"Totale Inklusion? Full Inclusion?" 2019 - Profil - Das Magazin für ...

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Tarifergebnis 2019: Realeinkommen der Gymnasiallehrkräfte steigt!

                                                        4 / 2019

                                                                    Pädagogik & Hochschul Verlag . Graf-Adolf-Straße 84 . 40210 Düsseldorf · Foto: AdobeStock

       »Totale Inklusion?
          Full Inclusion?«
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PROFIL > auf ein wort

                                  ‘Auf ein Wort’ mit den Kultusministern
                                  im KMK-Lehrergespräch:

                                  Keine unterschiedslose
Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing,
                                  Besoldung!
Bundesvorsitzende
des Deutschen                     Liebe Kollegen und Kolleginnen,                Wie ist die Sachlage? In Zeiten des Lehr-
Philologenverbandes                                                              kräftemangels nicht mehr auf dem Markt
                                  alljährlich findet das Jahresgespräch der
                                                                                 vorhandene Grundschullehrkräfte durch
                                  KMK mit den Lehrerverbänden des dbb
                                                                                 A oder E 13 gewinnen zu können, wird
                                  und der GEW statt. So auch am 14. März.
                                                                                 nicht gelingen. Bundesländer, welche die
                                  Als die beiden wichtigsten Themen wur-
                                                                                 Lehramtsausbildung mit dem 1. Staatsexa-
                                  den der Digitalpakt und der Lehrkräfte-
                                                                                 men auf ein dem Lehramt fremdes Bache-
                                  mangel angesetzt. Und natürlich wurde
                                                                                 lor- und Masterstudium umgestellt haben,
                                  dabei seitens der GEW das Thema Lehr-
                                                                                 haben in der Ausbildungslänge ‘Gleichheit’
                                  kräftemangel für die Forderung ‘A 13 für
                                                                                 geschaffen. Das gilt nicht für die Bundes-
                                  Grundschullehrkräfte’ funktionalisiert.
                                                                                 länder, die erfreulicherweise beim Staats-
                                  Und natürlich habe ich als Bundesvorsit-
                                                                                 examen geblieben sind. Für die Verleihung
                                  zende des DPhV für die höhere Besoldung
                                                                                 eines Amts sind die jeweiligen ‘Wertigkei-
                                  der Gymnasiallehrkräfte gemäß der de
                                                                                 ten’ entscheidend, hier sowohl die Ausbil-
                                  facto bestehenden Unterschiede zwischen
                                                                                 dung als auch die verantwortungsbewusst
                                  dem Amt der Grundschullehrkraft und
                                                                                 ausgeübten Tätigkeitsmerkmale im Beruf:
                                  dem Amt der Gymnasiallehrkraft argu-
                                                                                 In der Grundschule der Unterricht in den
                                  mentiert!
                                                                                 Klassen 1 bis 4, im Gymnasium der Unter-
                                  Das Bild in der KMK zeigte sich zu diesem      richt in den Klassen 5 bis 12 bzw. 13. In der
                                  Thema diffus: So bekannte sich der sach-       Grundschule keine Vergabe eines Schulab-
                                  sen-anhaltinische Minister Tullner klar und    schlusses, im Gymnasium die Vergabe des
                                  deutlich zum Unterschied in den Aufgaben       Abiturs. Damit ist verbunden, was jede Ar-
                                  und der Besoldung zwischen Grundschul-         beitszeituntersuchung bisher bestätigt hat:
                                  und Gymnasiallehrkräften. Zwei Seelen in       Alle Lehrkräfte arbeiten mehr als sie müs-
                                  seiner Brust offenbarte der Hamburger          sen, aber die Gymnasiallehrkräfte arbeiten
                                  Kultusminister Rabe: einerseits sein Bestre-   am meisten, selbst bei einem höheren Un-
                                  ben, das Grundschullehramt durch eine          terrichtsdeputat der Grundschullehrkräfte:
                                  Besoldung nach A 13 aufzuwerten, ande-         Natürlich! Eben weil im unterschiedlichen
                                  rerseits seine mit den Finanzministern ge-     Aufgabenspektrum des Grundschul- und
                                  teilten Bedenken der Finanzierbarkeit an-      Gymnasiallehramts der arbeitsintensivste
                                  gesichts vieler weiterer Baustellen im Bil-    Unterschied in der Konzeption, Durchfüh-
                                  dungsbereich, die nicht geringer würden,       rung und Korrektur von Klausuren im konti-
                                  wenn die Philologen dann anschließend          nuierlichen Unterrichtsalltag wie in den
                                  auch noch A 14 forderten! Die Berliner         Prüfungen grundgelegt ist!
                                  Senatorin Scheeres bekannte sich klar zur
                                                                                 ERGO: Wir argumentieren kontinuierlich
                                  unterschiedslosen Bezahlung für Grund-
                                                                                 und sachangemessen weiterhin für die
                                  schul- und Gymnasiallehrkräfte nach E 13 –
                                                                                 höhere Besoldung der Gymnasiallehrkräfte
                                  besser wäre eine Verbeamtung der Lehr-
                                                                                 und treten für die Akzeptanz und Würdi-
                                  kräfte, denn gerade Berlin zeigt, dass mit
                                                                                 gung der Unterschiede im Grundschul- und
                                  E 13 eben nicht mehr Grundschullehrkräfte
                                                                                 Gymnasiallehramt und ihrer Besoldung ein!
                                  gewonnen werden: ¾ der neu angestellten
                                  Lehrkräfte in Berlin sind keine ausgebilde-
                                                                                 Mit herzlichen Grüßen
                                  ten Lehrkräfte mehr, sondern Quer- bzw.
                                  Seiteneinsteiger. Deutlich wurde auch, dass
                                  die Kultusminister einerseits einen ‘Über-
                                  bietungswettbewerb’ fürchten, ihm ande-        Ihre
                                  rerseits aber auch keinen Einhalt gebieten.    Susanne Lin-Klitzing

                                                                                                > PROFIL | April 2019    3
"Totale Inklusion? Full Inclusion?" 2019 - Profil - Das Magazin für ...
PROFIL > inhalt                                        >    dphv: interview
                                                                  Studien- und Berufsorientierung
                                                                  am Gymnasium
                                                                  Am Gymnasium findet Studienorientierung
                                                                  und schulartspezifische Berufsorientierung statt!           5
                                                              >    dphv-schlaglichter                                          8
                                                              >    frauen im dphv
                               Frühjahrstagung der
                               Frauenpolitischen AG               Frühjahrstagung der Frauenpolitischen AG
                               im DPhV        Seite 10            im DPhV: Unterrichtsqualität
                                                                  und Lehrkräftegesundheit
                                                                  Aktuelle und dauerhafte Herausforderungen an
                                                                  deutschen und schweizerischen Gymnasien                    10
                                                              >    tarifverhandlungen
                                                                  Steffen Pabst, Markus Gretzschel &
                                                                  Jörg Bohmann: Tarifergebnis 2019 –
                                                                  Realeinkommen der
                                                                  Gymnasiallehrkräfte steigt                                 14
                                                              >    inklusion: interview
                                                                  Michael Felten: »Man darf diese
                                                                  Dinge nicht verschweigen«                                  17
    Realeinkommen der                                         >    gastbeitrag: inklusion
    Gymnasiallehrkräfte                                           Bernd Ahrbeck, Jeanmarie Badar, Marion Felder,
                 steigt                                           James Kauffmann & Katrin Schneiders:
                   Seite 14                                       Totale Inklusion? Full Inclusion?           20
                                                              >    jahresinhaltsverzeichnis 2018                             29
                                                              >    didacta: rückblick
                                                                  didacta 2019: Der Bildungsgipfel in Köln                   33
                                                              >    vor ort
                                                                  Sachsen-Anhalt: Abitur
                                                                  nun auch KMK-konform                                       38
                                                                  Entlastung der Lehrkräfte: Erstmals
                                                                  intensive Gespräche des Bildungs-
                                                                  ministeriums mit den Gewerkschaften                        39
       Totale Inklusion?                                          Nach Jahren des Kampfes im Schulbereich:
          Full Inclusion?                                         Erfolg im Personalvertretungsrecht in Sicht                39
                   Seite 20
                                                                  Niedersachsen: Fehlende Haltung
                                                                  bei Durchsetzung der Schulpflicht
                                                                  ist fatales Signal                                         40
                                                              >    impressum                                                40
                                                              >    standpunkt                          dbb magazin

                                                                  dbb Lehrergewerkschaften:
                                                                  Probleme schulübergreifend anpacken!        41
                                                              >    nachrichten                             dbb magazin

                                                                  KMK-Jahresgespräch:
                                                                  Qualität trotz Lehrkräftemangels sichern        42
                               didacta 2019:                  >    europa                                             dbb magazin
                               Der Bildungsgipfel in Köln
                                                   Seite 33
                                                                  Klaus Heeger & Hendrik Meerkamp:
                                                                  Europapolitik: Warum es in der EU
                                                                  manchmal nicht vorangeht                                   44
                                                              >    interview                                          dbb magazin

                                                                  Bundesgesundheitsminister Jens Spahn:
                                                                  Wir müssen immer die Frage nach der
                                                                  Finanzierbarkeit beantworten                               46
4      > PROFIL | April 2019
"Totale Inklusion? Full Inclusion?" 2019 - Profil - Das Magazin für ...
PROFIL

                                                                                            Foto: fotogestoeber/AdobeStock
                                                                                                                             deten Zielen der Gymnasia-
                                                                                                                             len Oberstufe: vertiefte All-
                                                                                                                             gemeinbildung, Wissen-
                                                                                                                             schaftspropädeutik und all-
                                                                                                                             gemeine Studierfähigkeit.
                                                                                                                             Das sind auch nach Auffas-
                                                                                                                             sung des Deutschen Philolo-
                                                                                                                             genverbands die inhaltlichen
                                                                                                                             Leitlinien des Gymnasiums.
                                                                                                                             Die Bedeutung der Studierfä-
                                                                                                                             higkeit ist gesellschaftlich
                                                                                                                             eng mit den jeweiligen Auf-
                                                                                                                             fassungen von gymnasialer
                                                                                                                             Bildung verknüpft: Absolven-
                                                                                                                             tinnen und Absolventen des
                                                                                                                             Gymnasiums sollen in der La-

       Studien- und                                                                                                          ge sein, an einer Hochschule
                                                                                                                             mit Erfolg zu studieren. Ge-
                                                                                                                             sellschaftlich ist jedoch eine

    Berufsorientierung
                                                                                                                             Entwicklung festzustellen,
                                                                                                                             die das Abitur nicht nur als
                                                                                                                             Zugangsberechtigung für ein
                                                                                                                             Hochschulstudium versteht,

     am Gymnasium
                                                                                                                             sondern vor allem als ‘multi-
                                                                                                                             ples Eingangszertifikat’ für
                                                                                                                             alle möglichen Berufswege.

