Themen Menschenrechte - Deine, meine, unsere - Diakonie Österreich

 
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Diakonische Information Nr. 189-3/19

                                                                                                Dei
                                                                                                me ne,
                                                                                               uns ine,
                                                                                                  ere
                                                                                     Deine, meine, unsere
                                                                                        Menschenrechte

                                                                                  WORD
                                                                                  RAP
                                       Wolfgang Benedek:           Word-Rap              Unser Auftrag:    Filmkritik
                                       Menschenrechte in Gefahr?   Chris Lohner          Rechte schützen   Frauenwahlrecht
                                       Seite 10                    Seite 14              Seite 17          Seite 22
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EDITORIAL

                         Eine Brücke
                         bauen
                         Die Menschenrechte sind für die Diakonie Maßstab unserer täglichen Arbeit.

                         V        on Mensch zu Mensch eine Brücke
                                  bauen“ – ich habe dieses Sing-Spiel
                                  als Kind geliebt. Zwei Kinder sind sich
                         gegenübergestanden, haben einander die Hän-
                         de gereicht, sie hochgehalten, so eine Brücke
                                                                               Gott hat den Menschen nach seinem Bild ge-
                                                                               schaffen.

                                                                               Wir alle sind Geschöpfe Gottes und als solche
                                                                               gleichermaßen mit Würde und Wert ausgestat-
                         gebaut und gesungen: „Von Mensch zu Mensch            tet – unabhängig von Geschlecht, Alter, Hautfar-
                         eine Brücke bauen, dem anderen tief in die            be, Religion, sexueller Orientierung, etc.
                         Augen schauen. In jedem Menschen das Gute
                         sehen und nicht an ihm vorübergehen.“ Noch            Die Diakonie setzt sich für Menschenrechte ein.
                         grundlegender hätten wir singen können: „In           Menschenrechte sind uns aber auch Richt-
                         jedem Menschen den Menschen sehen.“                   schnur in unserer täglichen Arbeit mit Menschen
                                                                               auf der Flucht, mit Pflegebedarf, mit Behinde-
                          In jedem Menschen den Menschen sehen – das           rung und in sozialen Notlagen. Wir nehmen Maß
                          ist die Kernidee der Menschenrechte:                 an ihnen und lassen uns von ihnen in Anspruch
                         „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und      nehmen. Mehr dazu lesen Sie in diesem Heft.
                          Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Ge-
                          wissen begabt und sollen einander im Geist der       Ich wünsche eine spannende und erhellende
                          Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) begegnen.“      Lektüre!

                                      So formuliert es die „Allgemeine
                                      Erklärung der Menschenrechte“ in
              „Und Gott schuf         Artikel 1. Dieses Dokument aus
             den Menschen zu          dem Jahr 1948 ist aus den Schre-
               seinem Bilde.“         cken des Nazi-Terrors entstanden
                                      und für unser heutiges Verständ-
                (1 Mose 1,27)
                                      nis der Menschenrechte grund­            Ihre Pfarrerin Maria Katharina Moser
                                      legend.                                  Direktorin der Diakonie Österreich

                         In der christlichen Tradition – die sich in ihrer
                         Geschichte, das muss man dazuerzählen, nicht
                         immer leicht getan hat mit der Idee der Men-
                         schenrechte, Sklaverei gerechtfertigt, Folter ak-
                         zeptiert und die Menschenrechtserklärungen
                         des 18. Jahrhundert abgelehnt hat – kommt die
                         Kernidee der Menschenrechte in der Rede von
                         der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen zum
                         Ausdruck.

                    AN DIESEM HEFT
                                           ✏    Julia Bähr, Karin Brandstötter, Nina Hechenberger Hannelore Kleiss, Sonja Kölich,
               MITGEARBEITET HABEN               Katharina Meichenitsch, Roberta Rastl, Christoph Riedl, Daniela Scharer, Sara
                                                 Scheiflinger, Martin Schenk

2   Themen
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INHALT

                                                                                                                                                   Inhalt
                                                                               4                                                                                          16
                              „Was bedeutet Freiheit für dich?“                                                            „In die Schule gehen kann jedeR!
              Freiheit bedeutet in der Regel für jeden etwas                                                               Es gibt ja das Recht auf Bildung.“
      anderes. Sechs Menschen berichten von ihrer Freiheit.                                        Stimmt’s? Mythen, Märchen und Pauschalansichten.

                                                                               6                                                                                           17
                                           Grundrechte oder Werte?                                                   Rechte zu schützen ist unser Auftrag
             Was ist von einer Wertedebatte zu halten, die                                                           Fachkommentar von Nina Hechenberger.
            Menschenrechte missachtet und Armut erhöht?
                                                                                                                                                                          18
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                                                                       Wissen
                                  Fachbegriffe zum Thema Rechte.                                                                                                          19
                                                                                                                                      Buchtipps | Best of EUrope
                                                                            10
                                „Rechtspopulisten haben einen                                                                                                             20
                                 engen Menschenrechtsbegriff“                                                                  „Jeder Mensch hat das Recht
                           Interview mit Prof. Wolfgang Benedek.                                                             auf ein faires Gerichtsverfahren“
                                                                                                   AsylwerberInnen benötigen eine Rechtsberatung und
                                                                            13                      eine Vertretung vor Gericht, die Partei für sie ergreift.
                                                                     Projekte
                       #QualifyForHope, Frauenberatungsstelle,                                                                                                             21
                         Integrationsklassen für die Oberstufe.                                                                                          Kurz gemeldet

                                                                            14                                                                                            22
                                  „Rechte sind auf der Welt sehr                                                               In einem Land vor unserer Zeit
                                        unterschiedlich verteilt“                                   „Die göttliche Ordnung“ erzählt im Kino vom späten
                                          Word-Rap mit Chris Lohner.                              Erwachen der Schweiz in Sachen Gleichberechtigung.

                                                                            15
                                                              Ich möchte ...                                            Spendenkonto Diakonie:
                            Zwei Frauen sprechen über ihr Leben,                                                    IBAN AT492011128711966399
                                      ihre Hoffnungen und Ziele.                                                             BIC GIBAATWWXXX

IMPRESSUM: Medieninhaber, Herausgeber und Redaktion: Diakonie Österreich, ZVR-Zahl: 023242603. Redaktion: Dr.in Roberta Rastl-Kircher (Leitung), Mag.a Katharina
Meichenitsch, Mag.a Sara Scheiflinger, Mag. Martin Schenk. Alle: 1090 Wien, Albert Schweitzer Haus, Schwarzspanierstraße 13. Tel.: (0)1 409 80 01, Fax: (01) 409 80 01-20,
E-Mail: diakonie@diakonie.at, Internet: www.diakonie.at. Verlagsort: Wien. Geschäftsführung Diakonie Österreich: Pfr.in Dr.in Maria Katharina Moser. Mag. Martin Schenk.
Grafik-Design: Info-Media Verlag für Informationsmedien GmbH/Evelyn Felber-Weninger, Volksgartenstraße 5, 1010 Wien. Druckerei: Druckerei Paul Gerin GmbH & Co KG,
Gerinstraße 1–3, 2120 Wolkersdorf.
Fotos: Cover: Diakonie/Lukas Plank; S. 2: Diakonie/Rainsborough; S. 3: Diakonie/Lukas Plank, Diakoniewerk Erdberg/Nadja Meister, AmberMed/Nadja Meister; S. 4–5: Diakonie;
S. 6–8: Diakonie/Lukas Plank; S. 9: iStockphoto.com; S. 10–12: Lena Prehal; S. 13: Nadja Meister. iStockphoto.com, QualifyForHope; S. 14: Bubu Dujmic, Inge Prader; S. 15: Diakonie;
S. 16: iStockphoto.com (2); S. 17: AmberMed/Nadja Meister (2), Julia Hager; S. 18: Diakonie/Lukas Plank, iStockphoto.com (2); S. 19: Chris Grodotzki/Sea-Watch.org; S. 20: Diakonie;
S. 21: Nadja Meister, Manfred Schusser, Florian Hoflehner; S. 22–23: Filmladen/AlamodeFilm.
Die Diakonische Information bringt Sachinformationen und Nachrichten zur Diakonie der Evangelischen Kirchen. Die gendersensible Schreibweise ist uns ein wichtiges Anliegen.
Der Bezug ist kostenlos. DVR: 041 8056 (201). Gedruckt nach der Richtlinie „Schadstoffarme Druckerzeugnisse des Öster­reichischen Umweltzeichens“.
Umweltzeichen (UWZ 756)

                                                                                                                                                                          Themen           3
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PORTRÄTS

                             Was bedeutet
                          Freiheit für dich?
                                         Freiheit wird als die Möglichkeit verstanden, ohne Zwang zwischen
                                    unterschiedlichen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können.
                                                                  Sie bedeutet aber für jeden etwas anderes.

