Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL

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Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
ProSihltal
              Flüchtlingslager im Sihltal (1942–1945)
Jahrheft      Krise und Krieg: Vom Ende der MSA zum Notspital
Nr. 60/2010   Das Lager Adliswil: Durchgangsstation für Hunderte
              Die Flüchtlinge: Gerettet, aber interniert
              Ernst Morgenthaler: Kommandant im Lager Gattikon
              Wege der Flucht: Das Schicksal der Familie Neufeld
              Distanz und Unbehagen: Das Lager und das Dorf
              Kriegszeit in Adliswil: Ein Zeitzeuge erinnert sich
              Reformiertes Engagement: Das Wirken von Pfarrer Ernst Kaul
              Nach dem Krieg: Erinnern, Vergessen, Verdrängen
              Jahresbericht Pro Sihltal 2009
Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
lichen Untersuchungen angeregt,                             von Flüchtlingen an der Grenze.
                                      darunter den sogenannten Bergier-                           Erst an zweiter Stelle wurden die
                                      Bericht der Unabhängigen Exper-                             Lebensverhältnisse in den ver-
                                      tenkommission Schweiz – Zweiter                             schiedenen Kategorien von Lagern
                                      Weltkrieg, die unerlässliche Hinter-                        thematisiert.
                                      grundinformationen bereitgestellt                           Die Beschäftigung mit der Ge­­
                                      haben. Der Blick auf ein Lager und                          schichte der Flüchtlingslager im
                                      seine Bedeutung für ein Dorf wie                            Sihltal hat den Schreibenden, der
                                      Adliswil ist aber bis heute die Aus-                        als Historiker sonst in weiter zurück
                                      nahme geblieben. Entsprechend                               liegenden Jahrhunderten forscht,
                                      spärlich und zerstreut taucht das                           in der grundlegenden Erkenntnis
                                      Lager Adliswil und ebenso jenes                             bestärkt, dass die historische Rea-
                                      in Gattikon in bisherigen Publika­                          lität nicht bei den Extrempunkten
Editorial                             tionen auf. Die Spurensuche                                 von Anklage oder Freispruch liegt,
                                      führte in öffentliche Archive, zu                           sondern im weiten Graubereich
Als im August 2006 der Geschichts-    privaten Nachlässen und in einigen                          dazwischen. «Licht und Schatten»
verein Adliswil gegründet wurde,      Glücksfällen sogar zu Zeitzeugen,                           könnte so als Motto über den
stand die Geschichte des einst        das heis­st zu noch lebenden ehe-                           Beiträgen dieses Jahrhefts stehen.
wichtigsten Arbeitgebers von          maligen Flüchtlingen, die in den                            Auf die damals verantwortlichen
Adliswil, der 1934 stillgelegten      beiden Lagern interniert waren,                             Behörden ebenso wie auf die
Mechanischen Seidenstoffweberei       und zu damals in Adliswil wohn-                             damalige Gesellschaft insgesamt
Adliswil (MSA) durchaus im Zen-       haften Personen.                                            bezogen, urteilte Bundespräsident
trum geplanter Forschungen. Dass      Die Flüchtlingspolitik der Schweiz                          Kaspar Villiger 1995 mit Recht: «Es
sich in einem Gebäudeteil eben        zwischen 1933 und 1945 wurde                                gab das Grossartige, Mutige, Ein-
dieser MSA aber von 1942 bis          bereits in den Kriegsjahren kon-                            drückliche so gut wie das Kleinmü-
1945 das bedeutendste Auffang-        trovers diskutiert und ist bis heute                        tige, Hartherzige, Anpasserische,
lager für jüdische Zivilflüchtlinge   ein Stück weit umstritten geblie-                           und es gab viel dazwischen.»
und andere Verfolgte des Nazi-        ben, auch wenn mittlerweile bei                             Der Geschichtsverein Adliswil dankt
Regimes befand, war keinem der        vielen Fragen in der Forschung ein                          Pro Sihltal für das Gastrecht.
Gründungsmitglieder       bewusst.    Konsens besteht. Im Mittelpunkt
Erst ein Jahr später, als die Kan-    der Kontroversen stand dabei                                Christian Sieber, Vizepräsident
tonspolizei dem Staatsarchiv Zürich   meist die Frage der Rückweisung                             Geschichtsverein Adliswil
Hunderte Fotos von Flüchtlingen,
die in Adliswil interniert waren,
ablieferte, rückte das Thema in
den Mittelpunkt der Forschungen.
Die Spurensuche in einem Feld         Inhalt                                                      Impressum
längst    verschütteter    Lokalge-   Krise und Krieg: Vom Ende                                   Jahrheft Nr. 60/2010
schichte konn­te beginnen.            der MSA zum Notspital             1
Gleichzeitig entstand aus einer       Das Lager Adliswil:                                         Herausgeber:
Vereinbarung zwischen Pro Sihltal     Durch­gangsstation                                          Pro Sihltal
und Geschichtsverein Adliswil mit     für Hunderte                      3
dem Ziel der Zusammenarbeit und       Die Flüchtlinge:                                            Redaktionskommission:
gegenseitigen Unterstützung die       Gerettet, aber interniert         9                         Heinz Binder, Adliswil (Vorsitz)
Idee, ein Jahrheft von Pro Sihltal    Ernst Morgenthaler:                                         Franz Osterwalder, Thalwil
einem historischen Thema mit          Kommandant                                                  Isabelle Roth, Adliswil
Schwerpunkt Adliswil zu widmen.       im Lager Gattikon                15                         Arthur Schäppi, Horgen
Mit der Thematik «Flüchtlings-        Wege der Flucht:                              Umschlag:     Bernhard Schneider, Langnau a.A.
lager im Sihltal» präsentiert der     Das Schicksal                          Ostbau und Büro­     Christian Schutzbach, Langnau a.A.
Geschichtsverein die Ergebnisse       der Familie Neufeld              17        bau der MSA,
seiner Forschungen erstmals einem     Distanz und Unbehagen:                   davor das ehe­     Konzept und Gestaltung:
grösseren Publikum, begleitet von     Das Lager und das Dorf           20     malige Badhaus      as werbung ag, Langnau a.A.
zum Teil unpublizierten Fotos.        Kriegszeit in Adliswil:                            (Foto:
Ergänzt werden die Beiträge von       Ein Zeitzeuge erinnert sich      23     Christian Sieber)   Drucktechnische Bearbeitung:
den Erinnerungen des ältesten         Reformiertes Engagement:                                    Druckerei Studer AG, Horgen
Vereinsmitglieds an seine Jugend      Das Wirken von
in Adliswil während des Krieges.      Pfarrer Ernst Kaul               26                         Hefte erhältlich bei:
Die Diskussionen um die Rolle der     Nach dem Krieg: Erinnern,                                   Pro Sihltal
Schweiz im Zweiten Weltkrieg          Vergessen, Verdrängen            29                         Postfach, 8134 Adliswil
haben nach der Zeitenwende von        Jahresbericht                                               Tel. 044 710 70 19 (Tonband)
1989 eine Fülle von wissenschaft-     Pro Sihltal 2009                 32                         www.prosihltal.ch
Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
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Krise und Krieg
Vom Ende der MSA zum Notspital
Das Ende einer Weltfirma
Die 1863 gegründete Mechanische
Seidenstoffweberei Adliswil (MSA),
die in ihren Glanzzeiten weit über
1000 Beschäftigte zählte und aus
der Bauernsiedlung Adliswil innert
Jahrzehnten ein Industriedorf
machte, sah sich in der Weltwirt-
schaftskrise der 1920er-Jahre zum
schrittweisen Abbau von Produkti-
on und Arbeitsplätzen gezwungen,
bis sie schliesslich Ende 1934 den
Betrieb ganz einstellen musste. Die
Firma bestand als Immobilienge-
sellschaft weiter, verkaufte noch
in der Krisenzeit sukzessive ihren
grossen Bestand an Wohnhäusern
und nach dem Zweiten Weltkrieg
auch ihren ausgedehnten Land-
besitz in Adliswil als Bauland.
Den Fabrikkomplex vermietete sie
an verschiedene Gewerbe- und
Fabrikbetriebe und erwirtschaftete
so beispielsweise im Jahr 1941 auf
einer Fläche von 13‘500 m2 Miet-
zinseinnahmen von Fr. 72‘400.–.
