"Totale Inklusion? Full Inclusion?" 2019 - Profil - Das Magazin für ...
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Tarifergebnis 2019: Realeinkommen der Gymnasiallehrkräfte steigt! 4 / 2019 Pädagogik & Hochschul Verlag . Graf-Adolf-Straße 84 . 40210 Düsseldorf · Foto: AdobeStock »Totale Inklusion? Full Inclusion?«
PROFIL > auf ein wort ‘Auf ein Wort’ mit den Kultusministern im KMK-Lehrergespräch: Keine unterschiedslose Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, Besoldung! Bundesvorsitzende des Deutschen Liebe Kollegen und Kolleginnen, Wie ist die Sachlage? In Zeiten des Lehr- Philologenverbandes kräftemangels nicht mehr auf dem Markt alljährlich findet das Jahresgespräch der vorhandene Grundschullehrkräfte durch KMK mit den Lehrerverbänden des dbb A oder E 13 gewinnen zu können, wird und der GEW statt. So auch am 14. März. nicht gelingen. Bundesländer, welche die Als die beiden wichtigsten Themen wur- Lehramtsausbildung mit dem 1. Staatsexa- den der Digitalpakt und der Lehrkräfte- men auf ein dem Lehramt fremdes Bache- mangel angesetzt. Und natürlich wurde lor- und Masterstudium umgestellt haben, dabei seitens der GEW das Thema Lehr- haben in der Ausbildungslänge ‘Gleichheit’ kräftemangel für die Forderung ‘A 13 für geschaffen. Das gilt nicht für die Bundes- Grundschullehrkräfte’ funktionalisiert. länder, die erfreulicherweise beim Staats- Und natürlich habe ich als Bundesvorsit- examen geblieben sind. Für die Verleihung zende des DPhV für die höhere Besoldung eines Amts sind die jeweiligen ‘Wertigkei- der Gymnasiallehrkräfte gemäß der de ten’ entscheidend, hier sowohl die Ausbil- facto bestehenden Unterschiede zwischen dung als auch die verantwortungsbewusst dem Amt der Grundschullehrkraft und ausgeübten Tätigkeitsmerkmale im Beruf: dem Amt der Gymnasiallehrkraft argu- In der Grundschule der Unterricht in den mentiert! Klassen 1 bis 4, im Gymnasium der Unter- Das Bild in der KMK zeigte sich zu diesem richt in den Klassen 5 bis 12 bzw. 13. In der Thema diffus: So bekannte sich der sach- Grundschule keine Vergabe eines Schulab- sen-anhaltinische Minister Tullner klar und schlusses, im Gymnasium die Vergabe des deutlich zum Unterschied in den Aufgaben Abiturs. Damit ist verbunden, was jede Ar- und der Besoldung zwischen Grundschul- beitszeituntersuchung bisher bestätigt hat: und Gymnasiallehrkräften. Zwei Seelen in Alle Lehrkräfte arbeiten mehr als sie müs- seiner Brust offenbarte der Hamburger sen, aber die Gymnasiallehrkräfte arbeiten Kultusminister Rabe: einerseits sein Bestre- am meisten, selbst bei einem höheren Un- ben, das Grundschullehramt durch eine terrichtsdeputat der Grundschullehrkräfte: Besoldung nach A 13 aufzuwerten, ande- Natürlich! Eben weil im unterschiedlichen rerseits seine mit den Finanzministern ge- Aufgabenspektrum des Grundschul- und teilten Bedenken der Finanzierbarkeit an- Gymnasiallehramts der arbeitsintensivste gesichts vieler weiterer Baustellen im Bil- Unterschied in der Konzeption, Durchfüh- dungsbereich, die nicht geringer würden, rung und Korrektur von Klausuren im konti- wenn die Philologen dann anschließend nuierlichen Unterrichtsalltag wie in den auch noch A 14 forderten! Die Berliner Prüfungen grundgelegt ist! Senatorin Scheeres bekannte sich klar zur ERGO: Wir argumentieren kontinuierlich unterschiedslosen Bezahlung für Grund- und sachangemessen weiterhin für die schul- und Gymnasiallehrkräfte nach E 13 – höhere Besoldung der Gymnasiallehrkräfte besser wäre eine Verbeamtung der Lehr- und treten für die Akzeptanz und Würdi- kräfte, denn gerade Berlin zeigt, dass mit gung der Unterschiede im Grundschul- und E 13 eben nicht mehr Grundschullehrkräfte Gymnasiallehramt und ihrer Besoldung ein! gewonnen werden: ¾ der neu angestellten Lehrkräfte in Berlin sind keine ausgebilde- Mit herzlichen Grüßen ten Lehrkräfte mehr, sondern Quer- bzw. Seiteneinsteiger. Deutlich wurde auch, dass die Kultusminister einerseits einen ‘Über- bietungswettbewerb’ fürchten, ihm ande- Ihre rerseits aber auch keinen Einhalt gebieten. Susanne Lin-Klitzing > PROFIL | April 2019 3