      DOMINIK ALTURBAN
                                                                    „Für mich gehören Freiheit und Bildung untrennbar
                                                                     zusammen. Freiheit heißt deshalb für mich, Kinder und
                                                                     Jugendliche im Schulalltag zu unterstützen, ihre Freiheit
                                                                     leben zu können. Das gilt für alle Kinder, ungeachtet ihres
                                                                     sozialen und kulturellen Umfeldes. Diesem Grundsatz ver-
                                                                     suchen wir am ERG Donaustadt bestmöglich zu folgen,
                                                                     weshalb wir in Zusammenarbeit mit der Diakonie Bildung
                                                                     und der Bildungsdirektion Wien Inklusion auch in der
                                                                     Oberstufe möglich gemacht haben. Vom gemeinsamen
                                                                     bzw. gegenseitigen Lernen profitieren alle unsere Schüle-
                                                                     rinnen und Schüler am Evangelischen Realgymnasium.“

                                                                    Dominik Alturban hat seinen Zivildienst in der Hans Radl
                                                                    Schule in Wien absolviert, wo er Kinder und Jugendliche
                                                                    mit Behinderung während des Schulalltags unterstützt
                                                                    hat. Diese Erfahrung war ausschlaggebend dafür, dass er
                                                                    Sonderpädagoge wurde. Nach acht Schuljahren an einer
                                                                    Polytechnischen Schule wechselte er ans ERG Donau­
                                                                    stadt, eine Schule der Diakonie Bildung in Wien.

      CARMEN AICHERN
     „Freiheit ist für mich ein Zustand, in dem ich mich selbst-
      wirksam erlebe, Mut habe, meinen Träumen, Wünschen
      und dem in mir schlummernden Potenzial Raum zu geben.
      In Einrichtungen der Jugendhilfe, wo ich arbeite, fühlen
      sich Menschen oft ‚unfrei‘, fremd­bestimmt – gefangen und
      blockiert. Ein zentrales Thema in meiner Arbeit ist es, den
      Raum zu wahren, in dem sie selbst gestalterisch aktiv wer-
      den können. Es gilt, einen Rahmen zu schaffen, der Sicher-
      heit gibt, damit Jugendliche ihre eigene Identität zeigen
      und letztendlich leben können – auch wenn diese außer-
      halb des gesellschaftlich oder familiär ‚Zugeschriebenen‘
      oder ‚Erwünschten‘ liegt.“

      Carmen Aichern arbeitet seit 16 Jahren als Sozialpäda-
      gogin für das Diakonie Zentrum Spattstraße. Sie leitet die
      Einzelwohnbetreuung „Step-in“.

4   Themen
Themen Menschenrechte - Deine, meine, unsere - Diakonie Österreich
PORTRÄTS

MARTIN REIDINGER                                                  NAJMEH
                                „Freiheit bedeutet für mich,                                   „In Afghanistan haben Frau-
                                 wenn ich mein Leben nach                                       en viel weniger Rechte als
                                 meinen Vorstellungen ge-                                       in Österreich. Frauen müs-
                                 stalten und umsetzen kann.                                     sen das tun, was ein Mann
                                 Ein Leben in einer Einrich-                                    sagt. Weil wir im Iran keine
                                 tung wäre für mich nicht                                       Ausweise hatten, hatten wir
                                 (mehr) vorstellbar. Auch                                       dort auch keine Rechte. Wir
                                 empfinde ich mein Leben in                                     konnten nicht in die Schule
                                 einer eigenen Wohnung in                                       gehen. Wenn wir schlecht
                                 Linz als ein Stück Freiheit,                                   behandelt wurden, hat uns
                                 obwohl ich mich sonst eher                                     die Polizei nicht beschützt.
                                 als ‚Landei‘ oder ‚Land-                                       Freiheit bedeutet für mich,
mensch‘ beschreiben würde. Besonders wichtig zu erwäh-            dass ich selbst entscheiden kann, was ich mache. Ich
nen sind meine guten Freundinnen und Freunde, die mich            kann meine Meinung sagen, ohne Angst zu haben, dass
ermutigt und bestärkt haben auf meinem Weg in die Frei-           ich beschimpft oder geschlagen werde. Ich will als Frau
heit, die mir diese Freiheit zugetraut haben.“                    selbst wählen, mit wem ich zusammenlebe, welche Kleider
                                                                  ich anziehe, welchen Sport ich mache. Freiheit bedeutet
Der 41-jährige gebürtige Mühlviertler Martin Reidinger            für mich, selbst entscheiden zu können, was ich arbeiten
arbeitet seit Dezember 2015 als Peer-Berater im Diako-            werde.“
niewerk in Oberösterreich. Selbst körperlich beeinträch-
tigt, begleitet und unterstützt Reidinger Menschen mit            Najmeh ist 21 Jahre alt und stammt aus Afghanistan. Als
Behinderung.                                                      sie sieben war, wurde ihr Vater getötet. Mit ihrer Mutter
                                                                  flüchtete sie in den Iran. Seit drei Jahren lebt sie in Öster-
                                                                  reich und wohnt zusammen mit ihrer Schwester und
                                                                  ihrem Sohn in einem Wohnprojekt der Diakonie de La
                                                                  Tour in Villach.
JÜRGEN CEPLAK
                                 „Freiheit bedeutet für mich
                                  selbstständig und selbstbe-
                                  stimmt zu sein. Kunst be-
                                  deutet für mich Freude und      QELIA LAUGERTA
                                  Freiheit. Kunst ist das freie                                    „Schon nach wenigen
                                  Gestalten, viele Ideen künst-                                     Wochen in Österreich
                                  lerisch umzusetzen und                                            wurde mir klar, was
                                  ausdrücken zu können. Ich                                         Freiheit bedeutet, was
                                  liebe an der Kunst meine                                          es bedeutet, ein freier
                                  Freiheit. Ich kann zeichnen,                                      Mensch zu sein: Hier
                                  malen und Texte schreiben.                                        kann ich offen über
                                  Ich denke viel in meinen Bil-                                     meine Gefühle spre-
dern und schreibe meine Gedanken auf, dann fühle ich mich                                           chen. Auch ist es mir in
frei. Freiheit ist wie den Wind im Gesicht zu spüren, unendli-                                      Freiheit möglich, einen
che Freude, ein Gefühl wie das rauschende Meer. Freiheit ist                                        Mann zu lieben, den
Leben.“                                                                                             meine Familie nicht ak-
                                                                  zeptiert, und ein angstfreies Leben auch nach der Tren-
Der 51-jährige Jürgen Ceplak philosophiert gerne über             nung von ihm zu führen. Ich fühle mich als freier Mensch,
das Leben und die Dinge, die er um sich wahrnimmt. Er             lebe ohne Religionszugehörigkeit, kann mich nach mei-
textet und zeichnet im Atelier de La Tour in Treffen am           nem Geschmack kleiden und auch essen, was ich will –
Ossiacher See und ist dort zudem Werkstattsprecher. In            alles ohne Angst, dass mein Leben dabei in Gefahr ist.“
den letzten Jahren hat sich Ceplak vermehrt dem Zeich-
nen mit Tuschestift und dem „verlorenen Farbdruck“                Qelia Laugerta wurde 1998 in Albanien geboren und
gewidmet. In seinen Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit                  flüchtete im Dezember 2016 mit ihren Geschwistern und
Tuschestift erzeugt er im Nebeneinander von filigranen            ihrer Mutter nach Österreich. Sie lebte in einer Einrich-
Strichen und schwarzen Flächen Abwechslung und                    tung für Menschen auf der Flucht und engagiert sich
Spannung.                                                         ehrenamtlich im Haus für Senioren in Mauerkirchen.

                                                                                                                       Themen      5
Themen Menschenrechte - Deine, meine, unsere - Diakonie Österreich
Grundrechte
SCHWERPUNKT

                                                 oder Werte?

