Sihltal - GESCHICHTSVEREIN ADLISWIL
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ProSihltal Flüchtlingslager im Sihltal (1942–1945) Jahrheft Krise und Krieg: Vom Ende der MSA zum Notspital Nr. 60/2010 Das Lager Adliswil: Durchgangsstation für Hunderte Die Flüchtlinge: Gerettet, aber interniert Ernst Morgenthaler: Kommandant im Lager Gattikon Wege der Flucht: Das Schicksal der Familie Neufeld Distanz und Unbehagen: Das Lager und das Dorf Kriegszeit in Adliswil: Ein Zeitzeuge erinnert sich Reformiertes Engagement: Das Wirken von Pfarrer Ernst Kaul Nach dem Krieg: Erinnern, Vergessen, Verdrängen Jahresbericht Pro Sihltal 2009
lichen Untersuchungen angeregt, von Flüchtlingen an der Grenze. darunter den sogenannten Bergier- Erst an zweiter Stelle wurden die Bericht der Unabhängigen Exper- Lebensverhältnisse in den ver- tenkommission Schweiz – Zweiter schiedenen Kategorien von Lagern Weltkrieg, die unerlässliche Hinter- thematisiert. grundinformationen bereitgestellt Die Beschäftigung mit der Ge haben. Der Blick auf ein Lager und schichte der Flüchtlingslager im seine Bedeutung für ein Dorf wie Sihltal hat den Schreibenden, der Adliswil ist aber bis heute die Aus- als Historiker sonst in weiter zurück nahme geblieben. Entsprechend liegenden Jahrhunderten forscht, spärlich und zerstreut taucht das in der grundlegenden Erkenntnis Lager Adliswil und ebenso jenes bestärkt, dass die historische Rea- in Gattikon in bisherigen Publika lität nicht bei den Extrempunkten Editorial tionen auf. Die Spurensuche von Anklage oder Freispruch liegt, führte in öffentliche Archive, zu sondern im weiten Graubereich Als im August 2006 der Geschichts- privaten Nachlässen und in einigen dazwischen. «Licht und Schatten» verein Adliswil gegründet wurde, Glücksfällen sogar zu Zeitzeugen, könnte so als Motto über den stand die Geschichte des einst das heisst zu noch lebenden ehe- Beiträgen dieses Jahrhefts stehen. wichtigsten Arbeitgebers von maligen Flüchtlingen, die in den Auf die damals verantwortlichen Adliswil, der 1934 stillgelegten beiden Lagern interniert waren, Behörden ebenso wie auf die Mechanischen Seidenstoffweberei und zu damals in Adliswil wohn- damalige Gesellschaft insgesamt Adliswil (MSA) durchaus im Zen- haften Personen. bezogen, urteilte Bundespräsident trum geplanter Forschungen. Dass Die Flüchtlingspolitik der Schweiz Kaspar Villiger 1995 mit Recht: «Es sich in einem Gebäudeteil eben zwischen 1933 und 1945 wurde gab das Grossartige, Mutige, Ein- dieser MSA aber von 1942 bis bereits in den Kriegsjahren kon- drückliche so gut wie das Kleinmü- 1945 das bedeutendste Auffang- trovers diskutiert und ist bis heute tige, Hartherzige, Anpasserische, lager für jüdische Zivilflüchtlinge ein Stück weit umstritten geblie- und es gab viel dazwischen.» und andere Verfolgte des Nazi- ben, auch wenn mittlerweile bei Der Geschichtsverein Adliswil dankt Regimes befand, war keinem der vielen Fragen in der Forschung ein Pro Sihltal für das Gastrecht. Gründungsmitglieder bewusst. Konsens besteht. Im Mittelpunkt Erst ein Jahr später, als die Kan- der Kontroversen stand dabei Christian Sieber, Vizepräsident tonspolizei dem Staatsarchiv Zürich meist die Frage der Rückweisung Geschichtsverein Adliswil Hunderte Fotos von Flüchtlingen, die in Adliswil interniert waren, ablieferte, rückte das Thema in den Mittelpunkt der Forschungen. Die Spurensuche in einem Feld Inhalt Impressum längst verschütteter Lokalge- Krise und Krieg: Vom Ende Jahrheft Nr. 60/2010 schichte konnte beginnen. der MSA zum Notspital 1 Gleichzeitig entstand aus einer Das Lager Adliswil: Herausgeber: Vereinbarung zwischen Pro Sihltal Durchgangsstation Pro Sihltal und Geschichtsverein Adliswil mit für Hunderte 3 dem Ziel der Zusammenarbeit und Die Flüchtlinge: Redaktionskommission: gegenseitigen Unterstützung die Gerettet, aber interniert 9 Heinz Binder, Adliswil (Vorsitz) Idee, ein Jahrheft von Pro Sihltal Ernst Morgenthaler: Franz Osterwalder, Thalwil einem historischen Thema mit Kommandant Isabelle Roth, Adliswil Schwerpunkt Adliswil zu widmen. im Lager Gattikon 15 Arthur Schäppi, Horgen Mit der Thematik «Flüchtlings- Wege der Flucht: Umschlag: Bernhard Schneider, Langnau a.A. lager im Sihltal» präsentiert der Das Schicksal Ostbau und Büro Christian Schutzbach, Langnau a.A. Geschichtsverein die Ergebnisse der Familie Neufeld 17 bau der MSA, seiner Forschungen erstmals einem Distanz und Unbehagen: davor das ehe Konzept und Gestaltung: grösseren Publikum, begleitet von Das Lager und das Dorf 20 malige Badhaus as werbung ag, Langnau a.A. zum Teil unpublizierten Fotos. Kriegszeit in Adliswil: (Foto: Ergänzt werden die Beiträge von Ein Zeitzeuge erinnert sich 23 Christian Sieber) Drucktechnische Bearbeitung: den Erinnerungen des ältesten Reformiertes Engagement: Druckerei Studer AG, Horgen Vereinsmitglieds an seine Jugend Das Wirken von in Adliswil während des Krieges. Pfarrer Ernst Kaul 26 Hefte erhältlich bei: Die Diskussionen um die Rolle der Nach dem Krieg: Erinnern, Pro Sihltal Schweiz im Zweiten Weltkrieg Vergessen, Verdrängen 29 Postfach, 8134 Adliswil haben nach der Zeitenwende von Jahresbericht Tel. 044 710 70 19 (Tonband) 1989 eine Fülle von wissenschaft- Pro Sihltal 2009 32 www.prosihltal.ch
1 Krise und Krieg Vom Ende der MSA zum Notspital Das Ende einer Weltfirma Die 1863 gegründete Mechanische Seidenstoffweberei Adliswil (MSA), die in ihren Glanzzeiten weit über 1000 Beschäftigte zählte und aus der Bauernsiedlung Adliswil innert Jahrzehnten ein Industriedorf machte, sah sich in der Weltwirt- schaftskrise der 1920er-Jahre zum schrittweisen Abbau von Produkti- on und Arbeitsplätzen gezwungen, bis sie schliesslich Ende 1934 den Betrieb ganz einstellen musste. Die Firma bestand als Immobilienge- sellschaft weiter, verkaufte noch in der Krisenzeit sukzessive ihren grossen Bestand an Wohnhäusern und nach dem Zweiten Weltkrieg auch ihren ausgedehnten Land- besitz in Adliswil als Bauland. Den Fabrikkomplex vermietete sie an verschiedene Gewerbe- und Fabrikbetriebe und erwirtschaftete so beispielsweise im Jahr 1941 auf einer Fläche von 13‘500 m2 Miet- zinseinnahmen von Fr. 72‘400.