           Am Gymnasium findet Studienorientierung und                                                                       ?   Heute gehen vierzig Pro-
                                                                                                                                 zent der Kinder nach der
                                                                                                                             Grundschule auf ein Gymna-
            schulartspezifische Berufsorientierung statt!                                                                    sium. Diese Schülerinnen
                                                                                                                             und Schüler werden an-
Das muss sich auch nicht ändern, selbst wenn                     ein hohes Anspruchsniveau                                   schließend nicht alle studie-
                                                                 in ihren eigenen Lehrervor-                                 ren. Muss das Gymnasium
30 Prozent der Studierenden das Studium abbre-
                                                                 trägen, in den Gruppenauf-                                  nicht auch auf die berufliche
chen, 25 Prozent der Ausbildungsanfängerinnen                    gaben, die sie uns Schülerin-                               Bildung vorbereiten?
und -anfänger eine Hochschulzugangsberechti-                     nen und Schülern gab, und                                   LIN-KLITZING: Die Über-
gung haben und 40 Prozent der Kinder nach der                    auch in der sorgfältigen                                    gangsquote an das Gymnasi-
                                                                 Rückmeldung von Hausauf-                                    um ist von 2006 bis 2016 von
Grundschule auf ein Gymnasium wechseln!
                                                                 gaben und Klausuren. Es gab                                 durchschnittlich 30 auf 41
Das Netzwerk Berufswahl-SIEGEL hat die                           sehr klare, wenn auch nicht                                 Prozent angestiegen, in man-
                                                                 immer angenehme Rückmel-                                    chen Städten erreicht sie
Bundesvorsitzende der Gymnasiallehrkräfte,
                                                                 dungen zu unseren Leistun-                                  knapp 60 Prozent. Es gibt in
Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, befragt!                         gen, verbunden mit mensch-                                  den meisten Ländern keine
                                                                 licher Wärme. Vorbildhaft für                               verbindliche Übergangsemp-
?  Frau Professorin Lin-Klit-
   zing, was wollten Sie als
                                 ausgesprochen positive Er-
                                 fahrung. Ich habe dort von
                                                                 mich.                                                       fehlung mehr. Das Abitur,
                                                                                                                             möglich als Abschluss an ver-
Kind einmal werden?
LIN-KLITZING: Seit ich drei-
zehn Jahre alt bin, wollte ich
                                 Inhalten Kenntnis bekom-
                                 men, die sich mir durch mein
                                 Elternhaus nicht erschlossen
                                                                 ?  Sie sind Vorsitzende des
                                                                    Deutschen Philologenver-
                                                                 bandes, also der Gymnasial-
                                                                                                                             schiedenen Schularten, nicht
                                                                                                                             nur Gymnasium, wurde 2006
                                                                                                                             von 34, 2016 von 43 Prozent
Lehrerin werden.                 haben. Ich habe die im Un-      lehrerinnen und -lehrer in
                                                                                                                             erworben, ein Studium wird
                                 terricht vermittelten Inhalte   Deutschland. Sie sagen, Auf-
                                                                                                                             aktuell von über 55 Prozent

?   Was war auf Ihrem Weg
    in den Beruf entschei-
dend – eine Erfahrung, eine
                                 quasi ‘aufgesogen’. Zum an-
                                 deren hat mich in der Gym-
                                 nasialen Oberstufe meine
                                                                 gabe des Gymnasiums sei
                                                                 vor allem die ‘allgemeine
                                                                 Studierfähigkeit’. Was ist
                                                                                                                             der jungen Menschen aufge-
                                                                                                                             nommen. Allerdings brechen
                                                                                                                             mehr als 1/3 bereits vor dem
Person, ein Zufall?              Deutsch-Leistungskurslehre-     damit genau gemeint?
                                                                                                                             Erreichen eines Abschlusses
LIN-KLITZING: Das waren          rin, Frau Dr. Wartenberg, ge-   LIN-KLITZING: Das Gymnasi-
                                                                                                                             ihr Studium ab.
Schulerfahrungen und vor         prägt. Sie lebte ihre Fächer    um als ein durchgängiger
allem eine Person: Zum ei-       Deutsch und Geschichte, sie     Bildungsgang ist geprägt                                    Die nicht am Gymnasium er-
nen war die Schule, besser       war ein sprudelnder Quell       von den durch die Kultusmi-                                 worbenen Hochschulzu-
der Unterricht für mich eine     von Wissen. Sie verkörperte     nisterkonferenz verabschie-                                 gangsberechtigungen er- >

                                                                                                                              > PROFIL | April 2019    5
"Totale Inklusion? Full Inclusion?" 2019 - Profil - Das Magazin für ...
PROFIL > dphv: interview

möglichen genauso die di-                 ten mittleren Bildungsab-         sind, die von einem Gymna-       wahrnehmen. Sie sollten un-
rekte Aufnahme eines Hoch-                schluss und eine Stärkung         sium mit dem Ziel der Hoch-      ter anderem auf professio-
schulstudiums wie das an ei-              der beruflichen Bildung ein –     schulreife bereits umfasst       nelle Angebote, wie zum
nem Gymnasium erworbene                   konsequenterweise auch auf        werden: schulische Basis-        Beispiel die Potentialanalyse
Abitur, allerdings stammt                 der Basis einer veränderten,      kenntnisse (zum Beispiel si-     und die Berufsberatung von
der prozentual größte Anteil              auch materiellen Bewertung        cheres Lesen und Schreiben),     einschlägigen Partnern zu-
der Studienabbrecherinnen                 von akademischen und              psychologische Leistungs-        rückgreifen. Hier geht es al-
und -abbrecher aus der                    nicht-akademischen Berufen,       merkmale (zum Beispiel logi-     so um vernünftige Konzepte,
Gruppe der nicht-gymnasia-                von Ausbildung und Studi-         sches Denken), physische         die von verschiedenen Ko-
len Hochschulzugangsbe-                   um.                               Merkmale (zum Beispiel al-       operationspartnern getra-
rechtigten. Aus meiner Sicht                                                tersgerechter Entwicklungs-      gen werden. Der ehemalige
ist hier in allererster Linie ei-         Ja, und in der Tat gehört zu      stand) und Berufswahlreife,      Kultusminister von Sachsen-
ne frühere, konsequente und               den Aufgaben des Gymnasi-         unter der Selbsteinschät-        Anhalt, Prof. Dr. Olbertz,
leistungsorientierte bil-                 ums laut KMK-Beschluss von        zungs- und Informations-         führte dazu aus, dass wir
dungspolitische Steuerung                 1997 ausgewiesenermaßen           kompetenz verstanden wird.       uns von der Vorstellung
der Studien- und Berufsbe-                die Berufsorientierung ne-        Diese Kriterien der Ausbil-      trennen sollten, Wissen-
darfe auf der Basis einer                 ben die Vermittlung von ver-      dungsreife gehören auch zur      schaft und Beruf hätten
Gleichwertigkeit, aber nicht              tiefter Allgemeinbildung,         Hochschulreife, werden also      nichts miteinander zu tun.
                                                                                                             Natürlich haben sie das und
                                                                                                             dementsprechend sollte das
                                                                                                             Gymnasium tatsächlich Be-
                                                                                                             rufe in den Fokus nehmen –
                                                                                                             und zwar Berufe, in denen
                                                                                                             Wissenschaft ausgeübt
                                                                                                             wird!