                       D           ie Menschenrechte sind ins Gerede
                                   gekommen: Immer kreativer wird
                                   versucht, immer größere Gruppen
                        von Menschen zu Menschen zweiter Klasse zu
                        machen. Weltweit, nicht nur in Österreich.
                                                                             Grundsätze, die über Jahrzehnte zu unserem
                                                                             festen Wertefundament gezählt haben, werden
                                                                             plötzlich in Frage gestellt. Gibt es eine Pflicht
                                                                             zur Rettung von Menschenleben? Auch für
                                                                             Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer in Seenot
                          „Die Menschenrechte sind derzeit bedroht           geraten? Dürfen Menschen in Länder abge-
                        wie noch nie seit 1945.“ Das sagt der renom-         schoben werden, in denen Bürgerkriege toben?
                        mierte Völkerrechtler Manfred Nowak. „Wir be-           Ein Widerspruch fällt in diesem Zusammen-
                        finden uns in der tiefsten Krise von Menschen-       hang besonders auf: Während Menschenrech-
                        rechten, Demokratie und Rechtsstaat seit dem         te im Kontext von Asyl zunehmend ausgehe-
                        Ende des Zweiten Weltkriegs“, so der langjäh-        belt werden und soziale Grundrechte bei den
                        rige Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für       ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung unter
                        Menschenrechte und ehemalige UN-Sonder-              Druck kommen, wird in fast jeder Diskussion,
                        berichterstatter für Folter weiter. Verletzt wor-    in beinahe jeder Rede, in jedem zweiten Zei-
                        den seien Menschenrechte auch schon in den           tungsartikel auf „unsere Werte“ gepocht. Im
                        vergangenen Jahrzehnten, „aber jetzt werden          gleichen Atemzug werden ethische und mora-
  „Grundsätze, die      sie zum Teil in ihrer Basis in Frage gestellt“,      lische Haltungen wie Empathie, Anerkennung
  über Jahrzehnte       warnt Nowak.                                         oder Gleichbehandlung diskreditiert, aber
zu unserem festen          Ähnlich formuliert es auch sein Kollege          „Werte“ eingefordert und hochgehalten.
  Wertefundament        Wolfgang Benedek, Völkerrechtsprofessor aus
                                                                            Eine irritierende Entwicklung
                        Graz (siehe Interview Seite 10): „Wir sind
    gezählt haben,      durchaus in einer Situation, in der Menschen-       Je mehr über Werte gesprochen wird, desto
  werden plötzlich      rechte international bedroht sind. Umso wich-       weniger scheinen verfassungsrechtlich veran-
 in Frage gestellt.“    tiger sind und werden sie!“                         kerte Menschenrechte eine Rolle zu spielen.
                           In Österreich wurde zuletzt durch kreative       Dabei war es doch immer genau umgekehrt:
                        Gesetzgebung versucht, verschiedene Bevöl-          Unsere wichtigsten Werte sind die unteilbaren
                        kerungsgruppen gegeneinander aufzubringen.          Menschenrechte.
                        Man denke an die „Sozialschmarotzer“-Debat-          „Die Werte, auf die sich die Union gründet,
                        te zur Mindestsicherung, die ständigen Ver-         sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit,
                        schärfungen im Asylrecht bis hin zur Umbe-          Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit
                        nennung      von     Erstaufnahmezentren      in    und die Wahrung der Menschenrechte ein-
                       „Ausreisezentren“ oder die Absenkung des             schließlich der Rechte der Personen, die Min-
                        Stundenlohns für Asylsuchende auf 1,50 Euro.        derheiten angehören. Diese Werte sind allen

6   Themen
Themen Menschenrechte - Deine, meine, unsere - Diakonie Österreich
SCHWERPUNKT

Was ist von einer Wertedebatte zu halten, die
Menschenrechte missachtet und Armut erhöht?
VON CHRISTOPH RIEDL UND MARTIN SCHENK

Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemein-      menschenrechtlich bedenkliche Gesetze be-
sam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskrimi-    schließen.
nierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität      2. Genau hinsehen: Die Existenzkürzungen be-
und die Gleichheit von Frauen und Männern          treffen in erster Linie Hiesige und schon längst
auszeichnet.“ (Artikel 2 des EU-Vertrags)          Dagewesene. Sie richten sich gegen Familien,
                                                   Alleinerziehende, PensionistInnen, Menschen
Kürzung der Mindestsicherung                       mit gesundheitlichen Problemen oder Behin-
                                                                                                          „Besonders
Der Verfassungsgerichtshof hat die Kürzung         derungen, gegen ArbeitnehmerInnen und Ar-
der Mindestsicherung in Niederösterreich auf-      beitssuchende gleichermaßen.
                                                                                                           unglaubwürdig
gehoben. Das Gesetz verfehle „seinen eigent­          Besonders unglaubwürdig machen sich die-             machen sich
lichen Zweck, nämlich die Vermeidung und           jenigen, die ständig von „Werten“ sprechen,             diejenigen, die
Bekämpfung von sozialen Notlagen bei hilfs-        aber den zentralen Wert der Menschenrechte              ständig von
bedürftigen Personen“, sagt der Verfassungs-       missachten. „Die Menschenrechte sind die
gerichtshof. Bekämpft werden nicht mehr die        Basis für eine friedliche, aber auch prosperie-
                                                                                                          ‚Werten‘ sprechen,
Ungerechtigkeit und die Armut, sondern immer       rende Gesellschaft, und Werte wie Frieden, To-          aber den zentralen
stärker die Armen und diejenigen, die sich auf     leranz, Menschenrechte und Demokratie sind              Wert der Menschen­
die Seite der Betroffenen stellen.                 es wert, gelebt zu werden“, wirbt Manfred No-           rechte missachten.“
   Die UN-Menschenrechtskommissarin Mi-            wak für eine stärkere Verankerung in unserem
chelle Bachelet zeigt sich in einem aktuellen      Bewusstsein.
Bericht über Österreich über den schwinden-           Die Regierenden zeigen auf „die Flüchtlinge“,
den Platz, den die Zusammenarbeit zwischen         die Bedingungen verschärfen sie aber für alle.
Regierung und zivilgesellschaftlichen Akteuren     Zu einem eleganten Trickdieb gehört ja auch
inzwischen einnimmt, sehr besorgt. Sie appel-      immer einer, der blendet und ablenkt, während
liert an Österreich, diese zu stärken und weiter   der andere die Brieftasche stiehlt. Die „Auslän-
auszubauen, anstatt sie einzuschränken.            der“ werden ins Spiel gebracht, weil die Regie-
                                                   renden sonst die Kürzungen nicht durchsetzen
Was wir daraus lernen sollten                      könnten. Das ist natürlich besonders perfide,
1. Verfassung und Menschenrechte sind nicht        wenn als Sündenböcke diejenigen ausgewählt
für „die anderen“, sondern für uns alle da. Als    werden, die am wehrlosesten sind.
unsere gemeinsamen Werte – gerade bei Min-
derheiten und Armutsbetroffenen. Daher sollte      Stigmatisierung ermöglicht Spaltung
gelten: nicht „schauen, was geht“ und sehen-       Mit ihrer Stigmatisierung lässt sich die Gesell-
den Auges verfassungsrechtlich und auch            schaft unter dem Gejohle der Boulevardmedien       u

                                                                                                                 Themen    7
Themen Menschenrechte - Deine, meine, unsere - Diakonie Österreich
SCHWERPUNKT

                        u   vortrefflich spalten. Eine gut inszenierte Neidde-   seine Finger gelegt. Viele der von der Troika in
                            batte lässt die eine marginalisierte Gruppe glau-    der Finanzkrise aufgezwungenen Maßnahmen
                            ben, die andere sei verantwortlich für die Kür-      in Griechenland oder Spanien stehen in klarem
                            zung des Überlebensnotwendigsten.                    Konflikt mit europäischem Recht, insbesondere
                                                                                 der Sozialcharta. Dazu gehören verschlechterte
                            Feindbild EU                                         medizinische Versorgung samt höherer Kinder-
                            Bei dieser Gelegenheit lässt sich gleich auch        sterblichkeit, das Schließen von Schulen oder
                            noch ein weiteres Feindbild bedienen: die EU.        der starke Rückbau des Lohntarifsystems.
                            Da die „Indexierung“ der Familienbeihilfe, die         Hätte es eine Bindung an die europäischen
                            hauptsächlich 24-Stunden-Betreuerinnen aus           Grundrechte gegeben, wären Mindestlöhne
                            Osteuropa trifft, genauso dem EU-Recht wider-        nicht eingefroren worden, Renten nicht unter die
                            spricht wie die Kürzungen der Sozialhilfe bei an-    Armutsgrenze gefallen, Unterkünfte bezahlbar
                            erkannten Flüchtlingen, kann nach der Verurtei-      geblieben und der Zugang zu wesentlichen me-
                            lung Österreichs wieder „die EU“ gegeißelt           dizinischen und pharmazeutischen Produkten
                            werden.                                              nicht eingeschränkt worden.
      „Im Reich der            Schuld an den Kürzungen ist dann die EU, die
    Zwecke hat alles        eine Diskriminierung von Ausländern nicht zu- Das Maß für Werte ist der Preis
                            lässt, und nicht die österreichische Politik, die  Wird über Werte gesprochen, um über Men-
     entweder einen         die Sozialleistungen nur senkt, um eine imagi- schenrechte zu schweigen? Es gibt Hinweise
     Preis oder eine        nierte Zuwanderung ins Sozialsystem zu unter- darauf. Der Begriff der Werte kommt nicht aus
             Würde.“        binden.                                            der Ethik, sondern aus der Ökonomie. Der Wert
        Immanuel Kant          Faktum aber ist: Keiner alten Frau, keinem      gibt das Gewicht an, das wir einem Gegenstand
                            Menschen mit Behinderung, keinem Niedrig- zuerkennen, wie wir ihn bewerten, mit wie viel
                            lohnbezieher geht es jetzt besser. Im Gegenteil. Geld wir ihn aufwiegen. Das übliche Maß für
                            Die Pläne zur Abschaffung der Notstandshilfe, Werte ist der Preis.
                            zur Streichung der Hilfen am Arbeitsmarkt oder       „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen
                            zu den Kürzungen für chronisch Kranke belas- Preis oder eine Würde“, formulierte der Königs-
                            ten gerade diejenigen, denen durch die Be- berger Philosoph Immanuel Kant. Und sein Wie-
                            schwörung des imaginierten Ausländer-Feind- ner Kollege Konrad Paul Liessmann ergänzt:
                            bildes Gerechtigkeit versprochen wurde.           „Die Suche nach Werten, die Frage, wo sich
                               Dabei sind die Asylantragszahlen derzeit auf Werte bilden, die Behauptung, es müsse eine
                            einem historischen Tiefststand angelangt und       Werterziehung geben, die Interpretation der
                            werden heuer mit rund 11.000 Anträgen viel- Menschenrechte als Werte, die ideologische
                            leicht den niedrigsten Wert seit über 20 Jahren    Rede von Wertgemeinschaften: All das deutet
                            erreichen.                                         an, dass man an der Würde des Menschen kein
                               Was ist von einer Wertedebatte zu halten, die   Interesse mehr hat, sondern im Begriff ist, seine
                            Menschenrechte missachtet und Armut erhöht? Präferenzen und die zugrunde liegenden zweck-
                            In diese Wunde hat auch das Europaparlament orientierten Wertmaßstäbe durchzusetzen.“