–. Die Krisenjahre trafen Adliswil durch die Stilllegung der MSA hart Blick auf Adlis- stiegen an, einzelne politische Zivilbevölkerung benötigte. Das wie kaum eine andere Gemeinde wil mit dem Exponenten suchten das Heil in Projekt stand im Zusammenhang im Kanton Zürich. «Das ganze Fabrikkomplex der Eingemeindung in die Stadt mit den baulichen Massnahmen Dorf war ja Fabrik», hat Annie der MSA (unten Zürich, andere sahen die Zukunft in (Panzersperren, Bunker) des Stadt- Rohner-Bühler (1907–2008) die rechts), um 1950 einer möglichst durchgrünten und kommandos Zürich, die zur Ver- Bedeutung der Firma mit Weltruf (Ansichtskarten- industriefreien Wohngemeinde vor teidigung der Limmatstadt für im Rückblick treffend umschrieben. Sammlung den Toren Zürichs, ergänzt um den «Fall Nord» eines deutschen Arbeitslosigkeit und Steuerfuss Christian Sieber) touristische Attraktionen wie einer Angriffs getroffen wurden. Die Standseilbahn auf die Felsenegg. Wahl fiel damals auf Adliswil, weil Der 1939 von Hitlerdeutschland das Dorf mit der Sihltalbahn von entfesselte Krieg machte solche Zürich aus gut erreichbar war und Pläne (vorerst) zunichte. weil in der MSA geeignete Räum- lichkeiten zur Verfügung standen, Notspital die etwas ausserhalb des Dorfes Zu den Mietern im Fabrikkomplex lagen und gegenüber Luftangriffen der MSA gehörte ab Februar 1940 nicht allzu exponiert waren. auch der Kanton Zürich, der den Nach einer Besichtigung durch den Titelblatt von sogenannten Ostbau, einen 1892 Gesamtregierungsrat erhielten die Louis Cugini für errichteten hangseitigen Gebäu- Verantwortlichen grünes Licht und die Tourismus- deteil, sowie die beiden unteren begannen mit der Detailplanung. Broschüre Geschosse des anschliessenden Die drei Adliswiler Baufirmen Fran- «Das Sihltal» Bürobaus von 1869/70 und das zetti, Canziani und Tizziani wurden von Nanny von benachbarte Nebengebäude, ehe- mit der baulichen Umgestaltung der Escher, um 1935 mals ein Badhaus, für die geplante Fabrikräume beauftragt, und am (Privatbesitz) Einrichtung eines Notspitals für die sogenannten Langbau erstellte man
2 Plan des Notspitals in der MSA von Max Bill (Ausschnitt), 1940 (Staatsarchiv des Kantons Zürich) Liftanbau für das Notspital in der MSA, erbaut 1940 (Foto: Christian Sieber) hangseitig einen Anbau mit einem sah und auf der Suche nach Räum- auch für Krankenbetten verwend- lichkeiten zu ihrer Unterbringung baren Lift. Im Endausbau, für den an die Kantone gelangte. Viele kein Geringerer als der Aktivdienst Kantone verhielten sich zurückhal- leistende Max Bill (1908–1994) tend bis ablehnend, andere kamen die Pläne zeichnete, hätte das aufgrund ihrer militärstrategischen Notspital über eine Kapazität von Lage als Standort nicht in Frage, über 600 Betten verfügt und sich so dass der Kanton Zürich mit mit Operationssälen, Röntgenzim- vier Auffanglagern in Adliswil, mer und Leichenraum über den Aeugstertal, Girenbad bei Hinwil ganzen Ost- und Bürobau sowie und Wald ab Herbst 1942 sowie Teile des angrenzenden Langbaus fünf weiteren in Gattikon, Plenter- erstreckt. Die zusätzlichen Räume platz bei Uitikon, Rikon, Ringlikon wurden vom Kanton aber gar nie und Wengibad bei Affoltern am angemietet, und letztlich wurde Albis ab Herbst 1943 einen über- das ganze Projekt unmittelbar nach durchschnittlichen Anteil an der Räumlichkeiten des geplanten einer zweiten Besichtigung durch Aufgabe übernahm. Notspitals für die Bevölkerung in den Regierungsrat im Februar 1942 Viele Flüchtlinge, die aus Frankreich den Worten von Pfarrer Edwin endgültig gestoppt, nachdem die in die Schweiz geflüchtet waren, Winkler «so unerwartet» kam. unmittelbare Gefahr eines deut- hielten sich bereits in Zürich auf, Unter den ersten Flüchtlingen schen Angriffs weggefallen war. lebten in Pensionen oder waren pri- befanden sich Inge Ginsberg, vat untergebracht und besuchten deren Autobiografie erst vor Auffanglager täglich die Suppenküche der Israeli kurzem erschienen ist, und ihr Der Kanton Zürich, vertreten durch tischen Cultusgemeinde Zürich im Verlobter Otto Kollmann sowie die Gesundheitsdirektion, blieb Enge-Quartier, als Anfang Oktober der später als Publizist bekannte aber Mieter der Räume – und war 1942 das Auffanglager Aeugstertal Werner Rings (1910–1998) mit es noch immer, als sich der Bund als Erstes im Kanton bereit stand seiner Ehefrau Charlotte. Ende des im September 1942 trotz faktischer und die Flüchtlinge ihr Aufgebot Monats drängten sich im Lager am Grenzsperre mit einer täglich erhielten. Ab dem 16. Oktober Dorfrand bereits 416 Menschen. anwachsenden Zahl von Flücht- trafen sie auch in Adliswil ein, wo lingen aus Frankreich konfrontiert die Einrichtung des Lagers in den Text: Christian Sieber
3 Das Lager Adliswil Durchgangsstation für Hunderte Rahmenbedingungen bevor sie ab April 1940 Aufgebote Blick vom heute Rechtliche Kategorien In Adliswil befand sich das bedeu- in zivil geleitete Arbeitslager und erhöhten Innen- Erklären lassen sich diese wichtigen tendste Auffanglager für jüdische Heimbetriebe erhielten. hof auf Bürobau Unterscheidungen durch die unter- Zivilflüchtlinge und andere Ver- – War ein Flüchtling im Auffang- (links) und schiedliche rechtliche Situation der folgte des Nazi-Regimes. Dennoch lager angekommen, war er gerettet Ostbau (rechts) Betroffenen: stellt seine Geschichte nur einen und nicht mehr von der Ausschaf- der MSA – Emigranten unterstanden dem kleinen Ausschnitt aus der Gesamt- fung bedroht. Die Rückweisung von (Foto: Ausländerrecht (Landesrecht) und thematik der Flüchtlingspolitik der (jüdischen) Flüchtlingen aufgrund Christian Sieber) erhielten vom Kanton, in dem sie Schweiz während des Zweiten des unterschiedlich streng gehand- sich aufhielten, eine sogenannte Weltkriegs dar, dies aus mehreren habten und schliesslich am 12. Juli Toleranzbewilligung, die ihnen ver- Gründen: 1944 faktisch aufgehobenen Be schiedene Restriktionen auferlegte. – Militärisch geleitete Auffang- schlusses vom 13. August 1942 – Zivile Flüchtlinge unterstanden lager gab es nur in der Zeit von fand an der Grenze statt. dem Asylrecht (Landesrecht), das Oktober 1942 bis August 1945. – Militärpersonen, die aufgrund nach damaliger Auffassung die Die Flüchtlinge, die sich in der Zeit des Kriegsgeschehens auf das Freiheit, nicht aber die Pflicht eines davor, namentlich 1938/39, unter Territorium der Schweiz übertraten, Staates war, Verfolgte aufzuneh- anderem dank dem St. Galler Poli- darunter als bekanntestes Beispiel men und ihnen Schutz zu bieten. zeikommandanten Paul Grüninger im Juni 1940 29‘000 französische Die Ausgestaltung des Asylrechts in die Schweiz retten konnten, wur- und 12‘000 polnische Armee- (Aufnahme oder Rückweisung, den als Emigranten bezeichnet und angehörige, wurden in einer ande- Internierung) lag dabei im freien konnten sich relativ frei bewegen, ren Kategorie von Lagern interniert. Ermessen des Landes.
