Stadtlandschaften - gestaltetes Wohlbefinden - T3/2007 - Bundesamt für ...

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Stadtlandschaften - gestaltetes Wohlbefinden - T3/2007 - Bundesamt für ...
3/2007

                           UMWELT
     Stadtlandschaften –
gestaltetes Wohlbefinden
Stadtlandschaften - gestaltetes Wohlbefinden - T3/2007 - Bundesamt für ...
EDITORIAL                                                           Inhalt
                Leben in der Stadt:                                 4   Spots
                Nehmen wir
                die Herausforderung an!                             6 – 51 DOSSIER STÄDTE UND
Wer wie ich das Glück hat, in der Berner Altstadt zu wohnen               AGGLOMERATIONEN
und über eine Dachterrasse zu verfügen, weiss die Vorzüge des
Stadtlebens doppelt zu geniessen. Man kann den Blick über die           6 Verstädterung
malerische Altstadt schweifen lassen, sieht über die Aare bis           Der Trend zur Konzentration der Wohnbevölkerung
zum Rosengarten und kann die Seele nach Feierabend inmitten             und der Wirtschaft in den Städten und Agglomera-
seiner selbst geschaffenen Idylle baumeln lassen. Gleichzeitig          tionen hat sich in letzter Zeit wieder beschleunigt.
ist man mitten in der Stadt, kann ihre kulturellen sowie kom-           Er stellt die Umweltpolitik vor neue Herausforderun-
merziellen Angebote jederzeit nutzen und ist erst noch optimal          gen, eröffnet aber auch Chancen für einen schonen-
an den öffentlichen Verkehr angebunden.                                 den Umgang mit den natürlichen Ressourcen und
    Aber nicht überall ist es so schön wie auf einer Dachterrasse       für mehr Lebensqualität.
in der Berner Altstadt. Die Verstädterung der Schweiz nimmt
laufend zu. Derzeit leben rund 73 Prozent der Bevölkerung auf
urbanem Gebiet. Auch die Schweiz kennt graue Betongegen-
den, schlechte Luft und hohe Lärmbelastung. Und an einem
sonnigen Mittag muss man auf dem Waisenhausplatz bisweilen
durch eine Flut von gedankenlos weggeworfenem Müll waten.
Littering heisst dieses Problem, und es ist nicht einfach der Ju-
gend anzulasten. Erwachsene entsorgen ihren Abfall auf solche
Weise zwar weniger öffentlich, dafür manchmal systematisch.
    Ein für die kleinräumige Schweiz besonderes Problem ist der
zunehmende Bodenverbrauch, der mit dem Anwachsen der
Städte und Agglomerationen einhergeht. Jede Sekunde ein ver-            Bern
                                                                                                                    Ruben Wyttenbach

brauchter Quadratmeter – da liesse sich ausrechnen, wie viele
Generationen es noch dauert, bis die Stadt St.Gallen mit der            12 Netzstadt
Stadt Genf fusionieren kann.                                            Ein Forschungsprojekt analysierte den Ressourcen-
    Patentlösungen gibt es für keines dieser Probleme, aber es          haushalt städtischer Systeme. Plädiert wird für eine
gibt Lösungsansätze, die mit einem integralen Ansatz konse-             neue Nähe und eine Verflechtung der Nutzungen.
quent weiterverfolgt werden müssen und an denen auch das
BAFU mitarbeitet. So muss es ein Ziel der Stadtentwicklung sein,        14 Agglomerationspolitik
die Effizienz der Bodennutzung zu erhöhen, beispielsweise in-           Die Agglomerationspolitik des Bundes soll die
dem nicht mehr gebrauchte Industrieareale zu Wohngebieten               Verkehrsprobleme der Städte lösen helfen, damit
umgenutzt werden. Gleichzeitig haben Naherholungsgebiete                verbunden einen Beitrag zu einer besseren Lebens-
eine enorme Bedeutung für die Lebensqualität. Pärke, Seen,              qualität leisten und die räumliche Ausbreitung der
Flüsse und Wälder laden zum Verweilen und Erleben der Natur             Agglomerationen lenken.
ein. Sie zu erhalten und wo möglich auch ökologisch aufzuwer-
ten – zum Beispiel durch Renaturierungen verbauter Fliessge-            18 Industriebrachen
wässer – ist eine Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Und              In der Schweiz schlummert ein Potenzial ungenutzter
nicht zuletzt müssen wir dafür sorgen, dass die Luft noch sau-          Industrieflächen so gross wie die Stadt Genf.
berer und der Lärm geringer wird. In diesem Sinn: Nehmen wir
die Herausforderung Stadt an!                                           22 Verkehr
                                                                        In den nächsten 20 Jahren sollen 12 Milliarden
                       Christine Hofmann, Vizedirektorin BAFU           Franken aus öffentlichen Kassen in Infrastruktur-
                                                                        projekte des Agglomerationsverkehrs fliessen. Eine
                                                                        bessere ÖV-Erschliessung, weniger Abgase und Lärm
                                                                        für die Bevölkerung sind die wichtigsten Ziele.

     2    UMWELT 3/07
Stadtlandschaften - gestaltetes Wohlbefinden - T3/2007 - Bundesamt für ...
25 Familiengärten                                                         45   Lärm
60 000 Familiengärten sorgen für wertvolle Farbtupfer                     Hätten wir mehr Ruhe, wenn Lärm den
in der Stadtlandschaft.                                                   Verursacher etwas kosten würde?

29 Stadtgrün                                                              48 Forschung
Der Wunsch nach Natur ist bei der städtischen Bevöl-                      Ressourcen erhalten, für günstige Wirtschafts-
kerung ausgeprägt. Der wiederbelebte Stadtbach                            bedingungen sorgen und mehr Lebensqualität
erfüllt dieses Bedürfnis besser als der gepflegte Stadt-                  für die Menschen ermöglichen: Ein Forschungs-
park mit dem Verbotsschild.                                               programm des Nationalfonds erarbeitet Grund-
                                                                          lagen für eine Agglomerationspolitik mit Zukunft.
32 Naherholung
Naherholung ist zum Beispiel ein Spaziergang vom                          51      Städte und Agglomerationen ONLINE
Berner Bärengraben auf den Aussichtsberg Bantiger.
                                                                  52 – 62 EINZELTHEMEN
34 Stadtwa l d
Stadtwälder sind in erster Linie Erholungswälder. Wie             52      Landschaft
müssen sie gepflegt werden, damit sie diese Funktion                      Zivildienstleistende stellen ein grosses Ressourcen-
dauerhaft erfüllen können?                                                potenzial zur Umsetzung der Naturschutzziele in
                                                                          Kantonen und Gemeinden dar.
37 Stadtnatur
Auch Vogelgesang, Blumenpracht und ein wenig Wild-                54      Abfallwirtschaft
nis neben der Haustür sind Teil der urbanen Lebens-                       Kompost und Gärgut aus der Grünabfuhr: Die
qualität.                                                                 Qualität muss noch besser werden.

40 Abfall                                                         56      NFA
Im Kampf gegen das Dauerärgernis «Littering» setzen                       Die Neugestaltung des Finanzausgleichs NFA
Kantone und Gemeinden zusammen mit dem BAFU                               setzt auch neue Regeln für die Subventionspolitik
auf Vereinbarungen mit Event-Veranstaltern.                               im Umweltbereich.

                                                                  58      Volkswirtschaftliche Beurteilung
                                                                          Alle vom BAFU geplanten Umweltbestimmungen
                                                                          unterliegen neu einer volkswirtschaftlichen
                                                                          Beurteilung.

                                                                  60      Holz
                                                                          Der Wald des Klosters Einsiedeln erzählt vom Wert-
                                                                          wandel des Holzes in den vergangenen tausend
                                                                          Jahren.