8   Themen
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WISSEN

  I S S EN
W

 gBürgerliche und politische Rechte                              und Recht auf Bildung sorgen wir uns nicht“ – solche
 Sie beinhalten die Abwehrrechte des Individuums gegen            „Deals“ widersprechen dem Geist der Menschenrechts-
 den Staat. Sie sollen Freiräume für das Individuum garan-        konvention.
 tieren und im Falle einer Inhaftierung die Integrität der Per-
 son und ein faires Gerichtsverfahren sichern. Hier geht es       gDie Menschenrechtsdokumente
 um das Diskriminierungsverbot, das Recht auf Leben, das          Neben der „Universellen Erklärung der Menschenrechte“
 Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung,             gibt es folgende Menschenrechtsdokumente, die für alle
 das Verbot der Sklaverei, die Gedanken- und Religions-           Staaten, die ihnen beigetreten sind, völkerrechtlich ver-
 freiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung, die Vereini-        bindlich sind.
 gungs- und Versammlungsfreiheit, den Schutz der Privat-          Dazu gehören:
 sphäre und des Familienlebens, das Recht auf ein faires          • der Sozialpakt (Internationaler Pakt über
 Gerichtsverfahren.                                                 wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte)
                                                                  • der Zivilpakt (Internationaler Pakt über bürgerliche
 gSoziale Rechte                                                   und politische Rechte)
 Die sozialen Menschenrechte sollen das Individuum vor            • die Rassendiskriminierungskonvention
 Ausbeutung schützen und ihm das Recht auf Teilhabe am            • die Frauenrechtskonvention
 gesellschaftlichen Reichtum garantieren. Sie decken die          • die Antifolterkonvention
 Ansprüche des Individuums auf Nahrung, Obdach, Ge-               • die Kinderrechtskonvention
 sundheitsversorgung, Bildung und soziale Sicherheit ab.          • die Wanderarbeiterkonvention
 Auf internationaler Ebene sind die Sozialrechte zuerst           • die Behindertenrechtskonvention
 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,            • die Konvention gegen Verschwindenlassen
 dann verbindlicher 1960 in der Europäischen Sozialcharta         • Die Völkermordkonvention
 und 1966 im Internationalen Pakt über wirtschaftliche,           und
 soziale und kulturelle Rechte festgeschrieben worden.            • die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK):
                                                                    vom Europarat 1950 als „Konvention zum Schutz der
 gAlle Menschenrechte für alle                                     Menschenrechte und Grundfreiheiten“ beschlossen.
 Die große Menschenrechts-Weltkonferenz der UNO 1993                Damit wurde in Europa ein völkerrechtlich verbindlicher
 in Wien hat die Verwobenheit der Menschenrechte unter-             Menschenrechtsschutz geschaffen. Die Rechte der
 einander und miteinander betont. „Ihr bekommt ein Dach             EMRK können beim Europäischen Gerichtshof für
 über den Kopf, dafür gibt es keine Redefreiheit“ oder „Ihr         Menschenrechte in Straßburg von jeder Person
 habt ein Recht auf Privatsphäre, aber um gute Schulen              eingeklagt werden.

                                                                                                                      Themen       9
Themen Menschenrechte - Deine, meine, unsere - Diakonie Österreich
INTERVIEW

               „Rechtspopulisten
                haben einen engen
              Menschenrechtsbegriff“
                 EIN INTERVIEW MIT PROF. WOLFGANG BENEDEK

10   Themen
INTERVIEW

 ? Herr Prof. Benedek, sind Menschenrech-             onen und UNHCR als so gefährlich wie nie-
te noch zeitgemäß? Für wen sind Menschen-             mals zuvor eingeschätzt wird und dennoch
rechte eigentlich da?                                 die Schutzquote in Österreich kontinuierlich
Wolfgang Benedek: Menschenrechte sind für             sinkt?
alle Menschen da, und besonders wichtig sind          Das ist politisch bedingt. Regierungen haben
sie für „vulnerable people“, also solche Perso-       Angst, dass die Rechtspopulisten profitieren
nen, die besonders verletzlich sind. Wir sind         könnten, also schiebt man lieber selbst ab, da-
durchaus in einer Situation, in der Menschen-         mit der Druck von rechts nachlässt. Die Asylsu-
rechte international bedroht sind. Umso wichti-       chenden aus Afghanistan
ger sind und werden sie.                              sind, wenn man es zy-
                                                      nisch formulieren will, be-
 ? Sind Menschenrechte in Gefahr, zum                 sonders geeignet, die
Spielball der Politik zu werden?                      Ängste in der Bevölke-
Menschenrechte sind zu oft Spielball der Politik.     rung zu bedienen.
Es ist bei Rechtspopulisten üblich – und das
sollte einen gar nicht überraschen –, dass diese       ? Nur ein österreichi-
einen engeren Menschenrechtsbegriff haben.            sches oder doch ein eu-
Es sind aber heute zunehmend mehr Menschen            ropäisches Phänomen?
in verletzlichen Lebenssituationen und deshalb        Die Situation ist in Europa
ist auch die Notwendigkeit und Bedeutung der          sehr unterschiedlich. Es
Menschenrechte gestiegen.                             gibt Länder in Europa, die
                                                      gar niemanden nach Af-
 ? Gibt es eine völkerrechtliche Verpflich-           ghanistan      zurückschie-
tung zur Seenotrettung?                               ben, weil sie das als Ver-
Die gibt es eindeutig. Insbesondere nach der          stoß gegen das Non-Refoulement-Gebot                     Wolfgang Benedek im
                                                                                                               Gespräch mit Christoph Riedl
Seerechtskonvention. Wenn ein Schiff Schiff-          (Rückschiebeverbot) erachten. Dazu kommt,
brüchigen begegnet, besteht eine völkerrecht­         dass die EU viel Geld in ein Abkommen mit Af-
liche Verpflichtung zur Rettung. Die EU hat mit       ghanistan gesteckt hat und dafür eine Gegen-
Unterstützung Italiens sehr viel Geld in die          leistung erwartet. Dabei will man nicht wahrneh-
Schulung und den Aufbau der libyschen Küs-            men, wie schlecht die Situation in Afghanistan
tenwache investiert. Inzwischen ist aber nicht        inzwischen geworden ist.
nur bekannt geworden, was in den Flüchtlings-
lagern dort passiert, sondern auch, dass das           ? Gibt es eine Wertigkeit der Menschen-
Land immer mehr im Bürgerkrieg versinkt.              rechte oder sind sie gleichrangig? Sprich:
                                                      Steht das Fremdenrecht über dem Recht auf
 ? Was macht das mit der Verpflichtung, Ge-           Privat- und Familienleben?
rettete in einen sicheren Hafen bringen zu            Grundsätzlich sind alle Menschenrechte gleich-
müssen?                                               rangig. Das Fremdenrecht ist ja kein Rechtsbe-
Es gibt kaum noch jemanden, der behaupten             reich der Menschenrechte. Die Europäische
würde, Gerettete nach Libyen zurückzubringen,         Menschenrechtskonvention (EMRK) steht in Ös-
würde die völkerrechtliche Verpflichtung zur Ver-     terreich im Verfassungsrang und steht über dem
bringung in einen sicheren Hafen erfüllen. Das        Asyl- und Fremdenrecht. Das Recht auf Famili-
ist eigentlich ausgeschlossen. Dennoch ver-           en- und Privatleben steht von der Rangordnung
sucht Italien, diese Fiktion aufrechtzuerhalten,      über dem einfachgesetzlichen Recht des Asyl-
und deshalb wird Italien auch als Völkerrechts-       rechts.
verletzer an den Pranger gestellt. Es ist das
Recht von privaten Rettungsschiffen, völker-           ? Warum können dann Musterbeispiele an
rechtswidrige Anweisungen aus Italien zu igno-        Integration abgeschoben werden, bevor ihre
rieren. Die EU rutscht nach der Einstellung der       Bleiberechtsverfahren rechtskräftig ent-
eigenen Seenotrettungsmission auf Betreiben           schieden sind?
Italiens in eine Situation, wo sie sich der Kompli-   Die Gerichte haben hier der Exekutive relativ viel
zenschaft der Völkerrechtsverletzung schuldig         Spielraum gelassen. Es ist aber entweder eine
macht, und wird dafür zu Recht kritisiert.            Gesetzeslücke oder ein Widerspruch in der
                                                      Rechtssystematik, wenn jemand abgeschoben
 ? Wie erklären Sie sich, dass die Lage in            werden kann, bevor die Berufungsverhandlung
Afghanistan von Menschenrechtsorganisati-             überhaupt stattgefunden hat.                         u

                                                                                                                       Themen         11
INTERVIEW

                                                                                 ? Wie könnte man das Problem lösen?
                                                                                Man braucht Lösungen, die für alle akzeptabel
                                                                                sind. Ich plädiere hier für einen finanziellen Aus-
                                                                                gleich. Wenn Ungarn keine muslimischen und
                                                                                Polen überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen
                                                                                will, dann sollen sie zahlen. Die Aufnahme eines
                                                                                Flüchtlings sollte allerdings finanziell so attraktiv
                                                                                gemacht werden, dass es sich auszahlt für den
                                                                                Aufnahmestaat. Der EU-Vertrag ist voll mit Soli-
                                                                                daritätsklauseln, die nicht eingehalten werden.
                                                                                Vielleicht könnte über diesen Weg etwas erreicht
                                                                                werden.