4 – Internierte Militärpersonen unter- standen dem V. Haager Abkommen von 1907 (Völkerrecht), was ihnen ehem. Badhaus eine bessere Rechtsstellung gab, als sie die zivilen Flüchtlinge hatten, Ostbau zumal die Schweiz die damit ver- Innenhof bundenen Verpflichtungen genau beachtete. Liftanbau Fabrikkanal Merkmale der Auffanglager Vor diesem Hintergrund zeichnen sich Auffanglager, wie sie in Adlis- wil und ein Jahr später in Gattikon eingerichtet wurden, durch fol- gende Merkmale aus: Sihl – Ein Auffanglager war nur eine Zwischenstation für die Flücht- linge. Hatten sie nach Verfolgung und Flucht die rettende Schweiz Bürobau (oft nicht beim ersten Versuch) erreicht, kamen sie in der Regel zunächst für maximal 2 bis 3 Tage in ein Sammellager noch in Langbau Grenznähe, dann für drei Wochen in ein Quarantänelager und erst anschliessend ins Auffanglager. – Zuständig für die Auffangla- Die Lagergebäu- Heime, kurz ZL, die auf dem Höhe- Dabei konnten Quarantäne- und ger war der Bund, konkret die de im Überblick punkt ihrer Tätigkeit über 1000 Auffanglager identisch sein, so Polizeiabteilung des EJPD in Bern. (Grafik: Christian Mitarbeiter beschäftigte. zeitweise auch in Adliswil und Die Einrichtung und Leitung der Schutzbach) – In den Auffanglagern blieben Gattikon. Vom Auffanglager aus Lager wurde der Armee übertragen, Ehepaare und Familien noch erhielten die Flüchtlinge Aufgebo die auf diese Aufgabe allerdings zusammen, während sie in den ZL- te in Arbeitslager (Männer) und nicht vorbereitet war und sie (zu Betrieben getrennt leben mussten. Heimbetriebe (Frauen), wo sie in Recht) als wesensfremd betrach- Kinder unter 6 Jahren konnten der Regel bis Kriegsende blieben. tete. Konkret verantwortlich für meist bei ihren Müttern bleiben, Begehrte Alternativen dazu waren die Lager in Adliswil und Gattikon während schulpflichtige Kinder sogenannte Freiplätze, das heisst war das Territorialkommando 6 in zu Pflegefamilien oder in Kinder- private Unterbringungen unter Bei- Zürich. Im Gegensatz dazu war für heime kamen. behaltung des Interniertenstatus, die Arbeitslager und Heimbetriebe oder in seltenen Fällen die völlige eine zivile Organisation zuständig, Das Lagergebäude Freilassung. die Zentralleitung der Lager und Das Auffanglager Adliswil war mit einer Kapazität von maximal 500 Zahlen zur Schweizer Flüchtlingspolitik (1933–1945) Flüchtlingen das grösste seiner Art im Kanton Zürich und erstreckte sich 1933 bis 1939 7´000 bis 8´000 Emigranten über die im Februar 1940 für die 1939 bis 1945 24´398 nachweisbare Wegweisungen von Einrichtung des geplanten Notspi- Zivilflüchtlingen an der Grenze tals angemieteten Gebäudeflächen 1939 bis 1945 51´129 Aufnahmen und Internierungen hauptsächlich im sogenannten Ostbau. Hier befanden sich, soweit von Zivilflüchtlingen, davon … sich dies angesichts fehlender Pläne 50´328 … von August 1942 bis Mai 1945 rekonstruieren lässt, auf Geschoss- 19´495 / 1´809 … Juden / jüdischer Herkunft flächen von jeweils 330 m2: rund 2´000 … im Auffanglager Adliswil – im Parterre das Lokal für die Wach rund 500 … im Auffanglager Gattikon mannschaft, die Büros des Lager- 1940 bis 1945 104´886 Internierungen von kommandos, das Männer- und Militärpersonen das Frauenkrankenzimmer, das 1939 bis 1945 59´785 Kinder auf Erholungsurlaub Kleidermagazin, die Flickstube, 1939 bis 1945 66´549 kurzzeitige Grenzflüchtlinge die Schneiderei, der Leseraum, ein (vor allem bei Kriegsende) Coiffeur und ein Kiosk; 1939 bis 1945 57´000 „Rückwanderer“ (vor allem bei – im 1. Stock der Schlafsaal der Kriegsbeginn und -ende) Männer, ein einziger grosser Fabrik-
5 saal mit Holzboden, auf dem Stroh ausgelegt war (später ersetzt durch Strohsäcke); – im 2. Stock der Schlafsaal der Frauen mit derselben Einrichtung; – im 3. Stock der Esssaal mit langen Tischen und Bänken, ebenfalls ein Fabriksaal, der tagsüber auch als Aufenthaltsraum diente (später mit Billardtisch); und schliesslich – zuoberst im Dachstock ein Raum mit Betten für Mütter mit Säuglin- gen und Kleinkindern, später auch ein Schulzimmer. Der Waschraum für die Frauen befand sich, ebenso wie die Küche und die Waschküche, im benach- barten ehemaligen Badhaus. Die Männer mussten sich anfänglich im Freien waschen, bevor ab Frühjahr 1943 der für das geplante Notspital zum Luftschutzraum umgebaute Keller im Ostbau als Waschraum de 1944 oder 1945 ein zweiter Die MSA mit von Ost- und Bürobau, der – wenig- genutzt werden konnte. Ebenfalls Speisesaal eingerichtet. Insgesamt dem dominanten stens bei schönem Wetter – die ein- im Frühjahr 1943 verlegte man die belegte das Lager eine Gebäude- Langbau, im zige Alternative zum Aufenthalts- im Parterre des Ostbaus unterge- fläche von 3450 m2, den jährlichen Vordergrund die raum bot. Der ganze Lagerkomplex brachten Nutzungen grösstenteils Mietzins von Fr. 16‘000.– trugen Wohnsiedlung war von Stacheldraht umgeben in die beiden unteren Geschosse die Armee und als nominelle Mie- Sihlau, 1949 und wurde militärisch bewacht. des benachbarten Bürobaus, wo terin die Gesundheitsdirektion des (Foto: Max Im Gebäude galt ein Rauchverbot, ihnen mehr Raum zur Verfügung Kantons Zürich je hälftig. Weiss, Kantonale für Brandfälle waren Feuerlöscher stand. Auf der freigewordenen Der Aussenbereich des Lagers Denkmalpflege vorhanden. Anlässlich einer Übung Gebäudefläche im Ostbau wur- beschränkte sich auf den Innenhof Zürich) konnte das Lager über die Nottrep- pen aussen am Gebäude innert 7 Minuten evakuiert werden. Treppenhaus in der MSA, 1969 Massenbetrieb (Foto: Kantonale Die Flüchtlinge waren also mit Denkmalpflege einem Massenbetrieb und engsten Zürich) räumlichen Verhältnissen kon- frontiert. In den beiden Schlaf- sälen, wo für das Notspital je 65 Der Ostbau der Betten vorgesehen waren, lagen MSA von der nun zeitweise je über 200 Men- Hangseite aus schen eng nebeneinander. Im (Foto: Speisesaal konnte bei voller Bele- Christian Sieber) gung des Lagers nur schichtweise gegessen werden, gleichzeitig waschen konnten sich je rund 50 Männer und Frauen. Knapp be- messen waren auch die Toiletten, die sich teilweise im Freien befan- den. Vor allem bei schlechtem Wetter drängten sich die Flücht- linge im einzigen Aufenthaltsraum oder standen in den Korridoren herum. Rückzugsmöglichkeiten gab es keine. «Es ist hier einfach nicht möglich, einmal zu entkommen und für sich zu sein», schrieb eine Frau über das Lagerleben in ihr Tagebuch.