                                                  Stefan Bohrer   62      Internationales
Rheinpromenade Basel                                              63      Urteil/Praxis: Interessantes aus den Kantonen

42 EURO 08                                                        67      BAFU Inside
Gross-Events sind Teil des städtischen Lebens. Die                68      Agenda
Fussball-Europameisterschaft in Österreich und                    69      Neue BAFU-Publikationen
in der Schweiz soll in Sachen Umweltverträglichkeit
                                                                  70      Aktiv
Massstäbe setzen.
                                                                  71      UMWELT-Tipps und Impressum

                                                                  Titelbild: Zürich-Oerlikon, fotografiert von Urs Jaudas

                                                                                                           UMWELT 3/07        3
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zVg
Aktionsprogramm Umwelt und                                        Spendierfreudige Aludosensammler
Gesundheit ist abgeschlossen                                      im Tessin
Ende Mai 2007 ging das Aktionsprogramm Umwelt                     Das Recycling von Aludosen funktioniert in der Schweiz sehr
und Gesundheit APUG zu Ende. Im Rahmen der                        gut: Die Rücklaufquote erreicht einen Wert von rund 90 Prozent.
Aufgabenverzichtsplanung hatte der Bundesrat 2005                 Pro Kilogramm Aludosen erhalten Sammelnde bei Altstoffhänd-
beschlossen, die Aktion des Bundesamtes für Gesund-               lern 1.30 Franken. Seit 2004 arbeitet die Recyclingorganisation
heit BAG nicht mehr weiterzuführen. In Zusammen-                  IGORA mit Pro Infirmis zusammen: Einzelpersonen, Verkaufs-
arbeit mit dem BAFU hatte das Programm in drei                    stellen oder Gemeinden, die Aluminiumdosen zum Altstoff-
Pilotregionen nachhaltige Präventionsprojekte durch-              händler bringen, können das Dosengeld zugunsten behinderter
geführt. Mit einem Innovationspool und gezielter                  Kinder spenden. Im Rennen um den spendenfreudigsten Landes-
Vernetzung erreichte das APUG in den Schwerpunkt-                 teil hat das Tessin nun die West- und Deutschschweiz überholt:
bereichen Mobilität, Natur und Wohnen positive                    Mit rund 5300 Franken trug es im letzten Jahr am stärksten zum
Verhaltensänderungen und erzielte einen hohen                     Erfolg der Aktion bei.
volkswirtschaftlichen Nutzen.                                     Daniel Frischknecht, IGORA,
www.apug.ch                                                       Bellerivestrasse 28, 8034 Zürich,
                                                                  Tel. 044 387 50 10, frischknecht@igora.ch,
                                                                  www.igora.ch, www.proinfirmis.ch

  Forschungsprogramm untersucht Risiken des Elektrosmogs

  Der Schweizerische Nationalfonds SNF hat auf Initiative
  des BAFU ein neues nationales Forschungsprogramm lan-
  ciert, das sich mit den gesundheitlichen Auswirkungen
  nicht-ionisierender Strahlung (NIS) befasst. Fünf der
  insgesamt elf Einzelprojekte untersuchen, in welchem
  Masse wir dem sogenannten Elektrosmog im Alltag
  ausgesetzt sind und welche Folgen er auf die körperliche
  Gesundheit hat. Weitere, zellbiologische Studien gehen
  der Frage nach, wie sich die NIS auf die Erbsubstanz, die
  Aktivität von Genen und die Stressabwehr von Zellen
  auswirkt. Abgerundet wird das interdisziplinäre For-
  schungsprogramm durch sozialwissenschaftliche Stu-
  dien, die die Wahrnehmung und Bewertung der NIS in
  der Bevölkerung untersuchen.
  Mathis Brauchbar, Umsetzungsbeauftragter NFP 57, Advocacy AG,
  Forchstrasse 70, 8008 Zürich, Tel. 044 383 90 47,
  brauchbar@advocacy.ch, www.nfp57.ch
                                                                                                                           NFP 57

    4     UMWELT 3/07
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SPOTS
                                                          Trockenwiesen besser schützen
                                                          Trockenwiesen- und weiden (TWW) sind wertvolle Lebensräume:
                                                          Hier finden sich zahlreiche bedrohte Pflanzen- und Schmetterlings-
                                                          arten. Trotz ökologischer Bemühungen sind in den letzen 15 Jah-
                                                          ren jedoch viele dieser Standorte verschwunden. Das BAFU hat nun
                                                          ein Inventar mit rund 3100 Objekten von nationaler Bedeutung er-
                                                          stellt. Die entsprechende Verordnung war im Sommer 2007 bei Ver-
                                                          bänden, Privatpersonen und Kantonen in der Anhörung und wird
Ecosport für                                              vom BAFU nun noch weiter bearbeitet. Sie soll für Bauern Anreize
Sportveranstalter                                         schaffen, diese Flächen nachhaltig zu nutzen.
                                                          Christine Gubser, Sektion Arten und Biotope, BAFU, 3003 Bern,
290 000 Sportanlässe finden jedes Jahr in                 Tel. 031 322 99 80, christine.gubser@bafu.admin.ch,
der Schweiz statt. Dank Abfallrecycling,                  www.umwelt-schweiz.ch > Themen > Trockenwiesen
Mehrweggeschirr und guter ÖV-Anbindung
des Veranstaltungsortes können Sportver-
anstalter zum Umweltschutz beitragen. Ge-
meinsam mit Swiss Olympic und dem
Bundesamt für Sport verlieh das BAFU in
den vergangenen Jahren den «Prix Eco-
sport» an Sportorganisationen, die im Um-
weltschutz Pionierarbeit leisten. Nun wird
dieses Engagement ausgebaut und durch
eine neue Internet-Plattform ergänzt. Auf
«ecosport.ch» erhalten Sportveranstalter
konkrete Tipps und Anregungen zur
Durchführung eines umweltfreundlichen
Sportevents. Wer seine eigenen Erfahrun-
gen auf der Website anderen zugänglich
macht, nimmt zudem an einem Wettbe-
werb teil. «ecosport.ch» ist eng koordiniert
mit der Städteinitiative «saubere-veranstal-
tung.ch».                                                                                                                          zVg

Adrian Weber, Swiss Olympic Association,
Talgutzentrum 27,
3063 Ittigen, Tel. 031 359 71 42,
                                                       Vogelbestimmung mit dem Handy
ecosport@swissolympic.ch, www.ecosport.ch
                                                       Wer auf Vogelexkursion geht, braucht seit diesem Jahr kein Bestim-
                                                       mungsbuch mehr mitzunehmen. Die häufigsten Vögel lassen sich nun
                                            Ecosport   auch per Handy bestimmen. Zusammen mit einer Partnerfirma hat der
                                                       Schweizer Vogelschutz SVS einen Bestimmungsdienst für 123 Vogel-
                                                       arten entwickelt. Es genügt, im Menu des WAP-Service die Jahreszeit
                                                       und den Lebensraum auszuwählen, und schon erscheint eine Auswahl
                                                       von möglichen Vogelarten. Für 1.20 Franken pro Art lassen sich dann
                                                       Bilder, Artenbeschreibungen und sogar Vogelstimmen herunterladen.
                                                       François Turrian, ASPO / BirdLife Schweiz, La Sauge, 1588 Cudrefin,
                                                       Tel. 026 677 03 80, francois.turrian@birdlife.ch, http://wap.birdlife.ch,
                                                       SMS mit Vermerk «SVS» an die Zielnummer 939 senden.

                                                                                                                    UMWELT 3/07    5
Stadtlandschaften - gestaltetes Wohlbefinden - T3/2007 - Bundesamt für ...
6   UMWELT 3/07 STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN
Stadtlandschaften - gestaltetes Wohlbefinden - T3/2007 - Bundesamt für ...
Karina Muench Reyes

       Die Städte erleben derzeit eine Renaissance. Die Flucht ins Grüne wird seit Ende
    des 20. Jahrhunderts durch eine Gegenbewegung zurück in die Zentren überlagert.
                                                Der urbane Lebensstil setzt sich durch.

UMWELT 3/07   DOSSIER STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN                                      7
Stadtlandschaften - gestaltetes Wohlbefinden - T3/2007 - Bundesamt für ...
VERSTÄDTERUNG

 «Die ganze Schweiz ist
                  wie eine grosse Stadt»
                                                                                            Jean-Jacques Rousseau, 1793

Drei Viertel der Bevölkerung leben heute in Agglomerationen, der städtische Lebensstil setzt
sich durch. Diese Entwicklung stellt die Umweltpolitik vor neue Herausforderungen.