                                                                                 ? Welche menschenrechtlichen Hindernis-
                                                                                se bestehen bei der Durchführung von Asyl-
                                                                                verfahren außerhalb Europas?
                                                                                Die Chancen, dass das funktionieren kann, sind
                                                                                äußerst gering. Es gibt natürlich schon Externa-
                                                                                lisierungen, die sinnvoll sind. Wenn die Türkei
                                                                                Zahlungen aus Europa erhält und damit Flücht-
                        u    ? Muss die Rechtsvertretung im Asylverfah-         linge versorgt, spricht nichts dagegen. Die Tür-
                            ren unabhängig sein oder kann das auch              kei dafür allerdings zum sicheren Drittland zu
                            durch das Innenministerium wie geplant in           erklären, war ein peinlicher rechtlicher Ausrut-
„Ich bin überzeugt,         einer „Bundesagentur“ organisiert werden?           scher der EU. Da ist man an die Grenzen der
                            Man kann nicht von vornherein sagen, dass es        Biegsamkeit des Rechts gegangen. Offensicht-
dass wir in Europa          absolut völkerrechtswidrig ist, wenn Rechtsbe-      lich war der Druck hier sehr groß.
 ein gemeinsames            ratung staatlich organisiert ist. Die Unabhängig-
   Asylsystem mit           keit der Rechtsberatung ist jedoch zu gewähr-        ? Ist aus menschenrechtlicher Sicht der
   harmonisierten           leisten. Und da kommt es dann stark auf die         freie Zugang für Asylsuchende zur Zivilge-
                            Umstände an, wie das organisiert wird. Ich teile    sellschaft nötig oder kann der Kontakt auch
      Bedingungen
                            die Befürchtung, dass die Unabhängigkeit in ei-     unterbunden werden?
         brauchen.“         ner Bundesagentur leiden wird. Wenn die             Man findet natürlich kein Menschenrecht, in
     Wolfgang Benedek       Rechtsberatung eine Vertretung auf Wunsch ei-       dem die Funktion der Zivilgesellschaft verankert
                            nes Klienten bzw. einer Klientin verweigern wür-    wäre. Man kann aber sagen, dass sowohl die
                            de, wäre das nicht mehr durch die EU-Richtlinie     europäische Praxis als auch die österreichische
                            gedeckt. Die Rechtsberatung muss eine Vertre-       Praxis als auch die UNO bisher die Bedeutung
                            tung inkludieren. Die Entscheidung darüber, ob      der Zivilgesellschaft sehr hoch angesetzt haben.
                            eine Beschwerde eingebracht wird, liegt beim        Das heißt, alle relevanten Akteure haben immer
                            Mandanten oder der Mandantin und nicht bei          wieder bekräftigt, wie wichtig es ist, dass die Zi-
                            der Rechtsberatung.                                 vilgesellschaft in diesem Bereich eine Rolle als
                                                                                wichtiger Akteur spielen kann.
                             ? Brauchen wir ein gemeinsames europäi-
                            sches Asylsystem?                                    ? Wie wichtig ist die Watchdog-Funktion
                            Ich bin überzeugt, dass wir in Europa ein ge-       der NGOs für die Wahrung der Menschen-
                            meinsames Asylsystem mit harmonisierten Be-         rechte?
                            dingungen brauchen. Wir haben jedoch gerade         Ich selbst war zehn Jahre lang als Vertreter der
                            einen Trend zur Resouveränisierung (also die        Caritas im Menschenrechtsbeirat tätig, der je
                            Tendenz, dass die Nationalstaaten immer mehr        zur Hälfte aus Vertreterinnen und Vertretern der
                            politische Entscheidungen auf nationaler Ebene      Regierung und der Zivilgesellschaft bestand.
                            treffen wollen), der dem entgegenläuft. Aber ge-    Damit wird anerkannt, dass die Zivilgesellschaft
                            rade im Zusammenhang mit dem Asylrecht              eine wichtige Rolle hat. In diesem Kontext ist die
                            braucht es die europäische Ebene. Wir haben         Rolle der Zivilgesellschaft anerkannt, in anderen
                            das Dilemma, dass einige Staaten sich aufgrund      Kontexten wird versucht, die Rolle der Zivilge-
                            ihres innenpolitischen Kalküls europäischen         sellschaft zu reduzieren, weil man sie als Gegner
                            Lösungen widersetzen und damit auch durch-          seiner politischen Ziele betrachtet. Dagegen
                            kommen.                                             muss man ankämpfen!

12   Themen
PROJEKTE

#QualifyForHope
Basisbildung, Allgemeinbildung sowie
Persönlichkeitsbildung für junge Menschen.

J   ugendliche, speziell Mädchen und junge Frauen mit Mi-
    grationshintergrund, benötigen Unterstützung bei der
Heranführung an das österreichische (Aus-)Bildungssys-
tem und den Arbeitsmarkt. „Qualify For Hope“ bietet ihnen
die Möglichkeit, ihre schulischen Fertigkeiten und Kompe-
tenzen selbst zu erarbeiten. Ziel ist es, dass sie sich in der
Lage sehen, ihr Leben in Zukunft selbst zu gestalten. Die
jungen Frauen können Berufsorientierung, Coaching, Be-
ratung und Training in Anspruch nehmen. So gelingt ihnen
der Einstieg ins weiterführende Ausbildungssystem oder
ins Berufsleben.

 www.qualifyforhope.at                                              Für einen gelungenen Einstieg in Ausbildung oder Berufsleben

Frauenberatungsstelle                                              Vorzeigeprojekt
Unterstützung für Frauen mit Fluchterfahrung.                      Integrationsklassen für die Oberstufe.

                                       F      rauen, die mit ih-
                                              ren Kindern, der
                                          ganzen Familie oder
                                                                                                     I ntegrationsklassen sind
                                                                                                       ein bedeutender Schritt
                                                                                                     in Richtung Inklusion und
                                          auch alleine auf der                                       Integration. Allerdings ist
                                          Flucht nach Öster-                                         es damit meist nach dem
                                          reich kommen, brau-                                        Ende der Schulpflicht
                                          chen     Orientierung                                      vorbei, denn diese Klas-
                                          und Unterstützung                                          sen werden nur bis zur
                                          bei vielen Themen.                                         9. Schulstufe geführt. Das
                                          Die offene Frauen­        bedeutet für Schüler/innen mit Lernschwäche, die eine in-
                                          beratung macht es         klusive Unterstufe besuchen konnten, das Ende ihre schu-
                                          möglich, dass indivi-     lischen Bildung mit 15 Jahren.
                                          duell auf diese Frau-        Im Realgymnasium der Diakonie in Wien-Donaustadt
                                          en und ihre Anliegen      können Kinder und Jugendliche mit Behinderungen die
                                          eingegangen werden        Oberstufe im Klassenverband weiter besuchen, und wer-
  Hilfe für Frauen mit dem
  komplexen Verwaltungsapparat            kann. In Österreich       den – wenn möglich – nach dem Lehrplan des Oberstufen­-
                                          werden die Frauen        -realgymnasiums unterrichtet. „In der Volksschule hatte
etwa mit einem komplexen Verwaltungsapparat konfron-                ich keine gute Zeit. Aber hier wird auf alle Rücksicht ge-
tiert und müssen unterschiedliche, für sie schwer ver-              nommen, da hat das Lernen sogar angefangen, Spaß zu
ständliche Formulare ausfüllen. „Im Mittelpunkt steht meist         machen.“ Maya geht in die 6. Klasse. Sie hat Dyskalkulie
der Spracherwerb. Aber auch das Interesse an unserem                und hat auch die Unterstufe in der Integrationsklasse be-
Schulsystem ist groß“, betont Birgit Koller, Leiterin der           sucht. Im Klassenverband fühlt sie sich sehr wohl. Und so
Frauenberatungsstelle. „Es ist für die Frauen zum Beispiel          geht es auch ihrem Klassenkollegen Moritz, der kein Inte-
nicht leicht, für ihre Kinder die richtige Schulform zu finden,     grationsschüler ist und die I-Klasse sehr gerne besucht:
weil es schon schwer genug ist, das Schulsystem zu                 „Wenn ich Unterstützung brauche, bekomme ich sie auch
durchblicken. Genauso wie das Gesundheitssystem, das               – das ist schon super. Sonst gibt es kaum Unterschiede zu
System der Berufsausbildungen etc.“, so die Beraterin.              den ‚normalen‘ Klassen, die ich früher besucht habe. Oder
Hier bekommen die Frauen jetzt Unterstützung.                       doch – die Leute in meiner Klasse sind sehr hilfsbereit und
                                                                    unterstützend.“
 https://fluechtlingsdienst.diakonie.at/einrichtung/
 frauenberatung-wien                                                www.erg-donaustadt.at

                                                                                                                        Themen     13
WORD-RAP

WORD
     RAP
   MIT CHRIS LOHNER

                                      „Rechte sind auf der Welt
                                     sehr unterschiedlich verteilt“
                                                                      FREIHEIT       VISION
                                  ... ist durchaus ein dehnbarer Begriff, weil er    Ich wünsche mir eine Welt, in der es
                                   immer auch mal jemand anderen ein wenig,          irgendwann nirgends mehr kriegerische
                                  auch durchaus liebevoll, einschränken kann.        Auseinandersetzungen gibt.