6 Selbst der eidgenössische Flücht- werden, trotz Einbau einer neuen um ältere Offiziere im Rang eines lingskommissär Ulrich Wildbolz Elektro-Dampfspeicheranlage für Oberleutnants oder Hauptmanns, (1896–1972), im Zivilleben ur- das geplante Notspital im Dezem- die jeweils nur für einige Wochen sprünglich Pfarrer, dann Architekt, ber 1941, die die Abhängigkeit vom oder wenige Monate diesen Dienst der die Auffanglager regelmässig Heizstoff Kohle spürbar reduzierte. ausübten. In den knapp drei Jah- inspizierte und insgesamt 15-mal in ren des Bestehens lösten sich im Adliswil war, hielt das Lager zumin- Lagerpersonal Auffanglager Adliswil mindestens dest für Schwangere und Mütter Die engen räumlichen Verhältnisse 20 Kommandanten ab. Einige von mit Säuglingen oder Kleinkindern waren das eine, der militärische ihnen wurden abgesetzt, sei es, weil sowie für über 60-Jährige und Betrieb des Lagers das andere. sie in den Augen ihrer militärischen andere «leidende oder gebrech- Menschen, von denen nur ein Teil, liche Menschen» für ungeeignet, nämlich die erwachsenen Männer, namentlich bei längeren Aufent- mit militärischen Umgangsformen halten. Regierungsrat Robert Bri- vertraut waren, sollten – unge- ner urteilte über die Auffanglager achtet ihrer körperlichen und see- im Kanton Zürich generell: «Der lischen Verfassung nach der Flucht Aufenthalt darin ist keine leichte in die Schweiz – plötzlich einem Sache selbst für den, der Schweres Tagesbefehl und der Trillerpfeife gewohnt ist.» eines Korporals gehorchen. Für eine In den Selbstzeugnissen (Briefe, spezielle Vorbereitung der Offiziere Erinnerungen) der Flüchtlinge tau- und Soldaten auf ihre neue, ihnen chen vor allem zwei Punkte immer wesensfremde Aufgabe war keine wieder auf: Einerseits das Stroh, auf Zeit geblieben. Es kam deshalb dem sie schlafen mussten, ander- sehr stark auf die Fähigkeiten des seits der Lärm im Aufenthaltsraum. Lagerkommandanten an – nicht «In dem einzigen grossen Gemein- seine militärischen, sondern seine schaftsraum herrscht dauernd menschlichen –, wie weit Vor- ein so ohrenbetäubender Lärm, schriften und Befehle das Lager- dass man Nerven wie Taue haben leben dominierten oder aber wenig- muss», schrieb etwa die Juristin stens versucht wurde, die Situation Nora Platiel-Block (1896–1979). der Flüchtlinge zu berücksichtigen. Zudem konnte es im Winter in den Bei den Lagerkommandanten han- Räumlichkeiten nachts recht kalt delte es sich auch in Adliswil meist Die Lagerkommandanten in Adliswil im Überblick Offizier mit Vorgesetzten eine zu grosszügige (Nicht in allen Fällen liessen sich die Offiziere sicher identifizieren Flüchtlingsfamilie Haltung gegenüber den Flüchtlin- und der Vorname ergänzen.) im Ostbau gen eingenommen hatten, sei es, der MSA, weil sie die Flüchtlinge unnötiger 1942 Oktober bis 1943 Februar Oblt Albert Trüb 29. Juni 1945 Härte und Schikanen aussetzten, 1942 November/Dezember Oblt Fridolin Anstadt (Foto: © Staats so dass die Gefahr drohte, dass (interimistisch) archiv Aargau, die Missstände an die Öffentlich- 1943 Januar Lt Markus Bolt (interimistisch) Ringier Bildarchiv) keit gelangten. Jedenfalls war 1943 Februar/März Hptm Hermann Fischlin der Kommandant die eigentliche 1943 März/April Hptm Flury Schlüsselfigur im Lagerbetrieb, der 1943 Mai, Oktober Oblt Walter Bremy über einen beachtlichen Hand- 1943 September/Oktober (?) Oblt Walter J. Bär (interimistisch?) lungsspielraum im Spannungsfeld 1943 Oktober Hptm Rudolf? Schlatter zwischen Vorschriften und Mensch- 1943 November bis 1944 Februar Hptm Hans? Funk lichkeit verfügte. Manche Erinne- 1943 Dezember Oblt Eugen Baumann rung eines Flüchtlings an «die Zeit (interimistisch) auf dem Adliswiler Stroh» ist nicht 1944 Februar/März Hptm Walter Scheuchzer zuletzt je nach Kommandant eher 1944 Mai Hptm Brodtbeck positiv oder negativ gefärbt. 1944 Juli Hptm Müller Zum Lagerpersonal zählten im Wei- 1944 August/September Hptm Ziegler teren als Lagerarzt im Rang eines 1944 Oktober Oblt Brändli Majors der in Adliswil ansässige Dr. 1944 Dezember bis 1945 Januar Oblt Josef? Bianchi med. Max von Wyss (1879–1958), 1945 Februar Oblt Albin Werdenberg der jeden Flüchtling medizinisch 1945 März Hptm Robert Vetterli untersuchte und im Hinblick auf 1945 April bis Mai/Juni Hptm Robert Hegner die Versetzung in einen ZL-Betrieb 1945 Juni/Juli Hptm Karl? Kieser dessen Arbeitsfähigkeit taxierte, wofür ihm vier Kategorien zur Ver-
7 fügung standen. Im Unterschied zu tunlich» sei und er deshalb vorläu- den Lagerkommandanten behielt fig in der Schweiz bleiben könne, von Wyss seine Funktion bis 1944 aber eben interniert werde. Die bei, erst gegen Kriegsende stand gesetzliche Grundlage dafür gab ein anderer Arzt im Einsatz. We- der Bundesratsbeschluss über die gen seiner harten Haltung gegen- Unterbringung von Flüchtlingen über den Flüchtlingen geriet von Inserat im die der Leitung von Frau Bandinelli vom 12. März 1943, der rückwir- Wyss mitunter in Konflikt mit libe- «Sihltaler», 1942 unterstanden, die wie der Lager- kend ab 1. August 1942 Geltung ral eingestellten Kommandanten. arzt bis 1944 im Dienst blieb und hatte. Im Flüchtlingsausweis wur «Bestimmte Empfehlungen des die in den Worten des Publizisten den unter anderem sämtliche Kommandanten [damals Albert Walter Fabian (1902–1992) «durch Lageraufenthalte registriert. Trüb] lösen gewöhnlich eine eine vielleicht nicht eingestandene Im Auffanglager hatte der Flücht- gegenteilige Aktion des Chefarztes allgemeine Antipathie zur Masse ling zunächst in einem «Abhör- aus», schrieb Werner Rings an- der jüdischen Flüchtlinge beein- ungsprotokoll» der Heerespolizei fangs 1943. flusst» war. Sie war es auch, die Auskunft zu geben über die Dem Kommandanten zur Seite den ersten Lagerkommandanten Gründe und die Umstände seiner standen ein Feldweibel und ein Albert Trüb wegen seiner gross- Flucht, sofern dies nicht bereits Fourier sowie mehrere Korporäle. zügigen Haltung den Flüchtlingen auf einem Polizeiposten oder in Insgesamt umfasste das Kom- gegenüber bei seinen Vorgesetzten einem Sammellager geschehen war. mando 7 Mann, dazu kamen 24 denunzierte. Dann folgte in fünffacher Ausferti- Soldaten für die Bewachung und gung ein 16-seitiger Fragebogen, 22 Hilfsdienstleistende der Sanität Bürokratie und in dem der Flüchtling detaillierte (Zahlen vom März 1943). Um Formulare Angaben zu seiner Person