Die Krisenjahre trafen Adliswil
durch die Stilllegung der MSA hart       Blick auf Adlis-   stiegen an, einzelne politische        Zivilbevölkerung benötigte. Das
wie kaum eine andere Gemeinde               wil mit dem     Exponenten suchten das Heil in         Projekt stand im Zusammenhang
im Kanton Zürich. «Das ganze             Fabrikkomplex      der Eingemeindung in die Stadt         mit den baulichen Massnahmen
Dorf war ja Fabrik», hat Annie          der MSA (unten      Zürich, andere sahen die Zukunft in    (Panzersperren, Bunker) des Stadt­­­­-
Rohner-Bühler (1907–2008) die          rechts), um 1950     einer möglichst durchgrünten und       kommandos Zürich, die zur Ver-
Bedeutung der Firma mit Weltruf        (Ansichtskarten-     industriefreien Wohngemeinde vor       teidigung der Limmatstadt für
im Rückblick treffend umschrieben.           Sammlung       den Toren Zürichs, ergänzt um          den «Fall Nord» eines deutschen
Arbeitslosigkeit und Steuerfuss        Christian Sieber)    touristische Attraktionen wie einer    Angriffs getroffen wurden. Die
                                                            Standseilbahn auf die Felsenegg.       Wahl fiel damals auf Adliswil, weil
                                                            Der 1939 von Hitlerdeutschland         das Dorf mit der Sihltalbahn von
                                                            entfesselte Krieg machte solche        Zürich aus gut erreichbar war und
                                                            Pläne (vorerst) zunichte.              weil in der MSA geeignete Räum-
                                                                                                   lichkeiten zur Verfügung standen,
                                                            Notspital                              die etwas ausserhalb des Dorfes
                                                            Zu den Mietern im Fabrikkomplex        lagen und gegenüber Luftangriffen
                                                            der MSA gehörte ab Februar 1940        nicht allzu exponiert waren.
                                                            auch der Kanton Zürich, der den        Nach einer Besichtigung durch den
                                      Titelblatt von        sogenannten Ostbau, einen 1892         Gesamtregierungsrat erhielten die
                                      Louis Cugini für      errichteten hangseitigen Gebäu-        Verantwortlichen grünes Licht und
                                      die Tourismus-        deteil, sowie die beiden unteren       begannen mit der Detailplanung.
                                      Broschüre             Geschosse des anschliessenden          Die drei Adliswiler Baufirmen Fran-
                                      «Das Sihltal»         Bürobaus von 1869/70 und das           zetti, Canziani und Tizziani wurden
                                      von Nanny von         benachbarte Nebengebäude, ehe-         mit der baulichen Umgestaltung der
                                      Escher, um 1935       mals ein Badhaus, für die geplante     Fabrikräume beauftragt, und am
                                      (Privatbesitz)        Einrichtung eines Notspitals für die   sogenannten Langbau erstellte man
Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
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                                                                              Plan des
                                                                              Not­spitals in der
                                                                              MSA von Max Bill
                                                                              (Ausschnitt), 1940
                                                                              (Staatsarchiv des
                                                                              Kantons Zürich)

                                                                              Liftanbau für das
                                                                                Notspital in der
                                                                              MSA, erbaut 1940
                                                                                           (Foto:
                                                                               Christian Sieber)

hangseitig einen Anbau mit einem      sah und auf der Suche nach Räum-
auch für Krankenbetten verwend-       lichkeiten zu ihrer Unterbringung
baren Lift. Im Endausbau, für den     an die Kantone gelangte. Viele
kein Geringerer als der Aktivdienst   Kantone verhielten sich zurückhal-
leistende Max Bill (1908–1994)        tend bis ablehnend, andere kamen
die Pläne zeichnete, hätte das        aufgrund ihrer militärstrategischen
Notspital über eine Kapazität von     Lage als Standort nicht in Frage,
über 600 Betten verfügt und sich      so dass der Kanton Zürich mit
mit Operationssälen, Röntgenzim-      vier Auffanglagern in Adliswil,
mer und Leichenraum über den          Aeugstertal, Girenbad bei Hinwil
ganzen Ost- und Bürobau sowie         und Wald ab Herbst 1942 sowie
Teile des angrenzenden Langbaus       fünf weiteren in Gattikon, Plenter-
erstreckt. Die zusätzlichen Räume     platz bei Uitikon, Rikon, Ringlikon
wurden vom Kanton aber gar nie        und Wengibad bei Affoltern am
angemietet, und letztlich wurde       Albis ab Herbst 1943 einen über-
das ganze Projekt unmittelbar nach    durchschnittlichen Anteil an der        Räumlichkeiten des geplanten
einer zweiten Besichtigung durch      Aufgabe übernahm.                       Notspitals für die Bevölkerung in
den Regierungsrat im Februar 1942     Viele Flüchtlinge, die aus Frankreich   den Worten von Pfarrer Edwin
endgültig gestoppt, nachdem die       in die Schweiz geflüchtet waren,        Winkler «so unerwartet» kam.
unmittelbare Gefahr eines deut-       hielten sich bereits in Zürich auf,     Unter den ersten Flüchtlingen
schen Angriffs weggefallen war.       lebten in Pensionen oder waren pri-     befanden sich Inge Ginsberg,
                                      vat untergebracht und besuchten         deren Autobiografie erst vor
Auffanglager                          täglich die Suppenküche der Israeli­    kurzem erschienen ist, und ihr
Der Kanton Zürich, vertreten durch    tischen Cultusgemeinde Zürich im        Verlobter Otto Kollmann sowie
die Gesundheitsdirektion, blieb       Enge-Quartier, als Anfang Oktober       der später als Publizist bekannte
aber Mieter der Räume – und war       1942 das Auffanglager Aeugstertal       Werner Rings (1910–1998) mit
es noch immer, als sich der Bund      als Erstes im Kanton bereit stand       seiner Ehefrau Charlotte. Ende des
im September 1942 trotz faktischer    und die Flüchtlinge ihr Aufgebot        Monats drängten sich im Lager am
Grenzsperre mit einer täglich         erhielten. Ab dem 16. Oktober           Dorfrand bereits 416 Menschen.
anwachsenden Zahl von Flücht-         trafen sie auch in Adliswil ein, wo
lingen aus Frankreich konfrontiert    die Einrichtung des Lagers in den       Text: Christian Sieber
Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
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Das Lager Adliswil
Durchgangsstation für Hunderte

Rahmenbedingungen                       bevor sie ab April 1940 Aufgebote      Blick vom heute     Rechtliche Kategorien
In Adliswil befand sich das bedeu-      in zivil geleitete Arbeitslager und    erhöhten Innen-     Erklären lassen sich diese wichtigen
tendste Auffanglager für jüdische       Heimbetriebe erhielten.                hof auf Bürobau     Unterscheidungen durch die unter-
Zivilflüchtlinge und andere Ver-        – War ein Flüchtling im Auffang-       (links) und         schiedliche rechtliche Situation der
folgte des Nazi-Regimes. Dennoch        lager angekommen, war er gerettet      Ostbau (rechts)     Betroffenen:
stellt seine Geschichte nur einen       und nicht mehr von der Ausschaf-       der MSA             – Emigranten unterstanden dem
kleinen Ausschnitt aus der Gesamt-      fung bedroht. Die Rückweisung von      (Foto:              Ausländerrecht (Landesrecht) und
thematik der Flüchtlingspolitik der     (jüdischen) Flüchtlingen aufgrund      Christian Sieber)   erhielten vom Kanton, in dem sie
Schweiz während des Zweiten             des unterschiedlich streng gehand-                         sich aufhielten, eine sogenannte
Weltkriegs dar, dies aus mehreren       habten und schliesslich am 12. Juli                        Toleranzbewilligung, die ihnen ver-
Gründen:                                1944 faktisch aufge­hobenen Be­­                           schiedene Restriktionen auferlegte.
– Militärisch geleitete Auffang-        schlusses vom 13. August 1942                              – Zivile Flüchtlinge unterstanden
lager gab es nur in der Zeit von        fand an der Grenze statt.                                  dem Asylrecht (Landesrecht), das
Oktober 1942 bis August 1945.           – Militärpersonen, die aufgrund                            nach damaliger Auffassung die
Die Flüchtlinge, die sich in der Zeit   des Kriegsgeschehens auf das                               Freiheit, nicht aber die Pflicht eines
davor, namentlich 1938/39, unter        Terri­torium der Schweiz übertraten,                       Staates war, Verfolgte aufzuneh-
anderem dank dem St. Galler Poli-       darunter als bekanntestes Beispiel                         men und ihnen Schutz zu bieten.
zeikommandanten Paul Grüninger          im Juni 1940 29‘000 französische                           Die Ausgestaltung des Asylrechts
in die Schweiz retten konnten, wur-     und 12‘000 polnische Armee-                                (Aufnahme oder Rückweisung,
den als Emigranten bezeichnet und       angehörige, wurden in einer ande-                          Internierung) lag dabei im freien
konnten sich relativ frei bewegen,      ren Kategorie von Lagern interniert.                       Ermessen des Landes.
Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
4

– Internierte Militärpersonen unter-
standen dem V. Haager Abkommen
von 1907 (Völkerrecht), was ihnen
                                                           ehem. Badhaus
eine bessere Rechtsstellung gab, als
sie die zivilen Flüchtlinge hatten,                                       Ostbau
zumal die Schweiz die damit ver-
                                                                                        Innenhof
bundenen Verpflichtungen genau
beachtete.                                                                                           Liftanbau                     Fabrikkanal

Merkmale der
Auffanglager
Vor diesem Hintergrund zeichnen
sich Auffanglager, wie sie in Adlis-
wil und ein Jahr später in Gattikon
eingerichtet wurden, durch fol-
gende Merkmale aus:                         Sihl
– Ein Auffanglager war nur eine
Zwischenstation für die Flücht-
linge. Hatten sie nach Verfolgung
und Flucht die rettende Schweiz                            Bürobau
(oft nicht beim ersten Versuch)
erreicht, kamen sie in der Regel
zunächst für maximal 2 bis 3
Tage in ein Sammellager noch in                                               Langbau
Grenznähe, dann für drei Wochen
in ein Quarantäne­lager und erst
an­­schliessend ins Auffanglager.       – Zuständig für die Auffangla-          Die Lagergebäu-       Heime, kurz ZL, die auf dem Höhe-
Dabei konnten Quarantäne- und           ger war der Bund, konkret die            de im Überblick      punkt ihrer Tätigkeit über 1000
Auffanglager identisch sein, so         Polizeiabteilung des EJPD in Bern.      (Grafik: Christian    Mitarbeiter beschäftigte.
zeitweise auch in Adliswil und          Die Einrichtung und Leitung der              Schutzbach)      – In den Auffanglagern blieben
Gattikon. Vom Auffanglager aus          Lager wurde der Armee übertragen,                             Ehepaare und Familien noch
erhielten die Flüchtlinge Aufgebo­      die auf diese Aufgabe allerdings                              zusammen, während sie in den ZL-
te in Arbeitslager (Männer) und         nicht vorbereitet war und sie (zu                             Betrieben getrennt leben mussten.
Heimbetriebe (Frauen), wo sie in        Recht) als wesensfremd betrach-                               Kinder unter 6 Jahren konnten
der Regel bis Kriegsende blieben.       tete. Konkret verantwortlich für                              meist bei ihren Müttern bleiben,
Begehrte Alternativen dazu waren        die Lager in Adliswil und Gattikon                            während schulpflichtige Kinder
sogenannte Freiplätze, das heisst       war das Territorialkommando 6 in                              zu Pflegefa­milien oder in Kinder-
private Unterbringungen unter Bei-      Zürich. Im Gegensatz dazu war für                             heime kamen.
behaltung des Interniertenstatus,       die Arbeitslager und Heimbetriebe
oder in seltenen Fällen die völlige     eine zivile Organisation zuständig,                           Das Lagergebäude
Freilassung.                            die Zentralleitung der Lager und                              Das Auffanglager Adliswil war mit
                                                                                                      einer Kapazität von maximal 500
 Zahlen zur Schweizer Flüchtlingspolitik (1933–1945)                                                  Flüchtlingen das grösste seiner Art
                                                                                                      im Kanton Zürich und erstreckte sich
 1933 bis 1939 7´000 bis 8´000         Emigranten                                                     über die im Februar 1940 für die
 1939 bis 1945 24´398                  nachweisbare Wegweisungen von                                  Einrichtung des geplanten Notspi-
 		                                    Zivilflüchtlingen an der Grenze                                tals angemieteten Gebäudeflächen
 1939 bis 1945 51´129                  Aufnahmen und Internierungen                                   hauptsächlich im sogenannten
                                                                                                      Ostbau. Hier befanden sich, soweit
 		                                    von Zivilflüchtlingen, davon …
                                                                                                      sich dies angesichts fehlender Pläne
               50´328                  … von August 1942 bis Mai 1945
                                                                                                      rekonstruieren lässt, auf Geschoss-
               19´495 / 1´809          … Juden / jüdischer Herkunft
                                                                                                      flächen von jeweils 330 m2:
               rund 2´000              … im Auffanglager Adliswil                                     – im Parterre das Lokal für die Wach­
               rund 500                … im Auffanglager Gattikon                                     mannschaft, die Büros des Lager-
 1940 bis 1945 104´886                 Internierungen von                                             kommandos, das Männer- und
 		                                    Militärpersonen                                                das Frauenkrankenzimmer, das
 1939 bis 1945 59´785                  Kinder auf Erholungsurlaub                                     Kleider­magazin, die Flickstube,
 1939 bis 1945 66´549                  kurzzeitige Grenzflüchtlinge                                   die Schneiderei, der Leseraum, ein
 		                                    (vor allem bei Kriegsende)                                     Coiffeur und ein Kiosk;
 1939 bis 1945 57´000                  „Rückwanderer“ (vor allem bei                                  – im 1. Stock der Schlafsaal der
 		                                    Kriegsbeginn und -ende)                                        Männer, ein einziger grosser Fabrik-
Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
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saal mit Holzboden, auf dem Stroh
ausgelegt war (später ersetzt durch
Strohsäcke);
– im 2. Stock der Schlafsaal der
Frauen mit derselben Einrichtung;
– im 3. Stock der Esssaal mit langen
Tischen und Bänken, ebenfalls ein
Fabriksaal, der tagsüber auch als
Aufenthaltsraum diente (später mit
Billardtisch); und schliesslich
– zuoberst im Dachstock ein Raum
mit Betten für Mütter mit Säuglin-
gen und Kleinkindern, später auch
ein Schulzimmer.
Der Waschraum für die Frauen
befand sich, ebenso wie die Küche
und die Waschküche, im benach-
barten ehemaligen Badhaus. Die
Männer mussten sich anfänglich im
Freien waschen, bevor ab Frühjahr
1943 der für das geplante Notspital
zum Luftschutzraum umgebaute
Keller im Ostbau als Waschraum         de 1944 oder 1945 ein zweiter        Die MSA mit         von Ost- und Bürobau, der – wenig-
genutzt werden konnte. Ebenfalls       Speisesaal eingerichtet. Insgesamt   dem dominanten      stens bei schönem Wetter – die ein-
im Frühjahr 1943 verlegte man die      belegte das Lager eine Gebäude-      Langbau, im         zige Alternative zum Aufenthalts-
im Parterre des Ostbaus unterge-       fläche von 3450 m2, den jährlichen   Vordergrund die     raum bot. Der ganze Lagerkomplex
brachten Nutzungen grösstenteils       Mietzins von Fr. 16‘000.– trugen     Wohnsiedlung        war von Stacheldraht umgeben
in die beiden unteren Geschosse        die Armee und als nominelle Mie-     Sihlau, 1949        und wurde militärisch bewacht.
des benachbarten Bürobaus, wo          terin die Gesundheitsdirektion des   (Foto: Max          Im Gebäude galt ein Rauchverbot,
ihnen mehr Raum zur Verfügung          Kantons Zürich je hälftig.           Weiss, Kantonale    für Brand­fälle waren Feuerlöscher
stand. Auf der freigewordenen          Der Aussenbereich des Lagers         Denkmalpflege       vorhanden. Anlässlich einer Übung
Gebäudefläche im Ostbau wur-           beschränkte sich auf den Innenhof    Zürich)             konnte das Lager über die Nottrep-
                                                                                                pen aussen am Gebäude innert
                                                                                                7 Minuten evakuiert werden.
                                                         Treppenhaus in
                                                         der MSA, 1969                          Massenbetrieb
                                                         (Foto: Kantonale                       Die Flüchtlinge waren also mit
                                                         Denkmalpflege                          einem Massenbetrieb und engsten
                                                         Zürich)                                räumlichen Verhältnissen kon-
                                                                                                frontiert. In den beiden Schlaf-
                                                                                                sälen, wo für das Notspital je 65
                                                                            Der Ostbau der      Betten vorgesehen waren, lagen
                                                                            MSA von der         nun zeitweise je über 200 Men-
                                                                            Hangseite aus       schen eng nebeneinander. Im
                                                                            (Foto:              Speisesaal konnte bei voller Bele-
                                                                            Christian Sieber)   gung des Lagers nur schichtweise
                                                                                                gegessen werden, gleichzeitig
                                                                                                waschen konnten sich je rund 50
                                                                                                Männer und Frauen. Knapp be-
                                                                                                messen waren auch die Toiletten,
                                                                                                die sich teilweise im Freien befan-
                                                                                                den. Vor allem bei schlechtem
                                                                                                Wetter drängten sich die Flücht-
                                                                                                linge im einzigen Aufenthaltsraum
                                                                                                oder standen in den Korridoren
                                                                                                herum. Rückzugsmöglichkeiten gab
                                                                                                es keine. «Es ist hier einfach nicht
                                                                                                möglich, einmal zu entkommen
                                                                                                und für sich zu sein», schrieb eine
                                                                                                Frau über das Lagerleben in ihr
                                                                                                Tagebuch.
Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
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Selbst der eidgenössische Flücht-       werden, trotz Einbau einer neuen                             um ältere Offiziere im Rang eines
lingskommissär Ulrich Wildbolz          Elektro-Dampfspeicheranlage für                              Oberleutnants oder Hauptmanns,
(1896–1972), im Zivilleben ur­-         das geplante Notspital im Dezem-                             die jeweils nur für einige Wochen
sprünglich Pfarrer, dann Architekt,     ber 1941, die die Abhängigkeit vom                           oder wenige Monate diesen Dienst
der die Auffanglager regelmässig        Heizstoff Kohle spürbar reduzierte.                          ausübten. In den knapp drei Jah-
inspizierte und insgesamt 15-mal in                                                                  ren des Bestehens lösten sich im
Adliswil war, hielt das Lager zumin-    Lagerpersonal                                                Auffanglager Adliswil mindestens
dest für Schwangere und Mütter          Die engen räumlichen Verhältnisse                            20 Kommandanten ab. Einige von
mit Säuglingen oder Kleinkindern        waren das eine, der militärische                             ihnen wurden abgesetzt, sei es, weil
sowie für über 60-Jährige und           Betrieb des Lagers das andere.                               sie in den Augen ihrer militärischen
andere «leidende oder gebrech-          Menschen, von denen nur ein Teil,
liche Menschen» für ungeeignet,         nämlich die erwachsenen Männer,
namentlich bei längeren Aufent-         mit militärischen Umgangsformen
halten. Regierungsrat Robert Bri-       vertraut waren, sollten – unge-
ner urteilte über die Auffanglager      achtet ihrer körperlichen und see-
im Kanton Zürich generell: «Der         lischen Verfassung nach der Flucht
Aufenthalt darin ist keine leichte      in die Schweiz – plötzlich einem
Sache selbst für den, der Schweres      Tagesbefehl und der Trillerpfeife
gewohnt ist.»                           eines Korporals gehorchen. Für eine
In den Selbstzeugnissen (Briefe,        spezielle Vorbereitung der Offiziere
Erinnerungen) der Flüchtlinge tau-      und Soldaten auf ihre neue, ihnen
chen vor allem zwei Punkte immer        wesensfremde Aufgabe war keine
wieder auf: Einerseits das Stroh, auf   Zeit geblieben. Es kam deshalb
dem sie schlafen mussten, ander-        sehr stark auf die Fähigkeiten des
seits der Lärm im Aufenthaltsraum.      Lagerkommandanten an – nicht
«In dem einzigen grossen Gemein-        seine militärischen, sondern seine
schaftsraum herrscht dauernd            menschlichen –, wie weit Vor-
ein so ohrenbetäubender Lärm,           schriften und Befehle das Lager-
dass man Nerven wie Taue haben          leben dominierten oder aber wenig-
muss», schrieb etwa die Juristin        stens versucht wurde, die Situation
Nora Platiel-Block (1896–1979).         der Flüchtlinge zu berücksichtigen.
Zudem konnte es im Winter in den        Bei den Lagerkommandanten han-
Räumlichkeiten nachts recht kalt        delte es sich auch in Adliswil meist

 Die Lagerkommandanten in Adliswil im Überblick                                       Offizier mit   Vorgesetzten eine zu grosszügige
 (Nicht in allen Fällen liessen sich die Offiziere sicher identifizieren       Flüchtlingsfamilie    Haltung gegenüber den Flüchtlin-
 und der Vorname ergänzen.)                                                            im Ostbau     gen eingenommen hatten, sei es,
                                                                                        der MSA,     weil sie die Flüchtlinge unnötiger
 1942 Oktober bis 1943 Februar  Oblt Albert Trüb                                    29. Juni 1945    Härte und Schikanen aussetzten,
 1942 November/Dezember         Oblt Fridolin Anstadt                            (Foto: © Staats­    so dass die Gefahr drohte, dass
                                (interimistisch)                                  archiv Aargau,     die Missstände an die Öffentlich-
 1943 Januar                    Lt Markus Bolt (interimistisch)                Ringier Bildarchiv)   keit gelangten. Jedenfalls war
 1943 Februar/März              Hptm Hermann Fischlin                                                der Kommandant die eigentliche
 1943 März/April                Hptm Flury                                                           Schlüssel­figur im Lagerbetrieb, der
 1943 Mai, Oktober              Oblt Walter Bremy                                                    über einen beachtlichen Hand-
 1943 September/Oktober (?)     Oblt Walter J. Bär (interimistisch?)                                 lungsspielraum im Spannungsfeld
 1943 Oktober                   Hptm Rudolf? Schlatter                                               zwischen Vorschriften und Mensch-
 1943 November bis 1944 Februar Hptm Hans? Funk                                                      lichkeit verfügte. Manche Erinne-
 1943 Dezember                  Oblt Eugen Baumann                                                   rung eines Flüchtlings an «die Zeit
                                (interimistisch)                                                     auf dem Adliswiler Stroh» ist nicht
 1944 Februar/März              Hptm Walter Scheuchzer                                               zuletzt je nach Kommandant eher
 1944 Mai                       Hptm Brodtbeck                                                       positiv oder negativ gefärbt.
 1944 Juli                      Hptm Müller                                                          Zum Lagerpersonal zählten im Wei-
 1944 August/September          Hptm Ziegler                                                         teren als Lagerarzt im Rang eines
 1944 Oktober                   Oblt Brändli                                                         Majors der in Adliswil ansässige Dr.
 1944 Dezember bis 1945 Januar Oblt Josef? Bianchi                                                   med. Max von Wyss (1879–1958),
 1945 Februar                   Oblt Albin Werdenberg                                                der jeden Flüchtling medizinisch
 1945 März                      Hptm Robert Vetterli                                                 untersuchte und im Hinblick auf
 1945 April bis Mai/Juni        Hptm Robert Hegner                                                   die Versetzung in einen ZL-Betrieb
 1945 Juni/Juli                 Hptm Karl? Kieser                                                    dessen Arbeitsfähigkeit taxierte,
                                                                                                     wofür ihm vier Kategorien zur Ver-
Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
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fügung standen. Im Unterschied zu                                                                 tunlich» sei und er deshalb vorläu-
den Lagerkommandanten behielt                                                                     fig in der Schweiz bleiben könne,
von Wyss seine Funktion bis 1944                                                                  aber eben interniert werde. Die
bei, erst gegen Kriegsende stand                                                                  gesetzliche Grundlage dafür gab
ein anderer Arzt im Einsatz. We-                                                                  der Bundesratsbeschluss über die
gen seiner harten Haltung gegen-                                                                  Unterbringung von Flüchtlingen
über den Flüchtlingen geriet von               Inserat im   die der Leitung von Frau Bandinelli   vom 12. März 1943, der rückwir-
Wyss mitunter in Konflikt mit libe-     «Sihltaler», 1942   unterstanden, die wie der Lager-      kend ab 1. August 1942 Geltung
ral eingestellten Kommandanten.                             arzt bis 1944 im Dienst blieb und     hatte. Im Flüchtlingsausweis wur­
«Bestimmte Empfehlungen des                                 die in den Worten des Publizisten     den unter anderem sämtliche
Kommandanten [damals Albert                                 Walter Fabian (1902–1992) «durch      Lageraufenthalte registriert.
Trüb] lösen gewöhnlich eine                                 eine vielleicht nicht eingestandene   Im Auffanglager hatte der Flücht-­
gegenteilige Aktion des Chefarztes                          allgemeine Antipathie zur Masse       ling zunächst in einem «Ab­­hör-
aus», schrieb Werner Rings an-                              der jüdischen Flüchtlinge beein-      ungsprotokoll» der Heerespolizei
fangs 1943.                                                 flusst» war. Sie war es auch, die     Auskunft zu geben über die
Dem Kommandanten zur Seite                                  den ersten Lagerkommandanten          Gründe und die Umstände seiner
standen ein Feldweibel und ein                              Albert Trüb wegen seiner gross-       Flucht, sofern dies nicht bereits
Fourier sowie mehrere Korporäle.                            zügigen Haltung den Flüchtlingen      auf einem Polizeiposten oder in
Insgesamt umfasste das Kom-                                 gegenüber bei seinen Vorgesetzten     einem Sammellager geschehen war.
mando 7 Mann, dazu kamen 24                                 denunzierte.                          Dann folgte in fünffacher Ausferti-
Soldaten für die Bewachung und                                                                    gung ein 16-seitiger Fragebogen,
22 Hilfsdienstleistende der Sanität                         Bürokratie und                        in dem der Flüchtling detaillierte
(Zahlen vom März 1943). Um                                  Formulare                             Angaben zu seiner Person machen
nicht zu viele ordentliche Trup-                            Die Flüchtlinge, die sich durch       musste; bei den Angaben über die
penkräfte zu absorbieren, wurden                            ihre Flucht in die Schweiz aus        Angehörigen tauchen dabei regel-
auch in Adliswil über längere Zeit                          juristischer Sicht des illegalen      mässig die Namen von deportierten
hinweg Angehörige der freiwil-                              Grenzübertritts schuldig gemacht      oder vermissten Menschen auf.
ligen Ortswehr für die Bewachung                            hatten, durchliefen an der Gren-      Zuletzt kam auch im Lager Adliswil
eingesetzt, das heisst Männer, die                          ze, auf Polizeiposten und in den      periodisch der Erkennungsdienst
mit 16–19 Jahren noch zu jung                               Lagern ein bürokratisches Verfah-     der Kantonspolizei Zürich vorbei,
oder mit 50–70 Jahren bereits zu       Briefcouvert zu      ren, «Durchleuchtung» genannt,        um die Flüchtlinge zu fotografieren,
alt oder aber untauglich für den       einem Schreiben      an dessen Ende der Internierungs-     ein Signalementsblatt zu erstellen
ordentlichen Militärdienst waren.      eines Flüchtlings    beschluss und die Ausstellung         und ihnen die Fingerabdrücke
Adliswiler Ortswehrkommandant          an das IKRK in       eines hellblauen Flüchtlingsaus-      zu nehmen. Manche Flüchtlinge
war zunächst Alfred Spinner sen.,      Genf mit dem         weises mit Foto standen. Der          wurden auch erst später in einem
dann Martin Schmidli.                  Adressstempel        Internierungsbeschluss hielt fest,    ZL-Betrieb fotografiert, die Zahl
Schliesslich waren im Fürsorge-        des Lagers           dass der Flüchtling illegal in die    von 1329 Polizeifotos, die sich
dienst des Lagers 3 Angehörige         Adliswil, 1942/45    Schweiz gekommen sei, dass aber       bisher dem Lager Adliswil zu­ordnen
des Frauenhilfsdienstes (FHD) tätig,   (Privatbesitz)       «seine Ausschaffung zur Zeit nicht    liessen, erlaubt es aber zusam-
                                                                                                  men mit anderen Hinweisen, die
                                                                                                  Gesamtzahl der hier internierten
                                                                                                  Zivilflüchtlinge auf rund 2000 zu
                                                                                                  schätzen; für das Lager Gattikon
                                                                                                  kann von rund 500 Personen aus-
                                                                                                  gegangen werden.
