiz mit den Län­
               zu spielen, ist nicht neutral», erklärte    dern zusammen, die diesem Angriff         Christoph Blocher lanciert Idee
               Bundespräsident Ignazio Cassis (FDP)       auf die Grund­festen der Demokratie        einer Neutralitäts-Initiative
               nach dem Kriegsausbruch die Haltung         nicht ­tatenlos zuschauen.» Koopera­
               des Bundesrates – und verwies dabei        tiv sei die Schweiz darüber hinaus         Gar nicht einverstanden mit der akti­
               auf Verletzungen des humanitären           auch beim E   ­ ngagement für eine «sta­   ven Weiterentwicklung der Schweizer
               Völkerrechts durch Russland. Waffen­       bile Sicherheitsarchitektur», die nur      Neutralität ist die SVP. Insbesondere
               lieferungen an die Ukraine schloss          multilateral entstehen könne. Damit       die Übernahme der EU-Sanktionen
               die Regierung hingegen explizit aus.       warb Cassis für die Rolle der Schweiz      gegen Russland kommt für die Partei

Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
Schweizer Revue - Auslandschweizer-Organisation
6   Schwerpunkt

                                                        Welche Neutralität?
      einem «Bruch der Neutralität» gleich.
      Die Schweiz sei aus «purem Opportu-
      nismus» selber zur Kriegspartei ge-               MARCO JORIO                                    wortung in Friedens- und Kriegszeiten
      worden und habe deshalb ihre Glaub-               «Es kommt niemand mehr draus», rief            betreibt, um seiner Neutralität Glaub­
      würdigkeit als Vermittlerin verloren,             der Moderator während einer politischen        würdigkeit zu verschaffen. Diese ist noch
      kritisiert SVP­-Doyen Christoph Blo-              Diskussionssendung im Schweizer Fern­          offener als das Neutralitätsrecht. Unter
      cher. Um zu verhindern, dass das                  sehen zur Neutralität schon fast ver­          den verschiedenen «Neutralitäten» gibt
      Land künftig «in Kriege hineingezogen             zweifelt aus, als die Politikerinnen und       es einerseits die «immerwährende»
      wird», hat Blocher zusammen mit Mit-              Politiker in der Runde mit Adjektiven ge­    ­Neutralität, wie sie die Schweiz seit 400
      streitern eine Volks­initiative lanciert.         spickte Neutralitätskonzepte um sich         Jahren praktiziert, andererseits die «gele­
      Sie soll nicht nur die «umfassende, im-           warfen. Auch in der öffentlichen Debatte       gentliche» Neutralität, die nur in einem
      merwährende und bewaffnete Neut-                  gehen Begriffe wie «integrale», «differen­    präzisen Krieg verfolgt und von fast allen
      ralität» in der Bundesverfassung ver-             zielle», «kooperative» Neutralität wild       Staaten in fast allen Kriegen angewendet
      ankern, sondern auch festschreiben,               durcheinander. Die Liste solcher Adjek­        wird. Die Neutralität kann bewaffnet
      dass die Schweiz weder Sanktionen                 tiv-Neutralitäten belegt, dass Neutralität   (Schweiz, Österreich) oder unbewaffnet
      gegen kriegsführende Staaten ergrei-              kein feststehendes Konzept ist. «Die           sein (Costa Rica); sie kann völkerrecht­
      fen noch einem Verteidigungsbündnis               Neutralität färbt sich je nach Entwicklung    lich anerkannt sein (Schweiz, Österreich)
      beitreten darf. Am 8. November 2022               der Ereignisse», meinte schon während          oder als selbst gewählte Praxis ohne
      wurde die Unterschriftensammlung                  des Zweiten Weltkriegs Aussenminister         ­völkerrechtliche Anerkennung umgesetzt
      für die Initiative gestartet.                     Marcel Pilet-Golaz.                            werden (Irland).
          Bislang ist die Neutralität in der                Zwar gibt es seit 1907 ein internatio­        Aber auch die von der Schweiz prakti­
      Bundesverfassung nur rudimentär                   nal vereinbartes Neutralitätsrecht, aber     zierte immerwährende, bewaffnete und
      be­schrieben. Parlament und Bundes-               dieses legt nur einige wenige Grundsätze       seit 1815 völkerrechtlich anerkannte Neu­
      rat sind demnach dazu verpflichtet,               über die Pflichten und Rechte des Neut­       tralität wandelte sich. Bis zum Ersten
      «Massnahmen zur Wahrung der äus­                  ralen im Krieg fest. Darum herum ent­        Weltkrieg war Neutralität ausschliesslich
      seren Sicherheit, der Unabhängigkeit              wickelte sich die Neutralitätspolitik, die     militärisch konnotiert. Im Ersten Welt­
      und der Neutralität der Schweiz» zu               jeder neutrale Staat in eigener Verant­        krieg führten die beiden Kriegsparteien
      treffen. Zur Aussenpolitik schreibt die
      Verfassung vor, dass sich der Bund für
      die «Wahrung der Unabhängigkeit der
      Schweiz und für ihre Wohlfahrt» ein-
      setzt und zur «Linderung von Not und        tensammlung hat die SVP das Thema         gen Regeln zum Export von Schwei-
      Armut in der Welt, zur Achtung der          Neutralität auf die politische Agenda     zer Kriegsmaterial. Zwar steht eine
      Menschenrechte und zur Förderung            des eidgenössischen Wahljahres 2023       Lieferung von Waffen direkt an eine
      der Demokratie, zu einem friedlichen        gesetzt. Aktiv unterstützt wird die       Kriegspartei ausser Frage. Doch er-
      Zusammenleben der Völker s­ owie zur        ­Initiative von der Vereinigung «Pro      achten es bürgerliche Parlamentarier
      Erhaltung der natürlichen Lebens-           Schweiz», die sich als Nachfolgeorga-     als stossend, wenn zum Beispiel Län-
      grundlagen» beiträgt. Diese Formulie-       nisation der Aktion für eine unabhän-     der wie Deutschland in der Schweiz
      rungen lassen einen erheblichen po-         gige und neutrale Schweiz (Auns) den      gekaufte Panzermunition nicht an die
      litischen Spielraum zu, den Blocher         Kampf gegen jegliche Annäherung           Ukraine weitergeben dürfen. Eine
      mit einem zusätzlichen Neutralitäts-        der Schweiz an die EU auf die Fahne       Kom­mission des Ständerates prüft
      artikel beschränken möchte.                 geschrieben hat.                          nun Ausnahmen vom sogenannten
                                                      Die übrigen politischen Parteien      Wieder­ausfuhrverbot. Dieses dient
      Internationale Zusammenarbeit               erachten das Neutralitätsverständnis      im Normalfall dazu, dass Schweizer
      ausbauen                                    der SVP als überholt. Angesichts des      Waffen nicht über Umwege in «falsche»
                                                  Ukraine-Kriegs brauche es statt Isola­    Hände geraten.
      Bis das Stimmvolk an der Urne über          tion mehr internationale Zusammen-
      eine allfällige Ergänzung der Bundes-       arbeit, so der Tenor. Die FDP schliesst   Auch eine Frage der Solidarität
      verfassung befinden wird, dürften           auch eine Annäherung an die Nato
      noch ein paar Jahre vergehen. Doch          nicht aus. Im Raum steht zudem eine       Der Bundesrat hält an seiner bisheri-
      mit der Lancierung der Unterschrif-         Forderung nach Lockerung der stren-       gen Neutralitätspolitik fest, wie er zu-