                                                                                                             Wenn Sie mich fragen, was
                                                                                                             einer guten Studien- und Be-
                                                                                                             rufsorientierung dient, dann
                                                                                                             spreche ich mich für gute Ko-
                                                                                                             operationskonzepte zwi-
                                                                                                             schen schulischen und au-
       Foto: geschmacksRaum®/AdobeStock                                                                      ßerschulischen Partnern aus,
                                                                                                             in denen jeder genau das tut
Gleichartigkeit der berufli-              Wissenschaftspropädeutik          von ihr umfasst. Dies gilt al-   und vermittelt, was er am
chen und allgemeinen Bil-                 und Studierfähigkeit.             lerdings nicht umgekehrt:        besten kann.
dung nötig, die Hand in                                                     Die Ausbildungsreife um-
Hand mit einer Aufwertung
der beruflichen Bildung                   ?   Wir haben den Eindruck,
                                              dass sich viele Gymnasien
                                                                            fasst nicht die Hochschulrei-
                                                                            fe.
                                                                                                             ?  Eine ganze Reihe von
                                                                                                                Gymnasien trägt bereits
                                                                                                             das Berufswahl-SIEGEL, un-
geht.                                     schwer damit tun, auch auf
                                                                            Zum anderen geht es im           ser Zertifikat für Schulen mit
                                          den Beruf vorzubereiten.
Dazu gehört ein frühzeitiges                                                Rahmen einer guten Studi-        herausragender Beruflicher
                                          Wie kann man es ihnen
und professionelles Informa-                                                en- und Berufsorientierung       Orientierung. Würden Sie
                                          leichter machen?
tionsangebot über Schul-                                                    um gemeinsame Konzepte           das SIEGEL Ihren Kolleginnen
                                          LIN-KLITZING: Jede/r soll das
und spätere Berufsmöglich-                                                  von Schulen und ihren Ko-        und Kollegen weiterempfeh-
                                          tun, was er kann: Gymnasial-
keiten für die Eltern, die über                                             operationspartnern, sowohl       len?
                                          lehrkräfte sind keine Exper-
die Beschulungs- und Berufs-                                                den Universitäten als auch
                                          ten für Berufsvorbereitung                                         LIN-KLITZING: Ja, auf jeden
wege ihrer Kinder (mit-) ent-                                               den Betrieben. Wir haben
                                          und müssen es aus meiner                                           Fall – und das mit vielen gu-
scheiden. Dazu gehört auch                                                  uns gerade auf der letzten
                                          Sicht auch nicht werden, ei-                                       ten Gründen! Einer davon
die Wiedereinführung einer                                                  Sitzung des Wissenschaftli-
                                          ne schulartspezifische Studi-                                      ist, dass mein Stellvertreter
differenzierten Leistungsbe-                                                chen Beirats des Deutschen
                                          en- und Berufsorientierung                                         im Deutschen Philologenver-
wertung mit der Berücksich-                                                 Philologenverbands mit dem
                                          gehört aber dazu:                                                  band Schulleiter eines gro-
tigung des Lehrerurteils                                                    Thema Studien- und Berufs-
                                                                                                             ßen Gymnasiums in Augs-
beim Übergang von der                     Zum einen liegen Ausbil-          orientierung am Gymnasi-
                                                                                                             burg ist und erfreulicherwei-
Grundschule in die weiter-                dungsreife und Hochschul-         um beschäftigt. Eingeladene
                                                                                                             se mit seiner Schule im letz-
führenden Schularten.                     reife insofern nicht weit aus-    Experten hoben die Berufs-
                                                                                                             ten Jahr das Berufswahl-SIE-
                                                                                                                                           ■
Grundsätzlich trete ich für               einander, als Kriterien für die   wahl als Lebensaufgabe her-
                                                                                                             GEL erhielt!
ein differenziertes Schulsys-             Aufnahme einer Berufsaus-         vor. Aus ihrer Sicht sei es
tem mit einem anspruchs-                  bildung nach dem Nationa-         aber nicht förderlich, wenn
                                                                                                             Erstveröffentlichung:
vollen Abitur, einem aussa-               len Pakt für Ausbildung und       Lehrerinnen und Lehrer die-      Newsletter für das Netzwerk
gekräftigen und nachgefrag-               Fachkräftenachwuchs solche        se Aufgabe als Additum           Berufswahl-SIEGEL 01/2019

   6        > PROFIL | April 2019
"Totale Inklusion? Full Inclusion?" 2019 - Profil - Das Magazin für ...
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PROFIL > dphv: schlaglichter

                                                  KMK Jahresgespräch:

                                                  Qualität trotz Lehrkräftemangel sichern
                                                  Die Bundesvorsitzenden der Lehrerverbände im dbb haben sich am 14. März
                                                  2019 zum Jahresgespräch der Kultusministerkonferenz in Berlin getroffen.
                                                  »Wir sind froh, dass die Kultusministerinnen und -minister und die dbb Lehrer-
                                                  verbände sich einig sind in dem Ziel, trotz des zum Teil massiven Lehrkräfte-
                                                  mangels die pädagogische Qualität in unseren Schulen zu sichern«, so die
                                                  übereinstimmende Meinung der Vorsitzenden der dbb Lehrerverbände.

Die Vorsitzenden der Lehrerverbände unter dem Dach des dbb(v.l.n.r.): Jürgen Böhm (VDR und zugleich stellvertretender Bundesvorsitzender
des dbb), Udo Beckmann (VBE), Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing (DPhV), der Präsident der Kultusministerkonferenz Staatsminister Prof. Dr. R.
Alexander Lorz, Eugen Straubinger (BvLB) und Dr. Bernd Uwe Althaus (KEG).

                          Die Vorsitzenden der Lehrerverbände Jürgen Böhm (VDR), Eugen Straubinger (BvLB), Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing
                                 (DPhV), und Udo Beckmann (VBE) im Gespräch mit dem dbb-Bundesvorsitzenden, Ulrich Silberbach (2.v.r.)

In den Bildungsbereich investieren
Bei der dbb-Bundesvorstandssitzung in Berlin trafen sich die Lehrerverbände im dbb und mahnen angesichts der Missstände:
Lehrkräftemangel führt zu Entprofessionalisierung! Es fehlt eine Stärkung der Attraktivität des Lehrerberufs! Wir brauchen
Investitionen im Bildungsbereich und überzeugende Konzepte für die junge Generation!

Eine neue gute Kooperation                                               Schleswig-Holstein:
Die ‘Frauen im
DPhV’ begehen
                                                                         Senkung des Unterrichts-
den Internatio-                                                          deputats dringend notwendig
nalen Frauen-                                                            Gelungene Vertreterversammlung des Philologenverban-
tag internatio-                                                          des Schleswig-Holstein: mit Kultusministerin Karin Prien,
nal: unter der                                                           die in Schleswig-Holstein im letzten Jahr wieder die ver-
Leitung von                                                              bindlichere Grundschulempfehlung und die schulartspezi-
Gabriela Kasig-                                                          fische Lehrerbildung einführte, dem Vorsitzenden Jens Fin-
keit, nach ei-                                                           ger, der das vor zehn Jah-
nem Vortrag                                                              ren ausgesetzte ehemalige
der Bundesvor-                                                           ‘Weihnachtsgeld’ und eine
sitzenden Lin-Klitzing zum Thema: »Qualität des Unter-                   Senkung des Unterrichts-
richts: Guter Unterricht muss wieder in den Vordergrund                  deputats in Schleswig-Hol-
treten«, referierte die Präsidentin des Schweizer Verbands               stein forderte und der
für Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, Carole Sierro, »Zur                DPhV-Bundesvorsitzenden
Situation von Lehrkräften – insbesondere der Frauen an                   Lin-Klitzing, die den Fest-
Schweizer Gymnasien«! Hochinteressant! Eine gute Ver-                    vortrag zum Thema ‘Kern-
anstaltung vom 7. bis 9. März in Königswinter – und: in                  geschäft Unterricht, guter
der Schweiz liegt die Übergangsquote zum Gymnasium                       Unterricht!’ hielt. Eine gute
bei zwanzig Prozent! Auf eine gute weitere Kooperation                   Veranstaltung mit vielen
zwischen unseren beiden Gymnasiallehrerverbänden!                        Delegierten und Gästen!

8      > PROFIL | April 2019
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PROFIL > frauen im dphv

                           Frühjahrstagung der Frauenpolitischen AG im DPhV

Unterrichtsqualität und
   Lehrkräftegesundheit
                                   Aktuelle und dauerhafte Herausforderungen
                                  an deutschen und schweizerischen Gymnasien

Vom 7. bis 9. März 2019 trafen sich die DPhV-Frauen zu ihrer jährli-                                  gesammelter Daten (zum
                                                                                                      Beispiel durch Schulleis-
chen Frühjahrstagung in Königswinter zum Thema ‘Arbeitsorganisa-
                                                                                                      tungsstudien) reicht allein
tion und Qualität des Unterrichts – aktuelle Herausforderungen für                                    nicht aus, um Bildung quali-
Gymnasiallehrerinnen’.                                                                                tativ zu verbessern.
                                                                                                      Auch die bestehenden Bil-

D
        ie Vorsitzende des          menhängt, ist selbstver-       putate, Bezahlung/Besol-           dungsstandards, die in den
        Deutschen Philolo-          ständlich.                     dung, Digitalisierung, Bil-        einzelnen Bundesländern un-
        genverbandes, Prof.                                        dungsstandards und Abitur-         terschiedlich umgesetzt wur-
Dr. Susanne Lin-Klitzing, er-       Gelingensbedingungen für       anforderungen. Eine Vielzahl       den und werden, bedürfen,
öffnete mit einem sehr inte-        guten Unterricht liegen ei-
ressanten Impulsvortrag und         nerseits wesentlich im Agie-    >
                                                                        Die Präsidentin des Ver-
legte den Fokus auf die Fra-        ren und in der Haltung der
                                                                        eins Schweizer Gymnasi-
ge, was ‘guter Unterricht’ für      Lehrperson selbst begründet         allehrerinnen und Gym-
Belastung und Beanspru-             (vgl. Ergebnisse zahlreicher        nasiallehrer, Carole Sier-
chung von Gymnasiallehr-            Studien, zum Beispiel Hat-          ro, war am zweiten Tag,
kräften bedeute. Rund vier-         tie), andererseits aber auch        dem Internationalen
zig Prozent Männer und              in bildungs- und berufspoli-        Frauentag, zu Gast bei
sechzig Prozent Frauen sind         tischen Entscheidungen, für         der Frauen AG in Königs-
an Deutschlands Gymnasien           deren Verbesserung wir als          winter: Die Bundesvorsit-
tätig. Dass die Unterrichts-        Verbandsvertreterinnen zu-          zende des DPhV, Susanne
                                                                        Lin-Klitzing, begrüßte
qualität elementar mit dem          nehmend kämpfen müssen.
                                                                        Carole Sierro und beton-
Umfang und der Ausgestal-           Als Themen seien stichwort-
                                                                        te, »dass sie sich auf eine
tung der Arbeitszeit zusam-         artig genannt: Stundende-
                                                                        interessante und lebhaf-
                                                                        te Diskussion freue«.