                                                                                                  Ebenfalls im Auffanglager hatten
                                                                                                  die Flüchtlinge Wertsachen und
                                                                                                  Bargeld abzugeben, soweit es
                                                                                                  den Wert von Fr. 100.– (später
                                                                                                  Fr. 50.–) überstieg. Beides wurde
                                                                                                  bei der Schweizerischen Volksbank
                                                                                                  deponiert und dem Flüchtling
                                                                                                  eine Quittung darüber ausgestellt.
                                                                                                  In dieser sind so seine letzten
                                                                                                  finanziellen Reserven dokumen-
                                                                                                  tiert, häufig Goldschmuck oder
                                                                                                  Diamanten, soweit damit nicht
                                                                                                  Schlepperdienste bei der Flucht
                                                                                                  bezahlt worden waren. Aus dem
                                                                                                  Bargeld erhielten die Flüchtlinge
                                                                                                  ein Taschengeld von Fr. 20.– (später
Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
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                    Fr. 30.–) pro Monat ausbezahlt,           Verwandte oder Bekannte in der          na Kägi das Lager persönlich, und
                    aber auch die Unkosten ihres Auf-         Schweiz zurückgreifen konnten.          die FCLIS entsandte ihren Mitbe-
                    enthalts in der Schweiz wurden            Die Vertreter der Hilfswerke hat-       gründer Fernando Schiavetti nach
                    daraus beglichen. Flüchtlingen, die       ten Zutritt zum Auffanglager,           Adliswil.
                    ein Vermögen von über Fr. 300.– in        zumal ihr finanzielles Engagement
                    die Schweiz brachten, wurde für           zugunsten der Flüchtlinge den           Zwischenfälle und
                    den Aufenthalt im Auffanglager            Staat massgeblich entlastete und        Antisemitismus
                    pro Tag ein «Pensionspreis» (so die       sich Lagerkommandanten mit              Ernsthafte Zwischenfälle zwischen
                                                              ihren Begehren zum Teil direkt          dem Lagerpersonal und den Flücht-
                                                              an die Organisationen wandten.          lingen gab es, je nach Komman-
                                                              Alle Hilfswerke mit Ausnahme des        dant, auch in Adliswil. Sie tauchen
                                                              Roten Kreuzes arbeiteten nach dem       in den offiziellen Akten meist nur
                                                              Prinzip, dass jede Organisation für     als «gewisse Vorkommnisse» auf.
                                                              die «eigenen» Flüchtlinge sorgte:       Zu diesen Zwischenfällen gehören
                                                              – der Verband Schweizerischer           verbale und gelegentlich auch tät-
                                                              Jüdischer Flüchtlingshilfen VSJF        liche Auseinandersetzungen. Ein
                                                              in Zürich mit Silvain Guggenheim        Schusswaffengebrauch, der zwei-
                                                              an der Spitze für die Juden;            fellos eine Untersuchung nach
                                                              – das Schweizerische Arbeiterhilfs-     sich gezogen und damit aktenkun-
                                                              werk SAH in Zürich mit Regina Kägi      dig geworden wäre, lässt sich
                                                              als Leiterin für Linke und Gewerk-      zwar nicht nachweisen, wohl aber
                                                              schafter vor allem aus Deutschland;     die Drohung des Kommandanten
                                                              – die Assistenza Italiana AI der        Walter Bremy im Herbst 1943, die
                                                              Federazione delle Colonie Libere        Waffen seiner Soldaten seien scharf
                                                              in Svizzera FCLIS in Zürich für die     geladen, sowie weitere Vorfälle, die
                                                              Antifaschisten aus Italien;             eindeutig auf eine Einschüchterung
                                                              – der Schweizerische Caritasver-        der Flüchtlinge abzielten oder bei
                                                              band in Luzern für die Katholiken;      denen Zwang ausgeübt wurde,
                                                              – das Schweizerische kirchliche         etwa beim kollektiven Turnen im
                                                              Hilfskomitee für evangelische           Freien. Bremy war im Übrigen
                                                              Flüchtlinge SKHEV in Bern und der       selbst in den Augen seiner Unter-
                                                              Flüchtlingsdienst des Schweize-         gebenen «etwas preussisch», die
 Die Flüchtlings-                                             rischen Evangelischen Hilfswerks        Tessiner Sektion des SAH spricht
   ausweise der                                               für die bekennende Kirche in            von einem «regime di terrore».
Familie Neufeld                                               Deutschland SEHBKD von Pfarrer          Zulässige Sanktionen gegen Flücht-
           (Foto:                                             Paul Vogt in Zürich für die Prote-      linge waren einfacher oder scharfer
Christian Sieber)                                             stanten;                                Arrest bis zu 10 Tagen.
                    offizielle Bezeichnung) von Fr. 2.30      – das Schweizerische Hilfswerk für      Die mehrheitlich jüdischen Flücht-
                    für die Verpflegung und von               Emigrantenkinder SHEK in Zürich         linge waren auch mit antisemi-
                    Fr. –.70 für Unterkunft und Hei­          mit Nettie Sutro als Leiterin für die   tischen Äusserungen konfrontiert.
                    zung in Rechnung gestellt.                Kinder.                                 Wildbolz notierte in der Amtszeit
                    Der Briefverkehr der Flüchtlinge          Auch die Hilfswerke, die mit der        von Kommandant Hermann Fisch-
                    unterstand der Zensur, wodurch            Betreuung und Unterstützung der         lin: «Beim Lagerpersonal nimmt
                    sich immer wieder Verzögerungen           Flüchtlinge (vor allem in Form von      eine antisemitische Einstellung im
                    in der Zustellung ergaben, und war        Taschengeld und Kleiderbeschaf-         allgemeinen zu.» Schliesslich fiel
                    auf einen Brief und eine Postkarte        fung) an ihre organisatorischen         auch im Lager Adliswil jener Satz,
                    pro Woche im Inland beschränkt.           und personellen Grenzen stiessen,       der einem in leicht variierter Form
                    Angehörige im Ausland durften             mussten ihre Schützlinge zunächst       in den Aussagen von Flüchtlingen
                    nicht oder nur via IKRK ange­             mit ihren Formularen erfassen und       fast in allen Lagern begegnet, jene
                    schrieben werden. Allerdings kam          Dossiers anlegen, die sich im Fall      bei einzelnen Lagerverantwort-
                    es in der Realität häufig vor, dass die   von VSJF, SAH, FCLIS und SHEK           lichen beliebte Antwort auf Klagen
                    Vertreter der Hilfswerke Briefe an        glücklicherweise erhalten haben.        von Flüchtlingen: «Wenn es Ihnen
                    sich nahmen und unter Umgehung            Aufgrund der Zusammensetzung            nicht passt, so gehen Sie dorthin
                    dieser Vorschriften weiterleiteten.       der Verfolgten trugen der VSJF          zurück, wo Sie hergekommen
                                                              sowie die in «Lokalkomitees für         sind.» Werner Rings, Walter Fabi-
                    Hilfswerke                                Flüchtlingshilfe» organisierten jü-­    an und Susy Schweizer-Schmidt
                    Viele Flüchtlinge aber waren              dischen Gemeinden bei weitem            (1918–2009), die ebenfalls in
                    mittellos in die Schweiz gekom-           die Hauptlast. Die zuständige VSJF-     Adliswil interniert war, überliefern
                    men und auf die Unterstützung             Fürsorgerin im Lager Adliswil war       ihn unabhängig voneinander.