                                                                                                                   Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
Schweizer Revue - Auslandschweizer-Organisation
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                                               keine militärischen, wohl aber wirtschaft-    vor zwanzig Jahren verfolgt die Schweiz
                                               liche Sanktionen übernehmen musste.           wieder eine Art «differenzielle Neutrali-
 Dr. h.c. Marco Jorio ist Historiker           Diese Spielart der Neutralität wurde nun      tät». Im Unterschied zu 1920 wurde der
 (Fachgebiete Neuere Geschichte und            «differenzielle Neutralität» genannt. Als     Schweiz beim Beitritt zur UNO formell
 Schweizergeschichte). Er war während          sich in den 1930er-Jahren herausstellte,      kein neutraler Status zugestanden. Die
 30 Jahren Projektleiter und Chef­
                                               dass der Völkerbund nicht in der Lage         Schweiz hat aber einseitig deklariert, an
 redaktor des «Historischen Lexikons
 der Schweiz». In Bälde wird eine von          war, den Weltfrieden zu bewahren,             ihrer Neutralität festhalten zu wollen.
 ihm verfasste Neutralitätsgeschichte          distan­zierte sich die Schweiz 1938 mit       Nun schränkt die UNO-Charta die Neut-
­erscheinen.                                   dem Schlagwort «Rückkehr zur integra-         ralität ein und verpflichtet die Schweiz,
                                               len Neutralität» vom Völkerbund. Sie er-      von der UNO verhängte Sanktionen zu
                                               hielt vom Völkerbund das Zugeständnis,        übernehmen. Aber zusätzlich sieht die
                                               nicht mehr an die Sanktionen des Völker-      Schweiz in ­ihrem eigenen Sanktions­
einen unbarmherzigen Wirtschaftskrieg,         bunds gebunden zu sein.                       gesetz von 2002 vor, auch Sanktionen,
in den auch die Neutralen gegen ihren              Diese «integrale Neutralität» verfolgte   welche die OSZE und die wichtigsten
Willen einbezogen wurden. Die Schweiz          die Schweiz während des Zweiten Welt-         Handelspartner verfügt haben, zu folgen,
musste praktisch den ganzen Aussen-            kriegs und des Kalten Kriegs, wobei sie       wie dies jetzt mit den EU-Sanktionen ge-
handel der Kontrolle der beiden Kriegsal-      diese starre und sehr formaljuristische       gen den Aggressor Russland geschehen
lianzen unterstellen. Damals kam der Be-       Haltung seit den 1960er-Jahren sukzes-        ist. Ob die von Bundespräsident Cassis
griff der wirtschaftlichen Neutralität auf.    sive aufweichte. So trat die Schweiz dem      jüngst in die Welt gesetzte «kooperative
    Nach dem Krieg trat die Schweiz dem        Europarat bei, verfolgte eine idealisti-      Neutralität» je Realität wird, steht noch
Völkerbund bei. Die Schweiz war aber           sche Menschenrechtspolitik und nahm           in den Sternen.
nicht bereit, auf die militärische Neutrali-   aktiv an den Verhandlungen der Konfe-
tät zu verzichten. Nach zähen Verhand-         renz über Sicherheit und Zusammenar-
lungen wurde ihr in der Londoner Erklä-        beit in Europa teil (KSZE, heute OSZE).       Neutralität im «Historischen Lexikon der
rung von 1920 zugestanden, dass sie            Seit dem Beitritt der Schweiz zur UNO         Schweiz»: revue.link/neutral

                                                        letzt im Herbst bekräftigte. Insbeson-       nen seien stets «ein Geben und ein
                                                        dere betrachtet die Regierung die            Nehmen». Und letztlich ist es auch
                                                        jüngste Übernahme von EU-Sanktio-            eine Frage der Solidarität, zur Stabili-
                                                        nen gegen Russland als vereinbar mit         tät auf dem Kontinent beizutragen.
                                                        der Neutralität. Darüber hinaus will            Angesichts eines Kriegs mitten in
                                                        der Bundesrat in Sicherheits- und            Europa sind auch in der Schweiz bis-
                                                        Ver­teidigungsfragen stärker mit dem         herige Gewissheiten von dauerhaftem
                                                        Ausland kooperieren – sowohl mit der         Frieden und Wohlstand ins Wanken
                                                        EU wie mit der Nato. Zwar schliesst          geraten. In einer instabilen Welt muss
                                                        Verteidigungsministerin Viola Amherd         die neutrale Schweiz ihren Platz neu
                                                        (Mitte) einen Nato-Beitritt kategorisch      finden.
                                                        aus, doch soll die Schweizer Armee
                                                        zum Beispiel an Verteidigungsübun-
                                                        gen des Militärbündnisses teilneh-
                                                        men können. «Wir dürfen nicht einfach
                                                        nur Trittbrettfahrer sein», betonte Am-      «Die Neutralität der Schweiz».
                                                                                                     Publikation EDA 2022
                                                        herd in einem Zeitungsinterview. Die
                                                                                                     revue.link/neutralitaet
Cartoon: Max Spring                                     Schweiz brauche Partnerschaften,
                                                        um im Ernstfall auf eine Unterstützung       «Die Neutralität. Zwischen Mythos und Vorbild».
                                                        zählen zu können. Solche Kooperatio-         Micheline Calmy-Rey. NZZ Libro (2020)

Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
Schweizer Revue - Auslandschweizer-Organisation
8      Herausgepickt                                                         Nachrichten

Jean-Luc Godard                                                              Kim de l’Horizon gewinnt Deutschen Buchpreis
                                                                             Eine der wichtigsten literarischen Auszeichnungen, der
                                                                             Deutsche Buchpreis, geht dieses Jahr in die Schweiz: Aus­
                                                                             gezeichnet wurde Kim de l’Horizon für den Debütroman
                                                                             «Blutbuch». «Blutbuch» gilt somit als bester deutschspra­
                                                                             chiger Roman des Jahres. Kim de l’Horizon versteht sich
                                                                             als nonbinäre Person – und auch die Hauptfigur des aus­
                                                                             gezeichneten Werks identifiziert sich weder als Mann noch
                                                                             als Frau. Aus Sicht der Jury sucht die nonbinäre Erzähl­
                                                                             figur im Roman «mit einer enormen kreativen Energie nach
                                                                             einer eigenen Sprache». Die Preisverleihung an der Frank­
                                                                             furter Buchmesse wurde auch visuell zum spektakulären
                                                                             Auftritt: Während der Dankesrede hat sich Kim de l’Hori­
                                                                             zon aus Solidarität mit den unterdrückten Frauen im Iran
                                                                             den Kopf rasiert.                                    (MUL)

                                                                             Ignazio Cassis besucht Wolodimir Selenski
                                                                              Der Schweizer Bundespräsident und Aussenminister
                                                                              ­Ignazio Cassis ist am 20. Oktober überraschend in die
                                                                             ­Ukraine gereist. Laut eigenen Angaben wollte sich Cassis
                                                                             vor Ort ein eigenes Bild der Lage machen und in Kiew mit
                                                                             Wolodimir Selenski über den Wiederaufbau der Ukraine
                                                                               sprechen. Cassis: «Wir wollen auch die ukrainischen An­
                                                                               strengungen für einen innovativen Wiederaufbau unter­
                                                                               stützen.» Zur Sprache gekommen seien auch die Heraus­
                                                                              forderungen des nahenden Winters. Der Besuch Cassis
                                                                              erfolgte nur Stunden vor der Bombardierung zahlreicher
                                                                              ukrainischer Städte mit Kamikazedrohnen, einer weiteren
                                                                               Eskalation des Krieges.                           (MUL)