Der Platzregen hat den Staub runterge-        von Wohnen und Arbeiten, von Parks             Filmgeschichte geschrieben haben, ist
waschen. Noch dampft der Asphalt,             und wilden Grünflächen, ausserdem              das Verhältnis der Schweizerinnen und
und in seinen Teergeruch mischt sich          Einkaufsmöglichkeiten und kulturelle           Schweizer zu ihren Städten bestenfalls
der Duft von Falafel aus der Beiz an der      Institutionen, ein gut ausgebauter öf-         geprägt von freundlicher Gleichgültig-
Ecke. Es zischt, als der Bus langsam          fentlicher Verkehr, dies alles realisiert      keit. Die alten Eidgenossen blickten
durch die Pfützen fährt. Vor dem Ein-         im Respekt vor der historischen Bau-           misstrauisch auf die Städte: Hierzu-
kaufsmarkt gegenüber verabschiedet            substanz, die das unverwechselbare             lande entwickelten sich keine Residen-
sich die Putzkolonne: Autotüren schla-        Gesicht und die Identität einer Stadt          zen mit kultureller Ausstrahlung,
gen zu, die Rücklichter setzen rote Ak-       prägt» – das sind für Franz-Sepp Stulz,        sondern     verkehrsgünstig    gelegene
zente auf die Wand. Nebenan stehen            Leiter der Abteilung Natur und Land-           Marktflecken, fest im Griff von Bürger-
ein paar Jugendliche vor der Kinokasse.       schaft im BAFU, die wesentlichen               tum und Handwerk. Das Bild der
Ein Kind lacht, und von weiter weg,           Merkmale, die qualitätsvolle Urbanität         Schweiz als ein Land der Bauern und
aus der Musikschule am kleinen Park,          charakterisieren.                              Hirten zeigte Beharrungsvermögen, zu-
wehen Oboenklänge herüber. Abend-                                                            mindest im eigenen Selbstverständnis.
stimmung im zentrumsnahen Quartier.           Die Schweiz, ein ländliches Land?              Der Fremde, der Helvetien mit offenen
Gelebte Urbanität. Urbanität bedeutet         Während städtische Szenerien aus               Augen bereiste, stellte freilich diese
Vielfalt. «Eine gute Durchmischung            Europas Metropolen Literatur- und              Sicht schon früh in Frage: «[In der

Stadtluft
Stadtmenschen atmen schlechtere Luft als Landmenschen.               diesen Wandel zu beschleunigen, kommen Anreizinstrumente
Rund 30 Mikrogramm Feinstaub (PM10) pro Kubikmeter ent-              und Emissionsgrenzwerte zum Einsatz.
hält die Stadtluft im Jahresdurchschnitt. Auf dem Land und in           Aber, Landesgrenzen sind für Schadstoffe kein Hindernis: Ein
der Agglomeration liegt die Belastung noch knapp über dem            Teil der in der Schweiz gemessenen Belastung stammt aus
Immissionsgrenzwert von 20 Mikrogramm. Auch die Grenz-               Quellen in anderen Ländern. Mit internationalen Abkommen
werte für Stickoxide (NOx) werden innerhalb der Stadtgren-           werden deshalb weitere Senkungen der Belastungen ange-
zen häufiger überschritten als ausserhalb. Hingegen liegt in         strebt. So verlangt das Protokoll von Göteborg von den 31 Un-
den Agglomerationen die Ozonbelastung (O3) öfter über dem            terzeichnerstaaten bis 2010 in einem ersten Schritt eine Sen-
Limit als in den Stadtquartieren.                                    kung der Stickoxid- und VOC-Emissionen um rund 40 Prozent
   Um die Luftqualität in den Städten und Agglomerationen zu         gegenüber dem Stand von 1990. Nach 2010 werden zusätzli-
verbessern, sind zusätzliche, wirkungsvolle Massnahmen notwen-       che Emissionsreduktionen notwendig sein.
dig. In erster Linie geht es um die Reduktion der Schadstoffe, die      Dem Zustand unserer Luft und den noch nötigen und mög-
für die Bildung von Ozon und Feinstaub verantwortlich sind. Das      lichen Massnahmen, um ihn zu verbessern, ist das Dossier des
sind zum einen die genannten Stickoxide und zum anderen die          BAFU-Magazins UMWELT 4/2007 gewidmet.
flüchtigen Kohlenwasserstoffe (VOC) und das Ammoniak (NH3).
   Je rascher bei Fahrzeugen, Industrieanlagen, in der Landwirt-     INFOS
schaft sowie bei Feuerungen der beste Stand der Technik – das        Martin Schiess, Chef Abteilung
heisst die umweltfreundlichste Technologie – angewendet wird,        Luftreinhaltung und NIS, BAFU
desto schneller werden bei der Luftqualität Resultate erzielt. Um    Tel. 031 322 54 34, martin.schiess@bafu.admin.ch

    8     UMWELT 3/07 STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN
Stadtlandschaften - gestaltetes Wohlbefinden - T3/2007 - Bundesamt für ...
Mit Marktwirtschaft                                        Drei Viertel der Schweizer Bevölkerung leben heute irgendwo
gegen                                                      zwischen dem städtischen Zentrum und der Einfamilienhaus-
                                                           siedlung in der Vorortsgemeinde.
Bodenverbrauch?
Es ist schon fast ein Allgemeinplatz:
Jede Sekunde wird in der Schweiz        Schweiz] trifft man überall auf Häuser»,   sengemeinden wird heute durch eine
ein Quadratmeter Boden überbaut         schreibt Jean-Jacques Rousseau im Feb-     Gegenbewegung zurück in die Zentren
oder sonstwie verbraucht, seit vie-     ruar 1793 an den Marschall von Lu-         überlagert.
len Jahren schon. Die Raumpla-          xemburg. «Die ganze Schweiz ist wie            Die Krise ist damit allerdings nicht
nung schafft es zwar mitzusteuern,      eine grosse Stadt, die sich in dreizehn    ausgestanden: «Im alten Kern sind die
wo dies geschieht, es gelingt ihr je-   Quartiere unterteilt, von denen die        Bodenpreise ein grosses Problem», so
doch nicht, den Bodenverbrauch          einen in den Tälern, die anderen an        Franz-Sepp Stulz. «Wohnen in der In-
wesentlich zu senken.                   den Hängen und noch andere auf den         nenstadt kann sich fast niemand mehr
   Das Bundesamt für Raument-           Bergen liegen [...]. Die Quartiere sind    leisten, und nur ausgewählte Gewerbe-
wicklung ARE liess deshalb 2006         unterschiedlich dicht besiedelt, aller-    zweige siedeln sich hier an.» Eine Folge
mit einer Studie prüfen, ob dem         dings immer dicht genug, dass man          der fehlenden Wohnlichkeit: Viele
Problem mit marktwirtschaftlichen       sich in der Stadt wähnt. Statt in einer    Menschen fühlen sich in der Stadt
Instrumenten beizukommen wäre.          Linie angeordnet zu sein, verteilen sich   nicht mehr sicher. Neonreklamen und
Dabei würde die bebaubare Fläche        die Häuser aber ohne Symmetrie und         beleuchtete Schaufenster vermitteln
mit Flächennutzungsrechten be-          Ordnung [...].» Eine hellsichtige Vor-     keine Geborgenheit.
grenzt. Diese Nutzungsrechte wür-       wegnahme der städtebaulichen Ent-
den jährlich versteigert, und das       wicklungen im 20. Jahrhundert?             Urbanität herrscht überall
dabei eingenommene Geld würde               Mit der aufkommenden Massenmo-         Drei Viertel der Schweizer Bevölkerung
– wie bei den Lenkungsabgaben –         bilität nach dem Zweiten Weltkrieg         leben heute zwischen dem städtischen
an die Bevölkerung verteilt. Die        wurde die autogerechte Stadt zum           Zentrum und der Einfamilienhaussied-
Nutzungsrechte wären frei handel-       Modell der Architekten und Planer. Sie     lung in der Vorortsgemeinde. Die Ag-
bar.                                    redeten leistungsfähigen Strassen das      glomeration – einst ungeliebter und
   Es hat sich erwiesen, dass ein       Wort, um die Pendler von ihrem             undefinierbarer Zwitter zwischen Stadt
solches Modell an sich funktioniert.    Wohnort im Grünen zum Arbeitsplatz         und Land – ist zur unumgänglichen
Ob es eine Chance hat, entscheidet      zu führen. «Die Entflechtung von Ar-       Planungsgrösse geworden. Der Bericht
die politische Diskussion. Auch hier    beits- und Wohnort trug wesentlich zur     zur Agglomerationspolitik des Bundes
tut sich etwas: Verschiedene Ver-       Krise der Städte bei», ist Franz-Sepp      (siehe Seite 16) spricht sich dafür aus,
bände des Natur- und Landschafts-       Stulz überzeugt.                           ein «polyzentrisches Netz von Zentren
schutzes haben eine Volksinitiative         Das pulsierende Wirtschaftsleben       und Agglomerationen (zu) erhalten»
lanciert, die unter anderem ver-        und die strömenden Verkehrsflüsse in       und beugt sich damit pragmatisch dem
langt, dass die Gesamtfläche der        den Kernstädten ergaben kein wohn-         Befund, dass mittlerweile das ganze
Bauzonen in der Schweiz während         liches Umfeld. Entsprechend drängten       Land weitgehend urbanisiert ist.
20 Jahren nicht vergrössert werden      immer mehr Menschen aufs Land. Der             Urban geworden sind auch die Le-
darf.                                   sich flächenhaft über die Landschaft er-   bensstile: Singlehaushalte und doppel-
                                        giessende Siedlungsbrei zerstörte genau    verdienende Paare, das Thai-Restaurant
INFOS                                   die ländliche Idylle, nach der sich die    oder der Döner-Imbiss, der Kosmetiksa-
Josef Rohrer                            ins Grüne flüchtenden Städter sehnten.     lon und das Fitnessstudio sind nicht
Chef Sektion UVP und                        Erst gegen Ende des 20. Jahrhun-       mehr nur in den Kernstädten anzutref-
Raumordnung, BAFU                       derts setzte allmählich die Wende ein:     fen, sondern bis in die ländlichen
Tel. 031 322 92 95                      Die Stadt erlebte eine Renaissance, und    Regionen vorgedrungen – Toleranz ge-
josef.rohrer@bafu.admin.ch              der fortschreitende Exodus in die Aus-     genüber Lebensformen, die vom Alt-