 10       > PROFIL | April 2019
PROFIL > frauen im dphv

                                                                     nasiallehrer (VSG-SSPES-         Trotz der Feminisierung des
                                                                     SSISS), Carole Sierro. Der VSG   Berufs sind die besser be-
                                                                     mit seinen 24 Kantonal- und      zahlten Stellen die in der
                                                                     seinen 21 Fachverbänden ist      Oberstufe, wo mehr Männer
                                                                     die einzige Vertretung der       arbeiten.
                                                                     Gymnasiallehrpersonen in
                                                                     der Schweiz und arbeitet in      Sierro referierte zur ‘Situati-
                                                                     allen Gremien mit, die die       on von Lehrkräften – insbe-
                                                                     Politik in der Schweiz be-       sondere der Frauen an
                                                                     stimmen. Enge Zusammen-          Schweizer Gymnasien’, aus-
                                                                     arbeit besteht ebenfalls mit     gehend von einer Umfrage
                                                                     dem Dachverband der Lehre-       des VSG zur Teilzeitbeschäfti-
                                                                     rinnen und Lehrer in der         gung durchgeführt vom
                                                                     Schweiz (LCH), der Vereini-      3.November 2016 bis zum
                                                                     gung der Hochschuldozen-         20. Januar 2017 bei Lehrper-
                                                                     ten (VSH) sowie dem Syndi-       sonen der Gymnasien und
                                                                     cat des enseignants romands      Fachmittelschulen in der
                                                                     (SER; ‘French-speaking te-       Schweiz und in Liechten-
                                                                     achers union Swizerland’).       stein. Von den 5000 Mitglie-
                                                                     47 Prozent der Lehrpersonen      dern im Verband haben 2614
so Lin-Klitzing, stets kriti-    Am zweiten Tag, dem Inter-          in der Schweiz sind Frauen,      an der Umfrage teilgenom-
scher Evaluation. Ein Problem    nationalen Frauentag, be-           unter den jungen Lehrkräf-       men. Teilzeit bedeutet, weni-
sieht sie bei den Standards      grüßten wir die Präsidentin         ten gibt es sogar fünfzig Pro-   ger als neunzig Prozent zu
zum Beispiel darin, dass es      des Vereins Schweizer Gym-          zent Frauen mit einem gro-       arbeiten.
eine zu geringe ‘Grundsiche-     nasiallehrerinnen und Gym-          ßen Anteil an Teilzeitarbeit.    Sehr interessant für alle Zu-
rung’ (Mindeststandards)                                                                              hörerinnen waren einerseits
und gleichzeitig zu wenige                                                                            die Unterschiedlichkeit der
                                  >
für die ‘Leistungsstarken’            Alle Mitglieder Frauen AG des DPhV.                             Wertschätzung von Bildung
(Optimalstandards) gibt.                                                                              in Deutschland und der
                                                                                                      Schweiz, in der Schweiz ins-
Kontinuierliches Eintreten                                                                            besondere der beruflichen
für den Bildungsauftrag der                                                                           Bildung, andererseits aber
Schulen, den die Kultusmi-                                                                            auch die vielen Übereinstim-
nisterkonferenz bereits 2004                                                                          mungen bei den Problemen
formuliert hat, betonte Lin-                                                                          von Lehrpersonen, die, so der
Klitzing auch als Leitfaden                                                                           Schwerpunkt der Umfrage,
ihrer Arbeit, besonders im                                                                            die Teilzeitbeschäftigung
Austausch mit schulpoliti-                                                                            wählen. Sierro führte aus,
schen Entscheidungsträgern                                                                            dass sich der Frauenanteil
in allen Bundesländern: »Der                                                                          sehr stark in Abhängigkeit
Auftrag der schulischen Bil-                                                                          von den verschiedenen Fä-
dung geht weit über die                                                                               chergruppen unterscheidet.
funktionalen Ansprüche von                                                                            Als Gründe für die Teilzeit
Bildungsstandards hinaus. Er                                                                          wurde von den Teilnehmen-
zielt auf Persönlichkeitsent-                                                                         den der Umfrage vor allem
wicklung und Weltorientie-                                                                            die Arbeitsbelastung (61 Pro-
rung, die sich aus der Begeg-                                                                         zent) und die Familie (56 Pro-
nung mit zentralen Gegen-                                                                             zent) genannt, wobei dies in
ständen unserer Kultur erge-                                                                          den Sprachregionen der
ben. Schülerinnen und Schü-                                                                           Schweiz (deutschsprachig,
ler sollen zu mündigen Bür-                                                                           französischsprachig, italie-
gerinnen und Bürgern erzo-                                                                            nischsprachig) unterschied-
gen werden, die verantwor-                                                                            lich ist.
tungsvoll, selbstkritisch und
konstruktiv ihr berufliches                                                                           Sierro erläuterte weitere
und privates Leben gestalten                                                                          Ergebnisse bezogen auf die
und am politischen und ge-                                                                            Thematik ‘Lehrergesundheit’,
sellschaftlichen Leben teil-                                                                          wobei auch in der Schweiz
nehmen können.« (Kultusmi-                                                                            das Risiko für ein Burnout
nisterkonferenz 2004 ff, S. 6)                                                                        bei Lehrkräften deutlich er-

                                                                                                       > PROFIL | April 2019    11
PROFIL > frauen im dphv

höht ist. Dazu kommt, dass         Gesundheitsmanagement
siebzig Prozent der Teilzeit-      zu betreiben.
lehrpersonen ihr Pensum
                                 • Unterstützungsangebote
wegen Überlastung reduzie-
                                   müssen den Lehrpersonen
ren, obwohl sie dann über-
                                   und den Schulleitungen
proportional mehr arbeiten.
                                   zur Verfügung stehen.
Für alle nachvollziehbar war
die Schlussfolgerung, dass       • Wir stimmen überein, dass
dies zu höheren Kosten für         der Anspruch an die Quali-
die Arbeitgeber führt, aber        tät von Unterricht und die
auch Auswirkungen auf die          Bedeutung unserer Hal-
Qualität des Unterrichts hat.      tung zum Lehrer*innenbe-
Die Studie zeigte deutlich         ruf und zum gymnasialen
Faktoren mit negativem Ein-        Lehramt in beiden Ländern
fluss auf die Gesundheit der       wichtig sind – und zwar
Lehrpersonen: psychosozia-         trotz wesentlicher struktu-
ler Druck, eine schmale            reller und finanzieller Un-
Grenze zwischen Berufs- und        terschiede in den Bil-
Privatleben und die Spar-          dungssystemen der
maßnahmen der Kantonsre-           Schweiz und Deutsch-
gierungen, die eine Verdich-       lands.
tung von Arbeitsaufgaben
                                 Als Anregung und Arbeits-
bei gleichzeitigem Missver-
                                 aufträge für unser frauenpo-
hältnis zur Bezahlung zur
                                 litisches Gremium nehmen
Folge haben. Diese Faktoren
                                 wir aus den Vorträgen und
können wir für hiesige Ver-
                                 den damit verbundenen leb-
hältnisse annähernd genau-
                                 haften Diskussionen mit:
so bestätigen.
                                 • Wie optimieren wir unsere
Für Sierro ist aber auch wich-
                                   interne und externe Kom-
tig, dass jede Lehrkraft sich
                                   munikation, um unser Gre-
selbst analysiert und ein
                                   mium und unseren Ver-
Gleichgewicht findet, um die
                                   band zu stärken, Mitglie-
eigene Gesundheit langfris-
                                   der zu gewinnen, zu bin-
tig zu erhalten und nicht zu
                                   den und in Verantwortung
gefährden. Auf den Punkt
                                   zu bringen?
gebracht heißt dies, dass ei-
ne ‘Flucht’ in die Teilzeitbe-   • Welche Veranstaltungsan-
schäftigung nicht wie bisher       gebote machen wir in un-
eine Lösung sein darf, um          seren Ländern, welche
das Belastungserleben zu re-       Fortbildungsbedarfe ha-
duzieren und Gesundheit zu         ben wir?
erhalten: »Gesunde Lehrerin-
                                 • Mit welchen wiederholten
nen und Lehrer = gute Schu-
                                   und neuen bildungs- und
le«, so Carole Sierro.
                                   berufspolitischen Forde-
Die Schweizer Lehrerverbän-        rungen treten wir öffent-
de formulierten folgende           lich auf, um guten Unter-
Forderungen an die Politik:        richt gestalten zu können?

• Der Berufsauftrag muss         • Wie stärken wir insbeson-
  mit den verfügbaren Res-         dere Lehrerinnen, damit
  sourcen im Einklang ste-         sie in hohem Ausmaß in
  hen.                             unserem Verband aktiv
                                   mitarbeiten können?
• Schulbauten müssen den
  Gesundheitsnormen ent-         • Gemäß der Aussage Carole
  sprechen (CO2, Lärm,             Sierros über ihre Verbands-
  usw.).                           arbeit: »Wir haben die
                                   Chance, mitzureden!« –
• Die Schulen erhalten             Wir DPhV-Frauen nutzen
  Ressourcen, um effektives        sie!                     ■

12     > PROFIL | April 2019
PROFIL > tarifverhandlungen

                                                                                                             Ohne das Engagement
                                                                                                               unserer Mitglieder in
                                                                                                              den Landesverbänden
                                                                                                               bei den Aktionen des
                                                                                                             dbb beamtenbund und
                                                                                                               tarifunion im Vorfeld
                                                                                                              der Verhandlungsrun-
                                                                                                             den wäre dieses Ergeb-
                                                                                                               nis nicht möglich ge-
                                                                                                                             wesen.