PROFIL > inhalt > dphv: interview Studien- und Berufsorientierung am Gymnasium Am Gymnasium findet Studienorientierung und schulartspezifische Berufsorientierung statt! 5 > dphv-schlaglichter 8 > frauen im dphv Frühjahrstagung der Frauenpolitischen AG Frühjahrstagung der Frauenpolitischen AG im DPhV Seite 10 im DPhV: Unterrichtsqualität und Lehrkräftegesundheit Aktuelle und dauerhafte Herausforderungen an deutschen und schweizerischen Gymnasien 10 > tarifverhandlungen Steffen Pabst, Markus Gretzschel & Jörg Bohmann: Tarifergebnis 2019 – Realeinkommen der Gymnasiallehrkräfte steigt 14 > inklusion: interview Michael Felten: »Man darf diese Dinge nicht verschweigen« 17 Realeinkommen der > gastbeitrag: inklusion Gymnasiallehrkräfte Bernd Ahrbeck, Jeanmarie Badar, Marion Felder, steigt James Kauffmann & Katrin Schneiders: Seite 14 Totale Inklusion? Full Inclusion? 20 > jahresinhaltsverzeichnis 2018 29 > didacta: rückblick didacta 2019: Der Bildungsgipfel in Köln 33 > vor ort Sachsen-Anhalt: Abitur nun auch KMK-konform 38 Entlastung der Lehrkräfte: Erstmals intensive Gespräche des Bildungs- ministeriums mit den Gewerkschaften 39 Totale Inklusion? Nach Jahren des Kampfes im Schulbereich: Full Inclusion? Erfolg im Personalvertretungsrecht in Sicht 39 Seite 20 Niedersachsen: Fehlende Haltung bei Durchsetzung der Schulpflicht ist fatales Signal 40 > impressum 40 > standpunkt dbb magazin dbb Lehrergewerkschaften: Probleme schulübergreifend anpacken! 41 > nachrichten dbb magazin KMK-Jahresgespräch: Qualität trotz Lehrkräftemangels sichern 42 didacta 2019: > europa dbb magazin Der Bildungsgipfel in Köln Seite 33 Klaus Heeger & Hendrik Meerkamp: Europapolitik: Warum es in der EU manchmal nicht vorangeht 44 > interview dbb magazin Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Wir müssen immer die Frage nach der Finanzierbarkeit beantworten 46 4 > PROFIL | April 2019
PROFIL Foto: fotogestoeber/AdobeStock deten Zielen der Gymnasia- len Oberstufe: vertiefte All- gemeinbildung, Wissen- schaftspropädeutik und all- gemeine Studierfähigkeit. Das sind auch nach Auffas- sung des Deutschen Philolo- genverbands die inhaltlichen Leitlinien des Gymnasiums. Die Bedeutung der Studierfä- higkeit ist gesellschaftlich eng mit den jeweiligen Auf- fassungen von gymnasialer Bildung verknüpft: Absolven- tinnen und Absolventen des Gymnasiums sollen in der La- Studien- und ge sein, an einer Hochschule mit Erfolg zu studieren. Ge- sellschaftlich ist jedoch eine Berufsorientierung Entwicklung festzustellen, die das Abitur nicht nur als Zugangsberechtigung für ein Hochschulstudium versteht, am Gymnasium sondern vor allem als ‘multi- ples Eingangszertifikat’ für alle möglichen Berufswege. Am Gymnasium findet Studienorientierung und ? Heute gehen vierzig Pro- zent der Kinder nach der Grundschule auf ein Gymna- schulartspezifische Berufsorientierung statt! sium. Diese Schülerinnen und Schüler werden an- Das muss sich auch nicht ändern, selbst wenn ein hohes Anspruchsniveau schließend nicht alle studie- in ihren eigenen Lehrervor- ren. Muss das Gymnasium 30 