machen nicht zu viele ordentliche Trup- Die Flüchtlinge, die sich durch musste; bei den Angaben über die penkräfte zu absorbieren, wurden ihre Flucht in die Schweiz aus Angehörigen tauchen dabei regel- auch in Adliswil über längere Zeit juristischer Sicht des illegalen mässig die Namen von deportierten hinweg Angehörige der freiwil- Grenzübertritts schuldig gemacht oder vermissten Menschen auf. ligen Ortswehr für die Bewachung hatten, durchliefen an der Gren- Zuletzt kam auch im Lager Adliswil eingesetzt, das heisst Männer, die ze, auf Polizeiposten und in den periodisch der Erkennungsdienst mit 16–19 Jahren noch zu jung Lagern ein bürokratisches Verfah- der Kantonspolizei Zürich vorbei, oder mit 50–70 Jahren bereits zu Briefcouvert zu ren, «Durchleuchtung» genannt, um die Flüchtlinge zu fotografieren, alt oder aber untauglich für den einem Schreiben an dessen Ende der Internierungs- ein Signalementsblatt zu erstellen ordentlichen Militärdienst waren. eines Flüchtlings beschluss und die Ausstellung und ihnen die Fingerabdrücke Adliswiler Ortswehrkommandant an das IKRK in eines hellblauen Flüchtlingsaus- zu nehmen. Manche Flüchtlinge war zunächst Alfred Spinner sen., Genf mit dem weises mit Foto standen. Der wurden auch erst später in einem dann Martin Schmidli. Adressstempel Internierungsbeschluss hielt fest, ZL-Betrieb fotografiert, die Zahl Schliesslich waren im Fürsorge- des Lagers dass der Flüchtling illegal in die von 1329 Polizeifotos, die sich dienst des Lagers 3 Angehörige Adliswil, 1942/45 Schweiz gekommen sei, dass aber bisher dem Lager Adliswil zuordnen des Frauenhilfsdienstes (FHD) tätig, (Privatbesitz) «seine Ausschaffung zur Zeit nicht liessen, erlaubt es aber zusam- men mit anderen Hinweisen, die Gesamtzahl der hier internierten Zivilflüchtlinge auf rund 2000 zu schätzen; für das Lager Gattikon kann von rund 500 Personen aus- gegangen werden. Ebenfalls im Auffanglager hatten die Flüchtlinge Wertsachen und Bargeld abzugeben, soweit es den Wert von Fr. 100.– (später Fr. 50.–) überstieg. Beides wurde bei der Schweizerischen Volksbank deponiert und dem Flüchtling eine Quittung darüber ausgestellt. In dieser sind so seine letzten finanziellen Reserven dokumen- tiert, häufig Goldschmuck oder Diamanten, soweit damit nicht Schlepperdienste bei der Flucht bezahlt worden waren. Aus dem Bargeld erhielten die Flüchtlinge ein Taschengeld von Fr. 20.– (später
8 Fr. 30.–) pro Monat ausbezahlt, Verwandte oder Bekannte in der na Kägi das Lager persönlich, und aber auch die Unkosten ihres Auf- Schweiz zurückgreifen konnten. die FCLIS entsandte ihren Mitbe- enthalts in der Schweiz wurden Die Vertreter der Hilfswerke hat- gründer Fernando Schiavetti nach daraus beglichen. Flüchtlingen, die ten Zutritt zum Auffanglager, Adliswil. ein Vermögen von über Fr. 300.– in zumal ihr finanzielles Engagement die Schweiz brachten, wurde für zugunsten der Flüchtlinge den Zwischenfälle und den Aufenthalt im Auffanglager Staat massgeblich entlastete und Antisemitismus pro Tag ein «Pensionspreis» (so die sich Lagerkommandanten mit Ernsthafte Zwischenfälle zwischen ihren Begehren zum Teil direkt dem Lagerpersonal und den Flücht- an die Organisationen wandten. lingen gab es, je nach Komman- Alle Hilfswerke mit Ausnahme des dant, auch in Adliswil. Sie tauchen Roten Kreuzes arbeiteten nach dem in den offiziellen Akten meist nur Prinzip, dass jede Organisation für als «gewisse Vorkommnisse» auf. die «eigenen» Flüchtlinge sorgte: Zu diesen Zwischenfällen gehören – der Verband Schweizerischer verbale und gelegentlich auch tät- Jüdischer Flüchtlingshilfen VSJF liche Auseinandersetzungen. Ein in Zürich mit Silvain Guggenheim Schusswaffengebrauch, der zwei- an der Spitze für die Juden; fellos eine Untersuchung nach – das Schweizerische Arbeiterhilfs- sich gezogen und damit aktenkun- werk SAH in Zürich mit Regina Kägi dig geworden wäre, lässt sich als Leiterin für Linke und Gewerk- zwar nicht nachweisen, wohl aber schafter vor allem aus Deutschland; die Drohung des Kommandanten – die Assistenza Italiana AI der Walter Bremy im Herbst 1943, die Federazione delle Colonie Libere Waffen seiner Soldaten seien scharf in Svizzera FCLIS in Zürich für die geladen, sowie weitere Vorfälle, die Antifaschisten aus Italien; eindeutig auf eine Einschüchterung – der Schweizerische Caritasver- der Flüchtlinge abzielten oder bei band in Luzern für die Katholiken; denen Zwang ausgeübt wurde, – das Schweizerische kirchliche etwa beim kollektiven Turnen im Hilfskomitee für evangelische Freien. Bremy war im Übrigen Flüchtlinge SKHEV in Bern und der selbst in den Augen seiner Unter- Flüchtlingsdienst des Schweize- gebenen «etwas preussisch», die Die Flüchtlings- rischen Evangelischen Hilfswerks Tessiner Sektion des SAH spricht ausweise der für die bekennende Kirche in von einem «regime di terrore». Familie Neufeld Deutschland SEHBKD von Pfarrer Zulässige Sanktionen gegen Flücht- (Foto: Paul Vogt in Zürich für die Prote- linge waren einfacher oder scharfer Christian Sieber) stanten; Arrest bis zu 10 Tagen. offizielle Bezeichnung) von Fr. 2.30 – das Schweizerische Hilfswerk für Die mehrheitlich jüdischen Flücht- für die Verpflegung und von Emigrantenkinder SHEK in Zürich linge waren auch mit antisemi- Fr. –.70 für Unterkunft und Hei mit Nettie Sutro als Leiterin für die tischen Äusserungen konfrontiert. zung in Rechnung gestellt. Kinder. Wildbolz notierte in der Amtszeit Der Briefverkehr der Flüchtlinge Auch die Hilfswerke, die mit der von Kommandant Hermann Fisch- unterstand der Zensur, wodurch Betreuung und Unterstützung der lin: «Beim Lagerpersonal nimmt sich immer wieder Verzögerungen Flüchtlinge (vor allem in Form von eine antisemitische Einstellung im in der Zustellung ergaben, und war Taschengeld und Kleiderbeschaf- allgemeinen zu.» Schliesslich fiel auf einen Brief und eine Postkarte fung) an ihre organisatorischen auch im Lager Adliswil jener Satz, pro Woche im Inland beschränkt. und personellen Grenzen stiessen, der einem in leicht variierter Form Angehörige im Ausland durften mussten ihre Schützlinge zunächst in den Aussagen von Flüchtlingen nicht oder nur via IKRK ange mit ihren Formularen erfassen und fast in allen Lagern begegnet, jene schrieben werden. Allerdings kam Dossiers anlegen, die sich im Fall bei einzelnen Lagerverantwort- es in der Realität häufig vor, dass die von VSJF, SAH, FCLIS und SHEK lichen beliebte Antwort auf Klagen Vertreter der Hilfswerke Briefe an glücklicherweise erhalten haben. von Flüchtlingen: «Wenn es Ihnen sich nahmen und unter Umgehung Aufgrund der Zusammensetzung nicht passt, so gehen Sie dorthin dieser Vorschriften weiterleiteten. der Verfolgten trugen der VSJF zurück, wo Sie hergekommen sowie die in «Lokalkomitees für sind.» Werner Rings, Walter Fabi- Hilfswerke Flüchtlingshilfe» organisierten jü- an und Susy Schweizer-Schmidt Viele Flüchtlinge aber waren dischen Gemeinden bei weitem (1918–2009), die ebenfalls in mittellos in die Schweiz gekom- die Hauptlast. Die zuständige VSJF- Adliswil interniert war, überliefern men und auf die Unterstützung Fürsorgerin im Lager Adliswil war ihn unabhängig voneinander. der verschiedenen Hilfswerke zumindest 1942/43 Adele Bloch, angewiesen, soweit sie nicht auf auf Seiten des SAH besuchte Regi- Text: Christian Sieber