                                                                   GLEICHHEIT        LUXUS
  CHRIS LOHNER wurde am
        10. Juli 1943 in Wien     ... bedeutet für mich, mit anderen Menschen        ... sind für mich alle Dinge, die man nicht
    geboren. Ihr Schauspiel­        respektvoll umzugehen, egal woher jemand          kaufen kann.
     studium finanzierte sie                kommt, was er ist und was er kann.
          sich als Fotomodell.                                                       SCHÖNSTER ERFOLG
   Regisseur Georg Lhotzky,         BRÜDERLICHKEIT (ODER NATÜRLICH
 der sie in einem Werbespot                                                          ... bedeutet für mich, immer noch da zu sein,
 sah, holte sie dann für ihre       SCHWESTERLICHKEIT ODER BEIDES)                    mich am Leben zu erfreuen, und das gesund
           erste Fernsehrolle    ... heißt für mich mit anderen teilen, verstehen,    und munter, mit einem wachen und kritischen
               in einem Krimi.         annehmen, geben und nehmen und auch            und neugierigen Geist.
 1973 hatte sie ihren ersten                                         respektieren.
        Auftritt als Fernseh­                                                        ERSTREBENSWERT
  sprecherin beim ORF. Eine                                            RECHTE        ... ist es, seine Mitte zu finden.
 „Beziehung“, die 30 Jahre
                halten sollte.      ... sind auf dieser Welt sehr unterschiedlich
                                  verteilt, werden auch unterschiedlich wahrge-      LEBENSMOTTO
      Mittlerweile ist sie als
                                   nommen und unterschiedlich verteidigt oder        Jeder Tag ist kostbar, daher auch jeden Tag
Journalistin, Schauspielerin,
Buchautorin und Moderatorin          auch gar nicht. Da gibt es noch viel zu tun.    genießen und ihn sinnvoll erfüllen.
         im Einsatz und seit
      Jahrzehnten auch die                                         VORBILDER         ZUSAMMENLEBEN
  Stimme der ÖBB auf allen                                     ... habe ich keine.   ... egal in welcher Formation, ist eine der
     Bahnhöfen Österreichs.
                                                                                      schwierigen Aufgaben im Leben. Funktioniert
                                                                ENTBEHRLICH           im besten Fall mit Verständnis, Empathie,
                                 Streitereien, schlechte Manieren und liebloser       Geduld, Liebe und Achtung.
                                       Umgang mit allen lebenden Geschöpfen.

14   Themen
DIAKONIE WÖRTLICH

„Ich bin froh, selbstständig zu sein“

Irene Friedl                                                                     Was ich gut kann, ist Becherguglhupf
Ich bin jetzt selbstständig und wohne                                            backen. Einmal wollte ich mir Honig-
allein. Zuerst habe ich mit zwei weiteren                                        milch machen und dann hab ich überse-
Damen in einer Frauen-WG gewohnt.                                                hen, dass ich beim Herd bleiben muss.
Jetzt wohne ich in einer eigenen Woh-                                            Und dann hatte ich richtig Panik. Da
nung in „LeNa“, das ist die „Lebendige                                           brauch ich dann Hilfe.
Nachbarschaft“, die gehört zur Diakonie.
                                                                                Ich hab auch eine Assistentin, die mir
Ich bin froh, dass ich selbständig lebe.                                        hilft mit Banksachen, mit Arztsachen
Ich bekomme öfter Besuch in meiner                                              und beim Gewand-Einkaufen und so.
Wohnung von meiner leiblichen Mutter,                                           Wenn ich Schwierigkeiten hab, dann hilft
von den Pflegeeltern. Besonders schön                                           mir in der Arbeit oft die Psychologin.
ist beim Selbstständig-Leben, dass man seine Ruh hat,          Und da, wo ich wohne, gibt es zwei Frauen, die auch hel-
wenn man heimkommt. Manchmal muss ich auch mit aller-          fen können, wenn notwendig. Ich kann mit ihnen reden,
hand Sachen zurechtkommen. Zum Beispiel, wenn es               wenn ich mit den Nachbarn nicht ganz zurechtkomm.
Schwierigkeiten mit den Nachbarn gibt.                         Dann reden die mit den Nachbarn.

„Ich möchte erfolgreich sein“
Sofia Lavvaf
Ich komme aus dem Iran, bin seit sechs Jahren in
Österreich und wohne in St. Pölten. Zurzeit gehe ich in die
HAK. Ich habe momentan keine Zeit für andere Dinge als
für die Schule, die verlangt viel von mir. Und am Wochen-
ende arbeite ich.

Ich musste mit dem Sport aufhören, weil ich im Sommer
gearbeitet habe, und jetzt muss ich viel lernen. Ich habe es
einfach nicht so leicht wie österreichische Kinder. Ich muss
immer viermal so viel lernen. Die müssen gar nicht so viel     Vielleicht passiert so etwas nicht nur Ausländern. Vielleicht
lernen. Es werden einfach Unterschiede gemacht.                passiert es auch Österreichern. Aber ich denke, das kommt
                                                               eher selten vor. Wenn sich die Eltern um ihr Kind nicht
In der NMS waren viele, die keine Österreicherinnen und        kümmern, es viel auf der Straße ist, es nicht so gut aufge-
Österreicher sind. Aber ich und ein anderer Junge waren        hoben ist, da kann das auch passieren. Aber mit normalen
die einzigen, die nicht hier geboren sind. Der andere Junge    Kindern wird das nie passieren. Oder auch mit solchen, die
war aus Ungarn und er konnte das Alphabet. Mein Start          schon länger da sind, wird das sicher nicht passieren.
war schon schwieriger. Es gab Situationen, da hat die gan-
ze Klasse und auch die Lehrerin über mich gelacht. Und         Aber auch wenn ich es nicht ganz leicht habe – ich hab ein
dann wurden meine Noten immer schlechter.                      Ziel, nämlich Erfolg zu haben, und ich werde es erreichen.

                                                                                                                 Themen        15
STIMMT’S?

                                                       In die Schule
                                                       gehen kann jedeR!
                                                       Es gibt ja das Recht
                                                       auf Bildung.
                    Vom Recht in der Theorie – zum Ausschluss in der Praxis.