Tarifergebnis 2019:

   Realeinkommen der
Gymnasiallehrkräfte steigt
                                 außer Hessen, scheitern könn-     dass die Arbeitgeber auf die    sen. Bedanken möchten wir
   von STEFFEN PABST,
  MARKUS GRETZSCHEL &            te. Es scheint mittlerweile ein   Forderungen der Gewerk-         uns auch bei den vielen verbe-
    JÖRG BOHMANN                 Ritual der Tarifgemeinschaft      schaft mit Gegenforderungen     amteten Gymnasiallehrkräf-
                                 der Länder zu sein, dass es zu    reagierten. Wertschätzung       ten, die in ihrer Freizeit die Ak-

O
        bwohl insgesamt der      den ersten zwei Terminen kei-     der Arbeit des öffentlichen     tionen unserer tarifbeschäftig-
        Abschluss der Einkom-    ne ernsthafte Auseinanderset-     Dienstes der Länder sieht an-   ten Mitglieder in vielen Lan-
        mensrunde aus Sicht      zung mit den Forderungen der      ders aus. Ohne das Engage-      desverbänden zahlreich unter-
der Gymnasiallehrkräfte posi-    Arbeitnehmerseite gibt. Erst      ment unserer Mitglieder in      stützt haben.
tiv zu bewerten ist, hatte es    zum letzten geplanten Ter-        den Landesverbänden bei den
bis zuletzt ausgesehen, dass     min wurde konkret auf die         Aktionen des dbb beamten-       Für den Deutschen Philologen-
aufgrund der Blockadehal-        Forderungen der Arbeitneh-        bund und tarifunion im Vor-     verband ist diese Einkommens-
tung der Arbeitgeberseite die    merseite eingegangen. Die         feld der Verhandlungsrunden     runde erst abgeschlossen,
Einkommensrunde 2019 für         Besonderheit der diesjährigen     wäre das nachstehende Er-       wenn die Ergebnisse system-
die Beschäftigten der Länder,    Tarifrunde war außerdem,          gebnis nicht möglich gewe-      gleich übertragen worden sind.

 14      > PROFIL | April 2019
PROFIL > tarifverhandlungen

    Zusammenfassung der für die                                      Wie ist der Tarifabschluss aus Sicht des
    Gymnasiallehrkräfte relevanten Ergebnisse                        Deutschen Philologenverbandes zu bewerten?

>   Entgelterhöhung                                              Die allgemeine Erhöhung des Entgelts stellt eine positive Ent-
                                                                 wicklung dar, da sie bei den voraussichtlichen Inflationsraten ei-
• Rückwirkend zum 1. Januar 2019 erfolgt in den
                                                                 ne reale Nettolohnerhöhung in den nächsten Jahren erwarten
  Erfahrungsstufen 2 bis 6 eine Erhöhung der
                                                                 lässt. Die Inflationsrate wird für 2019 von der Europäischen
  Tabellenwerte von 3,01 Prozent.
                                                                 Zentralbank in Höhe von 1,6 Prozent, für 2020 von 1,7 Prozent
• Zum 1. Januar 2020 erfolgt in den                              und für das Jahr 2021 von 1,8 Prozent prognostiziert.
  Erfahrungsstufen 2 bis 6 eine weitere Erhöhung
  um 3,12 Prozent und
                                                                     Beispielrechnung für eine Lehrkraft
• zum 1. Januar 2021 in diesen Stufen                                in der Entgeltgruppe 13 Stufe 6:
  nochmals um 1,29 Prozent.
                                                                     Diese erhielt bei Vollbeschäftigung im Jahr 2018 ein Tabel-
• Abweichend erfolgt in der Stufe 1 eine Anhebung ab                 lenentgelt von 5458,41 Euro. Durch den Tarifabschluss
  1. Januar 2019 um 4,5 Prozent, ab 1. Januar 2020 um                steigt das Entgelt zum 1. Januar 2021 auf 5872,94 Euro,
  4,3 Prozent und ab 1. Januar 2021 um 1,8 Prozent. Dies             also um insgesamt 414,53 Euro. Das entspricht annähernd
  spielt aber für die grundständig ausgebildeten Gymnasial-          der Bezahlung von zwei Unterrichtsstunden im Jahr 2018.
  lehrkräfte nur eine untergeordnete Rolle, da ihnen bei
  Einstellung als Tarifbeschäftigter sechs Monate des Referen-   Kritisch ist die lange Laufzeit von 33 Monaten zu bewerten, da
  dariats auf die Stufenlaufzeit anerkannt werden und sie        über diesen Zeitraum weder auf Entwicklungen im Arbeits-
  somit nach sechs Monaten bereits die Stufe 2 erreichen.        markt noch auf Veränderungen im Finanzbereich reagiert wer-
                                                                 den kann. Außerdem sind die auch in dieser Verhandlungsrunde
>   Regelungen bei Höhergruppierungen                            nicht gelösten Probleme, wie das Fehlen einer stufengleichen
Ein Wechsel in eine höhere Entgeltgruppe ist häufig mit ei-      Höhergruppierung, in weite Ferne gerückt.
nem Übergang in eine niedrigere Erfahrungsstufe verbunden.
                                                                 Als Fazit ist festzustellen, dass der Abschluss zwar in der allge-
Dadurch können sich finanzielle Nachteile für die höhergrup-
                                                                 meinen Einkommensentwicklung begrüßenswert ist. Er ent-
pierte Lehrkraft ergeben. Die Forderung der Gewerkschaften,
                                                                 spricht jedoch leider nicht den modernen Abschlüssen anderer
Beschäftigte und damit auch Gymnasiallehrkräfte bei Aufstieg
                                                                 Branchen, die deutlich stärker die aktuellen Vorstellungen der
in eine höhere Entgeltgruppe stets mindestens in die bisheri-
                                                                 Arbeitnehmer zu Arbeits- und Lebensbedingungen in der Ge-
ge Erfahrungsstufe einzugruppieren, konnte auch in dieser
                                                                 sellschaft berücksichtigen. Als Beispiel sei hier die Metallindus-
Tarifrunde nicht durchgesetzt werden. Der Garantiebetrag,
                                                                 trie oder die Deutsche Bahn genannt – mit einer Wahlmöglich-
der den Mindestwert der Erhöhung des Tabellenwertes bei
                                                                 keit hinsichtlich mehr Einkommen oder mehr Freizeit. Bei den
einer Höhergruppierung festlegt, wird jedoch ab 1. Januar
                                                                 Lehrkräften wäre dies die Wahl zwischen mehr Geld oder weni-
2019 in den für Gymnasiallehrkräfte relevanten Entgeltgrup-
                                                                 ger Pflichtstunden in Analogie zu der Wochenarbeitszeit bei an-
pen (ab E 9) von 64,13 Euro auf 180,00 Euro angehoben.
                                                                 deren Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Hier erwarten
                                                                 wir von den Verhandlungsführern des dbb beamtenbund und
    Jahressonderzahlung
                                                                                                                                    ■
>
                                                                 tarifunion in Zukunft mehr Innovation.
Die Jahressonderzahlung wird bis 2021 auf dem Niveau von
2018 eingefroren. Die letzte Stufe der Anhebung der Sonder-      >
                                                                     Die dbb Bundestarifkommission stimmte dem Tarifkompromiss zu
zahlung Ost auf das Niveau West wird aber 2019 durchgeführt.

Damit sinkt das Niveau der Jahressonderzahlung in der 13
von 50 Prozent des durchschnittlichen Gehaltes der Monate
Juli, August und September im Jahr 2018 auf etwa 46,5 Pro-
zent im Jahr 2012, in der 14 und 15 von 35 Prozent auf etwa
32,5 Prozent im gleichen Zeitraum.

    Beispielrechnung für eine Lehrkraft
    in der Entgeltgruppe 13, Stufe 6:

    Durch das Tarifergebnis wird die Jahressonderzahlung im
    Tarifgebiet Ost 2019 auf das West-Niveau von 2729,20
    Euro angehoben und verbleibt bis 2021 auf diesem
    Stand. Ohne das Einfrieren würde sie bis 2021 bis auf
    2936,47 Euro anwachsen. Dem Gehaltszuwachs von ins-
    gesamt 4974,36 Euro im Jahr 2021 zum Jahr 2018 steht
    somit eine Reduktion von 207,27 Euro gegenüber.

                                                                                                       > PROFIL | April 2019   15
PROFIL > inklusion: interview

Interview:

»Man darf diese Dinge
 nicht verschweigen«
Zu schnell, zu radikal, zu ideologisch – die Art,
wie Inklusion an Schulen in Deutschland umge-
setzt wird, schadet dem Bildungssystem und
gefährdet das Wohl vieler Kinder. Dieser Mei-
nung ist der Gymnasiallehrer und Autor Micha-
el Felten. Im Interview mit Johanna Böttges
plädiert er für eine ehrlichere Debatte.