9 Das Leben der Flüchtlinge spielte sich hauptsächlich innerhalb des Lagers ab… (Foto: Christian Sieber) Die Flüchtlinge Gerettet, aber interniert Das Lager Adliswil war nicht nur Zwi- Nimmt man noch das je nach Kom- Für einen Stimmungsumschwung schenstation und Massenbetrieb, es mandant unterschiedliche Klima im unter den Flüchtlingen sorgte war auch ein Auffangbecken, in Lager hinzu, überrascht es nicht, häufig auch das lange und häufig dem Menschen – Einzelpersonen, dass die Flüchtlinge ihre Zeit in untätige Warten auf einen Ent- Ehepaare und Familien – mehr oder Adliswil ganz verschieden erlebten scheid über ihr weiteres Schicksal, weniger zufällig zusammen kamen, und in Erinnerung behielten: von meist die Versetzung in einen die sich nicht kannten und nun auf der Dankbarkeit über die Rettung, ZL-Betrieb. Einige Flüchtlinge, vor engstem Raum unter militärischem die alles Negative ausblendete, allem Frauen und vor allem in Kommando gemeinsam leben bis zur Erwartung eines Lebens in der ersten Hälfte 1943, als die In- mussten, oft traumatisiert durch Freiheit, die durch die Internierung frastruktur der ZL erst im Aufbau Verfolgung und Flucht. unter prekären Verhältnissen ent- begriffen war, mussten mehrere «Die Flüchtlinge» als homogene täuscht wurde. Im Rahmen des Ver- Monate, also weit länger als die Gruppe gab es nicht. Vielmehr gleichs der Schweizer Grossbanken minimale Zeit von drei Wochen unterschieden sich die in Adliswil mit jüdischen Sammelklägern in Quarantäne, in Adliswil bleiben, Gestrandeten durch alles, durch den USA von 1998 erhielten auch während die Männer bereits was sich Menschen unterschei- einige ehemalige Flüchtlinge, die ihr Aufgebot ins Arbeitslager den können: Geschlecht, Alter, im Lager Adliswil interniert waren, erhielten. Die behördliche Büro Zivilstand, Sprache, Nationalität, auf eine entsprechende Klage hin kratie erfasste zwar jeden Flücht- Religion, Beruf, soziale Stellung, bis- eine bescheidene Entschädigung, ling als Individuum, konnte aber herige Lebensverhältnisse. Selbst die während zur gleichen Zeit der angesichts fehlender Vorbereitung Umstände der Flucht in die Schweiz ehemalige Flüchtling Ken Newman und ständiger Überforderung und damit häufig verbunden der positive Erinnerungen unter ande- durch neue Flüchtlingswellen Leer- Gesundheitszustand waren ver- rem von in Adliswil Internierten läufe und falsche Zusagen nicht schieden, ebenso das Schicksal der veröffentlichte – beides kann seine vermeiden. Gleichzeitig versuchten zurückgebliebenen Angehörigen. Berechtigung haben. viele Flüchtlinge aktiv bei den
10 Behörden und den Hilfswerken Als Reaktion auf die deutsche auf ihr individuelles Schicksal auf- Besetzung der zuvor unbesetzten merksam zu machen und – soweit Teile Südfrankreichs und die damit möglich – ihnen bekannte Schwei- einsetzenden Deportationen in die zer als Fürsprecher einzuschalten Vernichtungslager im Osten flohen oder auf ihre guten finanziellen im Sommer und Herbst 1942 vor Verhältnisse hinzuweisen. Auch in allem Juden, daneben auch Linke dieser Hinsicht gab es keine Gleich- und Gewerkschafter, über die heit unter den Flüchtlingen. Ander- Westschweizer Kantone (nament- seits drohte unterzugehen, wer lich Genf) in die Schweiz, wobei sich nicht wehrte, und Flüchtlinge dies vielen erst im wiederholten mit guten Beziehungen setzten Versuch gelang. Es handelte sich diese auch gezielt für die Verbes- zumeist um durch die Nürnberger serung der Lebensbedingungen Rassengesetze staatenlos gewor- aller Flüchtlinge ein, so im Fall des dene Deutsche und Österreicher Lagers Adliswil Werner Rings und sowie Belgier und Holländer, die Walter Fabian. spätestens 1939 nach Frankreich geflüchtet waren, wo sie 1940 Flüchtlingswellen die Verfolgung durch die Deut- Das Lager Adliswil mit einer Schlafstätten der wohl war. Periodisch neue Flücht- schen einholte, oder die direkt aus Kapazität für 500 Flüchtlinge war Flüchtlinge im lingswellen machten solche Pläne Deutschland in die berüchtigten nicht über die gesamte Zeit seines Ostbau der MSA, aber rasch wieder zunichte, Adlis- Internierungslager wie Gurs und Bestehens hinweg voll ausge- 29. Juni 1945 wil und Girenbad bei Hinwil waren Les Milles verschleppt worden lastet. Es gab Phasen, in denen (Foto: © Staats- als die beiden grössten Auffangla- waren. Viele von ihnen hatten deutlich weniger Menschen darin archiv Aargau, ger im Kanton Zürich von Herbst sich zuvor von Frankreich aus auch lebten, unter entsprechend bes- Ringier Bildarchiv) 1942 bis Sommer 1945 als einzige vergeblich um eine Ausreise nach seren räumlichen Bedingungen. durchgehend in Betrieb. Übersee bemüht. Dieser ersten Zwischendurch wurde sogar eine Im Wesentlichen waren es Ver- Flüchtlingswelle, die überhaupt Schliessung ins Auge gefasst, nicht folgte aus fünf Flüchtlingswellen, erst zur Einrichtung von Auffangla- zuletzt auf Anraten von Flücht- die in Adliswil interniert wurden gern führte, gehörten überdurch- lingskommissär Ulrich Wildbolz, und die die Belegung des Lagers schnittlich viele Politiker, Anwälte, dem mit einem Lager dieser Grösse innert kurzer Zeit je nachdem Künstler und Intellektuelle an, und mit beinahe ausschliesslich auf 300 bis über 450 Menschen darunter die erwähnten Werner Strohsäcken statt Betten nie recht ansteigen liessen. Rings, Walter Fabian und Nora Zahl der Flüchtlinge im Lager Adliswil (Für die Monate mit Nullwerten liegen keine Zahlen vor.)