   Im Film «Ausser Atem» (1960) wendet sich Jean-Paul Belmondo               Keine Volksabstimmung zum Kampfjet-Kauf
­plötzlich direkt zur Kamera. «Wie bitte, Sie lieben das Meer nicht?         Das Schweizer Stimmvolk wird nicht über die Beschaffung
   Sie machen sich aus dem Gebirge nichts? Für Städte haben Sie auch         des Tarnkappenkampfjets F-35 abstimmen können: Die
   nichts übrig? ... Da kann ich nur sagen: Sie können mich ...!» Die ers­   ­Initiantinnen und Initianten zogen ihre von über 100 000
   ten Filme des französisch-schweizerischen Filmemachers Jean-Luc           Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnete Volksinitiative
Godard, der am 22. September 2022 verstarb, schockierten die Kino­           zurück. Man biete nicht Hand für eine Pseudoabstimmung,
welt. Knappe Dialoge, Filmen mit geschulterter Kamera bei natürli­            sagte Nationalrätin Priska Seiler Graf (SP) namens des In­
   chem Licht, abgehackter Schnitt: Sein ganzes filmisches Schaffen          itiativkomitees. Tatsächlich hatten Bundesrat und Parla­
warf Konventionen über den Haufen. Seither hat sich sein Stil wie            ment Mitte September Fakten geschaffen, die einen Volks­
   eine Welle in der Kinowelt ausgebreitet, und zwar so sehr, dass sich      entscheid völlig obsolet machten: Trotz der hängigen
   sein Erbe überall findet. Umfang- und facettenreich ist seine Film­       Volksinitiative wurde entschieden, die Kaufverträge für
   kunst, sein Schaffen umfasst rund fünfzig Filme und ein Dutzend           36 Kampfjets bereits zu unterzeichnen. Ein Nein an der
 ­Reportagen. Bis zu seinem Tod schuf er unermüdlich Werke mit den           Urne hätte das 6-Milliarden-Franken-Kaufgeschäft nicht
verschiedensten Medien: Smartphone, Video, Gemälde, Collagen.                mehr stoppen können.                                 (MUL)
   Dem Publikum war er auch wegen seiner geistreichen Sprüche ein
   Begriff. «Wer ins Kino geht, hebt den Kopf. Wer fernsieht, senkt ihn»,    Schweizer Gletscher verloren sehr viel Volumen
bemerkte er einmal. Er liebte Tennis, wetterte aber gegen die Art,           Für die Schweizer Gletscher endet ein betrübliches Jahr:
wie der Sport im Fernsehen gezeigt wird. Seine Vorstellung war eine          Laut Glaziologen übertraf heuer der Gletscherschwund
   ganz andere. «Ich würde irgendeinen Typen nehmen (…), der sich            alle bisherigen Rekordjahre. Insgesamt haben die Glet­
   für ein Turnier qualifiziert. Er kommt nach Paris, hat fast kein Geld,    scher 3,1 Kubikkilometer Eis verloren. Das ist mehr als
wohnt in einem Hotel, Ibis oder Mercure, fährt mit der Métro, spielt         sechs Prozent des Gesamtvolumens aller Gletscher. Der
   sein erstes Match. Und verliert. In der nächsten Runde würde ich          Pizolgletscher (SG), der Vadret dal Corvatsch (GR) und
   mich für den siegreichen Gegenspieler interessieren, dann für den         der Schwarzbachfirn (UR) sind 2022 restlos verschwun­
   Sieger dieses Spiels, was uns zwangsläufig bis ins Finale führen          den. Eine Kombination ungünstiger Faktoren begünstigte
würde.» So war Godard, dieser Star der Grossleinwand, der die Welt           den Gletscherschwund: Wenig Schneefälle im Winter,
   mit Waadtländer Akzent kommentierte – und damit alle, die ihm             erste Hitzewellen bereits im Mai – und ein extrem nieder­
  ­zuhörten, an seine Herkunft erinnerte.                 STÉPHANE HERZOG   schlagsarmer Sommer.                               (MUL)

                                                                                                             Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
Schweizer Revue - Auslandschweizer-Organisation
Nachrichten                                                                                                                                     9

Winter bringt steigende Flüchtlingszahlen
Der Krieg in der Ukraine treibt weiterhin Menschen in die Flucht. Die Schweiz erwartet bis Ende
Jahr eine stark steigende Zahl von Schutzsuchenden – auch aus weiter entfernten Krisenregionen.

THEODORA PETER
Das kalte Wetter macht allen Men­
schen, die kein festes Dach über dem
Kopf haben, das Leben schwer. In der
Ukraine sind die Unterkünfte für die
Vertriebenen aus den von Bomben
zerstörten Regionen winterfest ge­
macht worden. Das Land zählt gegen
7 Millionen Binnenflüchtlinge – nebst
den mehr als 4,4 Millionen, die nach
Kriegs­ausbruch in Länder Europas
geflohen sind. Die Schweiz hatte bis
zum Redaktionsschluss Ende Oktober
rund 66 000 Ukrainerinnen und Ukrai­
ner aufgenommen. Gemäss Schätzun­
gen der Behörden dürften es bis Ende
Jahr insgesamt 80 000 bis 85 000 An­
träge sein. Die Entwicklung der Flücht­
lingszahlen hängt jedoch stark vom
Kriegsverlauf und der Versorgungs­
situation in den Nachbarländern der
Ukraine ab. Im Extremfall könnten
bis 120 000 Personen in der Schweiz
Schutz suchen.
   Parallel dazu steigt auch die Zahl
der Asylgesuche aus anderen Krisen­
regionen der Welt. Allein im Septem­
ber ersuchten 2681 Menschen aus
Ländern wie Afghanistan, Syrien oder
Eritrea um Schutz in der Schweiz. So
viele Gesuche in einem Monat gab es
laut dem Staatssekretariat für Migra­     Bundesrat im März 2022 aktivierte        Ankommende ukraini-     Linke und grüne Parteien erachten
tion letztmals während der Flücht­        Flüchtlingskategorie war im Prinzip      sche Flüchtlinge        es grundsätzlich als stossend, dass
lingskrise in den Jahren 2015/2016.       auf ein Jahr befristet. Inzwischen       könnten diesen Winter   Kriegs­vertriebene aus anderen Kon­
                                                                                   erneut das Bild an
Mit dem Ende der pandemiebeding­          machte Justizministerin Karin Kel­ler-                           fliktregionen gegenüber den Ukraine­
                                                                                   Schweizer Bahnhöfen
ten Reisebeschränkungen haben sich        Sutter (FDP) aber klar, dass der         prägen. Die Bundes-     Flüchtlingen benachteiligt sind –
die Fluchtbewegungen Richtung Eu­         Schutz­status S auch über den Früh­      behörde geht von        etwa auf dem Stellenmarkt oder beim
ropa wieder verstärkt.                    ling 2023 hinaus gelten wird – bezie­    steigenden Flücht-      Fa­miliennachzug. SP, Grüne und Grün­
                                          hungsweise so lange, bis er vom Bun­     lingszahlen aus.        liberale haben deshalb im Parlament
                                                                                   Foto Keystone
Schutzstatus S gilt                       desrat widerrufen wird. Dies passiert                            Vorstösse eingereicht, um die Situa­
bis zum Widerruf                          laut Keller-Sutter aber erst dann,                               tion der Betroffenen zu verbessern,
                                          wenn sich die Lage in der Ukraine nor­                           die in der Schweiz als «vorläufig aufge­
Während Flüchtlinge aus anderen           malisiert, zum Beispiel durch einen                              nommen» gelten. Bislang sind entspre­
Ländern das reguläre Asylverfahren        Waffenstillstand oder die Stationie­                             chende Reformen jedoch an fehlenden
durchlaufen müssen, erhalten die Uk­      rung von Friedenstruppen. Bis Redak­                             politischen Mehrheiten gescheitert.
rainerinnen und Ukrainer direkt den       tionsschluss waren gegen 5000 Ukrai­
sogenannten Schutzstatus S. Dieser        nerinnen und Ukrainer aus eigenem                                Informationen der Bundesbehörde
erlaubt den Geflüchteten, eine Stelle     Antrieb ganz in ihr Heimatland zu­                               zum Krieg in der Ukraine:
zu suchen und frei zu reisen. Die vom     rückgekehrt.                                                     revue.link/ukraine

Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
Schweizer Revue - Auslandschweizer-Organisation
10     Wirtschaft

Schön löchrig und arg bedrängt: So ein Käse!
Vor zwei, drei Jahrhunderten exportierten Emmentaler Käser ihr Wissen in alle Welt.
Das wird jetzt fürs Emmental zum Problem: Der Original-Emmentaler, ein ikonografisches
Schweizer Urprodukt, ist bedrängt. Ausserhalb der Schweiz wird weit mehr Käse mit
dem Label «Emmentaler» produziert als in der Schweiz. Jetzt hoffen die Schweizer
Käsehersteller auf Hilfe – ausgerechnet von europäischen Richtern.

DÖLF BARBEN                                lagert und gepflegt werden. Und jede                             wie auf einem Sattel; es ist umgeben
Der Emmentaler Käse mit seinen gros­       Käserei trägt eine Nummer. Diese ist                             von Weiden und Wäldern. Marlies
sen Löchern ist weltberühmt. Wenn          auf der Oberseite eines jeden Käse­                              Zaugg und Bernhard Meier leben mit
etwas löchrig ist, heisst es – in vielen   laibs alle paar Zentimeter vermerkt.                             ihren beiden Kindern und einer Ler­
Sprachen – , es sei löchrig wie ein        Selbst bei einem kleinen Stück Käse                              nenden im Hüpfenboden. Nebst dem
Schweizer Käse. Eine grandiose Er­         bleibt damit klar, wo es herkommt.                               Emmentaler-Käse stellen sie weitere
folgsgeschichte also.                      Hinter der Nummer 3206 etwa ver­                                 Spezialitäten her. Sie sind Meister ih­
   Heute darf noch in rund 100 Käse­       birgt sich die Käserei Hüpfenboden.                              res Fachs. Und doch klingen sie nicht
reien Schweizer Emmentaler herge­                                                                           besonders fröhlich, wenn sie über die
stellt werden. Für sie sind die Vorga­     Umgeben von Weiden und Wäldern          Marlies Zaugg ist        Zukunft sprechen. Sie wollen die
ben streng: Die Bauernhöfe dürfen                                                  nicht fröhlich, wenn     «grosse Käsetradition» der Schweiz
maximal 20 Kilometer entfernt sein,        Die Käserei Hüpfenboden liegt ober­     sie über die Zukunft     zwar «irgendwie erhalten». Werde das
die Kühe dürfen nur Gras und Heu,          halb von Langnau, dem Zentrum des       spricht: Ohne stärke-    Originalprodukt aber nicht besser ge­
aber kein Silofutter fressen, es darf      Emmentals, das ab dem 16. Jahrhun­      ren Schutz, denkt sie,   schützt, sei das kaum mehr möglich.
                                                                                   könnte die vertraute
ausschliesslich Rohmilch verarbeitet       dert wegen des Käsehandels viele                                 «Dann können wir mit all den billigen
                                                                                   Tradition des Käsens
werden und der Käse muss mindes­           fette Jahre erlebte. Das schmucke Ge­   aussterben.              Imitaten nicht mehr mithalten», sagt
tens 120 Tage im Ursprungsgebiet ge­       bäude hockt zwischen zwei Hügeln        Fotos Danielle Liniger   Marlies Zaugg. «Das Käsen, wie wir es

                                                                                                                       Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
11

kennen, würde allmählich aussterben»,
sagt ihr Mann. Tatsächlich gibt es ein
Problem. Zahlreiche Nachahmer be-
drängen den originalen Schweizer Em-
mentaler, der seit 2006 die geschützte
Ursprungs­bezeichnung AOP trägt. In
letzter Zeit ist aber in Sachen Marken-
schutz einiges ins Rollen gekommen.

Hilfe von «fremden Richtern»?
Was dabei die Sache so richtig wür-
zig macht: Es ist ein Europäisches Ge-    könnten – nicht bei den Anforderun-        Die Käserei im          Herkunftsregion vermerkt werden –
richt, das ­a ngerufen wurde, dem be-     gen und nicht bei der Qualität. «Es       ­Hüpfenboden wirkt       beispielsweise Allgäuer Emmentaler.
rühmten Schweizer Emmentaler              geht ums Trittbrettfahren», sagt Ru-       wie ein Idyll aus der
                                                                                   Vergangenheit –
einen besseren Schutz angedeihen zu       fer. «Niemand soll sich mit fremden
                                                                                   ­eingebettet in Wald      Bloss ein Käse mit Löchern?
lassen. Ausgerechnet «fremde Rich-        Federn schmücken dürfen.» Das Ziel       und Wiese auf einer
ter», vor denen in der Schweiz gerade     ist klar: Überall auf der Welt sollen      Emmentaler Anhöhe.      Dumm nur: Das Amt der Europäi-
in bäuerlichen Kreisen oft und gern       Kundinnen und Kunden sofort erken-                                 schen Union für geistiges Eigentum
gewarnt wird, sollen ein Agrarpro-        nen können, ob sie einen Schweizer                                 hat diese Forderung abgelehnt. Der
dukt schützen, das schweizerischer        Emmentaler vor sich haben oder nicht.                              Begriff Emmentaler sei nicht eine Her-
nicht sein könnte.                        Viele Leute seien bereit, für Produkte                             kunftsbezeichnung, sondern bloss
   Die Hintergründe erklärt Alfred        mit Schweizer Herkunft mehr zu be-                                 der inzwischen allgemein gebräuch-
Rufer. Er ist Vizedirektor der Sorten-    zahlen, sagt Rufer. «Wenn die Her-                                 liche Name für einen Hartkäse mit
organisation Emmentaler Switzerland.      kunft aber nicht klar ersichtlich ist,   Im Käsekessel mit         L öchern. Der Sortenorganisation
                                                                                                             ­
Deren Aufgabe ist es, den Schweizer       profitieren andere von unseren An-       der kupfernen Innen-      leuchtet das nicht ein; darum hat sie
Emmentaler im freien Markt zu posi-       strengungen.» Die Schweizer Produ-       seite erfolgen die        das Europäische Gericht angerufen.
tionieren und vor Imitaten zu schüt-      zenten wissen, was Abhilfe schaffen      ersten Schritte der       Die mündlichen Verhandlungen haben
zen. Inzwischen werde in ganz vielen      würde: Nur ihr Käse dürfte prominent     Emmentaler-Ferti-         kürzlich stattgefunden. Das Urteil sei
Ländern ebenfalls Käse hergestellt,       und ohne weitere Wortzusätze mit         gung. Alle zwei Mo-       in frühestens drei bis vier Monaten
                                                                                   nate wird festgelegt,
der den Namen Emmentaler trage,           «Emmentaler» angeschrieben werden.                                 zu erwarten, sagt Rufer. «Wir glauben
                                                                                   wie viele Laibe über-
sagt er – insgesamt bedeutend mehr        Bei allen anderen «Emmentalern»          haupt hergestellt         an unsere Chance.» Bei einem günsti-
als in der Schweiz selbst. So sei nicht   müsste in gleicher Schriftgrösse die     werden dürfen.            gen Verdikt, so die Hoffnung, könnte
etwa die Schweiz der weltgrösste Em-                                                                         in wichtigen Ländern wie Deutsch-
mentaler-Hersteller, sondern Frank-                                                                          land und Frankreich sowie in den
reich. «Das sind Fakten, die wir akzep-                                                                      ­Benelux-Staaten mehr Schweizer Em-
tieren müssen.» Dieser Kampf sei vor                                                                         mentaler verkauft werden. Der Grund
200 bis 300 Jahren verloren gegangen.                                                                        liegt auf der Hand: Für qualitätsbe-
Damals waren Käsermeister ausge-                                                                             wusste Kundinnen und Kunden wäre
wandert und hatten allerorten ange-                                                                          es einfacher, nach dem Original zu
fangen, Emmentaler herzustellen.                                                                             greifen.