                    D
              VON
SARA SCHEIFLINGER               ie Schule beginnt für Tausende Schü-      pen und Stufen, die einen Ausschluss für viele
                                lerinnen und Schüler in Österreich        Personen (z. B. Rollstuhlfahrer/innen) darstellen,
                                wieder im September. Wenig Beach-         gibt es eine Reihe anderer Barrieren, die die Zu-
                    tung finden dabei jene, für die es nicht so selbst-   gänglichkeit beeinflussen und auch einschrän-
                    verständlich ist, in die Schule zu gehen. Jene,       ken:
                    die keinen Schulplatz erhalten, oder jene, die        • Altersgrenzen (Stichwort: schulpflichtiges Alter)
                    nicht den Bildungsweg gehen können, den sie           • Schulen oder Kindergärten, für die (viel) be-
                    gehen wollten oder könnten: Kinder und Ju-              zahlt werden muss
                    gendliche mit Fluchterfahrung, mit Behinderung,       • Der Wohnort hat einen großen Einfluss.
                    mit chronischer Krankheit, Kinder und Jugendli-       • Mobilität & ihre Leistbarkeit
                    che, die aus Familien mit niedrigen Einkommen         • Die finanziellen Mittel generell: Schulausflüge,
                    oder einem sozial benachteiligten Umfeld stam-          Materialien, Geschenke für Geburtstage sind
                    men.                                                    keine Kleinigkeit für Familien mit niedrigen Ein-
                       Trotz österreichweiter Schulpflicht und trotz        kommen.
                    Artikel 26 der Erklärung der Menschenrechte,             Angemessenheit bezieht sich wiederum auf
                    wo das Recht auf Bildung als ein Menschen-            die Form und den Inhalt der Bildung. Hier geht
                    recht definiert wurde, können viele dieser Kinder     es auch um Methodik und Didaktik und die indi-
                    nicht den Bildungsweg einschlagen, den sie von        viduelle Förderung der Entwicklung von Kindern
                    ihrem Talent her gehen könnten. Denn der Weg          und Jugendlichen.
                    von der Absichtserklärung zur konkreten Mög-             Adaptierbarkeit bedeutet, dass sich Schule
                    lichkeit für alle, die Schule zu besuchen, ist auch   und Bildung an die Erfordernisse sich verän-
                    heute noch lang und teils holprig.                    dernder Gesellschaften anpassen sollten – und
                                                                          nicht etwa umgekehrt: Das heißt, Kinder und Ju-
                    Bildung muss zugänglich sein                          gendliche sollen nicht für die existierenden
                           Ein europäisches Komitee, das sich mit         Strukturen im Bildungswesen „passend“ ge-
                           ökonomischen, sozialen und kulturellen         macht werden, sondern ein Bildungssystem
                           Rechten befasst, hat vier Dimensionen          muss sich mit den Schüler/innen (mit)ändern.
                           festgehalten, die entscheidend dafür              Dies alles zeigt, dass ein Recht auf Bildung in
                           sind, ob Bildung tatsächlich für jeden         der Theorie oft noch keine bietet, diese in der
                           möglich ist: Bildung muss verfügbar, zu-       Praxis zu erhalten.
                           gänglich, annehmbar und adaptierbar
                           sein.                                          Brücke zwischen Recht und Praxis
                              Die Verfügbarkeit ist wohl am leich-        Wie könnte diese Brücke zwischen Recht und
                           testen zu prüfen: Ist eine Schule, ein Kin-    Praxis gebaut werden? Gelebte Inklusion könn-
                           dergarten vorhanden und funktionsfähig         te eine Antwort sein. Ein inklusives Bildungssys-
                           – ja oder nein?                                tem bietet allen Kindern und jungen Menschen
                              Beim Thema Zugänglichkeit wird es           die Möglichkeit, gemeinsam zu lernen. Wenn wir
                           schon komplexer. Wann kann man davon           Rahmenbedingungen für ein solches inklusives
                           sprechen, dass Bildung wirklich zugäng-        und solidarisches „Wir“ schaffen, wäre das ein
                           lich ist – in mehrfachem Sinne? Neben          guter Anfang. Dann könnten wir wirklich sagen:
                           physischen Barrieren wie Eingangstrep-         „In die Schule gehen kann echt jedeR.“

16   Themen
FACHKOMMENTAR

Rechte zu schützen
ist unser Auftrag
I   n der humanitären Hilfe gilt das Hauptaugen-
    merk der raschen und bedingungslosen Hil-
    fe für Menschen, die von Katastrophen be-
troffen sind. Naturkatastrophen wie Erdbeben,
Tsunamis und extreme Dürren, aber auch krie-
                                                   Besonders schlimm aber trifft es Menschen mit
                                                   Behinderung, wenn sie auf der Flucht sind. In
                                                   den Aufnahmeländern sind sie oft aufgrund von
                                                   fehlenden Versicherungen von medizinischen
                                                   Leistungen ausgeschlossen. Auch in Flücht-
gerische Auseinandersetzungen und Vertreibun-      lingslagern in den angrenzenden Nachbarstaa-
gen sind Bereiche, in denen die Diakonie Katas-    ten wird oft auf die Bedürfnisse von Menschen
trophenhilfe tätig wird. Hautfarbe, Religion,      mit Behinderung vergessen.
Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Alter
spielen für uns keine Rolle: Wir helfen da, wo     Menschen auf der Flucht
                                                                                                      MAG.A NINA HECHENBERGER
die Not am größten ist – und das seit nunmehr      Das führt dazu, dass zum Beispiel Kinder, die      ist seit über zehn Jahren
50 Jahren.                                         lediglich eine Sehschwäche haben, den Anfor-       in den verschiedensten
   Die Verständigung auf gemeinsam gültige         derungen in der Schule nicht gerecht werden.       Bereichen der Entwick­
Rechtsnormen führt im täglichen Tun unwillkür-     Wie auch, können sie doch die geschriebenen        lungszusammenarbeit sowie
                                                                                                      der Katastrophenhilfe tätig.
lich zum Thema Menschenrechte. Oft wird der        Buchstaben an der Tafel gar nicht erst lesen und
                                                                                                      Seit September 2018 leitet
nur scheinbar universell gültige Rechtsanspruch    dementsprechend dem Unterricht nur schwer          sie die Diakonie Katastro­
jedoch nicht eingehalten. Zum Beispiel wird        oder gar nicht folgen.                             phenhilfe und „Brot für die
Menschen mit Behinderung ihr Zugang zu den           Hier hilft die Diakonie Katastrophenhilfe mit    Welt“ in Österreich.
Menschenrechten erschwert, wenn nicht gar          unseren Partnerorganisationen vor Ort. Wir ma-
ganz verwehrt – das Recht auf Bildung etwa,        chen auf die Anliegen der Menschen mit Behin-
das vielen Kindern mit Behinderung nicht zuge-     derung aufmerksam und sorgen dafür, dass ihre
standen wird.                                      Stimme Gehör findet. Wir suchen Expertinnen
                                                   und Experten vor Ort, die Hör- und Sehtests
Nicht selbstverständliche Hilfe                    durchführen und sich anschließend um die An-
Für uns sind es kleine Dinge, die diesen Zugang    fertigung sowie das individuelle Anpassen der
ermöglichen können und den Betroffenen hel-        Hör- bzw. Sehbehelfe kümmern.
fen, ihr Leben zu normalisieren. Hörgeräte oder
Brillen zum Beispiel. In „unserer Welt“ ist es     Der Mensch im Mittelpunkt
ganz normal: Wenn man schlecht sieht oder          Neben all dem technischen Know-how geht es
schlecht hört, geht man zum Arzt bzw. zur Ärztin   vor allem um den jeweiligen Menschen und das
und lässt sich Brillen oder ein Hörgerät ver-      Ernstnehmen seiner Bedürfnisse. Denn die Wür-
schreiben. Dann wird das Behelfsmittel individu-   de des Menschen ist unantastbar. Seine Rechte
ell angepasst und „die Schwäche“ behoben.          zu schützen ist unser Auftrag – den Zugang zu
   In vielen Gegenden der Welt ist das so nicht    diesen Rechten zu gewährleisten ist unsere
möglich. Selbst wenn die technischen Möglich-      Pflicht.					                                
keiten vorhanden sind, stellt eine Beeinträchti-
gung oft eine so große finanzielle Hürde dar,
                                                   www.hilftvorort.at
dass sie gar nicht erst behoben wird.

                                                                                                               Themen         17
ZAHLEN

Die Welt in Zahlen
Wahlrecht für Menschen
mit Behinderung
In Europa werden 800.000
                                                                    Kinder haben ein
Menschen mit Behinderung
durch diverse Barrieren bei der
                                                                    Recht auf Bildung
Ausübung ihres Wahlrechts
behindert.
                                                                    60 Mio. Kinder (6 bis 10 Jahre)
                                                                    werden 2030 nicht in die
                                                                    Schule gehen.

Recht auf Schutz vor Krieg
und Verfolgung
       Flüchtlinge

1998         35 Mio.
2018        70,8 Mio.

                                    Davon   3,5 Mio. Asylsuchende   Recht auf Leben
                                                                    in Würde
Frauenrechte
                                                                    Nicht-Inanspruchnahme
                                                                    der Mindestsicherung

                 Schätzungen zufolge mussten sich mehr als
                 130 Mio. Frauen Beschneidungen
                 unterziehen – vor allem in Afrika und in           Drei von zehn Hilfsbedürftigen
                 einigen Ländern des Nahen Ostens.                  nehmen Sozialhilfe nicht an,
                                                                    obwohl sie Anspruch hätten.
                 Jedes Jahr sind 2 Mio. Mädchen der Gefahr
                 der Beschneidungsriten ausgesetzt.                 Würden alle zehn die notwendige
                                                                    Hilfe nutzen, würde die Armuts­
                                                                    gefährdung in Österreich um
                                                                    fast 1 % sinken.
18   Themen
BÜCHER | EUROPA

Buchtipps                                                                               Best of EUrope
                                                      Nachgefragt:
                                                      Menschenrechte und Demokratie
                von Christine Schulz-Reiss (Autorin),
                Verena Ballhaus (Illustratorin)
                    Kompetente Auskunft zum           g
                Thema Menschenrechte und Demokratie
gibt der neue Band der Sachbuchreihe Nachgefragt.
Zugleich zeigt er auf, wie es um die Menschenrechte bei
uns und in anderen Teilen der Welt bestellt ist und
welche Möglichkeiten auch der eigene Alltag bietet, um
Zivilcourage zu üben.