                    der verschiedenen Hilfswerke              zumindest 1942/43 Adele Bloch,
                    ange­wiesen, soweit sie nicht auf         auf Seiten des SAH besuchte Regi-       Text: Christian Sieber
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  Das Leben der
     Flüchtlinge
     spielte sich
  hauptsächlich
  innerhalb des
    Lagers ab…
           (Foto:
Christian Sieber)

                    Die Flüchtlinge
                    Gerettet, aber interniert
                    Das Lager Adliswil war nicht nur Zwi-     Nimmt man noch das je nach Kom-        Für einen Stimmungsumschwung
                    schenstation und Massenbetrieb, es        mandant unterschiedliche Klima im      unter den Flüchtlingen sorgte
                    war auch ein Auffangbecken, in            Lager hinzu, überrascht es nicht,      häufig auch das lange und häufig
                    dem Menschen – Einzelpersonen,            dass die Flüchtlinge ihre Zeit in      un­tätige Warten auf einen Ent-
                    Ehepaare und Familien – mehr oder         Adliswil ganz verschieden erlebten     scheid über ihr weiteres Schicksal,
                    weniger zufällig zusammen kamen,          und in Erinnerung behielten: von       meist die Versetzung in einen
                    die sich nicht kannten und nun auf        der Dankbarkeit über die Rettung,      ZL-Betrieb. Einige Flüchtlinge, vor
                    engstem Raum unter militärischem          die alles Negative ausblendete,        allem Frauen und vor allem in
                    Kommando gemeinsam leben                  bis zur Erwartung eines Lebens in      der ersten Hälfte 1943, als die In-
                    mussten, oft traumatisiert durch          Freiheit, die durch die Internierung   frastruktur der ZL erst im Aufbau
                    Verfolgung und Flucht.                    unter prekären Verhältnissen ent-      begriffen war, mussten mehrere
                    «Die Flüchtlinge» als homogene            täuscht wurde. Im Rahmen des Ver-      Monate, also weit länger als die
                    Gruppe gab es nicht. Vielmehr             gleichs der Schweizer Grossbanken      minimale Zeit von drei Wochen
                    unterschieden sich die in Adliswil        mit jüdischen Sammelklägern in         Quarantäne, in Adliswil bleiben,
                    Gestrandeten durch alles, durch           den USA von 1998 erhielten auch        während die Männer bereits
                    was sich Menschen unterschei-             einige ehemalige Flüchtlinge, die      ihr Aufgebot ins Arbeitslager
                    den können: Geschlecht, Alter,            im Lager Adliswil interniert waren,    erhielten. Die behördliche Büro­
                    Zivilstand, Sprache, Nationalität,        auf eine entsprechende Klage hin       kratie erfasste zwar jeden Flücht-
                    Religion, Beruf, soziale Stellung, bis-   eine bescheidene Entschädigung,        ling als Individuum, konnte aber
                    herige Lebensverhältnisse. Selbst die     während zur gleichen Zeit der          angesichts fehlender Vorbereitung
                    Umstände der Flucht in die Schweiz        ehemalige Flüchtling Ken Newman        und ständiger Überforderung
                    und damit häufig verbunden der            positive Erinnerungen unter ande-      durch neue Flüchtlingswellen Leer-
                    Gesundheitszustand waren ver-             rem von in Adliswil Internierten       läufe und falsche Zusagen nicht
                    schieden, ebenso das Schicksal der        veröffentlichte – beides kann seine    vermeiden. Gleichzeitig versuchten
                    zurückgebliebenen Angehörigen.            Berechtigung haben.                    viele Flüchtlinge aktiv bei den
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Behörden und den Hilfswerken                                                                       Als Reaktion auf die deutsche
auf ihr individuelles Schicksal auf-                                                               Besetzung der zuvor unbesetzten
merksam zu machen und – soweit                                                                     Teile Südfrankreichs und die damit
möglich – ihnen bekannte Schwei-                                                                   einsetzenden Deportationen in die
zer als Fürsprecher einzuschalten                                                                  Vernichtungslager im Osten flohen
oder auf ihre guten finanziellen                                                                   im Sommer und Herbst 1942 vor
Verhältnisse hinzuweisen. Auch in                                                                  allem Juden, daneben auch Linke
dieser Hinsicht gab es keine Gleich-                                                               und Gewerkschafter, über die
heit unter den Flüchtlingen. Ander-                                                                Westschweizer Kantone (nament-
seits drohte unterzugehen, wer                                                                     lich Genf) in die Schweiz, wobei
sich nicht wehrte, und Flüchtlinge                                                                 dies vielen erst im wiederholten
mit guten Beziehungen setzten                                                                      Versuch gelang. Es handelte sich
diese auch gezielt für die Verbes-                                                                 zumeist um durch die Nürnberger
serung der Lebensbedingungen                                                                       Rassengesetze staatenlos gewor-
aller Flüchtlinge ein, so im Fall des                                                              dene Deutsche und Österreicher
Lagers Adliswil Werner Rings und                                                                   sowie Belgier und Holländer, die
Walter Fabian.                                                                                     spätestens 1939 nach Frankreich
                                                                                                   geflüchtet waren, wo sie 1940
Flüchtlingswellen                                                                                  die Verfolgung durch die Deut-
Das Lager Adliswil mit einer             Schlafstätten der    wohl war. Periodisch neue Flücht-    schen einholte, oder die direkt aus
Kapazität für 500 Flüchtlinge war           Flüchtlinge im    lingswellen machten solche Pläne     Deutschland in die berüchtigten
nicht über die gesamte Zeit seines       Ostbau der MSA,      aber rasch wieder zunichte, Adlis-   Internierungslager wie Gurs und
Bestehens hinweg voll ausge-                 29. Juni 1945    wil und Girenbad bei Hinwil waren    Les Milles verschleppt worden
lastet. Es gab Phasen, in denen           (Foto: © Staats-    als die beiden grössten Auffangla-   waren. Viele von ihnen hatten
deutlich weniger Menschen darin            archiv Aargau,     ger im Kanton Zürich von Herbst      sich zuvor von Frankreich aus auch
lebten, unter entsprechend bes-         Ringier Bildarchiv)   1942 bis Sommer 1945 als einzige     vergeblich um eine Ausreise nach
seren räumlichen Bedingungen.                                 durchgehend in Betrieb.              Übersee bemüht. Dieser ersten
Zwischendurch wurde sogar eine                                Im Wesentlichen waren es Ver-        Flüchtlingswelle, die überhaupt
Schliessung ins Auge gefasst, nicht                           folgte aus fünf Flüchtlingswellen,   erst zur Einrichtung von Auffangla-
zuletzt auf Anraten von Flücht-                               die in Adliswil interniert wurden    gern führte, gehörten überdurch-
lingskommissär Ulrich Wildbolz,                               und die die Belegung des Lagers      schnittlich viele Politiker, Anwälte,
dem mit einem Lager dieser Grösse                             innert kurzer Zeit je nachdem        Künstler und Intellektuelle an,
und mit beinahe ausschliesslich                               auf 300 bis über 450 Menschen        darunter die erwähnten Werner
Strohsäcken statt Betten nie recht                            an­steigen liessen.                  Rings, Walter Fabian und Nora

 Zahl der Flüchtlinge im Lager Adliswil
 (Für die Monate mit Nullwerten liegen keine Zahlen vor.)
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                                                               stand. Unter ihnen befanden sich       völkerrechtlichen Verpflichtungen
                                                               Umberto Terracini (1895–1983),         interniert werden mussten. Aller-
                                                               Mitbegründer der KPI, der unter        dings kam kurzzeitig das Gerücht
                                                               Mussolini 17 Jahre im Gefängnis        auf, es befänden sich auch SS-
                                                               sass, und der Schriftsteller Franco    Angehörige darunter. Ihre Ankunft
                                                               Fortini (1917–1994), der im Lager      mit einem Extrazug am Bahnhof
                                                               Adliswil sein nach dem Krieg           Adliswil verfolgte eine grosse Men-
                                                               publiziertes Tagebuch «La Guerra       schenmenge, die einige spöttische
                                                               a Milano» niederschrieb.               Ausrufe nicht unterdrücken wollte,
                                                               Als im Sommer 1944 die Belegung        wie die Zeitungen berichteten.
                                                               wieder stark abgesunken war,           Zwischenzeitlich zeichnete sich
                                                               wurden die wenigen verbliebe-          bereits ein weiterer Flücht-
                                                               nen Flüchtlinge in andere Lager        lingsstrom aus Italien ab, denn
                                                               verbracht, weil man die Räum-          nachdem die Deutschen die von
                                                               lichkeiten Mitte September vor­        Widerstandskämpfern aus Domo-
                                                               übergehend für die Internierung        dossola und Umgebung errichtete
                                                               von 293 Angehörigen der Wehr-          Partisanenrepublik Ossola nach
                                                               macht – neben Gebirgstruppen           44 Tagen Mitte Oktober blutig
                                                               auch Grenzwächter, Zöllner und         niederschlugen, flüchteten viele
Platiel. Mit 466 Menschen, zu rund       Flüchtlinge im        Matrosen – benötigte. Wo also          Partisanen mit ihren Familien über
90% Juden oder jüdischer Her-            Esssaal im 3. Stock   eben noch die Verfolgten des Nati-     die zum Teil bereits verschneiten
kunft, erreichte das Lager Adliswil      des Ostbaus der       onalsozialismus lebten, zogen nun,     Berge ins Wallis sowie ins Tessin.