Kampf gegen Trittbrettfahrer                                                                                 Grösster Abnehmer ist … Italien
Heute ist der Kampf ein anderer. Es                                                                          Schon heute geht es um beträchtliche
sei unfair, sagt er, wenn ausländische                                                                       Exporte: Allein nach Deutschland
Hersteller vom exzellenten Ruf des                                                                           sind 2021 etwas über 2200 Tonnen
Schweizer Emmentalers profitierten.                                                                          Emmentaler geliefert worden, nach
Und das, obschon ihre billigen Imit-                                                                         Frankreich knapp 770 Tonnen. Gröss-
ate mit dem Original nicht mithalten                                                                         ter Abnehmer war Italien mit 5500

Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
12     Wirtschaft

                                                                                                              Problem? Emmentaler, nach allen Re-
                                                                                                              geln der Kunst hergestellt, «ist ein-
                                                                                                              fach besser», sagt Marlies Zaugg.
                                                                                                              Aber das habe e  ­ inen Preis. «Die Füt-
                                                                                                              terung der Kühe, die handwerkliche
                                                                                                              Herstellung, die regelmässige Pflege
                                                                                                              der Laibe, die Keller für die Reifung –
                                                                                                              alles kostet mehr.» Das müsse genü-
                                                                                                              gend Leuten bewusst und auch etwas
                                                                                                              wert sein – «sonst funktioniert es
                                                                                                              nicht mehr», sagt sie.
                                                                                                                 Und schliesslich braucht es Leute,
                                                                                                              die bereit sind, diesen Beruf über-
                                                                                                              haupt noch auf diese Weise auszu-
                                                                                                              üben. Auch das gibt Marlies Zaugg zu
                                                                                                              bedenken. Die Arbeit beginnt mor-
                                                                                                              gens um fünf. Gekäst wird sieben
                                                                                                              Tage die W­ oche. «Die Kühe geben
                                                                                                              auch am Wochen­ende Milch», sagt sie
Tonnen – das allein ist mehr, als in der   Die mächtigen und          gion und auf lokalen Märkten. Vor der   und schmunzelt. Immerhin können
Schweiz gegessen wird. Im südlichen        um die 100 Kilo            Käse­rei steht ein Selbstbedienungs-    sie und ihr Mann sich die Wochenen-
Nachbarland ist der Markenschutz je-       schweren Käselaibe         schrank; er enthält eine breite Pro-    den aufteilen – oder gelegentlich eine
                                           werden heute mit
doch sehr gut geregelt.                                               duktepalette. Der Verkauf läuft gut.    Ferienvertretung engagieren.
                                           maschineller Hilfe
    Ein Erfolg wäre es bereits, wenn       regelmässig gewen-         Leute, die zu Fuss oder mit dem Velo
beim Schweizer Emmentaler der Ne-          det. An Handarbeit         vorbeikommen, nutzen das Angebot        DÖLF BARBEN IST JOURNALIST BEI DEN
gativtrend gebrochen werden könnte.        mangelt es im Alltag       gerne. Aber wenn sie ihren Käse so      TAGESZEITUNGEN «DER BUND» UND
Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich        dennoch nicht.             leicht ­loswerden, wo ist dann das      «BERNER ZEITUNG»
                                           Foto Danielle Liniger
die jährlich produzierte Menge in der
Schweiz von gut 25 000 auf knapp
17 000 Tonnen vermindert – während
sich dieser Wert über alle Sorten hin-
weg von 181 000 auf 207 000 Tonnen
erhöht hat.

Nicht alle Milch wird
zu ­Emmentaler
Das merkten auch Marlies Zaugg und
Bernhard Meier in ihrer Käserei. Alle
zwei Monate wird festgelegt, wie viel
Emmentaler sie herstellen dürfen. «Es
ist im Laufe der Zeit immer weniger ge-
worden», sagt die Käserin. Gegenwär-
tig dürfen sie 40 Prozent der Milch, die     Die markanten und
von ihren Lieferanten kommt, dazu          recht grossen Löcher
verwenden.                                  sind typisch für den
                                           Emmentaler. Je nach
    Aus der übrigen Milch entstehen
                                               Reifegrad zeigt er
ihre eigenen Käsesorten. Diese ver-         grosse Unterschiede
kaufen sie direkt – an diverse Restau-        in Geschmack und
rants, über kleinere Läden in der Re-         Textur. Foto Keystone

                                                                                                                         Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
Natur und Umwelt                                                                                                                                13

                              Eine strahlende Deponie für die Ewigkeit
                              Die Schweiz produziert Atomstrom. Dabei fallen hochtoxische, radioaktive Abfälle an,
                              die während Jahrtausenden sicher verwahrt werden müssen. Nach 50 Jahren intensiver
                              Suche ist nun entschieden, wo der gefährliche Müll im Boden versenkt werden soll.
                              Viele Fragen zur 20 Milliarden Franken teuren Deponie sind aber noch offen.