Herr Felten, was läuft falsch      fahrungen haben Sie persön-
bei der Umsetzung der Inklu-       lich mit Inklusion gemacht?
sion?                              In Metropolen wie Köln ge-
Das Ganze geht aus von der         hen etwa sechzig Prozent ei-
UN-Behindertenrechtskon-           nes Jahrgangs aufs Gymnasi-
vention, die dafür plädiert, al-   um. Das heißt, wir haben
len Kindern das Recht auf Bil-     schon jetzt, ohne Kinder mit
dung im allgemeinen Schul-         Lernbeeinträchtigung, eine
system zu gewährleisten. In        riesige Palette an Leistungs-
Deutschland ist von Teilen des     fähigkeiten. Es ist überhaupt
pädagogischen Diskurses da-        nicht möglich, jedem Schüler
raus gemacht worden: Alle          gerecht zu werden. Da kom-       >
                                                                        Michael Felten arbeitete 36 Jahre als Gymnasiallehrer für Mathematik
Kinder mit Beeinträchtigun-        men entweder die Schwä-
                                                                        und Kunst in Köln. Er ist Dozent in der Lehrerausbildung und Autor päd-
gen haben in Zukunft das           cheren zu kurz, denen man
                                                                        agogischer Sachbücher. Für ‘Zeit Online’ beantwortet er Fragen an den
Recht, an jeder Schulform un-      versucht, am Gymnasium ei-
                                                                        Lehrer in der Serie ‘Schulfrage’. Sein jüngstes Projekt findet sich unter:
terrichtet zu werden – was         ne Chance zu geben – oder            www.initiative-unterrichtsqualitaet.de
letztlich, wenn man es prak-       die Leistungsstarken. Es ist
tisch betrachtet, entweder ei-     schwer vorstellbar, worin der
ne extrem teure Lösung be-         Sinn bestehen soll, auch
                                                                   lichst die ganze Vielfalt auch        te von Schülern, die besser
deuten würde oder massive          noch Kinder mit geistigen
                                                                   anderer Menschen kennen-              zurechtkommen. Damit ris-
Beeinträchtigungen des Ler-        Entwicklungsstörungen auf-
                                                                   lernen sollen. Und wenn im            kiert man zusätzliche Ent-
nens für alle Beteiligten. Die     zunehmen, die dort über-
                                                                   allgemeinen Schulgesetz von           wicklungsstörungen für die-
UNO hatte aber primär dieje-       haupt keine Mitlernperspek-
                                                                   Nordrhein-Westfalen steht,            ses Kind. Für die anderen un-
nigen Länder im Auge, in de-       tive haben.
                                                                   Eltern haben das Recht, für           ter Umständen auch. Und
nen Kinder mit Behinderung
                                   Sie sprechen von einer »In-     ihr Kind mit besonderem För-          für den Lehrer, der versucht,
bislang vom öffentlichen
                                   klusionsfalle«. Warum?          derbedarf eine Regelschule            sich zu zerreißen, eben auch.
Schulsystem ausgeschlossen
                                   Weil das Schlagwort ‘Ge-        zu wählen, hört sich das gut
sind. Was die UNO überhaupt
                                   meinsames Lernen’ auf den       an. Aber wenn das Kind dann           Wenn das Gemeinsame Ler-
nicht wollte, war, unser hoch-
                                   ersten Blick sehr wohltuend     dort im Gegensatz zur För-            nen Grenzen hat, inwieweit
entwickeltes Förderschulsys-
                                   anmutet. Es ist sicher eine     derschule nur zwei oder drei          kann man dann überhaupt
tem einzustampfen und dafür
                                   grundsätzlich sinnvolle pä-     Stunden pro Woche von ei-             noch von Inklusion spre-
zu sorgen, dass sich in
                                   dagogische Herangehens-         ner sonderpädagogischen               chen?
Deutschland eine Einheits-
                                   weise, dass man versucht,       Kraft betreut wird, fällt die-        Die radikale Inklusion nach
schule entwickelt.
                                   keine unnötigen Trennungen      ser wohlklingende Begriff in          dem Motto »Wir gehen alle
Sie sind Lehrer an einem Köl-      zwischen Schülern zu vollzie-   sich zusammen. Es erlebt die          in dieselbe Schule und das
ner Gymnasium. Welche Er-          hen. Dass die Kinder mög-       riesigen Leistungsfortschrit-         tut uns allen am besten« >

                                                                                                           > PROFIL | April 2019      17
PROFIL > inklusion: interview

      Anteil der Schüler mit sonderpädagogischer Förderung                                                                 oder Außenklassen. Das ist ei-
                                                                                                                           ne Förderklasse in einem
              Angaben in Prozent aller Schüler an allgemeinbildenden Schulen
                                                                                                                           Schulverband, also etwa einer
                                                                                                                           Real- oder Hauptschule, die
                                                                                                                           eine Regelklasse als Partner-
                                                                                                                           klasse hat. Und die sind in di-
                                                                                                                           rektem Austausch. Sie ma-
                                                                                                                           chen nicht nur Feste und Au-
                                                                                                                           ßerschulisches zusammen,
                                                                                                                           sondern haben zum Beispiel
                                                                                                                           Sport zusammen. Alles, wo
                                                                                                                           man wirklich Gemeinsamkeit
                                                                                                                           erleben kann.

                                                                                                                           Sinnvoll können auch Partner-
                                                                                                                           schulen sein. Förderschule
                                                                                                                           und Regelschule können in
                                                                                                                           dichterem Kontakt zueinan-
                                                                                                                           der stehen, nicht nur baulich.
                                                                                                                           Es ist auch denkbar, so wie es
                                                                                                                           in Nordrhein-Westfalen jetzt
                                                                                                                           angestrebt wird, Schwer-
                                                                                                                           punktschulen zu bilden, zum
                                                                                                                           Beispiel im Sekundarstufe I-
                                                                                                                           Bereich oder im Grundschul-
                                                                                                                           bereich. Das sind Regelschu-
                                                                                                                           len, an denen besonders gute
                                                                                                                           Bedingungen bestehen, um
                                                                                                                           Kindern mit besonderem För-
    Das Angebot an Förderschulen ist zwar insgesamt rückläufig, doch in der Mehrzahl der Bundesländer                      derbedarf gerecht zu werden.
    bleiben sie der vorherrschende Ort für sonderpädagogische Förderung. Von insgesamt rund 520.000                        Dann wäre also nicht mehr je-
    Schülern mit sonderpädagogischer Förderung wurden im Schuljahr 2016/2017 knapp sechzig Prozent                         de Grundschule verpflichtet,
    in Förderschulen unterrichtet. Die Inklusions- und Förderquoten variieren jedoch stark je nach Bun-                    Förderkinder aufzunehmen,
    desland.                                                 Quelle: Sekretariat der KMK 2018/Nationaler Bildungsbericht   wie von der Vorgängerregie-
                                                                                                                           rung gedacht. Dort wären
                                                                                                                           aber auch mehrere Sonderpä-
ist einfach eine Illusion. An            rungen mit dieser Art von in-              gut aufgehoben sein kön-
                                                                                                                           dagogen, die alle Förderbe-
Modellschulen hat man sehr               tegrierender Bildung ge-                   nen. Denn sie erleben dort
                                                                                                                           darfe abdecken, sodass diese
fruchtbare Erfahrungen mit               macht. Aber wenn jetzt an                  nicht das, was man sich un-
                                                                                                                           Schulen den Kindern die ge-
begrenzter Inklusion ge-                 allen Schulen der Sparmodus                ter dem Begriff Gemeinsa-
                                                                                                                           ballte Kompetenz der sonder-
macht, früher Integration ge-            der Inklusionsschule prakti-               mes Lernen vorstellt. Sie er-
                                                                                                                           pädagogischen Fachkräfte zur
nannt. Zu 20 oder 25 ‘Regel-             ziert wird – der Sonderschul-              leben gerade den großen Un-
                                                                                                                           Verfügung stellen. Das war in
kindern’, wie ich das kurz               lehrer guckt nur noch spora-               terschied. Wir haben es bei
                                                                                                                           den letzten vier oder fünf Jah-
nenne, kommen 5 wohlaus-                 disch rein und vielleicht ist              dieser überhasteten und
                                                                                                                           ren nicht der Fall.
gesuchte Förderkinder, die               ab und zu noch ein Schulbe-                schlecht ausgestatteten In-
einen ähnlichen Förderbe-                gleiter dabei –, dann können               klusion mit einer Logik des            Welche Rolle sollten Förder-
darf haben. Neben der nor-               wir unsere Modellschulen                   Misslingens zu tun. Man fin-           schulen künftig spielen?
malen Grundschullehrerin                 schließen.                                 det einen schönen Begriff,             Unsere Förderschulen, in de-
hat die Klasse eine Sonder-                                                         ‘Gemeinsames Lernen’, um               nen die Lehrer kleine Gruppen
pädagogin, die die ganze                 Für wen kann so ein integra-               das Empfinden von Unter-               betreuen und die Kinder über
Zeit mit dieser kleinen Grup-            tiver Unterricht gelingen                  schieden zu reduzieren. Tat-           längere Zeit kennen, haben
pe und in Verbindung mit                 und für wen nicht?                         sächlich wird dieses dadurch           bisher sehr gute Arbeit geleis-
den Regelschülern arbeiten               Das kommt auf die Schul-                   aber verstärkt.                        tet. Das ist durch die Inklusi-
kann. Das ist etwas, das                 form an, also das Anforde-                                                        onseuphorie der letzten Jahre
funktioniert. Es liegen mitt-            rungslevel eines Gymnasi-                  Kennen Sie Positivbeispiele?           arg in den Hintergrund getre-
lerweile aber jede Menge                 ums, einer Realschule, einer               In einigen Bundesländern               ten. Die Förderschule sollte
Warnungen und Erfahrungs-                Hauptschule. Und da ist es                 gibt es andere Zugangswei-             auf jeden Fall erhalten blei-
berichte von Lehrern und Lei-            sicher so, dass Kinder etwa                sen. Dazu gehört zum Bei-              ben, weil sie den Kindern mit
tern solcher Schulen vor, die            mit dem Förderschwerpunkt                  spiel in Bayern und Baden-             besonderen Entwicklungsstö-
sagen: Wir haben bis zu drei-            geistige Entwicklung an ei-                Württemberg die Etablie-               rungen – entweder in be-
ßig Jahre sehr positive Erfah-           ner Realschule nicht wirklich              rung sogenannter Partner-              stimmten Phasen ihrer Schul-