Prozent der Studierenden das Studium abbre- trägen, in den Gruppenauf- nicht auch auf die berufliche chen, 25 Prozent der Ausbildungsanfängerinnen gaben, die sie uns Schülerin- Bildung vorbereiten? und -anfänger eine Hochschulzugangsberechti- nen und Schülern gab, und LIN-KLITZING: Die Über- gung haben und 40 Prozent der Kinder nach der auch in der sorgfältigen gangsquote an das Gymnasi- Rückmeldung von Hausauf- um ist von 2006 bis 2016 von Grundschule auf ein Gymnasium wechseln! gaben und Klausuren. Es gab durchschnittlich 30 auf 41 Das Netzwerk Berufswahl-SIEGEL hat die sehr klare, wenn auch nicht Prozent angestiegen, in man- immer angenehme Rückmel- chen Städten erreicht sie Bundesvorsitzende der Gymnasiallehrkräfte, dungen zu unseren Leistun- knapp 60 Prozent. Es gibt in Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, befragt! gen, verbunden mit mensch- den meisten Ländern keine licher Wärme. Vorbildhaft für verbindliche Übergangsemp- ? Frau Professorin Lin-Klit- zing, was wollten Sie als ausgesprochen positive Er- fahrung. Ich habe dort von mich. fehlung mehr. Das Abitur, möglich als Abschluss an ver- Kind einmal werden? LIN-KLITZING: Seit ich drei- zehn Jahre alt bin, wollte ich Inhalten Kenntnis bekom- men, die sich mir durch mein Elternhaus nicht erschlossen ? Sie sind Vorsitzende des Deutschen Philologenver- bandes, also der Gymnasial- schiedenen Schularten, nicht nur Gymnasium, wurde 2006 von 34, 2016 von 43 Prozent Lehrerin werden. haben. Ich habe die im Un- lehrerinnen und -lehrer in erworben, ein Studium wird terricht vermittelten Inhalte Deutschland. Sie sagen, Auf- aktuell von über 55 Prozent ? Was war auf Ihrem Weg in den Beruf entschei- dend – eine Erfahrung, eine quasi ‘aufgesogen’. Zum an- deren hat mich in der Gym- nasialen Oberstufe meine gabe des Gymnasiums sei vor allem die ‘allgemeine Studierfähigkeit’. Was ist der jungen Menschen aufge- nommen. Allerdings brechen mehr als 1/3 bereits vor dem Person, ein Zufall? Deutsch-Leistungskurslehre- damit genau gemeint? Erreichen eines Abschlusses LIN-KLITZING: Das waren rin, Frau Dr. Wartenberg, ge- LIN-KLITZING: Das Gymnasi- ihr Studium ab. Schulerfahrungen und vor prägt. Sie lebte ihre Fächer um als ein durchgängiger allem eine Person: Zum ei- Deutsch und Geschichte, sie Bildungsgang ist geprägt Die nicht am Gymnasium er- nen war die Schule, besser war ein sprudelnder Quell von den durch die Kultusmi- worbenen Hochschulzu- der Unterricht für mich eine von Wissen. Sie verkörperte nisterkonferenz verabschie- gangsberechtigungen er- > > PROFIL | April 2019 5
PROFIL > dphv: interview möglichen genauso die di- ten mittleren Bildungsab- sind, die von einem Gymna- wahrnehmen. Sie sollten un- rekte Aufnahme eines Hoch- schluss und eine Stärkung sium mit dem Ziel der Hoch- ter anderem auf professio- schulstudiums wie das an ei- der beruflichen Bildung ein – schulreife bereits umfasst nelle Angebote, wie zum nem Gymnasium erworbene konsequenterweise auch auf werden: schulische Basis- Beispiel die Potentialanalyse Abitur, allerdings stammt der Basis einer veränderten, kenntnisse (zum Beispiel si- und die Berufsberatung von der prozentual größte Anteil auch materiellen Bewertung cheres Lesen und Schreiben), einschlägigen Partnern zu- der Studienabbrecherinnen von akademischen und psychologische Leistungs- rückgreifen. Hier geht es al- und -abbrecher aus der nicht-akademischen Berufen, merkmale (zum Beispiel logi- so um vernünftige Konzepte, Gruppe der nicht-gymnasia- von Ausbildung und Studi- sches Denken), physische die von verschiedenen Ko- len