 Mit Probebohrungen
  wie hier unweit von
 Stadel hat die Nagra
  die tiefen Gesteins-
      schichten unter-
   sucht. Das Zauber-
     wort hiess dabei:
    Opalinuston. Nach
  heutigem Kenntnis-
  stand eignet er sich
   für die Einlagerung
 radioaktiver Abfälle.
            Foto Keystone

                              MARC LET TAU                                                  heit, argumentieren die Experten der Nagra. Deren Chef
                              In der ländlichen Gemeinde Stadel im Zürcher Unterland,       Matthias Braun sagt, von allen geprüften Standorten ver-
                              die nahe an der Grenze zu Deutschland liegt, verlief der      spreche Stadel «die besten Sicherheitsreserven». Was er
                              Alltag in den letzten Jahrhunderten recht beschaulich.        damit auch gesagt haben will: Geologische Gründe spre-
                              Landwirtschaft prägt die von Gletschern zurechtgehobelte      chen für diesen Standort – und nicht der Umstand, dass
                              und von bewaldeten Hügeln gesäumte Landschaft. Dort,          hier der politische Widerstand gering ist.
                              wo keine Äcker bebaut werden, wird vor allem abgebaut:
                              Ausgebeutet werden reiche Kiesvorkommen, auch sie ein         Denken in unfassbaren Zeiträumen
                              Geschenk vergangener Eiszeiten.
                                 Doch nach den Zeiten relativer Ruhe steht Stadel nun       Bis zu 900 Meter tiefe Schächte sollen unweit von Stadel
                              im Mittelpunkt eines bewegenden Jahrtausendprojekts.          in den Untergrund getrieben werden. Sie werden den Zu-
                              Hier nämlich soll das Zugangsportal zu einer mächtigen,       gang bilden zu den im dichten Opalinuston geplanten Ka-
                              unterirdischen Deponie für radioaktive Abfälle entstehen.     vernen für die radioaktiven Abfälle. Bei ihrem Vorhaben
                              Fast 50 Jahre lang hatte die Nationale Genossenschaft für     muss die Nagra in unfassbaren zeitlichen Dimensionen
                              die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) nach einem          denken: Die schwach- und mittelradioaktiven Abfälle müs-
                              Standort für ein Endlager gesucht. Und im September 2022      sen nach heutigem Wissensstand 30 000 Jahre sicher ein-
                              entschied sie sich für Stadel, respektive für die dichten     geschlossen werden. Für die hochradioaktiven Abfälle
                              Gesteinsschichten, die hier tief unter Tag liegen. Der dort   geht die Nagra von etwa 200 000 Jahren aus. Die «Sicher-
                              anzutreffende Opalinuston biete für den Einschluss von        heitsreserven» sollen so ausgelegt werden, dass für rund
                              radioaktiv strahlenden Stoffen die grösstmögliche Sicher-     eine Million Jahre ausgeschlossen werden kann, dass das

Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
14    Natur und Umwelt

strahlende Gut – durch wen oder was auch immer – wie-         henge errichteten Megalithen: Obwohl erst etwa 4000
der an die Oberfläche gelangt.                                Jahre alt, sind Sinn und Zweck des eindrücklichen Bau-
                                                              werks nicht mehr entzifferbar. Forscher arbeiten deshalb
«Deckel drauf» in rund einhundert Jahren                      an einer «Atomsemiotik», einer Ausdrucksform für eine
                                                              ferne Nachwelt, dies im Wissen, dass in 200 000 Jahren wo-
 Die Suche nach einem Endlager für den in der Schweiz an-     möglich gar keine menschlichen Gesellschaften im heuti-
 fallenden radioaktiven Müll erwies sich als ausgesprochen    gen Sinn mehr existieren werden – und diverse Eiszeiten
 schwierig. Zuweilen verjagten aufgebrachte Bauern die        dazu geführt haben dürften, dass Gletscher die Landschaft
 Sondierungsteams der Nagra mit Mistgabel, so etwa in         bei Stadel aufs Neue gründlich abhobeln und umgestalten.
­Ollon (VD). Anderorts stellten sich potenzielle Standort-
 gemeinden und -kantone in Volksabstimmungen gegen die        Ausstieg ist seit 2011 beschlossene Sache
 Deponie. Stadel und der Standortkanton Zürich haben hin-
 gegen kaum noch Möglichkeiten, gegen den gefällten           Gemessen an all den Protesten gegen die Nagra sind die
 Standortentscheid vorzugehen. Angesichts der enormen         Reaktionen auf die von ihr getroffene Standortwahl ver-
Widerstände wurden nämlich die Interventionsmöglich-          gleichsweise milde. Selbst heftige Gegner der Atomener-
 keiten von Gemeinden und Kantonen in Sachen Endlager         gienutzung – unter ihnen die Grüne Partei und die Orga-
 gesetzlich stark eingeschränkt. Gleichwohl ist auch jetzt,   nisation Greenpeace – räumen ein, die Schweiz komme
                                                              nicht umhin, ihre Verantwortung wahrzunehmen und die                      Zwei Symbole, die für
                                                              anfallenden radioaktiven Abfälle möglichst sicher zu ver-                 heutige Menschen
                                                              wahren. Mit ein Grund für diese Haltung ist, dass der                     verständlich sind.
      Die Schweiz transportierte ab                           schrittweise Ausstieg der Schweiz beschlossene Sache ist.
                                                                                                                                        Doch wie warnt man
                                                                                                                                        künftige Wesen vor
      1969 ihren in Stahlfässer                               Unmittelbar nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima                     den Gefahren? Noch
                                                              (2011) entschied der Bundesrat, keine neuen AKWs zu be-                   sucht die sogenannte
      einbetonierten Atommüll mit                             willigen. Der Abbruch des 1972 in Betrieb genommenen                      «Atomsemiotik»
      Güterzügen quer durch Europa                            AKW Mühleberg hat zwischenzeitlich bereits begonnen.                      nach Antworten.
                                                              Und die verbleibenden vier Meiler Beznau I (1969), Bez-
      und liess sie im Nordatlantik                           nau II (1972), Gösgen (1979) und Leibstadt (1984) laufen
      versenken. Sie hielt bis 1983 an                        zwar noch weiter, nähern sich aber stetig dem Ende ihrer
                                                              Betriebsdauer. Vor diesem Hintergrund lesen viele das
      dieser umstrittenen Praxis fest.                        Endlager als voraussichtlich 20 Milliarden Franken teuren
                                                              Schlusspunkt hinter die Atomenergienutzung in der
                                                              Schweiz.
am Ende der langen Suche, noch vieles unklar. Die Nagra
muss nun zunächst beim Bund ein Gesuch für den Bau            Oder doch neue AKWs?
des Endlagers einreichen. Das dürfte 2024 erfolgen. Erst
wenn die Bundesbehörde zum Schluss kommt, eine si-             Politiker und Politikerinnen aus den Reihen der FDP und
chere Verwahrung nuklearer Abfälle sei in Stadel tatsäch-       SVP drängen freilich auf eine Lockerung des faktischen
lich möglich, fällt der definitive Standortentscheid. Vor      AKW-Bauverbots. Der Bau des Endlagers beeinflusst diese
2029 ist dieser nicht zu erwarten. Danach dürfte auch das       neue Debatte: Angesichts der enormen Kosten eines End-
Schweizer Stimmvolk über das Endlager abstimmen wol-           lagers rückt die Frage in den Vordergrund, wie preiswert
len. Somit kann dessen Bau bestenfalls 2045 beginnen.          Atomstrom unter dem Strich überhaupt ist. Das Geld fürs
Erst im Jahr 2050 könnten somit erste Stahlfässer mit ra-       Endlager müssen die AKWs nämlich selber in einen
dioaktivem Müll eingelagert werden. Im Jahr 2115 heisst       ­«Stilllegungsfonds» einlegen – und wohl oder übel auf die
es dann «Deckel drauf»: Das Endlager wird verschlossen.         Strompreise abwälzen. Wohl eher dem kurzfristigen
                                                               ­Denken entspringt das Argument, neue Atomkraftwerke
Atomsemiotik: Reden mit der fernen Nachwelt                     könnten die Energieabhängigkeit vom kriegsführenden
                                                               Russland vermindern: Die heutigen Schweizer Atomkraft-
Bis dahin muss die Nagra noch die Antwort auf die Frage        werke setzen zu einem beträchtlichen Teil auf Uran – aus
finden: Wie warnt man künftige Gesellschaften vor den Ge-      Russland.
fahren, die bei Stadel im Untergrund lauern? Die Frage ist
brisant, weil in 10 000 oder 100 000 Jahren ein heutiges
Warnschild kaum mehr zu deuten sein wird. Als Illustra-       Ergänzende Informationen finden Sie unter revue.link/nagra
tion der Schwierigkeit dienen die im englischen Stone-        Website der Nagra: www.nagra.ch