 18        > PROFIL | April 2019
PROFIL > inklusion: interview

laufbahn oder in manchen                                           werden, wenn für sie kein ex-     sie versucht, eine Verbindung
Fällen auch während der gan-
                                  ZUM WEITERLESEN                  pliziter Förderbedarf im          zwischen Gemeinsamem und
zen Zeit – die besseren Förder-       Michael Felten:              schwereren Sinne festgestellt     Besonderem zu schaffen. Das
bedingungen bietet.                   ‘Die Inklusionsfalle –       wird. Wir müssen jedem Kind       sieht man in jedem Fachun-
                                      Wie eine gut gemeinte        stärker gerecht werden. Das       terricht, bei jeder Klassenun-
Die Übergänge zwischen För-           Idee unser Bildungssystem
                                                                   bedeutet zum Beispiel für         ternehmung. Sie haben im-
derschulen und Regelschulen           ruiniert’
                                      Gütersloher Verlagshaus      hochbegabte Kinder, dass sie      mer Kerne, die sie gemeinsam
müssten aber flexibler sein.
                                                                   einerseits mit weniger leis-      gestalten können, aber bei
Man müsste immer entschei-
                                                                   tungsstarken Kindern zusam-       einzelnen Schülern jeweils
den können: Wo soll ein Kind
                                                                   menkommen, andererseits           spezielles Vorwissen, spezielle
jetzt im Moment, für das
                                                                   aber auch spezielle Anre-         Interessen, spezielle Abnei-
nächste Quartal oder Halb-
                                                                   gungs- und Verwirklichungs-       gungen, spezielle Schwierig-
jahr, beschult werden? Wir
                                                                   möglichkeiten finden. Es ist      keiten. Das muss man versu-
müssen dual-inklusiv denken.
                                                                   tragisch, dass wir durch die-     chen zu verbinden. Die Erfah-
Diesen Begriff hat Otto Speck,
                                                                   sen unausgereiften Inklusi-       rung zeigt, dass das innerhalb
emeritierter Sonderpädagoge
                                                                   onssturm in manchen Bun-          eines sorgfältig gegliederten
der LMU München, geprägt.
                                                                   desländern in eine Situation      Schulsystems eigentlich gut
Es geht darum, für jedes ein-
                                                                   gekommen sind, wo alle Be-        möglich war. Das gegliederte
zelne Kind festzustellen, wo
                                                                   troffenen ganz schnell sagen:     Schulsystem ist viel effektiver
es optimal aufgehoben ist.
                                                                   Damit will ich lieber nichts zu   und sinnvoller, als manche
Das ist für die meisten Kinder
                                                                   tun haben.                        Debatten nahelegen. Man hat
die Regelschule. Und für man-
                                                                                                     auch innerhalb einer Gymna-
che Kinder ist es eben, pha-
                                                                   Beim Inklusionsgedanken           sial-, Haupt- oder Realschul-
senweise oder auch für die
                                  Zwischen den Stühlen stehen      geht es auch um den Um-           klasse ein Leistungsspektrum.
ganze Schulzeit, die Förder-
                                  auch Kinder, die als Legasthe-   gang mit Heterogenität im         Die sind nicht homogen. Aber
schule mit ihrer hochspezifi-
                                  niker anerkannt wurden oder      weiteren Sinne, zum Beispiel      man kann in dieser gemäßig-
schen Expertise.
                                  denen man eine Rechen-           hinsichtlich kultureller oder     ten Heterogenität besonders
Die Gruppe der Hochbegabten       schwäche attestiert hat. Das     sozialer Hintergründe. Wie        gut lernen.                   ■
steht häufig zwischen den         sind alles Kinder, die bisher    lässt sich damit umgehen?
Stühlen. Wo sehen Sie künftig     Förderung erfuhren und de-       Es ist eine grundsätzliche He-    Erstveröffentlichung:
deren Platz?                      nen jetzt Fördermittel gekürzt   rausforderung für Schule, dass    Begegnungen Nr. 2-2018
PROFIL > gastbeitag: inklusion

                                     ta le n? Full
                                  To lusio
                                   In k
Foto: Sangoiri/AdobeStock

                                                                  Fakten und
                                                                  Überlegungen
                                                                  zur Situation in
                                                                  Deutschland
                                                                  und den USA

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PROFIL > gastbeitrag: inklusion

Inclusion?

      von BERND AHRBECK, JEANMARIE BADAR, MARION FELDER,
             JAMES KAUFFMAN & KATRIN SCHNEIDERS

Zusammenfassung: Der Artikel setzt sich mit der Debatte um
eine ‘full inclusion’ in den USA und eine ‘totale Inklusion’ in
Deutschland auseinander. Dabei wird grundlegend auf den In-
klusionsbegriff und das jüngste Dokument der Vereinten Natio-
nen (UN General Comment No. 4, 2016) eingegangen. Eine
vollständige Inklusion hat sich nach Jahrzehnte langen Dis-
 kussionen und Erfahrungen weder in den USA noch in an-
    deren Ländern als praktikabel erwiesen. Die Autoren
    und Autorinnen plädieren für
   ein moderates Inklusionsver-
  ständnis. Sie äußern die Be-
 fürchtung, dass das Bestreben
nach ‘full inclusion’/’totaler In-
klusion’ den spezifischen Auftrag
der Sonderpädagogik untergra-
ben und sie möglicherweise so-
gar existentiell gefährden kann.

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                                                                                   > PROFIL | April 2019   21
PROFIL > gastbeitag: inklusion
                                                                                                                            Fo
                                                                                                                               t   o:
                                 Die Behindertenrechtskonvention ist inzwi-

                                                                                                                                    uf
                                                                                                                                      ot
                                                                                                                                        op
                                    schen von Deutschland, Österreich und

                                                                                                                                        ix l
                                                                                                                                           10
                                      der Schweiz unterzeichnet worden,

                                                                                                                                             /A
                                                                                                                                                d
                                                                                                                                                ob
                                               nicht aber von den USA!

                                                                                                                                                e St
                                                                                                                                                    ock
                      ie gemeinsame Beschulung von Schüle-
                    rinnen und Schülern mit und ohne Behin-
                derung ist ein über die Jahrzehnte kontrovers
diskutiertes Thema der Sonderpädagogik. Die Debatten wer-
den mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Positio-
nen sowohl in den USA als auch in Deutschland sowie in ande-
ren europäischen Staaten geführt. Auch wenn die spezielle Be-
schulung von lernbeeinträchtigten Kindern in Deutschland his-
torisch einen Sonderweg darstellt, liegen allgemeine Fragestel-
lungen zur Integration/Inklusion und solche, die sich auf die
gesamte Breite der Förderschwerpunkte beziehen, in vielen
Ländern recht nahe beieinander.
Die Situation in den USA ist insofern bis heute von besonderer
Bedeutung, als die dortige Entwicklung in den letzten vierzig         >   Die schulische Umsetzung von Inklusion
Jahren maßgeblich zur gemeinsamen Beschulung von Kindern                  und UN- Behindertenrechtskonvention
und Jugendlichen mit und ohne Behinderung beigetragen hat.                in nationalstaatlichen Settings
Wie in keinem anderen Land sind in den USA die Bürgerrechte
von Menschen mit Behinderung schon früh im American for              In Deutschland wird heftiger als in anderen europäischen Län-
Disabilities Act (ADA) gesetzlich verankert worden. Die Behin-       dern darüber gestritten, wie die BRK auszulegen ist. Bislang
dertenrechtskonvention (BRK) wird deshalb mitunter auch als          existiert hier, ebenso wie in anderen Ländern keine allgemein
Weiterentwicklung der ADA angesehen. Es soll deshalb der Fra-        anerkannte Definition der Inklusion. Die Auffassungen darü-
ge nachgegangen werden, welche Schlüsse sich aus dem im-             ber, was unter Inklusion zu verstehen sei, variieren erheblich.
mensen amerikanischen Erfahrungsschatz für die gegenwärti-           Den einen Pol bildet die Vorstellung, Inklusion sei unteilbar:
ge Situation in Deutschland ziehen lassen.                           Alle Schülerinnen und Schüler müssten in einer Klasse unter-
                                                                     richtet, jegliche institutionelle Differenzierung aufgegeben
Die fachlichen Auseinandersetzungen und politischen Kontro-          und von Behinderungskategorien weitgehend Abstand genom-
versen um die Integration sind ähnlich wie in Europa auch in         men werden (Hinz und andere 2010). Diesem totalen Inklusi-
den USA nicht abgeschlossen. Sie setzen sich inzwischen vor          onsverständnis entspricht der Begriff der ‘full inclusion’, der
allem unter dem Stichwort der Inklusion fort. Die von den Ver-       sich in den angelsächsischen Ländern durchgesetzt hat. Die
einten Nationen 2006 verabschiedete BRK hat wesentlich dazu          Vollzeitunterrichtung aller Kinder in einer Regelklasse gilt die-
beigetragen, dass sich die Diskussion um die gemeinsame Be-          ser Inklusionsvorstellung zufolge als ausschließlich legitimer
schulung intensiviert und in Teilen an Schärfe zugenommen            Bezugspunkt (Felder/Schneiders 2016).
hat. Bemerkenswerterweise ist die BRK inzwischen von
Deutschland, Österreich und der Schweiz unterzeichnet wor-           Am anderen Ende des Spektrums findet sich ein Inklusionsver-
den, nicht aber von den USA, wobei dort die staatliche Souve-        ständnis, das sehr viel moderater ausfällt. Entschieden wird für
ränität ebenso wie bei anderen internationalen Konventionen          mehr schulische Gemeinsamkeit plädiert, eine totale Auflö-
eine wichtige Rolle spielt.                                          sung aller speziellen Einrichtungen aber abgelehnt, der Wert
PROFIL > gastbeitrag: inklusion

       einschlägiger Fachkategorien betont und Bildungsstandards
       als eine kulturelle Notwendigkeit angesehen, die nicht in Fra-
       ge gestellt werden darf. Der Fördergedanke gilt als besonders
       hohes Gut. Jedes Kind soll den für sich angemessenen päda-
       gogischen Rahmen und richtigen Ort erhalten; das kann auch
       eine spezielle Einrichtung sein. Im angloamerikanischen
       Sprachgebrauch wird diese Position als ‘inclusion’ bezeichnet.

       Vor diesem Hintergrund lässt sich die heftige Kritik einordnen,
       die der UN-Fachausschuss (CRPD 2015) an der Verwirklichung
       der Rechte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland
       geübt hat – unterstützt von zahlreichen deutschen Institutio-
       nen, Organisationen und Einzelpersonen (zum Beispiel Schu-
       mann 2016). Die BRK werde in Deutschland, so heißt es dort,
       im Bildungsbereich nur inkonsequent, unzureichend und
       schlechter als in anderen Ländern umgesetzt. Deutschland
       verfehle die Ziele der Inklusion auch deshalb, weil Kinder mit
       Behinderung nur auf einem qualitativ niedrigen Niveau geför-
       dert würden.