Mitte November 1942 seinen               MSA,                  wenn auch nur für drei Wochen,         Sie wurden von der Schweiz kol-
Höchststand.                             29. Juni 1945         ihre Verfolger ein. Es handelte sich   lektiv aufgenommen und unter
Ein Jahr später, im Herbst 1943,         (Foto: © Staats-      um Truppenangehörige, die bei          anderem in Adliswil interniert, wo
folgte über die Kantone Tessin,          archiv Aargau,        Basel in die Schweiz übergetreten      im Dezember 1944 wieder 390
Graubünden und Wallis der                Ringier Bildarchiv)   waren, so dass sie aufgrund der        Menschen lebten, 240 Männer,
zweite grosse Flüchtlingsstrom,
ausgelöst durch die Kapitulation
des faschistischen Regimes in
Italien am 8. September und den
Einmarsch deutscher Truppen in
Norditalien, wodurch der jüdischen
Bevölkerung auch hier die Depor-
tation in die Vernichtungslager
drohte. Gleichzeitig flüchteten
auch viele italienische und jugo-
slawische Widerstandskämpfer in
die Schweiz, ebenso Italiener, die
sich dem Kriegsdienst für Nazi-
Deutschland entziehen wollten.
Letztere hatten in ihrer Heimat zwar
nicht im Militärdienst gestanden,
wurden in der Schweiz aber doch
wie Militärinternierte behandelt.
Weil die meisten dieser Flücht-
linge zunächst in Sammellagern
im Tessin untergebracht wurden,
erreichte das Lager Adliswil erst
im Mai 1944 mit 360 Menschen,
zu rund 70% Juden oder jüdischer
Herkunft, wieder einen Höchst-

                    Flüchtlingsmütter
                     mit Kleinkindern
                    im Dachstock des
                    Ostbaus der MSA,
                        29. Juni 1945
                      (Foto: © Staats-
                       archiv Aargau,
                   Ringier Bildarchiv)
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85 Frauen und 65 Kinder. Für            unterschiedlicher Herkunft in die
die Kinder in den verschiedenen         Schweiz, darunter auch ehemalige
Auffanglagern organisierte die          Zwangsarbeiter, vor allem Russen.
Assistenza Italiana der FCLIS mit       Auch die nationale Zusammenset-
grossem Aufwand eine Weih-              zung der Menschen im Lager Adlis-
nachtsfeier in Zürich, gleichzeitig     wil war vielfältig, wie sie das Sihltal
versuchte sie, möglichst viele von      bis zu den Migrationsströmen im
ihnen ausserhalb der Lager privat       Zeitalter der Globalisierung kaum
unterzubringen.                         mehr sah: neben Angehörigen
Kaum war die Zahl der Flüchtlinge       mitteleuropäischer Nationen auch
in Adliswil Anfang 1945 wieder          Polen, Tschechen, Ukrainer, Rus-
abgesunken – die Versetzungen in        sen, Litauer, Griechen, Jugoslawen
die ZL-Betriebe erfolgten mittler­      und Araber. Unter den Deutschen
weile viel rascher als noch 1943        und Österreichern befanden sich
– erreichte am 7. Februar ein           auch Menschen, die vor dem
Bahntransport mit 1200 Menschen         Vormarsch der Russen geflüchtet
aus dem Ghetto Theresienstadt die       waren, unter den Polen befand
Schweizergrenze bei Kreuzlingen.        sich eine Gruppe von 40 befreiten,
Alt-Bundesrat Jean-Marie Musy           aber unterernährten Insassen des
hatte sie in einer bis heute umstrit-   Konzentrationslagers Dachau, die          oder religiösen Feiern regelmässig      Inserat im
tenen Aktion in direkten Ver-           noch ihre Häftlingskleidung tru-          auch auswärtige Besucher zu             «Sihltaler»,
handlungen mit Reichsführer-SS          gen. Auch im Lager Gattikon sind          Gast. Am besten dokumentiert            17. März 1945
Heinrich Himmler und ohne Wissen        9 polnische Juden aus Dachau und          sind solche Eigeninitiativen bei den
weder des Bundesrats noch Hitlers       Auschwitz bezeugt.                        Flüchtlingen der ersten Belegung
freigekauft. Nach einer nur kurzen      Schliesslich waren bei Kriegsende         des Lagers vom Herbst 1942 bis ins
Quarantäne in St. Gallen wurden         im Lager Adliswil, das nun nicht          Frühjahr 1943, begünstigt einer-
die Deutschen und Österreicher          mehr «Auffanglager» sondern               seits durch das intellektuelle und
unter ihnen in Auffanglager in der      «Abstelllager» hiess, sogar Aus-          künstlerische Potenzial der damals
Westschweiz verbracht, während          landschweizer interniert. Es han-         in Adliswil Internierten, anderseits
285 Holländer und 85 Tschechen          delte sich dabei um sogenannte            durch die liberale Haltung des
jüdischen Glaubens oder jüdischer       Rückwanderer, die seit langem in          Lagerkommandanten Albert Trüb
Herkunft in zwei Transporten am         Deutschland gelebt hatten und             und das Engagement von Pfarrer
10. und 15. Februar in Adliswil         – ohne zwingend mit dem Natio-            Ernst Kaul. «Mit dem Verschwin-
ankamen. Es handelte sich vor           nalsozialismus zu sympathisieren          den der Todesangst explodierte die
allem um ältere Menschen und            – nach der Machtergreifung Hit-           Lebensfreude»,      charakterisierte
Kinder, die in Theresienstadt gezielt   lers 1933 und selbst nach Kriegs-         Inge Ginsberg die damalige Stim-
ausgewählt worden waren und die         beginn 1939 geblieben waren, jetzt        mung im Rückblick.
sich bei der Abfahrt nicht sicher       aber keine Zukunft in ihrer zweiten       Künstler unter der Leitung des
sein konnten, ob die Fahrt tatsäch-     Heimat mehr sahen. Einer dieser           Zauberers Teddy Kaiser und seiner
lich in der rettenden Schweiz und       Rückwanderer war der Architekt            Frau Suzette, einer Akrobatin, stell-
nicht in einem Vernichtungslager        Otto Zollinger (1886–1970), der           ten ein Lagertheater auf die Beine,
endete. Erst kurz vor der Grenze,       im März 1945 in Adliswil Wohnsitz         das wöchentlich ein neues Pro-
das zerbombte Friedrichshafen vor       nahm und hier tätig wurde, unter          gramm auf die Bühne brachte mit
Augen, durften sie den Judenstern       anderem mit dem Schwimmbad                Sketchen, Musik und Tanz unter
von der Kleidung abnehmen. Viele        und den Stationsgebäuden der              anderem der russischen Tänz­erin
von ihnen schickten aus Adliswil        Luftseilbahn auf die Felsenegg.           Suzy Miron. Die Bühnenbilder
Postkarten an die in Theresienstadt     Ob er zuvor im Lager Adliswil             dazu zeigten europäische Gross-
Zurückgebliebenen und vermieden         interniert war, konnte bisher nicht       städte: Berlin, Wien, Prag. Werner
es, um sie nicht zu gefährden, in der   geklärt werden.                           Rings waren diese Kabarett- und
Schweiz über die dortigen Lebens-                                                 Variété-Darbietungen zu sehr auf
verhältnisse offen zu berichten.        Eigeninitiativen                          Unterhaltung ausgerichtet. Um
Am 23. April 1945 verliessen die        Trotz schwierigen Lebensbedin-            nicht in «billigen, trivialen Witz-
Theresienstädter das Sihltal wieder,    g­ungen im Lager und oftmals trau-        chen stecken zu bleiben», wollte
doch der Flüchtlingsstrom in den        matischen Erlebnissen in der Zeit         er kurze Einakter der Weltliteratur
Tagen um das Kriegsende füllte          vor der Rettung in die Schweiz: Die       zur Aufführung bringen. Vor allem
das Lager Adliswil bis Mitte Juni       Flüchtlinge organisierten sich, jeder     aber stellte Rings zusammen mit
noch einmal mit 255 Menschen.           nach seinen Fähigkeiten, in vielfäl-      einer Gruppe von gleichgesinnten
Nun kamen, kanalisiert über             tigen Formen selbst, je nach Kom-         Flüchtlingen, die sich «Studien-
Grenzübergänge wie Rheinfelden,         mandant gefördert oder zumindest          Arbeitsgemeinschaft» nannte, ein
Schleitheim, Kreuzlingen und            toleriert. Dabei waren im Rahmen          Programm mit Konzerten, Le-
St. Margrethen, Flüchtlinge sehr        von kulturellen Veranstaltungen           sungen und Vorträgen auf die
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Beine, das auch Auftritte von                                Im Leseraum des Lagers war es          mittlerrolle zwischen Flüchtlingen
Gästen umfasste. So sprach der                               wiederum Werner Rings, der             und Lagerkommado: Mit dem
renommierte Geschichtsprofessor                              eine Bibliothek einrichtete, für       Goethe-Zitat «Einen kritischen
Hans Nabholz am 1. April 1943                                die das Sozialarchiv und die Zen-      Freund an der Seite, kommt man
zum Thema «Was ist Demokra-                                  tralbibliothek in Zürich sowie die     immer schneller vom Fleck», rief er
tie?». Auf Einladung jüdischer                               Schweizerische Volksbibliothek in      in seiner Lagerzeitung die «unver-
Flüchtlinge hielten Zwi Taubes                               Bern Belletristik und Fachlitera-      besserlichen Querulanten und
(1900–1966), Rabbiner der Israeli­                           tur zur Verfügung stellten. Den        Drückeberger» unter den Flücht-
tischen Cultusgemeinde Zürich,                               Leseraum ebenso wie den Ess-           lingen ebenso zur Ordnung, wie er
und der Theologieprofessor und                               saal schmückte Hans Eltzbacher,        anderseits dem Lagerkommando
Feldprediger Walther Zimmerli                                jüdischer Rechtsanwalt aus Köln,       detailliert Verbesserungsvorschlä-
(1907–1983) Vorträge über The-                               mit Wandbildern, die auch Flücht-      ge unterbreitete. In der Rubrik
men des Alten Testaments.                                    lingskommissär Wildbolz auf-           «Jenseits der Sihl» befasste er sich
Zwei mündliche Quellen sprechen                              fielen. Rings plante unter dem Titel   mit weltpolitischen Fragen.