                                        UMWELT 3/07   DOSSIER STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN                                 9
Stadtlandschaften - gestaltetes Wohlbefinden - T3/2007 - Bundesamt für ...
Jede dritte Schweizer Gemeinde ist städtisch
(hjb) Verstädterung und Konzentration der Menschen im Mit-         rand oder in den Vororten, die Familien zieht es ins Grüne. Das
telland waren im ganzen 20. Jahrhundert beherrschende              vorherrschende Merkmal der Siedlungsentwicklung in den
Trends der Siedlungsentwicklung. Nach einer dezentralen            letzten dreissig Jahren war der Bau von Einfamilienhausquar-
Phase ab den 1970er-Jahren – gefördert durch die vermehrte         tieren im Grüngürtel, der immer weiter vom Zentrum weg-
Unterstützung der ländlichen Regionen und eine Regionalis-         rückt.
musbewegung, welche die Ländlichkeit aufwertete – hat sich             Zwischen 1981 und 2005 hat das überbaute Gebiet in der
die Urbanisierung seit 1990 wieder verstärkt. Gewachsen sind       Westschweiz um eine Fläche halb so gross wie der Neuenbur-
namentlich die Metropolen Zürich und Genf.                         gersee zugenommen, ergab die neuste Arealstatistik des Bun-
    Jede dritte Schweizer Gemeinde ist städtisch: Sie gehört       desamtes für Statistik BFS für 623 Gemeinden der Romandie.
einer der gut fünfzig Agglomerationen an, die zusammen             Von 1981 bis 1993 wuchs die Siedlungsfläche um 15 Prozent,
23 Prozent der Landesfläche bedecken und 73 Prozent der Be-        von 1994 bis 2005 erreichte der Zuwachs noch 9,3 Prozent.
völkerung beherbergen. Noch stärker als die Menschen ballen        Der Flächenverbrauch pro Kopf der Bevölkerung ist heute
sich hier die Arbeitsplätze. 82 Prozent der Beschäftigten arbei-   leicht niedriger als 1981. Derzeit liegt er bei 403 Quadrat-
ten in städtischen Gebieten.                                       metern, davon ist die Hälfte Gebäudeareal und ein Drittel
    Wanderungsbewegungen innerhalb der Agglomerationen             Verkehrsfläche.
führen zu einer wachsenden Segregation: Junge Erwachsene               Im Februar 2007 lebten 7,515 Millionen Menschen in der
leben in den Kernstädten, die sozial benachteiligten Bevölke-      Schweiz, rund eine Million mehr als Mitte der 1980er-Jahre.
rungsschichten in den ehemaligen Arbeiterquartieren am Stadt-                                                 Quellen: BFS, ARE, Metron

hergebrachten abweichen, kann heute         zurück. Durchschnittlich legen die Zent-     Wohlbefinden atmet [...]». Freiheit und
auch in der Vorortsgemeinde vorausge-       rumsbewohnerinnen und -bewohner              Wohlbefinden als Ergebnis einer austa-
setzt werden.                               pro Tag rund 30 Kilometer zurück, auf        rierten Balance zwischen anregender
                                            dem Land sind es 40. In den Kernstäd-        Betriebsamkeit und Orten des Rückzugs
Stadt ist keine Antithese zur Natur         ten werden über 13 Prozent aller Weg-        – Freiraum mit Gestaltungsmöglichkei-
Der Prozess der Verstädterung wird ge-      strecken mit dem öffentlichen Verkehr        ten im Wechsel mit historisch gewach-
trieben durch wirtschaftliche Dynamik       gefahren, auf dem Land nur 4 Prozent.        senen Strukturen, die das Gesicht einer
und technologische Entwicklung, na-             Die Durchmischung der Funktio-           Stadt prägen und das Zugehörigkeits-
mentlich durch den Ausbau der Ver-          nen und die Vielfalt der Ansprüche an        gefühl ihrer Bewohner stärken: In der
kehrsmittel. Er ist weder aufzuhalten       die Wohn- und Arbeitsumgebung stel-          Schweiz herrschen hierfür gute Bedin-
noch zu beklagen. Die städtische Le-        len die Behörden vor Herausforderun-         gungen.
bensform kann dazu beitragen, dass          gen. Indes: Urbanität birgt Chancen.
mit den natürlichen Ressourcen scho-        Das erkannte auch Jean-Jacques Rous-
nender umgegangen wird. Im städtisch        seau, wenn er seine Schilderung des             Lucienne Rey
geprägten Kanton Genf beansprucht           «Stadtlandes Schweiz» fortführt: «Man
jede Bewohnerin und jeder Bewohner          hat nicht mehr das Gefühl, durch Ein-
218 Quadratmeter Siedlungsfläche, im        öden zu streifen, wenn man zwischen            INFOS
ländlich geprägten Kanton Waadt sind        den Tannen Kirchtürme, auf den Felsen          Franz-Sepp Stulz
es 455. In der Stadt konzentrieren sich     Viehherden, in den Schluchten Fabri-           Chef Abteilung Natur
Arbeitsplätze und kulturelle Angebote,      ken und über den Gebirgsbächen Werk-           und Landschaft, BAFU
der öffentliche Verkehr ist gut ausge-      stätten antrifft. Diese sonderbare Mi-         Tel. 031 322 80 66
baut. Städterinnen und Städter greifen      schung hat etwas irgendwie Beseeltes           franz-sepp.stulz@bafu.admin.ch
deshalb weniger oft auf das Privatauto      und Lebendiges, das Freiheit und

    10   UMWELT 3/07 STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN
Vinicio Barreno

Das vorherrschende Merkmal der Siedlungsentwicklung in den letzten 30 Jahren war der Bau von
            Einfamilienhausquartieren im Grüngürtel, der immer weiter vom Zentrum wegrückt.

        UMWELT 3/07    DOSSIER STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN                                 11
NETZSTADT

Nachhaltigkeit dank Durchmischung
Wie kann ein städtisches System seine Qualitäten als Kulturlandschaft und Wohnumgebung
dauerhaft steigern und zugleich seine Ressourcen nachhaltig nutzen? Und wie lassen sich
gebaute Strukturen so verändern, dass diese Anliegen erreicht werden? Ein ETH-Forschungs-
projekt zu Nachhaltigkeit und urbaner Gestaltung hat hierfür Methoden entwickelt.