                                                                                                                           Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
Politik                                                                                                                                                                        15

                              Umstrittene Vorlagen mobilisierten Stimmvolk
                              Der Urnengang vom 25. September sorgte für die höchste Stimmbeteiligung im Jahr 2022.
                              Mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten – rund 51 Prozent – gaben ein Votum ab.
                              Sie folgten Bundesrat und Parlament bei drei der vier Vorlagen.

                              AHV-Rentenalter für Frauen künftig 65                                    Mehrwertsteuer steigt zugunsten der AHV

                              Frauen erhalten die AHV-Rente künftig ein Jahr später als                  In der Schweiz wird die Mehrwertsteuer für Dienstleistungen
                              bisher: mit 65 statt mit 64. Das Stimmvolk nahm die Reform                 und Produkte um 0,4 Prozentpunkte teurer. Sie beträgt
                              mit 50,5 Prozent Ja knapp an – nur rund 30 000 Stimmen                     künftig 8,1 Prozent. Für Nahrungsmittel, Medikamente,
                              machten den Unterschied. Die Resultate zeigen ein gespalte-              ­Zeitungen und Bücher steigt die Mehrwertsteuer von 2,5
                              nes Land: Die Westschweiz und das Tessin lehnten die Vor­                  auf 2,6 Prozent, für die Hotellerie von 3,7 auf 3,8 Prozent.
                              lage teils wuchtig ab, während sie in den meisten Deutsch-                 Diese Zusatzeinnahmen fliessen in die Finanzierung der
                              schweizer Kantonen auf Zustimmung stiess. Deutlich Ja                     ­Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Das Stimm-
                              sagte auch die Fünfte Schweiz.                           (TP)             volk sagte mit rund 55 Prozent deutlich Ja zur Vorlage.  (TP)

                                     Ausland-                                                               Ausland-
                                  schweizer:innen                                                        schweizer:innen

                                          61.3%                                                                   67.3%

                                   Ja-Stimmen in Prozent zur Reform AHV 21                                Ja-Stimmen in Prozent zur Zusatzfinanzierung der AHV

                                  0   5    10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100      0   5    10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100

                              Tierschutz wird nicht ausgebaut                                          Keine Steuererleichterungen für Firmen

                              Die Massentierhaltungsinitiative ist an der Urne mit fast                Die Verrechnungssteuer auf Zinserträgen bei Schweizer
                              63 Prozent Nein klar gescheitert. Damit bleibt beim Tier-                ­Obligationen wird nicht abgeschafft. Das Stimmvolk lehnte
                              schutz alles beim Alten. Die Initianten wollten die industriel-          eine entsprechende Gesetzesänderung mit 52 Prozent Nein
                              le Aufzucht von Hühnern, Schweinen und Rindern verbieten.                ab. Die Linke wehrte sich an der Urne erfolgreich gegen
                              Aus Sicht der Gegner war das Volksbegehren überflüssig,                  die Vorlage, die zu jährlichen Steuerausfällen von mehreren
                              da die Schweiz bereits heute über ein strenges Tierschutz­               Hundert Millionen Franken geführt hätte. Die Ausland-
                              gesetz verfüge. Auch die Fünfte Schweiz lehnte die                        schweizerinnen und -schweizer votierten vergeblich für die
                              Initiative ab.                                             (TP)          Gesetzesänderung.                                        (TP)

                                     Ausland-                                                               Ausland-
                                  schweizer:innen                                                        schweizer:innen

                                          49.8%                                                                   55.0%

                                   Ja-Stimmen in Prozent zur Massentierhaltungsinitiative                 Ja-Stimmen in Prozent zum Verrechnungssteuergesetz

                                  0   5    10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100      0   5    10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100

Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
16      Politik

                          Das Rentenalter der Frauen steigt auf 65 Jahre
                          Die «Abstimmung des Jahres» endete für die Frauen spannungsreich. Sie sagten
                          grossmehrheitlich Nein zur Reform der AHV. Doch sie unterlagen knapp. Sie müssen nun
                          ein Jahr länger arbeiten, bis sie ihre Altersrente erhalten. Bereits steht die Reform des
                          nächsten Vorsorgewerks an – und da sollen die Frauen bessergestellt werden.

                          DENISE LACHAT                            ein Nein in die Urne legten. Zum äus­       Politik, zudem dürften Frauen genau­so
                          Zuerst kam die Wut. Sie entlud sich      serst knappen Abstimmungsausgang            wie die Männer untereinander un­
                          am 26. September, am Tag nach der        hat aber auch eine Minderheit von –         einig sein, sagte Maya Graf in einem
                          Abstimmung über die AHV-Reform,          mehrheitlich bürgerlichen – Frauen          ausführlichen Interview mit der
                          unter anderem auf dem Berner Bahn-       beigetragen. Auch sie nahm Tamara          ­«Aar­gauer Zeitung». Graf, die grüne
                          hofsplatz. Lautstark rief die Berner     Funiciello unter Beschuss. Nichts,          Baselbieter Ständerätin, leitet seit
                          SP-Nationalrätin Tamara Funiciello       aber auch gar nichts hätten die bür-        2014 gemeinsam mit der grünlibera-
                          vor mehreren Hundert demonstrie-         gerlichen National- und Stände­             len Berner Nationalrätin Kathrin
                          renden Frauen ins Mikrophon, dass        rätinnen für die Gleichstellung getan,      Bertschy die Dachorganisation der
                          dieses Abstimmungsresultat schlicht      nur leere Versprechungen gemacht.           Frauen in der Schweiz namens Alli-
                          ein Hohn sei. «Alte, reiche und weisse   Die verärgerte Reaktion bürgerlicher        ance F. Bei der AHV-Abstimmung gab
                          Männer» hätten entschieden, dass         Politikerinnen liess nicht auf sich         es bei Alliance F sowohl ein Ja- als
                          die Frauen in der Schweiz künftig ein    warten – kurz: Die Tage nach der Ab-        auch ein Nein-Komitee. In anderen
                          Jahr länger arbeiten müssten.            stimmung waren von gegenseitigen            Fragen herrscht Einigkeit, etwa bei
                             Tatsächlich hat eine Mehrheit der     Anfeindungen geprägt, die Rede war
                          Männer gegen den Willen der Mehr-        von einer Spaltung der Frauen in der
                          heit der Frauen für die Erhöhung des     Schweiz.                                     Das Rentenalter der Frauen
                          Frauenrentenalters auf 65 Jahre ge-
                          stimmt. Der Geschlechtergraben war       Situation der Frauen im Alter                Nicht zum ersten Mal war das
                          bei dieser Abstimmung auffällig          verbessern                                   Rentenalter der Frauen in einer
                          gross: Zwei Drittel aller stimmenden                                                 AHV­-Reform der zentrale Streit-
                          Frauen (63 Prozent) stellten sich ge-    Später rückten versöhnlichere Voten          punkt. Dabei galt 1948, als die
                          gen die Reform, während nur rund         in den Vordergrund. Es gebe nicht nur       AHV einge­führt wurde, Rentenalter
                          ein Drittel der Männer (37 Prozent)      eine alleinige Definition feministischer     65 sowohl für Männer als auch für
                                                                                                                Frauen. Dass es vom Parlament
                                                                                                               1957 einseitig auf 63, im Jahr 1964
                                                                                                                auf 62 Jahre gesenkt wurde, ent-
                                                                                                                spricht aus heutiger Sicht einem
                                                                                                                antiquierten Rollenbild. Frauen
                                                                                                                ­seien früher anfällig für Krankheiten,
                                                                                                                ihre Kräfte liessen früher nach – so
                                                                                                                argumentierten die Männer anno
                                                                                                                dazumal. Der «Tages-Anzeiger»
                                                                                                                nannte es eine «patriarchale Macht-
                                                                                                                demonstration», um die oft ein paar
                                                                                                               Jahre jüngeren Ehefrauen rechtzeitig
                                                                                                                auf die Pensionierung der Männer
                                                                                                                 wieder im Haus und am Herd zu
                                                                                                                haben. Wie auch immer: 2001 und
                                                                                                                2005 wurde das Frauenrentenalter
     «Dini Mueter isch                                                                                           wieder schrittweise ­erhöht, auf
        hässig» (Deine                                                                                          63 und auf 64 Jahre. Drei weitere
   ­Mutter ist wütend):                                                                                         Versuche der Angleichung scheiter-
   So lautete einer der                                                                                          ten an der Urne oder bereits im
   Slogans, mit denen                                                                                           Parlament. Nach dem vierten
        protestierende
                                                                                                               ­Anlauf vom 25. September 2022
 ­Frauen das ­Ergebnis
der AHV-Abstimmung                                                                                               steht es nun wieder bei 65 Jahren
       kommentierten.                                                                                           für beide Geschlechter.          (DLA)
          Foto Keystone