11 stand. Unter ihnen befanden sich völkerrechtlichen Verpflichtungen Umberto Terracini (1895–1983), interniert werden mussten. Aller- Mitbegründer der KPI, der unter dings kam kurzzeitig das Gerücht Mussolini 17 Jahre im Gefängnis auf, es befänden sich auch SS- sass, und der Schriftsteller Franco Angehörige darunter. Ihre Ankunft Fortini (1917–1994), der im Lager mit einem Extrazug am Bahnhof Adliswil sein nach dem Krieg Adliswil verfolgte eine grosse Men- publiziertes Tagebuch «La Guerra schenmenge, die einige spöttische a Milano» niederschrieb. Ausrufe nicht unterdrücken wollte, Als im Sommer 1944 die Belegung wie die Zeitungen berichteten. wieder stark abgesunken war, Zwischenzeitlich zeichnete sich wurden die wenigen verbliebe- bereits ein weiterer Flücht- nen Flüchtlinge in andere Lager lingsstrom aus Italien ab, denn verbracht, weil man die Räum- nachdem die Deutschen die von lichkeiten Mitte September vor Widerstandskämpfern aus Domo- übergehend für die Internierung dossola und Umgebung errichtete von 293 Angehörigen der Wehr- Partisanenrepublik Ossola nach macht – neben Gebirgstruppen 44 Tagen Mitte Oktober blutig auch Grenzwächter, Zöllner und niederschlugen, flüchteten viele Platiel. Mit 466 Menschen, zu rund Flüchtlinge im Matrosen – benötigte. Wo also Partisanen mit ihren Familien über 90% Juden oder jüdischer Her- Esssaal im 3. Stock eben noch die Verfolgten des Nati- die zum Teil bereits verschneiten kunft, erreichte das Lager Adliswil des Ostbaus der onalsozialismus lebten, zogen nun, Berge ins Wallis sowie ins Tessin. Mitte November 1942 seinen MSA, wenn auch nur für drei Wochen, Sie wurden von der Schweiz kol- Höchststand. 29. Juni 1945 ihre Verfolger ein. Es handelte sich lektiv aufgenommen und unter Ein Jahr später, im Herbst 1943, (Foto: © Staats- um Truppenangehörige, die bei anderem in Adliswil interniert, wo folgte über die Kantone Tessin, archiv Aargau, Basel in die Schweiz übergetreten im Dezember 1944 wieder 390 Graubünden und Wallis der Ringier Bildarchiv) waren, so dass sie aufgrund der Menschen lebten, 240 Männer, zweite grosse Flüchtlingsstrom, ausgelöst durch die Kapitulation des faschistischen Regimes in Italien am 8. September und den Einmarsch deutscher Truppen in Norditalien, wodurch der jüdischen Bevölkerung auch hier die Depor- tation in die Vernichtungslager drohte. Gleichzeitig flüchteten auch viele italienische und jugo- slawische Widerstandskämpfer in die Schweiz, ebenso Italiener, die sich dem Kriegsdienst für Nazi- Deutschland entziehen wollten. Letztere hatten in ihrer Heimat zwar nicht im Militärdienst gestanden, wurden in der Schweiz aber doch wie Militärinternierte behandelt. Weil die meisten dieser Flücht- linge zunächst in Sammellagern im Tessin untergebracht wurden, erreichte das Lager Adliswil erst im Mai 1944 mit 360 Menschen, zu rund 70% Juden oder jüdischer Herkunft, wieder einen Höchst- Flüchtlingsmütter mit Kleinkindern im Dachstock des Ostbaus der MSA, 29. Juni 1945 (Foto: © Staats- archiv Aargau, Ringier Bildarchiv)
12 85 Frauen und 65 Kinder. Für unterschiedlicher Herkunft in die die Kinder in den verschiedenen Schweiz, darunter auch ehemalige Auffanglagern organisierte die Zwangsarbeiter, vor allem Russen. Assistenza Italiana der FCLIS mit Auch die nationale Zusammenset- grossem Aufwand eine Weih- zung der Menschen im Lager Adlis- nachtsfeier in Zürich, gleichzeitig wil war vielfältig, wie sie das Sihltal versuchte sie, möglichst viele von bis zu den Migrationsströmen im ihnen ausserhalb der Lager privat Zeitalter der Globalisierung kaum unterzubringen. mehr sah: neben Angehörigen Kaum war die Zahl der Flüchtlinge mitteleuropäischer Nationen auch in Adliswil Anfang 1945 wieder Polen, Tschechen, Ukrainer, Rus- abgesunken – die Versetzungen in sen, Litauer, Griechen, Jugoslawen die ZL-Betriebe erfolgten mittler und Araber. Unter den Deutschen weile viel rascher als noch 1943 und Österreichern befanden sich – erreichte am 7. Februar ein auch Menschen, die vor dem Bahntransport mit 1200 Menschen Vormarsch der Russen geflüchtet aus dem Ghetto Theresienstadt die waren, unter den Polen befand Schweizergrenze bei Kreuzlingen. sich eine Gruppe von 40 befreiten, Alt-Bundesrat Jean-Marie Musy aber unterernährten Insassen des hatte sie in einer bis heute umstrit- Konzentrationslagers Dachau, die oder religiösen Feiern regelmässig Inserat im tenen Aktion in direkten Ver- noch ihre Häftlingskleidung tru- auch auswärtige Besucher zu «Sihltaler», handlungen mit Reichsführer-SS gen. Auch im Lager Gattikon sind Gast. Am besten dokumentiert 17. März 1945 Heinrich Himmler und ohne Wissen 9 polnische Juden aus Dachau und sind solche Eigeninitiativen bei den weder des Bundesrats noch Hitlers Auschwitz bezeugt. Flüchtlingen der ersten Belegung freigekauft. Nach einer nur kurzen Schliesslich waren bei Kriegsende des Lagers vom Herbst 1942 bis ins Quarantäne in St. Gallen wurden im Lager Adliswil, das nun nicht Frühjahr 1943, begünstigt einer- die Deutschen und Österreicher mehr «Auffanglager» sondern seits durch das intellektuelle und unter ihnen in Auffanglager in der «Abstelllager» hiess, sogar Aus- künstlerische Potenzial der damals Westschweiz verbracht, während landschweizer interniert. Es han- in Adliswil Internierten, anderseits 285 Holländer und 85 Tschechen delte sich dabei um sogenannte durch die liberale Haltung des jüdischen Glaubens oder jüdischer Rückwanderer, die seit langem in Lagerkommandanten Albert Trüb Herkunft in zwei Transporten am Deutschland gelebt hatten und und das Engagement von Pfarrer 10. und 15. Februar in Adliswil – ohne zwingend mit dem Natio- Ernst Kaul. «Mit dem Verschwin- ankamen. Es handelte sich vor nalsozialismus zu sympathisieren den der Todesangst explodierte die allem um ältere Menschen und – nach der Machtergreifung Hit- Lebensfreude», charakterisierte Kinder, die in Theresienstadt gezielt lers 1933 und selbst nach Kriegs- Inge Ginsberg die damalige Stim- ausgewählt worden waren und die beginn 1939 geblieben waren, jetzt mung im Rückblick. sich bei der Abfahrt nicht sicher aber keine Zukunft in ihrer zweiten Künstler unter der Leitung des sein konnten, ob die Fahrt tatsäch- Heimat mehr sahen. Einer dieser Zauberers Teddy Kaiser und seiner lich in der rettenden Schweiz und Rückwanderer war der Architekt Frau Suzette, einer Akrobatin, stell- nicht in einem Vernichtungslager Otto Zollinger (1886–1970), der ten ein Lagertheater auf die Beine, endete. Erst kurz vor der Grenze, im März 1945 in Adliswil Wohnsitz das wöchentlich ein neues Pro- das zerbombte Friedrichshafen vor nahm und hier tätig wurde, unter gramm auf die Bühne brachte mit Augen, durften sie den Judenstern anderem mit dem Schwimmbad Sketchen, Musik und Tanz unter von der Kleidung abnehmen. Viele und den Stationsgebäuden der anderem der russischen Tänzerin von ihnen schickten aus Adliswil Luftseilbahn auf die Felsenegg. Suzy Miron. Die Bühnenbilder Postkarten an die in Theresienstadt Ob er zuvor im Lager Adliswil dazu zeigten europäische Gross- Zurückgebliebenen und vermieden interniert war, konnte bisher nicht städte: Berlin, Wien, Prag. Werner es, um sie nicht zu gefährden, in der geklärt werden. Rings waren diese Kabarett- und Schweiz über die dortigen Lebens- Variété-Darbietungen zu sehr auf verhältnisse offen zu berichten. Eigeninitiativen Unterhaltung ausgerichtet. Um Am 23. April 1945 verliessen die Trotz schwierigen Lebensbedin- nicht in «billigen, trivialen Witz- Theresienstädter das Sihltal wieder, gungen im Lager und oftmals trau- chen stecken zu bleiben», wollte doch der Flüchtlingsstrom in den matischen Erlebnissen in der Zeit er kurze Einakter der Weltliteratur Tagen um das Kriegsende füllte vor der Rettung in die Schweiz: Die zur Aufführung bringen. Vor allem das Lager Adliswil bis Mitte Juni Flüchtlinge organisierten sich, jeder aber stellte Rings zusammen mit noch einmal mit 255 Menschen. nach seinen Fähigkeiten, in vielfäl- einer Gruppe von gleichgesinnten Nun kamen, kanalisiert über tigen Formen selbst, je nach Kom- Flüchtlingen, die sich «Studien- Grenzübergänge wie Rheinfelden, mandant gefördert oder zumindest Arbeitsgemeinschaft» nannte, ein Schleitheim, Kreuzlingen und toleriert. Dabei waren im Rahmen Programm mit Konzerten, Le- St. Margrethen, Flüchtlinge sehr von kulturellen Veranstaltungen sungen und Vorträgen auf die