Eisenbahn- und Autofahrende kennen           den», erörtert Peter Baccini. Für die        druck umfassender: «Wir betrachten
die Gegend: Gewerbeparks, Äcker und          Analyse des vorhandenen räumlichen           alle Territorien, also neben der Sied-
Wohngebiete ziehen im raschen Wech-          Gefüges wurden vier Typen mensch-li-         lung auch das Ackerland, die Gewässer
sel am Fenster vorbei, hektisch getaktet     cher Tätigkeiten identifiziert: sich         oder die Brachen.» Dies im Unterschied
durch die Mobilitätsströme zwischen          ernähren und erholen, wohnen und             zur traditionellen Sicht, die Urbanität
den grossen Wirtschaftsregionen Zü-          arbeiten, sich im Raum bewegen und           an architektonischen Ikonen festmacht
rich, Basel, Bern-Mittelland und Zent-       kommunizieren sowie entsorgen und            und das Ländliche allenfalls als Rest-ka-
ralschweiz. Diesen Durchgangsraum            reinigen.                                    tegorie in den Blick nimmt.
bei Olten, die «Kreuzung Schweizer               Jeder Typ lässt sich als Teilsystem          Die Autoren postulieren, auf das
Mittelland», haben Peter Baccini und         verstehen. Die Wissenschaftler verbin-       Prinzip der «neuen Nähe» zu setzen
Franz Oswald ausgewählt, um zu unter-        den dabei die morphologische Analyse,        und Nutzungen nach Möglichkeit zu
suchen, wie sich ein Siedlungssystem         welche die Verteilung von Siedlung,          verflechten. «Die sektoralen Politiken –
nachhaltig nutzen und menschen-              Infrastrukturen, land- und forstwirt-        hier Energie, da Landwirtschaft und
freundlich gestalten lässt. Peter Baccini    schaftlichen Flächen sowie der Gewäs-        dort Gewässerschutz – führen nicht
                                                                                          zum Ziel einer nachhaltigen Entwick-
                                                                                          lung», ist Peter Baccini überzeugt. Wie
                                                                                          eine Mehrfachnutzung der Strukturen
«Im Dialog mit der Bevölkerung vor Ort haben wir gemeinsam
                                                                                          gedacht werden kann, zeigt exempla-
Qualitäten von Urbanität definiert – ohne dass schon vorher feststand,
                                                                                          risch der Vorschlag, separate Wege für
welche Strukturen im Raum dadurch entstehen würden.»
                                                                                          den Langsamverkehr zu schaffen: Diese
                                                                                          wären attraktiv – etwa als Alleen – zu
                                                                                          gestalten und würden als lineare grüne
                                                                                          Adern die Landschaft aufwerten und
war bis zu seinem Übertritt in den Ru-       ser im Raum untersucht, mit der phy-         der Mobilität und der Erholung glei-
hestand im Jahr 2004 Professor für           siologischen Betrachtungsweise, die auf      chermassen zugute kommen.
Stoffhaushalt und Entsorgungstechnik         die Prozesse und Materialflüsse fokus-
an der ETH Zürich, Franz Oswald ist          siert.                                          Lucienne Rey
Professor für Architektur und Städtebau
am Institut für Orts-, Regional- und         Nähe bringt weiter
Landesplanung (ORL) der ETH.                 «Netzstadt» – so heisst das Modell, das
   «Im Dialog mit der Bevölkerung vor        schliesslich als Ergebnis postuliert wird.     LESETIPP
Ort haben wir gemeinsam Qualitäten           Anders als in der herkömmlichen Pla-           Peter Baccini, Franz Oswald, Mark Michaeli,
von Urbanität definiert – ohne dass          nung, die ebenfalls gerne von städti-          2003: Netzstadt. Einführung in das Stadt-
schon vorher feststand, welche Struk-        schen Netzen spricht, verwenden Peter          entwerfen. Basel: Birkhäuser.
turen im Raum dadurch entstehen wür-         Baccini und seine Kollegen den Aus-

    12    UMWELT 3/07 STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN
Corinne Aeberhard

Die menschliche Nutzung des städtischen Raumes lässt sich in vier Typen einteilen: sich ernähren und erholen, wohnen und arbeiten,
sich im Raum bewegen und kommunizieren sowie entsorgen und reinigen. Impressionen aus dem Raum La Maladière, Neuenburg.

                                             UMWELT 3/07    DOSSIER STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN                                     13
AGGLOMERATIONSPOLITIK

Gezielte Entwicklung im
                   Grossraum Lausanne
Fast 50 Prozent der Waadtländer Bevölkerung leben im Raum Lausanne-Morges. Bis zum Jahr
2020 werden sich um die 40 000 Einwohnerinnen und Einwohner zusätzlich hier ansiedeln. Ein
Agglomerationsprogramm soll dafür sorgen, dass dies ohne weitere Zersiedlung und anhal-
tende Verkehrszunahme möglich wird.

Noch stärker als die Wohnbevölkerung        Verdichtung anstreben                      Fahrten kanalisieren
konzentriert sich die Waadtländer           Eines der primären Ziele von PALM ist,     Ein weiteres Ziel von PALM ist die Kana-
Wirtschaft im Gebiet zwischen Lau-          der weiteren Ausbreitung des Siedlungs-    lisierung der Pendlerströme, die von den
sanne und Morges. Mehr als jeder            gebietes entgegenzuwirken. Darum           zusätzlichen Bewohnerinnen und Be-
zweite Arbeitsplatz ist hier angesiedelt,   schlägt das Projekt vor, einen Perimeter   wohnern verursacht werden. Der
bis 2020 sollen 30 000 Arbeitsplätze        zu definieren, in dem das Wachstum         öffentliche Verkehr soll attraktiver wer-
neu geschaffen werden. Mit einer der-       von Wohnraum und Arbeitsplätzen ge-        den, namentlich sollen die Busse und
art stürmischen Entwicklung können          fördert wird. Ausserhalb dieser Zone       Bahnen effizienter werden und regel-
die einzelnen Gemeinden schwerlich          hingegen wird die Entwicklung begrenzt     mässiger verkehren. Gefördert wird
alleine umgehen. Um sie planerisch zu       beziehungsweise gebremst.                  zudem der Langsamverkehr.
bewältigen, wurde das Projet d’agglo-           Im Innern des zu verdichtenden Pe-          Ein aufwändiger Ausbau der Infra-
mération Lausanne-Morges PALM lan-          rimeters werden rund ein Dutzend ent-      strukturen für den öffentlichen Ver-
                                                                                       kehr soll die Verkehrsverlagerung be-
Eines der primären Ziele von PALM ist, der weiteren Ausbreitung des                    günstigen: der Bau der Métro M2 von
Siedlungsgebietes entgegenzuwirken.                                                    Ouchy nach Epalinges, die Optimie-
                                                                                       rung der Métro M1 von Renens nach
                                                                                       Lausanne-Flon und der LEB sowie das
                                                                                       Tramprojekt Ost–West zwischen Lutry
ciert. Die Hauptanliegen dieses Mass-       wicklungsfähige strategische Standorte     und Bussigny. Auch eine Verbesserung
nahmenplans sind die Siedlungsver-          ins Auge gefasst, so zum Beispiel die      der bestehenden Infrastrukturen der
dichtung in einem bestimmten Perime-        Industriebrache zwischen Sébeillon–        SBB, der Bau eines neuen Bahnhofs in
ter und die Effizienzsteigerung des         Malley–Renens–Bussigny. «In diesem         Malley und eines vierten Bahngleises
Verkehrssystems.                            Gebiet liessen sich gleich viele Ein-      zwischen Lausanne und Renens stehen
    «Der vor sieben Jahren erstellte        wohner und Arbeitsplätze unterbrin-        zur Debatte.
Richtplan für Lausanne West (Schéma         gen, wie sie La Chaux-de-Fonds auf-             Eine weitere Massnahme zur Ent-
directeur de l’Ouest lausannois SDOL)       weist», versichert Denis Décosterd.        lastung der Stadt besteht in einem
hat für die Gemeinden westlich von          Ebenfalls auf der Liste der möglichen      vermehrten Angebot von Park+Ride-
Lausanne den Weg für ein derartiges         künftigen Baustellen stehen die Räume      Anlagen und deren Verlagerung in
Unterfangen vorbereitet», sagt Projekt-     entlang der Regionalbahn Lausanne–         die Peripherie. Strassenseitig wären
leiter Denis Décosterd. «Die Zukunfts-      Echallens–Bercher LEB zwischen Prilly      die Anpassung des Autobahnverteilers
planung erfolgte gemeinsam durch            und Cheseaux, die Umgebung der             Maladière sowie verbesserte Autobahn-
Kanton und Gemeinden. Danach wur-           Hochschulen sowie Le Mont und              anschlüsse in La Blécherette Teil der
den noch vier weitere lokale Richtpläne     Epalinges.                                 vorgesehenen Massnahmen zum Auf-
erarbeitet, auf welche PALM nun zu-                                                    fangen des zusätzlichen Verkehrs.
rückgreifen kann.»                                                                                           Fortsetzung Seite 16 unten

    14   UMWELT 3/07 STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN
Vinicio Barreno

                 Verkehr in der Agglomeration Lausanne: Der Ausbau der
                 Infrastrukturen für den öffentlichen Verkehr soll die Verkehrs-
                 verlagerung begünstigen. Busse und Bahnen sollen effizienter
                 werden und regelmässiger verkehren.