                                                                                                                         Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
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der Forderung nach gleichem Lohn
für gleiche Arbeit oder nach bezahl-                                                             Die drei Säulen
barer Kinderbetreuung. Ganz wichtig                                                              der Altersvorsorge
nach der Debatte ums Frauenrenten-               «Die Männer
alter ist zudem die Feststellung, dass                                                           Aktuell beträgt die AHV-Maximal-
die Frauen jeglicher politischer Cou-
                                             entschieden, dass die                                 rente 2390 Franken pro Monat und
leur fordern, dass die Situation der         Frauen ein Jahr länger                               pro Person, die Minimalrente in
Frauen im Rentenalter verbessert               arbeiten müssen.»                                 den meisten Fällen 1195 Franken.
werden muss.                                                                                      ­Diese AHV-Rente allein reicht in der
                                                Tamara Funiciello, Nationalrätin, SP, Bern
   Tatsächlich ist die Altersvorsorge                                                            Schweiz nicht zum Leben. Dafür
bei vielen Frauen lückenhaft, doch                                                                 braucht es zwei weitere Säulen.
daran ist nicht vorab die AHV schuld.                                                            ­Neben der staatlichen Vorsorge aus
Die erste Säule der Altersvorsorge                                                               AHV und Ergänzungsleistungen
enthielt notabene bei der letzten                                                                (1. Säule) gibt es seit 1985 die be-
gros­sen AHV-Reform im Jahr 1997           kommen beim privaten Sparen fürs                        rufliche Vorsorge über die Pensions-
wesent­liche Verbesserungen für die        Alter besserzustellen.                                  kassen (2. Säule). Und seit 1987
Frauen: Es wurden Erziehungs- und             Allerdings hat die zweite Säule                     existiert die gesetzlich geregelte
Betreuungsgutschriften sowie das           ähnliche Probleme wie die erste: Auf-                  private Vorsorge (3. Säule). Dieses
Ehegatten­  Splitting eingeführt. Mit      grund der längeren Lebenserwartung                    3-Säulen-Prinzip hat zum Ziel,
dem Splitting wird bei der Berechnung      gibt es ein Finanzierungsproblem,                      den gewohnten Lebensstandard im
der Rente die während der Ehejahre         das durch die tiefen Zinsen noch ver-                 Alter aufrechtzuerhalten.(DLA)
erzielten Einkommen beider Ehegat-         schärft wird. Die Vorsorgeeinrichtun-
ten zusammengezählt und beiden je          gen erzielen nicht genügend hohe
zur Hälfte gutgeschrieben.                 Renditen, um die Altersguthaben der
                                           Versicherten auf lange Frist in gleich               ­Dauerdebatte, bei der noch gänzlich
Lücke bei der beruflichen Vorsorge         hohe Renten wie heute umzuwandeln.                   unklar ist wann – und ob – da wirk-
                                           Es ist also eine weitere komplexe                   lich eine «Revision für die Frauen» er-
Der grosse Unterschied zwischen den                                                              folgt.
Geschlechtern klafft bei der zweiten                                                                Dass der seit den Wahlen von 2019
Säule, der obligatorischen beruflichen                                                         grössere Frauenanteil im Parlament
Vorsorge (BVG). Weil Frauen häufig                                                             nichts bewirkt haben soll, bestreiten
weniger verdienen als Männer, sind                                                             die Co-Präsidentinnen von Alliance F.
ihre Lohnbeiträge an die Pensions-                                                             Als Beispiele nennen sie unter ande-
kasse tiefer. Wer Teilzeit oder in Bran-                                                       rem die im Herbst 2021 organisierte
chen mit niedrigen Löhnen arbeitet,                                                              Frauensession, die zwei Dutzend
unbezahlte Betreuungsarbeit leistet                                                            ­Pe­titionen vors Parlament gebracht
oder für gleiche Arbeit schlicht weni-                                                         hat. Frauen hätten zudem die Behand-
ger Lohn erhält, kann nur ein kleines                                                          lung von weiteren parlamentarischen
Altersguthaben ansparen. Entspre-                                                              Geschäften geprägt, die Individual­
chend klein fällt die auf diesem Gut-                                                          besteuerung, die Finanzierung der
haben basierende Rente aus, zumal                                                                Kinderbetreuung, die Revision des
tiefe Löhne nicht nur schlecht, son-                                                             Sexualstrafrechts, die Ehe für alle mit
dern unter einem gewissen Jahresein-             «Auch Frauen                                  dem Zugang zur Fortpflanzungsme­
kommen (aktuell 21 510 Franken) nicht                                                          dizin, die Finanzierung eines Pro-
                                              dürfen untereinander
obligatorisch versichert sind. Darum                                                           gramms für die Prävention von häus-
richtet sich nach dem knappen Ja zur              uneinig sein.»                               licher Gewalt. Die grossen Geschäfte,
AHV-Vorlage der Fokus nun auf die                                                              sagt Maya Graf in der «Aargauer Zei-
                                             Maya Graf, Ständerätin, Grüne, Basel-Landschaft
BVG-Revision. Im Wesentlichen geht                                                              tung» weiter, seien unterwegs. Dazu
es darum, kleine Pensen und tiefe Ein-                                                         gehört auch die BVG-Reform.

Schweizer Revue / Dezember 2022 / Nr. 6
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