13 Beine, das auch Auftritte von Im Leseraum des Lagers war es mittlerrolle zwischen Flüchtlingen Gästen umfasste. So sprach der wiederum Werner Rings, der und Lagerkommado: Mit dem renommierte Geschichtsprofessor eine Bibliothek einrichtete, für Goethe-Zitat «Einen kritischen Hans Nabholz am 1. April 1943 die das Sozialarchiv und die Zen- Freund an der Seite, kommt man zum Thema «Was ist Demokra- tralbibliothek in Zürich sowie die immer schneller vom Fleck», rief er tie?». Auf Einladung jüdischer Schweizerische Volksbibliothek in in seiner Lagerzeitung die «unver- Flüchtlinge hielten Zwi Taubes Bern Belletristik und Fachlitera- besserlichen Querulanten und (1900–1966), Rabbiner der Israeli tur zur Verfügung stellten. Den Drückeberger» unter den Flücht- tischen Cultusgemeinde Zürich, Leseraum ebenso wie den Ess- lingen ebenso zur Ordnung, wie er und der Theologieprofessor und saal schmückte Hans Eltzbacher, anderseits dem Lagerkommando Feldprediger Walther Zimmerli jüdischer Rechtsanwalt aus Köln, detailliert Verbesserungsvorschlä- (1907–1983) Vorträge über The- mit Wandbildern, die auch Flücht- ge unterbreitete. In der Rubrik men des Alten Testaments. lingskommissär Wildbolz auf- «Jenseits der Sihl» befasste er sich Zwei mündliche Quellen sprechen fielen. Rings plante unter dem Titel mit weltpolitischen Fragen. auch davon, dass der damals «Zeitspiegel» sogar die Produkti- Zur Selbstorganisation der Flücht- berühmte jüdische Sänger Joseph on einer Lagerzeitung, von der linge gehörte auch die Ernennung Schmidt (1904–1942), der im Lager aber nur das Typoskript der ersten von «Gruppenchefs», die den vom Girenbad interniert war, vor seiner Nummer vorliegt. In Druck ging Lagerkommando ernannten «Sek- Erkrankung und dem tragischen Flüchtlinge vor sie offenbar nie, zunächst weil mit tionschefs» unterstanden, oder Tod einen Auftritt im Lager Adliswil dem Bürobau der dem Nachfolger von Komman- von Sprechern bei Beschwerden hatte, was zumindest nicht aus- MSA, dant Trüb «keine Einigung» über gegenüber der Lagerleitung. geschlossen werden kann. Nach- 29. Juni 1945 solchen Ideen zu erzielen war, Porthos Cecchi, Direktor einer weislich zu Gast war der jüdische (Foto: © Staats- dann weil Rings in ein Arbeits- Chemiefabrik in Turin, der die Männerchor Hasomir aus Zürich, archiv Aargau, lager versetzt wurde. Rings sah Partisanen aus Domodossola der jiddische Volkslieder vortrug. Ringier Bildarchiv) sich offensichtlich in einer Ver- mit Sprengstoff beliefert hatte, bezeichnete sich 1944 gleich als «comandante italiano del campo» und verwendete Briefpapier und Stempel des Lagerkommandos für seine Korrespondenz. Auch durch berufliche Qualifikationen, namentlich im medizinischen und pflegerischen Bereich, konnten sich einzelne Flüchtlinge nützlich machen, womit stets auch gewisse Vorteile verbunden waren. Ande- re konnten sich eine bevorzugte Behandlung erkaufen. Eine «klas- senlose» Gesellschaft bildeten die Flüchtlinge trotz gemeinsamem Schicksal nicht. Religiöses Leben Ebenso wie die Vertreter der Hilfswerke hatten auch Geistliche der verschiedenen Religionen und Konfessionen Zutritt zum Lager, so dass die seelsorgerliche Betreuung, namentlich an den hohen Festtagen, gewährleistet war. Über die mehrtägigen Feiern an Pessach 1944 berichtete das «Israelitische Wochenblatt» be- sonders ausführlich, weil dazu rund 150 Flüchtlinge aus anderen Auffanglagern im Kanton Zürich nach Adliswil kommen konnten. Gottesdienste, Lesungen aus der Haggada und Vorträge standen auf dem Programm mit Rabbiner Katzenstein.
14 Für gläubige Juden wurde minde- um der Behauptung des Lager- Engel. Sie sind Menschen wie stens zeitweise «rituell», das heisst kommandanten entgegenzutre- alle anderen.» Mit diesen Wor- koscher gekocht. Wenn von Seiten ten, die Flüchtlinge erhielten gleich ten umschrieb Max Brusto der Flüchtlinge Klagen wegen der grosse Fleischrationen wie die Zivil (1906–1998) aus eigener Anschau- Verpflegung erhoben wurden, bevölkerung. Die Verpflegung war ung die Verhältnisse im Lager so meistens wegen anderer Ess zweifellos einseitig und je nach Aeugstertal. Die Situation in gewohnheiten: Für Menschen Lagerkommando von unterschied- Adliswil war vergleichbar. Schwie- aus Italien war die Umstellung licher Qualität und vielleicht auch rig wurde es vor allem, wenn weitaus grösser als für Deutsche. Quantität, aber gehungert wie im Angehörige vieler verschiedener «Suppe, Kraut, Kartoffeln» domi- Lager Büren an der Aare haben die Nationen im Lager untergebracht nierten den fettarmen Speiseplan, Flüchtlinge in Adliswil nicht. waren, wie in den Wochen vor und die Konfitüre wurde mit Wasser Titelblatt der nach Kriegsende, als es zu einer gestreckt, Fleisch gab es ein- oder Konflikte und neue Lagerzeitung von Messerstecherei zwischen Grie- zweimal in der Woche. Werner Beziehungen Werner Rings, chen und Polen kam und die zuvor Rings berechnete die monatliche «Wie können hunderte Men- 1943 nach Geschlecht getrennt schla- Menge an Frischfleisch, die ins schen zusammengepfercht leben, (ETH Zürich, fenden Flüchtlinge nach Nationen Lager geliefert wurde, im Februar ohne dass es zu Unstimmigkeiten Archiv für getrennt wurden. Kleinere Aus- 1943 auf 500 Gramm pro Person, kommt? Flüchtlinge sind keine Zeitgeschichte) einandersetzungen beendeten die FHD-Fürsorgerinnen, indem sie junge Flüchtlingsfrauen bei den Streithähnen vorbeischickten, wo- rauf sich diese schämten, vor Frauen zu streiten. Eine jüdische Flüchtlingsfrau erinnert sich auch an Spannungen zwischen deut- schen und osteuropäischen Juden. Eine Statistik über die Todesfälle im Lager Adliswil – unter welchen Umständen auch immer – fehlt. Nachweisbar sind zwei geschei- terte Selbstmordversuche; im Lager Gattikon kam es im Herbst 1943 tatsächlich zu einem Suizid durch Medikamentenmissbrauch, doch stehen diese Fälle nicht unmittelbar mit dem Lager, sondern mit dem zuvor Erlebten in Verbindung. Selbstverständlich ergaben sich im Lager auch neue Beziehungen. Inge Ginsberg schildert in ihrer Autobiografie, wie Werner Rings in Adliswil eine andere Frau ken- nen und lieben lernte, Ruth von Sacher-Masoch (1909–1992), die Ehefrau eines österreichischen Schriftstellers, während seine Ehe- frau Charlotte in Walter Fabian einen neuen Mann fand, den sie später auch heiratete. Da selbst Ehepaare im Lager getrennt voneinander schlafen mussten, diente eine der Toiletten als «Ehe- Separée», das in der Zeit der Inter- nierung von Inge Ginsberg von einer geschäftstüchtigen Wienerin viertelstündlich vermietet wurde. Die offiziellen Inspektionsberichte sprechen nur an einer Stelle vom «sexuellen Problem» im Lager. Text: Christian Sieber
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