UMWELT 3/07   DOSSIER STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN                                  15
50 Agglomerationen, 979 Gemeinden
(hjb) Agglomerationen sind funktional          werden. Dazu gilt es, die verschiedenen       umzusetzen. Der Bund verbindet dieses
zusammenhängende Siedlungsräume,               Sachpolitiken, insbesondere die Sied-         Instrument mit einem finanziellen Anreiz:
in der Regel mit einer Kernstadt im Zent-      lungsentwicklung und den Verkehr, bes-        Er will sich an der Finanzierung der Ver-
rum. Die Schweiz zählt 50 derartige            ser zu koordinieren.                          kehrsinfrastruktur beteiligen, sofern ein
Ballungsgebiete, hinzu kommen fünf                Die Zusammenarbeit unter den be-           solches Programm gewährleistet, dass
Einzelstädte mit mehr als 10 000 Ein-          troffenen Gemeinden soll verbessert           die Siedlungsentwicklung und der Ver-
wohnerinnen und Einwohnern.                    werden. Diese erfolgt heute schon in          kehr optimal aufeinander abgestimmt
    979 Gemeinden gehören einer Agglo-         verschiedensten Gremien und recht-li-         sind (siehe Seite 24).
meration an, ihre Zahl hat sich seit 1950      chen Formen, ist aber mehrheitlich sek-          Kantone, Städte und Gemeinden sind
alle zwanzig Jahre verdoppelt. Die funk-       toriell ausgerichtet. Durch die Förderung     die Hauptakteure der Agglomerations-
tionalen Räume stimmen längst nicht            von Modellvorhaben sollen Ansätze und         politik, der Bund kann nur subsidiär tätig
mehr mit den institutionellen überein.         Verfahren für eine vertiefte Zusammen-        werden. Es braucht aber eine enge
Die Gemeindestrukturen der hiesigen            arbeit entwickelt und in der politischen      Abstimmung zwischen diesen Akteuren.
Agglomerationen gehören zu den am              Realität erprobt werden. Création de          Anfang 2001 wurde deshalb die Triparti-
stärksten fragmentierten Europas.              l’agglomération lausannoise (PALM) ist        te Agglomerationskonferenz TAK (siehe
    Ende 2001 genehmigte der Bundes-           eines von 31 Modellvorhaben, die der          Seite 51) gegründet. Darin sind Politike-
rat den Bericht zur Agglomerationspolitik      Bund bisher unterstützt hat. Weitere          rinnen und Politiker aller drei Staatsebe-
des Bundes, verfasst vom Bundesamt             sind das Réseau Urbain Neuchâtelois           nen vertreten.
für Raumentwicklung ARE und vom                und Netzstadt Glattal (siehe Seite 22).
Staatssekretariat für Wirtschaft Seco. An-        Teilweise münden die Modellvorha-
gestrebt wird ein dezentrales Netz von         ben in die Erarbeitung von Agglomerati-       INFOS
Städten verschiedener Grösse und Funk-         onsprogrammen. Diese bilden ein               Rolf Geiger
tionen, die sich gegenseitig ergänzen          Gefäss für sämtliche agglomerationsrele-      Bundesamt für
und stützen. Die wirtschaftliche Attrakti-     vanten Themen wie zum Beispiel Sozial-        Raumentwicklung ARE
vität der Städte soll gestärkt, die Lebens-    politik, Kulturpolitik, Raumordnung oder      Tel. 031 322 53 27
qualität für die Bewohnerinnen und Be-         Verkehr. Sie sollen helfen, die prioritären   rolf.geiger@are.admin.ch
wohner verbessert und die weitere              Handlungsfelder zu ermitteln und die          www.are.admin.ch >Themen > Agglomera-
Zersiedlung des Umlandes gebremst              dazugehörigen Massnahmen effizient            tionspolitik

Fortsetzung von Seite 14

Und wann ist es so weit?
«All diese Projekte werden auch dazu           tungen hängt zum Teil vom Bund ab.              LINK
beitragen, dass die Luftverschmutzung          Das Dokument wurde ihm im Februar               www.agglo-lausanne-morges.ch
sinkt und die Lebensqualität in der            2007 weitergeleitet in der Hoffnung,
Agglomeration sich erhöht. Das ‹grüne          dass er sich im Rahmen des Infrastruk-          INFOS
Netzwerk› soll dabei selbstverständlich        turfonds an der Finanzierung der                Benoît Magnin
nicht angetastet, sondern weiter aufge-        Verkehrsinfrastrukturvorhaben betei-            Sektion Landschaft
wertet und die Landschaft erhalten wer-        ligt. Fortsetzung folgt.                        und Landnutzung, BAFU
den», fügt Denis Décosterd hinzu.                                                              Tel. 031 324 49 79
    Die Umsetzung der verschiedenen                                                            benoit.magnin@bafu.admin.ch
im PALM vorgeschlagenen Stossrich-                Cornélia Mühlberger de Preux

      16     UMWELT 3/07 STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN
Vinicio Barreno

Die Gemeindestrukturen der Schweizer Agglomerationen gehören zu den am stärksten fragmentierten Europas. Durchschnittlich
20 Gemeinden zählt eine Agglomeration hierzulande. In Luzern ist es seit Juni 2007 eine weniger: Littau (Bild) hat die Fusion mit
der Stadt gutgeheissen.

                                              UMWELT 3/07     DOSSIER STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN                                     17
AUF EHEMALIGER INDUSTRIEBRACHE

Neustadt über der Altstadt
Das ehemalige Industriequartier rund um den Bahnhof Neuenburg erhält ein neues Gesicht.
Verlassene Lagerhallen sind bereits dem Neubau des Bundesamtes für Statistik BFS und
mehreren Wohngebäuden gewichen. Weitere Vorhaben für unterschiedliche Nutzungen des
zentrumsnahen Areals «Ecoparc» gleich über der Altstadt sind geplant oder bereits im Bau.

Direkt neben dem Bahnhof und dem            den auf sich. «Die Architektur des Baus     entstehen. Gleichzeitig schirmt der Bau
Stadtzentrum, unweit vom Spital, meh-       ist bemerkenswert, und zwar sowohl          das Quartier gegen die Bahnlinie ab
reren Schulen, der Universität und dem      aus ästhetischer wie auch aus ökologi-      und schafft eine horizontale Verbin-
Fussballstadion Maladière, sonnig und       scher Sicht», erklärt Olivier Neuhaus.      dung zwischen den verschiedenen Nut-
mit herrlicher Sicht über den See und       Der Komplex wurde – wie weitere Ge-         zungen.
auf die Alpen: Die Wohnlage in der          bäude des «Ecoparc» – vom Architektur-
Neuüberbauung entlang der Rue Crêt-         und Planungsbüro Bauart entworfen           Der Nachhaltigkeit verpflichtet
Taconnet hat einiges für sich. «Die         und zeichnet sich durch einen minima-       «Die Herausforderung in dieser äusserst
Neugestaltung dieses Quartiers ist für      len Energieverbrauch, natürliche Belüf-     kompakten urbanen Zone besteht
die Stadt Neuenburg strategisch wich-       tung und Beleuchtung sowie eine             darin, eine Verdichtung ohne zusätzli-
tig und eine grosse Chance: Hier ent-       Passiv-Kühlung aus. Das Streben nach        che Emissionen aller Art zu erreichen»,
stehen neben 160 Wohnungen für 500          Qualität und Umweltverträglichkeit ist      erklärt Olivier Neuhaus. Im Verkehrs-
Personen auch rund 1000 neue Arbeits-       auch bei den beinahe fertiggestellten       bereich sind zahlreiche Massnahmen
plätze – für eine Stadt mit 32 000
Einwohnern ein beachtliches Projekt»,
betont der Neuenburger Stadtarchitekt                       «Die Herausforderung in dieser äusserst kompakten urbanen Zone
Olivier Neuhaus.                                            besteht darin, eine Verdichtung ohne zusätzliche Emissionen aller Art
    Es war das Bundesamt für Statistik                      zu erreichen.»
BFS, das den Stein ins Rollen gebracht
hatte: Ende der 1980er-Jahre wurde in
Bern beschlossen, im Zuge einer Dezen-
tralisierung das Amt in Neuenburg an-       Wohngebäuden und öffentlichen Plät-         vorgesehen. Der bestehende Park-and-
zusiedeln. Eine neue Stadtplanung und       zen des Quartiers deutlich erkennbar.       Ride-Parkplatz wird unter die Erde ver-
die Einbindung mehrerer Architekten             Gegenwärtig wird auf den Baustel-       legt und zu einem globalen Parkhaus
mündeten schliesslich in die Neugestal-     len der Höheren Wirtschaftsschule und       umfunktioniert. Er soll für verschie-
tung der 4,7 Hektaren grossen Zone          des neuen Konservatoriums emsig ge-         dene Zwecke genutzt werden können,
«Crêt-Taconnet» östlich des Bahnhofs.       arbeitet. Mit der Eröffnung der bei-        die Zahl der benötigten Abstellplätze
                                            den Ausbildungsstätten wird sich die        soll     sinken.     Das      unlängst
Rege Bautätigkeit                           Frequentierung des Quartiers markant        erbaute Fun’ambule, eine unterirdische
Von der ehemaligen Industriebrache ist      erhöhen.                                    Seilbahn, verbindet das Bahnhofsvier-
nur noch wenig zu sehen. Die meisten            2008 soll der multifunktionale Trans-   tel mit den unterhalb gelegenen Spitä-
Hangars und Lagergebäude, die einst         Europe-Komplex in Angriff genommen          lern und Schulen. Und nördlich des
die Umgebung des Bahnhofs prägten,          werden, der sich als Verlängerung des       Bahnhofs wurde ein Knotenpunkt für
wurden abgerissen. Seit der Deindus-        Bahnhofs über 300 Meter parallel zum        den öffentlichen Verkehr eingerichtet.
trialisierung im Laufe der 1980er-Jahre     BFS-Gebäude erstrecken wird. Sein               «Auch die Fussgänger und Rad-
wurden diese Infrastrukturen kaum           Standort entlang der Bahngeleise ist als    fahrer kommen auf ihre Kosten»,
mehr genutzt. Der eindrückliche Neu-        Wohnlage wenig attraktiv. Deshalb wer-      versichert Olivier Neuhaus. Durch das
bau des BFS mit seinem 2004 erstellten      den hier Geschäfte sowie Büros für Ver-     ganze Quartier verlaufen Fuss- und
Turm zieht den Blick jedes Bahnreisen-      waltung und Dienstleistungsbetriebe         Radwege, und sofern die Politik grünes