       In einer gemeinsamen Stellungnahme von Bund und Ländern
       unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und
       Soziales und unter Mitwirkung der Bundeskultusministerkon-
                                                 ferenz wird dem ent-
                         Foto: mimpki/AdobeStock    schieden widerspro-
                                                        chen. Das soge-
                                                         nannte ‘German
                                                         Statement’
                                                         (2015) verdeut-
                                                         licht, »dass
                                                         Deutschland
                                                         nicht bereit ist,
                                                         der normativen
                                                         Auslegung des
                                                         Fachausschusses
>                                                        zu folgen« (Eser
    Jedes Kind soll den für sich angemessenen
                                                         2016, 23). Auch
    pädagogischen Rahmen und richtigen Ort
    erhalten, der Fördergedanke gilt hier als
                                                         zukünftig soll ein
    besonders hohes Gut.                                 Weg beschritten
                                                         werden, der insti-
       tutionelle Differenzierungen vorsieht und Sonderschulen mit
       einschließt. Eine ‘Menschenrechtsverletzung’ wird darin nicht
       gesehen. Im ‘German Statement’ (Absatz 11) heißt es: »Der
       Begriff ‘Segregation’ hat eine starke negative Konnotation. Als
       Vertragsstaat ist Deutschland mit einer solchen Ansicht nicht
       einverstanden. Das Bildungssystem in Deutschland baut auf
       das natürliche Recht der Eltern auf, die Erziehung und Bildung
       ihrer Kinder zu bestimmen, das in Artikel 6 (2) des Grundge-
       setzes gewährleistet ist. Ein Bildungssystem, das den Eltern
       erlaubt, zwischen Inklusion in Regelschulen und Sonderschu-
       len zu wählen, hält sich an diese Verfassungsgrundsätze.«
       Und zur Bildungsqualität wird ausgesagt: »Deutschland weist
       darauf hin, dass die Vorstellung für Deutschland nicht gültig
       ist, dass Schüler an Sonderschulen Bildung von geringwertiger
       Qualität erfahren« (German Statement 2015, Absatz 4). Dem
       stehe auch die außerordentlich fundierte akademische Ausbil-
       dung der Lehrkräfte entgegen.

       Zur aktuellen Faktenlage: Gegenwärtig werden in Deutsch-
       land rund 508.000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpäda-
       gogischem Förderbedarf unterrichtet, davon rund 335.000 >

                                               > PROFIL | April 2019     23
PROFIL > gastbeitrag: inklusion

                                       an speziellen Förderschulen und etwa 173.000 an allgemeinen          die allerdings nur dann vorzuziehen ist, wenn sie nicht mit
                                       Schulen. Die gemeinsame Beschulung von Schülerinnen und              speziellen Förderbedürfnissen kollidiert.
                                       Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist in den
                                                                                                            In den Jahren 2012/2013 betrug die Förderquote in den USA
                                       letzten Jahren deutlich angestiegen, von 2009 bis 2014 hat
                                                                                                            dreizehn Prozent. Die meisten Schüler mit sonderpädagogi-
                                       sich ihr Anteil von 19,2 Prozent auf 34,1 Prozent erhöht. Dabei
                                                                                                            schem Förderbedarf werden in Regelschulen unterrichtet, nur
                                       muss jedoch beachtet werden, dass sich die Förderquote
                                                                                                            2,9 Prozent aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung
                                       selbst verändert hat, seit 2005 von 5,7 Prozent auf 7,0 Prozent
                                                                                                            gehen in private (Sonder-)Schulen oder staatliche Sonderschu-
                                       aller Schülerinnen und Schüler. Die Folge ist, dass die gemein-
                                                                                                            len. Bei gemeinsamer Beschulung nehmen 61,8 Prozent der
                                       same Beschulung zwar zunimmt, zugleich aber die Anzahl der
                                                                                                            Kinder und Jugendlichen mehr als achtzig Prozent der Zeit am
                                       speziell Beschulten nur begrenzt zurückgeht (KMK 2016).
                                                                                                            regulären Unterricht teil (45,1 Prozent der Schülerinnen und
                                       Obwohl in den USA ähnlich wie in Deutschland über die schu-          Schüler mit Verhaltensstörungen, 16,3 Prozent der Kinder und
                                       lische Inklusion und den Inklusionsbegriff diskutiert wird, be-      Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung, 13,3 Pro-
                                       steht dort eine ganz andere rechtliche Ausgangslage. Das US-         zent derjenigen, die eine Mehrfachbehinderung aufweisen).
                                       Bundesgesetz, das die Sonderpädagogik seit 1975 regelt, ist          Etwa sechzig Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Lern-
                                       der ‘Individuals with Disabilities Education Act’. Darin ist ein     behinderungen besuchen überwiegend den Regelunterricht
                                       Kontinuum von alternativen Platzierungen vorgesehen, ge-             (National Center for Education Statistics 2015). Auch wenn die
                                       mäß des im IDEA Act festgelegten Prinzips der ‘least restricti-      speziellen Beschulungen rückläufig sind, kann von einer
                                       ve environment’ – also keine ‘full inclusion’ oder totale Inklusi-   durchgängigen gemeinsamen Beschulung nicht die Rede sein.
                                       on. Der US-Bundesgerichtshof hat dies ausdrücklich bestätigt:        Eine totale Inklusion ist im Rahmen einer mehr als vierzigjäh-
                                       Die ‘full inclusion’ widerspricht diesem Gesetz, ist also mit der    rigen Integrations- und Inklusionstradition bisher nicht er-
                                       geltenden Rechtsordnung unvereinbar. Gleichwohl wird inzwi-          reicht worden – trotz eines erheblichen Ressourceneinsatzes.
                                       schen auch in den USA eine totale Inklusion eingefordert, mit
                                                                                                            Die visionäre Vorstellung einer ‘full inclusion’, die zu einem
                                       Hinweis auf die BRK und ihren Artikel 24 (Kauffman und ande-
                                                                                                            neuen Zeitalter der Pädagogik führt, in einer Schule, die sich
                                       re 2017b).
                                                                                                            als exemplarischer Vorläufer einer wahrhaft inklusiven Gesell-
                                                                                                            schaft erweist, findet bisher nirgends Erfüllung. Eine vollstän-
Foto: WavebreakMediaMicro/AdobeStock

                                                                                                            dige Inklusion gibt es nach Angaben der World Health Organi-
                                                                                                            zation (WHO 2011) bislang in keinem Land der Welt. Und es
                                                                                                            spricht einiges dafür, dass sie nur unter ganz erheblichen
                                                                                                            Schwierigkeiten zu realisieren oder sogar gänzlich unmöglich
                                                                                                            ist. Das belegen unter anderem Erfahrungen aus Ländern mit
                                                                                                            einer langen Integrationskultur. Die Probleme, die dort auftre-
                                                                                                            ten, ähneln denen, die auch in den USA unter anderen Aus-
                                                                                                            gangsvoraussetzungen bestehen. Bildungstraditionen und
                                                                                                            vorgängige Schulstrukturen spielen dabei nur eine begrenzte
                                                                                                            Rolle. Die sich neu entfaltenden Problemlagen folgen offen-
                                                                                                            sichtlich einer eigenen inneren Logik, die über eine erhebliche
                                                                                                            Durchschlagskraft verfügt.

                                                                                                            Die hohen Ideale, die an eine inklusive Umsteuerung geknüpft
                                                                                                            wurden, haben sich als nur begrenzt realistisch erwiesen. An
                                                                                                            vielen Orten wurden die ursprünglichen Ziele wieder aufgege-
                                                                                                            ben und auf Strukturen zurückgegriffen, die bis dahin als ent-
                                        >                                                                   behrlich bzw. überwunden galten. Einiges Aufsehen hat eine
                                            Die aktuelle Faktenlage zeigt, dass die gemeinsame
                                            Beschulung von Schülerinnen und Schülern in den                 Schrift Warnocks (2005) erregt, in der sie sich für Großbritan-
                                            letzten Jahren deutlich angegestiegen ist.                      nien von der zuvor vehement vertretenen Idee einer totalen
                                                                                                            Inklusion verabschiedet hat.
                                       Ein solches Inklusionsverständnis ist auch umstritten und das        Die Einsicht, dass eine vollständige Entdifferenzierung des
                                       nicht nur innerhalb der Wissenschaft. Stärker als in Deutsch-        Schulsystems weder sinnvoll noch möglich ist, findet sich
                                       land und mit mehr politischem Gewicht nehmen dort die gro-           auch in Norwegen, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen.
                                       ßen Interessensverbände behinderter Menschen Stellung. Sie           Spezielle Einrichtungen werden dort wieder vermehrt ange-
                                       vertreten dabei zum Teil Positionen, die sich deutlich von einer     boten, zum Teil auf Wunsch der Eltern oder weil pädagogische
                                       ‘full inclusion’ abwenden und dem nahestehen, was in                 Notwendigkeiten dies erzwingen, insbesondere bei Schülerin-
                                       Deutschland als moderates Inklusionsverständnis gilt (zum            nen und Schülern mit Verhaltensstörungen. The »era of inclu-
                                       Beispiel: National Association of the Deaf 2002; Learning Dis-       sive education in the Norwegian school system is over. Inclusi-
                                       abilities Association of America 2012). Befürwortet wird ein         ve education is no longer a central topic in Norwegian policy
                                       Nebeneinander unterschiedlicher Beschulungsformen mit                making«, so wird Eva Simonsen, eine führende Inklusionsfor-
                                       dem Ziel, dass jedes Kind den für ihn geeigneten Entwick-            scherin, im IE-Newsletter der Nordic Educational Research As-
                                       lungsweg beschreiten kann. Die Umwelt soll so gestaltet wer-         sociation (2016) wiedergegeben. Finnland unterrichtet knapp
                                       den, dass möglichst viel schulische Gemeinsamkeit entsteht,          40 Prozent Kinder und Jugendliche, die sonderpädagogische

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