auch davon, dass der damals                                  «Zeitspiegel» sogar die Produkti-      Zur Selbstorganisation der Flücht-
berühmte jüdische Sänger Joseph                              on einer Lagerzeitung, von der         linge gehörte auch die Ernennung
Schmidt (1904–1942), der im Lager                            aber nur das Typoskript der ersten     von «Gruppenchefs», die den vom
Girenbad interniert war, vor seiner                          Nummer vorliegt. In Druck ging         Lagerkommando ernannten «Sek-
Erkrankung und dem tragischen            Flüchtlinge vor     sie offenbar nie, zunächst weil mit    tionschefs» unterstanden, oder
Tod einen Auftritt im Lager Adliswil   dem Bürobau der       dem Nachfolger von Komman-             von Sprechern bei Beschwerden
hatte, was zumindest nicht aus-                     MSA,     dant Trüb «keine Einigung» über        gegenüber der Lagerleitung.
geschlossen werden kann. Nach-              29. Juni 1945    solchen Ideen zu erzielen war,         Porthos Cecchi, Direktor einer
weislich zu Gast war der jüdische        (Foto: © Staats-    dann weil Rings in ein Arbeits-        Chemiefabrik in Turin, der die
Männerchor Hasomir aus Zürich,            archiv Aargau,     lager versetzt wurde. Rings sah        Partisanen aus Domodossola
der jiddische Volkslieder vortrug.     Ringier Bildarchiv)   sich offensichtlich in einer Ver-      mit Sprengstoff beliefert hatte,
                                                                                                    bezeichnete sich 1944 gleich als
                                                                                                    «comandante italiano del campo»
                                                                                                    und verwendete Briefpapier und
                                                                                                    Stempel des Lagerkommandos
                                                                                                    für seine Korrespondenz. Auch
                                                                                                    durch berufliche Qualifikationen,
                                                                                                    namentlich im medizinischen und
                                                                                                    pflegerischen Bereich, konnten
                                                                                                    sich einzelne Flüchtlinge nützlich
                                                                                                    machen, womit stets auch gewisse
                                                                                                    Vorteile verbunden waren. Ande-
                                                                                                    re konnten sich eine bevorzugte
                                                                                                    Behandlung erkaufen. Eine «klas-
                                                                                                    senlose» Gesellschaft bildeten die
                                                                                                    Flüchtlinge trotz gemeinsamem
                                                                                                    Schicksal nicht.

                                                                                                    Religiöses Leben
                                                                                                    Ebenso wie die Vertreter der
                                                                                                    Hilfswerke hatten auch Geistliche
                                                                                                    der verschiedenen Religionen
                                                                                                    und Konfessionen Zutritt zum
                                                                                                    Lager, so dass die seelsorgerliche
                                                                                                    Betreuung, namentlich an den
                                                                                                    hohen Fest­tagen, gewährleistet
                                                                                                    war. Über die mehrtägigen Feiern
                                                                                                    an Pessach 1944 berichtete das
                                                                                                    «Israelitische Wochenblatt» be-­
                                                                                                    sonders ausführlich, weil dazu
                                                                                                    rund 150 Flüchtlinge aus anderen
                                                                                                    Auffanglagern im Kanton Zürich
                                                                                                    nach Adliswil kommen konnten.
                                                                                                    Gottesdienste, Lesungen aus der
                                                                                                    Haggada und Vorträge standen
                                                                                                    auf dem Programm mit Rabbiner
                                                                                                    Katzenstein.
14

Für gläubige Juden wurde minde-         um der Behauptung des Lager-                               Engel. Sie sind Menschen wie
stens zeitweise «rituell», das heisst   kommandanten entgegenzutre-                                alle anderen.» Mit diesen Wor-
koscher gekocht. Wenn von Seiten        ten, die Flüchtlinge erhielten gleich                      ten     umschrieb     Max    Brusto
der Flüchtlinge Klagen wegen der        grosse Fleischrationen wie die Zivil­                      (1906–1998) aus eigener Anschau-
Verpflegung erhoben wurden,             bevölkerung. Die Verpflegung war                           ung die Verhältnisse im Lager
so meistens wegen anderer Ess­          zweifellos einseitig und je nach                           Aeugstertal. Die Situation in
gewohnheiten: Für Menschen              Lagerkommando von unterschied-                             Adliswil war vergleichbar. Schwie-
aus Italien war die Umstellung          licher Qualität und vielleicht auch                        rig wurde es vor allem, wenn
weitaus grösser als für Deutsche.       Quantität, aber gehungert wie im                           Angehörige vieler verschiedener
«Suppe, Kraut, Kartoffeln» domi-        Lager Büren an der Aare haben die                          Nationen im Lager untergebracht
nierten den fettarmen Speiseplan,       Flüchtlinge in Adliswil nicht.                             waren, wie in den Wochen vor und
die Konfitüre wurde mit Wasser                                                  Titelblatt der     nach Kriegsende, als es zu einer
gestreckt, Fleisch gab es ein- oder     Konflikte und neue                      Lagerzeitung von   Messerstecherei zwischen Grie-
zweimal in der Woche. Werner            Beziehungen                             Werner Rings,      chen und Polen kam und die zuvor
Rings berechnete die monatliche         «Wie können hunderte Men-               1943               nach Geschlecht getrennt schla-
Menge an Frischfleisch, die ins         schen zusammengepfercht leben,          (ETH Zürich,       fenden Flüchtlinge nach Na­tionen
Lager geliefert wurde, im Februar       ohne dass es zu Unstimmigkeiten         Archiv für         getrennt wurden. Kleinere Aus-
1943 auf 500 Gramm pro Person,          kommt? Flüchtlinge sind keine           Zeitgeschichte)    einandersetzungen beendeten die
                                                                                                   FHD-Fürsorgerinnen, indem sie
                                                                                                   junge Flüchtlingsfrauen bei den
                                                                                                   Streithähnen vorbeischickten, wo-
                                                                                                   rauf sich diese schämten, vor
                                                                                                   Frauen zu streiten. Eine jüdische
                                                                                                   Flüchtlingsfrau erinnert sich auch
                                                                                                   an Spannungen zwischen deut-
                                                                                                   schen und osteuropäischen Juden.
                                                                                                   Eine Statistik über die Todesfälle
                                                                                                   im Lager Adliswil – unter welchen
                                                                                                   Umständen auch immer – fehlt.
                                                                                                   Nachweisbar sind zwei geschei-
                                                                                                   terte Selbstmordversuche; im Lager
                                                                                                   Gattikon kam es im Herbst 1943
                                                                                                   tatsächlich zu einem Suizid durch
                                                                                                   Medikamentenmissbrauch, doch
                                                                                                   stehen diese Fälle nicht unmittelbar
                                                                                                   mit dem Lager, sondern mit dem
                                                                                                   zuvor Erlebten in Verbindung.
                                                                                                   Selbstverständlich ergaben sich
                                                                                                   im Lager auch neue Beziehungen.
                                                                                                   Inge Ginsberg schildert in ihrer
                                                                                                   Autobiografie, wie Werner Rings
                                                                                                   in Adliswil eine andere Frau ken-
                                                                                                   nen und lieben lernte, Ruth von
                                                                                                   Sacher-Masoch (1909–1992), die
                                                                                                   Ehefrau eines österreichischen
                                                                                                   Schriftstellers, während seine Ehe-
                                                                                                   frau Charlotte in Walter Fabian
                                                                                                   einen neuen Mann fand, den sie
                                                                                                   später auch heiratete. Da selbst
                                                                                                   Ehepaare im Lager getrennt
                                                                                                   voneinander schlafen mussten,
                                                                                                   diente eine der Toiletten als «Ehe-
                                                                                                   Separée», das in der Zeit der Inter-
                                                                                                   nierung von Inge Ginsberg von
                                                                                                   einer geschäftstüchtigen Wienerin
                                                                                                   viertelstündlich vermietet wurde.
                                                                                                   Die offiziellen Inspektionsberichte
                                                                                                   sprechen nur an einer Stelle vom
                                                                                                   «sexuellen Problem» im Lager.

                                                                                                   Text: Christian Sieber
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