   18    UMWELT 3/07 STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN
Biel/Bienne: Wohnen an der Schüss
                                             Auch das Bild der Industriestadt Biel wandelt sich. Die Fabri-
                                             ken ziehen vom Zentrum in ein neues Industriequartier vor
                                             den Toren der Stadt oder sie haben ihren Betrieb längst auf-
                                             gegeben. Raum für Neues wird frei – auch für die Natur.

Licht gibt, soll eine neue Passerelle im     (km) Wo heute Familien- und Alterswoh-      Promotoren «grosszügige Stadthäuser
Osten eine Verbindung zum Hügel von          nungen entstehen, wurde einst Bieler        mit Loftcharakter» verspricht. Das prä-
Bel-Air und zum Universitätsgebäude          Industriegeschichte geschrieben: In den     gende Element der Überbauung ist die
«Mail» schaffen. 120 Zweiradpark-            Vereinigten Drahtwerken, die 1634 als       freigelegte Madretsch-Schüss. Jahr-
plätze sowie eine Elektrotankstelle für      eine der ersten Fabriken der Stadt ge-      zehntelang wurde der Bach von den
Elektroroller und -fahrräder sind eben-      baut worden waren, zogen die Arbeiter       Drahtwerken als Energiequelle und
falls vorhanden.                             350 Jahre lang Drähte. Im Laufe der letz-   Wasserreservoir genutzt und blieb unter
    Und die Natur? Auch hier gilt es,        ten Jahrzehnte aber wurde die Produk-       den weitläufigen Fabrikgebäuden ver-
Verdichtung und Qualität des öffent-         tion nach und nach eingestellt, und         steckt. Jetzt fliesst er mäandrierend
lichen Raums miteinander in Einklang         2001 war ganz Schluss: Das Unterneh-        durch die Überbauung.
zu bringen. Mehrere Terrassen und            men wurde aufgelöst und sein wertvoller
Grünflächen laden zum Verweilen ein,         Immobilienbesitz in zentraler Lage von      Die brachliegende
und im gesamten Quartier werden zahl-        einer Nachfolgefirma übernommen.
                                                                                         Schweiz
reiche Bäume gepflanzt. Dächer sollten          Schon wenig später war das weit-
entweder zugänglich gemacht oder be-         läufige Industriegelände in der Nähe        In der Schweiz schlummert ein Poten-
grünt werden. «Besonders interessant in      des Bieler Kongresshauses nicht mehr        zial ungenutzter Industrieflächen so
diesem Projekt ist die Partnerschaft, die    wiederzuerkennen. Die grossen Fabri-        gross wie die Stadt Genf samt Um-
zwischen den verschiedensten öffent-         kationsanlagen mit ihren charakteristi-     land mit 190 000 Einwohnerinnen
lichen und privaten Akteuren entstan-        schen Schedhallen waren verschwun-          und Einwohnern und 140 000 Ar-
den ist», sagt Olivier Neuhaus. «Die Ge-     den, und im Dezember 2002 wurde der         beitsplätzen. Eine vom Bundesamt für
staltung des neuen Bahnhofvorplatzes         Grundstein für ein «zukunftsweisendes»      Raumentwicklung ARE und vom BAFU
‹Espace de l’Europe› beispielsweise wur-     Vorhaben gelegt, wie es der damalige        gemeinsam herausgegebene Bro-
de zu einem Drittel durch die Eigen-         Bieler Baudirektor Ulrich Haag an der       schüre zeigt Wege auf, dieses Poten-
tümer der angrenzenden Liegenschaf-          Feier lobte. Das Projekt spiele städte-     zial zügig und sinnvoll zu nutzen.
ten – Bundesamt für Bauten und Logis-        planerisch eine wichtige Rolle, indem       ARE, BUWAL (Hrsg.), Die brachliegende
tik BBL, Post, SBB – und zu zwei Dritteln    es einen harmonischen Übergang vom          Schweiz – Entwicklungschancen im Herzen
durch die Stadt finanziert, und das Bun-     Zentrum zu den Aussenquartieren             von Agglomerationen, 2004. 24 Seiten,
desamt für Strassen ASTRA hat die            schaffe.                                    CHF 3.45, Bestellnummer: DIV-8009-D.
Massnahmen im Strassenverkehr, die              Inzwischen ist ein Grossteil der 280     Bezug: BAFU, Dokumentation, 3003 Bern,
aufgrund der Luftreinhalte-Verordnung        Wohnungen, Büros und Ateliers, die          Tel. 031 322 89 99, docu@bafu.admin.ch,
erforderlich waren, mit 350 000 Fran-        auf dem gegen 40 000 Quadratmeter           Download unter www.umwelt-
ken subventioniert.»                         umfassenden Areal geplant sind, ge-         schweiz.ch/Publikationen (in der Such-
                                             baut und wird genutzt. Bald ziehen          funktion Bestellnummer eingeben)
  Cornélia Mühlberger de Preux               auch die Bewohnerinnen und Bewoh-
                                             ner des Altersheims ein, das Teil des
                                             Projekts ist. Dann sind die Bauetappen
                                                                                          LINKS
 INFOS                                       «Schüsspark UNO» und «Schüsspark
                                                                                          www.ecoparc.ch
 Markus Thommen, BAFU, siehe Seite 30        DUE» realisiert. Nun fehlt nur noch die      www.bauart.ch
                                             letzte Etappe, die in der Sprache der

                                            UMWELT 3/07   DOSSIER STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN                                      19
Biel, ehemaliges Industriegelände: Das prägende Element der Überbauung ist die freigelegte Madretsch-Schüss.
Jahrzehntelang wurde der Bach von den Drahtwerken als Energiequelle und Wasserreservoir genutzt und blieb
unter den weitläufigen Fabrikgebäuden versteckt. Jetzt fliesst er offen durch die Überbauung.

    20    UMWELT 3/07 STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN
Urs Jaudas

UMWELT 3/07   DOSSIER STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN     21
VERKEHR

Das Glattal wird eine Bahnstadt
Im Zürcher Glattal wachsen Wirtschaft und Bevölkerung rascher als in den meisten Gebieten
der Schweiz. Bis 2015 rechnet man mit einem Drittel Mehrverkehr. Mit dem Bau der Glattalbahn
wird die Kapazität des öffentlichen Verkehrs nun massiv ausgebaut. Sie ist ein schnelles Tram –
und noch ein bisschen mehr als das.