                                                                                         Neben der Sea-Watch 3 soll ein weiteres
                                                                                         Seenotrettungsschiff in See stechen

 Menschenrechte                                       Menschenrechte
                                                      Eine Antwort auf die wachsende    KRITIK AN DER FLÜCHTLINGSPOLITIK DER EU
 Eine Antwort auf die wachsen
 ökonomische Ungleichheit     de

               von Manfred Nowak
                                                      ökonomische Ungleichheit
                                                                                        Die Kirche als
Manfred Nowak      Auch wenn die soziale Ungleichheit
              keineswegs für alle Probleme der Welt
                                                      g                                 Seenotretterin
          K

                                                                                        I
                                               UREN
                                           NT

              verantwortlich gemacht werden kann, so                                      mmer mehr evangelische Christinnen und Christen
                                       O

                                           K
                                       N
                              EDITIO

mehren sich dennoch die Stimmen, die darin ein zentra-                                    wollen nicht mehr hinnehmen, dass Menschen in Seenot
les Problem des 21. Jahrhunderts sehen.                                                 einfach im Stich gelassen werden. Am Weltflüchtlingstag
                                                                                        wurde deshalb beim deutschen evangelischen Kirchentag
                                                                                        eine Resolution eingebracht. „Wir können nicht länger
                                                                                        wegschauen, wir müssen handeln“, sagte der Ratsvorsit-
                                                                                        zende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),
                                                       Junge Menschen und ihre Rechte   Heinrich Bedford-Strohm. Er befürwortet den Vorschlag,
                 von Gertrude Brinek                                                    ein weiteres Seenotrettungsschiff unter Beteiligung der
                     Das Buch ist für junge Leute      g                                EKD ins Mittelmeer zu schicken. Das Schiff sollte unter Be-
                geschrieben. Es bietet konkrete Hilfe                                   teiligung der Kirchen von einem breiten zivilgesellschaftli-
                und Information, lotst durch die Begriffs-                              chen Bündnis getragen werden, sagte Bedford-Strohm.
                welt, erklärt den Rechtsstaat und seine
                Funktionen. Zahlreiche neu entwickelte                                  Koalition der Willigen
Infografiken machen es zu einem leicht benutzbaren Rat-                                 „Es muss einen Mechanismus geben, der dieses unwürdige
geber; der Serviceteil hilft Ratsuchenden und Betroffe-                                  Drama verhindert, dass gerettete Menschen wochenlang
nen, sich zurechtzufinden.                                                               auf Rettungsschiffen auf dem Meer ausharren müssen“, so
                                                                                         der Ratsvorsitzende. Es könne nicht sein, dass dies durch
                                                                                         die Unfähigkeit der EU-Partner, sich zu einigen, blockiert
                                                                                         werde. „Wenn Europa an dieser Stelle versagt, darf es
                                                      Achtung                            nicht sein, dass der Tod vieler Menschen im Mittelmeer die
                                                      Abwertung hat System.              Folge ist.“
                                                      Vom Ringen um Anerkennung,           Bedford-Strohm plädiert dafür, dass sich willige EU-
                                                      Wertschätzung und Würde            Staaten zusammentun, die zur Rettung und Aufnahme von
                Armutskonferenz (Hrsg.)                                                  Flüchtlingen bereit sind. Dabei müsse man auch die Kom-
                   Das Buch zeigt, wie wichtig ein    g                                  munen miteinbeziehen: „Es gibt viele Städte in Europa, die
soziales Netz für uns alle ist, aber auch, was es heißt,                                 ausdrücklich erklärt haben, dass sie zur Aufnahme von ge-
wenn dieses Netz eingerissen und kaputt gemacht wird.                                    retteten Flüchtlingen bereit sind“, sagte der Ratsvorsitzen-
Die Beiträge machen die Abwertungsspirale wie soziale                                    de der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Disqualifizierung und Ohnmachtserfahrungen ebenso
zum Thema wie das Ringen um Anerkennung,
Wertschätzung und Würde.                                                                 www.ekd.de/manfred-rekowski-ekd-kritik-
                                                                                         europaeische-fluechtlingspolitik-47721.htm

                                                                                                                                           Themen       19
DIAKONIE HAUTNAH

Jeder Mensch hat das Recht
auf ein faires Gerichtsverfahren
 AsylwerberInnen benötigen eine Rechtsberatung und eine Vertretung
 vor Gericht, die Partei für sie ergreift.

                                                                                            schreibt Yvonne ihre Tätigkeit. „Als Rechtbera-
                                                                                            terin erkläre ich, welche Rechtsmittel gegen den
                                                                                            Bescheid ergriffen werden können und ob die
                                     Yvonne Rogatsch (rechts) klärt ihre Klientinnen und
                                                                                            Ergreifung dieser sinnvoll sind.“

                                  I
                                     Klienten über den Inhalt der Asylbescheide auf
                                                                                              „Die RechtsberaterInnen arbeiten sehr gewis-
 VON ROBERTA RASTL                                                                          senhaft und übernehmen große Verantwortung“,
                                      brahim Khater arbeitet in der Rechtsbera-             beschreibt Ibrahim die Arbeit seiner Kollegin. Er
                                      tung des Diakonie Flüchtlingsdiensts. Er ist          selbst ist vor vier Jahren aus Syrien nach Öster-
                                      Teil eines vielbeschäftigten Teams aus Juris-         reich geflüchtet und mittlerweile in der Adminis-
  Unabhängige Beratung im         tInnen, ÜbersetzerInnen und Administrations-              tration für alle Rechtsberatungsstellen der Dia-
   Asylverfahren gefährdet
                                  kräften, die dafür sorgen, dass AsylwerberInnen           konie in Österreich tätig. Seine Aufgabe ist es,
    Die vergangene Regierung      und MigrantInnen jene rechtliche Hilfe bekom-             als Drehscheibe zwischen den KlientInnen und
       hat ein Gesetz erlassen,   men, die ihnen zusteht.                                   den Behörden für funktionierende Abläufe und
    dass sowohl die Unterbrin-       Zum Beispiel nach einer negativen Entschei-            Informationsflüsse zu sorgen. Er verbringt den
   gung (Grundversorgung) als     dung im Asylverfahren, aber auch im Zulas-                Tag am Telefon, sammelt Dokumente, schickt
  auch die Rechtsberatung im
                                  sungsverfahren und bei fremdenrechtlichen                 sie an die richtigen Stellen weiter. Diese Arbeit
 Asylverfahren, die bislang von
unabhängigen gemeinnützigen       Verfahren. Die Diakonie hat zwölf solcher Bera­           hat für Ibrahim große Bedeutung, wie er sagt.
    Hilfsorganisationen durch-    tungsstellen in ganz Österreich.                         „Ich bin selber Flüchtling und kenne das Gefühl,
    geführt wurde, ab 2020/21                                                               hilflos zu sein.“
   von einer „Bundesagentur“      Die Angst vor der Abschiebung
                                  „Es ist unvorhersehbar, wie viele Menschen an Aufklärung und Hilfe
     übernommen werden soll.

       Die Diakonie, aber auch     einem Beratungstag zu uns kommen und Bera- Yvonne Rogatsch formuliert es so: „Man tut sich
     namhafte RechtsexpertIn-      tung benötigen. Im besten Fall sind wir in der als ÖsterreicherIn schon schwer, einen behördli-
  nen, sehen die unabhängige       offenen Beratung zu zweit und können pro Tag       chen Bescheid zu verstehen.“ Ist man hingegen
    Beratung im Asylverfahren      rund 20 Personen beraten“, schildert Yvonne        fremd in diesem Land, spricht man vielleicht die
gefährdet, und warnen vor der
                                   Rogatsch die Situation, die sie in der Rechtsbe- Sprache noch nicht und ist mit behördlichen
  Umsetzung dieses Gesetzes.
  Die Liste der Warner und alle    ratungsstelle des Diakonie-Flüchtlingsdienstes     Gepflogenheiten nicht vertraut und kennt sich
ihre Bedenken finden Sie hier:     in Wien täglich vorfindet. Wenn sie in der Früh    auch rechtlich nicht aus, dann ist es unmöglich,
     www.mwoe.at/recht-auf-        durch das Wartezimmer in ihr Büro geht, ist die- den Bescheid zu verstehen.
                rechtsberatung     ses oft bereits voll. Die Stimmung ist klamm. Je-    „Und dann kommt ein Bescheid, der vielleicht
                                   der und jede hat Angst und lebt mit der Unsi- besagt, dass man nach Hause geschickt wird
                                   cherheit, womöglich nicht mehr lange hier in       und dass alles umsonst war. Dann braucht man
                                   Sicherheit leben zu können.                        dringend jemanden, der einem helfen kann.
                                     „Meine Aufgabe ist es in erster Linie, den aktu- Oder zumindest erklären, warum das so ist. Man
                                   ellen Bescheid des Klienten oder der Klientin      kann sich das vorstellen, in welche Ohnmacht
                                   anzusehen und zu erklären, was und warum das       und Hilflosigkeit diese Menschen fallen würden,
        https://bit.ly/2KvcYTB     Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in ers- wenn sie uns – die Rechtsberatung der Diakonie
                                   ter Instanz des Verfahrens entschieden hat“, be- – nicht mehr hätten“, macht Rogatsch klar.

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