                                                             Der Verkehr im Glattal ZH dürfte bis 2015 um einen Drittel wachsen.
                                                           Die Glattalbahn soll den Zuwachs schwergewichtig bewältigen und so
Was in den Augen einer breiten Öffent-                                          die Region vor einem Verkehrskollaps bewahren.
lichkeit eine wild wuchernde Agglome-
ration im Norden der Stadt Zürich ist,
hat jetzt einen ziemlich vornehm klin-
genden Namen erhalten: «glow. das          dung ans interkontinentale Luftver-         sen, sagt Otto Halter, Gemeindepräsi-
Glattal». Glühen, glimmen, schimmern       kehrsnetz ist ein grosser Standortvor-      dent in Wallisellen und Präsident von
meint das englische Wort, das von den      teil.                                       «glow. das Glattal».
Verantwortlichen einer acht Gemein-            Das Bevölkerungswachstum in den             Ein Tram war zu langsam, die eben-
den umfassenden Interessensgemein-         Glattaler Gemeinden ist überdurch-          falls evaluierten U-Bahn- oder Hoch-
schaft 2003 zum Markenzeichen des          schnittlich hoch, noch rascher steigt       bahn-Varianten waren zu teuer oder zu
Glattals erkürt wurde.                     die Zahl der Arbeitsplätze. Der Verkehr     risikoreich. Die Wahl fiel nun auf ein
                                           operiert an der Kapazitätsgrenze. Diese     dank weniger Haltestellen und eige-
Glattstadt mit 95 000 Menschen             Entwicklung wurde schon vor bald            nem Trassee schneller verkehrendes
Die Glattal-Gemeinden versprühen           20 Jahren vier Glattaler Gemeindebau-       Tram. Ein 652-Millionen-Kredit, der
neues Selbstbewusstsein. Als Anhängsel     vorständen bewusst, als sie eine neue       auch den Ausbau von neuralgischen
der Grosstadt Zürich wollen sie nicht      Buslinie einweihten. «Wir brauchen          Strassenknoten vorsieht, wurde in der
mehr wahrgenommen werden, und              ein öffentliches Nahverkehrssystem,         Volksabstimmung 2003 mit Zweidrit-
schon gar nicht als städtische Periphe-    das nicht auf die Strasse angewiesen        telsmehrheit angenommen. Die erste
rie, wo der ländliche Raum längst von      ist», sei man sich damals einig gewe-       Bauetappe wurde im Dezember 2006
Randnutzungen wie einem Fernheiz-
kraftwerk, Entsorgungseinrichtungen,
Grossgewerbe oder Einkaufszent- ren          «Transrun»: in 20 Minuten quer durch
überwuchert ist. Wenn man die                den Kanton Neuenburg
Bevölkerungszahlen aufaddiert, wird
aus der «Glattstadt» selber eine kleine      (cmp) Obwohl Neuenburg und La Chaux-de-Fonds nur gerade 14 Kilometer Luft-
Metropole mit 95 000 Einwohnern und          linie voneinander entfernt sind, ist die Bahn zwischen den beiden Städten 30 Ki-
ebenso vielen Arbeitsplätzen.                lometer lang. Kein Wunder, dass Pendler derzeit die Strecke lieber mit dem Auto
    Das namensstiftende Flüsschen ver-       zurücklegen, um Zeit zu sparen. Eine neue, schnelle Eisenbahnverbindung zwi-
schwindet beinahe im dicht verbauten         schen den beiden Polen des Grossraums Neuenburg soll dies ändern. Sie bildet
Glattal. Das Gebiet ist von mehreren         das Rückgrat des geplanten S-Bahn-Netzes, an das neben Le Locle und Marin
Autobahnen und Bahntrassees durch-           auch die Gemeinden der Béroche angeschlossen werden sollen.
zogen, mittendrin liegt der als Nah-er-          Gleichzeitig soll das Leistungsangebot durch häufigere Kadenzen, kürzere
holungsraum bedeutende Hardwald.             Fahrzeiten und komfortableres Rollmaterial massiv ausgebaut werden. Damit leis-
Die wirtschaftliche Energiequelle ist        tet die neue Verbindung «Transrun» auch einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung
der Zürcher Flughafen, die tagsüber im       des Neuenburger Agglomerationsprojektes Réseau urbain neuchâtelois (RUN).
Minutentakt über die Gegend donnern-             Für die erste Bauetappe wird mit Investitionen von 400 Millionen Franken ge-
den Jets bilden eine dritte Dimension        rechnet. Der Kanton hofft auf einen finanziellen Beitrag aus dem Infrastrukturfonds
der räumlichen Nutzung. Die Anbin-           des Bundes. Die Realisierung dürfte indessen nicht vor 2015 abgeschlossen sein.

   22   UMWELT 3/07 STÄDTE UND AGGLOMERATIONEN
Urs Jaudas

Lärm und Abgase des Verkehrs werden von der Stadtbevölkerung als dringendstes Umweltproblem
                                           und als Negativfaktor der Wohnqualität betrachtet.

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12 Milliarden Franken gegen Stau
                                                     und Umweltprobleme

                                                     (hjb) Das Verkehrsproblem der               sind 2,6 Milliarden für dringende
                                                     Schweiz stellt sich nicht am Gott-          Vorhaben. Künftig erfolgen die Bun-
                                                     hard, sondern in den Agglomera-             desbeiträge auf der Basis von Agglo-
                                                     tionen. 80 Prozent der Stauprob-            merationsprogrammen. Diese müs-
                                                     leme treten im Umland der Städte            sen den Nachweis erbringen, dass
                                                     auf. Lärm und Abgase des Verkehrs           Siedlungsentwicklung und Verkehr
                                                     werden von der Stadtbevölkerung             aufeinander abgestimmt sind. Anzu-
                                                     als dringendstes Umweltproblem              streben sind Siedlungsstrukturen,
                                                     und als Negativfaktor der Wohn-             die das Verkehrsaufkommen mög-
                                                     qualität betrachtet.                        lichst gering halten und eine effi-
eröffnet, das gesamte Werk soll Ende                     Der Bund will in den nächsten           ziente Erschliessung durch den öf-
2010 fertig gestellt sein.                           20 Jahren aus dem Infrastrukturfonds        fentlichen Verkehr ermöglichen. Die
    Die Glattalbahn – eine Verkehrsach-              sechs Milliarden Franken in Projekte        negativen Auswirkungen des Agglo-
se mit zwei Spangen – wird auf einer                 des Agglomerationsverkehrs inves-           merationsverkehrs auf die Umwelt
12,7 Kilometer langen Strecke im                     tieren. Er finanziert dabei jeweils ma-     sollen sinken, der Anteil des öffentli-
Siebeneinhalb-Minuten-Takt verkehren.                ximal die Hälfte der Kosten, den Rest       chen Verkehrs und des Langsamver-
Das Interesse der Wirtschaft sei gross,              tragen die Kantone und Gemeinden.           kehrs am gesamten Verkehrsauf-
sagt Otto Halter. Etwa beim Hotelier,                Insgesamt stehen somit über 12 Mil-         kommen soll wachsen.
der dank der Haltestelle vor der Haus-               liarden Franken für den Agglome-
tür seinen Gästen nun eine direkte Ver-              rationsverkehr zur Verfügung. Der           INFOS
bindung zum Flughafen anbieten                       Infrastrukturfonds wird mit zweck-          Rolf Geiger, siehe Seite 16
kann; oder beim deutschen Autoher-                   gebundenen Geldern aus der Mi-              www.are.admin.ch >Themen > Agglo-
steller, der seine neue Generalvertre-               neralölsteuer und der Autobahn-             merationspolitik > Agglomerations-
tung unter anderem deshalb in Walli-                 vignette gespeist. Bereits bewilligt        programm > Verkehr und Siedlung
sellen eröffnet, weil seine Kunden nach
Ablieferung des Fahrzeugs in der Werk-
statt dereinst dank der Bahn rasch wie-
der in die Stadt zurückkehren können.      den dringlichen Vorhaben, die aus dem
                                           Infrastrukturfonds des Bundes mitfi-
Grüner Faden durch die Region              nanziert werden (siehe Kasten oben).
Betont nüchtern, ja fast kühl, fällt die   Eine Viertelmilliarde Franken will der
Gestaltung der Glattallinie aus. Die       Bund dafür investieren.                             LINKS
Haltestellen wirken, wie wenn sie aus          Das Projekt ist Teil des Agglomera-             www.glow.ch > Lebensraum und Verkehr >
einer Wand eines futuristischen Hauses     tionsprogramms Siedlung und Verkehr                 Öffentlicher Verkehr
herausgebrochen worden wären: eine         des Kantons Zürich. Es soll den ent-                www.afv.zh.ch > Agglomerationsverkehr >
schwarze, von einem grossen Fenster        scheidenden Beitrag leisten, um die Regi-           GVK Glattal
durchbrochene Fassade. Gekontert wird      on vor dem Verkehrskollaps zu bewah-                www.are.admin.ch > Themen > Agglomerations-
diese Sachlichkeit von den Platanen        ren, der droht, wenn sich die Prognosen             politik > Modellvorhaben > Netzstadt Glattal
der Alleen entlang der Geleise. Auch       über die Zunahmen – ein Drittel Mehr-
der Magerrasen bringt einen zusätz-        verkehr bis 2015 – bewahrheiten sollten.            INFOS
lichen Farbtupfer, so dass im Volks-       Die Glattalbahn soll ihn schwergewich-              Nikolaus Hilty
mund dereinst vielleicht nicht vom         tig bewältigen. Wenn sich diese Erwar-              Sektion UVP und
roten, sondern vom grünen Faden die        tung erfüllt, könnte sie zum Modell                 Raumordnung, BAFU
Rede sein könnte, der das Glattal          eines Schnelltrams für Agglomerationen              Tel. 031 322 68 92
durchzieht. Die zweite und die dritte      werden.                                             nikolaus.hilty@bafu.admin.ch
Bauetappe der Glattalbahn gehören zu                                        Urs Fitze

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