Hochschulzugangsbe- um. Merkmale (zum Beispiel al- operationspartnern getra- rechtigten. Aus meiner Sicht tersgerechter Entwicklungs- gen werden. Der ehemalige ist hier in allererster Linie ei- Ja, und in der Tat gehört zu stand) und Berufswahlreife, Kultusminister von Sachsen- ne frühere, konsequente und den Aufgaben des Gymnasi- unter der Selbsteinschät- Anhalt, Prof. Dr. Olbertz, leistungsorientierte bil- ums laut KMK-Beschluss von zungs- und Informations- führte dazu aus, dass wir dungspolitische Steuerung 1997 ausgewiesenermaßen kompetenz verstanden wird. uns von der Vorstellung der Studien- und Berufsbe- die Berufsorientierung ne- Diese Kriterien der Ausbil- trennen sollten, Wissen- darfe auf der Basis einer ben die Vermittlung von ver- dungsreife gehören auch zur schaft und Beruf hätten Gleichwertigkeit, aber nicht tiefter Allgemeinbildung, Hochschulreife, werden also nichts miteinander zu tun. Natürlich haben sie das und dementsprechend sollte das Gymnasium tatsächlich Be- rufe in den Fokus nehmen – und zwar Berufe, in denen Wissenschaft ausgeübt wird! Wenn Sie mich fragen, was einer guten Studien- und Be- rufsorientierung dient, dann spreche ich mich für gute Ko- operationskonzepte zwi- schen schulischen und au- Foto: geschmacksRaum®/AdobeStock ßerschulischen Partnern aus, in denen jeder genau das tut Gleichartigkeit der berufli- Wissenschaftspropädeutik von ihr umfasst. Dies gilt al- und vermittelt, was er am chen und allgemeinen Bil- und Studierfähigkeit. lerdings nicht umgekehrt: besten kann. dung nötig, die Hand in Die Ausbildungsreife um- Hand mit einer Aufwertung der beruflichen Bildung ? Wir haben den Eindruck, dass sich viele Gymnasien fasst nicht die Hochschulrei- fe. ? Eine ganze Reihe von Gymnasien trägt bereits das Berufswahl-SIEGEL, un- geht. schwer damit tun, auch auf Zum anderen geht es im ser Zertifikat für Schulen mit den Beruf vorzubereiten. Dazu gehört ein frühzeitiges Rahmen einer guten Studi- herausragender Beruflicher Wie kann man es ihnen und professionelles Informa- en- und Berufsorientierung Orientierung. Würden Sie leichter machen? tionsangebot über Schul- um gemeinsame Konzepte das SIEGEL Ihren Kolleginnen LIN-KLITZING: Jede/r soll das und spätere Berufsmöglich- von Schulen und ihren Ko- und Kollegen weiterempfeh- tun, was er kann: Gymnasial- keiten für die Eltern, die über operationspartnern, sowohl len? lehrkräfte sind keine Exper- die Beschulungs- und Berufs- den Universitäten als auch ten für Berufsvorbereitung LIN-KLITZING: Ja, auf jeden wege ihrer Kinder (mit-) ent- den Betrieben. Wir haben und müssen es aus meiner Fall – und das mit vielen gu- scheiden. Dazu gehört auch uns gerade auf der letzten Sicht auch nicht werden, ei- ten Gründen! Einer davon die Wiedereinführung einer Sitzung des Wissenschaftli- ne schulartspezifische Studi- ist, dass mein Stellvertreter differenzierten Leistungsbe- chen Beirats des Deutschen en- und Berufsorientierung im Deutschen Philologenver- wertung mit der Berücksich- Philologenverbands mit dem gehört aber dazu: band Schulleiter eines gro- tigung des Lehrerurteils Thema Studien- und Berufs- ßen Gymnasiums in Augs- beim Übergang von der Zum einen liegen Ausbil- orientierung am Gymnasi- burg ist und erfreulicherwei- Grundschule in die weiter- dungsreife und Hochschul- um beschäftigt. Eingeladene se mit seiner Schule im letz- führenden Schularten. reife insofern nicht weit aus- Experten hoben die Berufs- ten Jahr das Berufswahl-SIE- ■ Grundsätzlich trete ich für einander, als Kriterien für die wahl als Lebensaufgabe her- GEL erhielt! ein differenziertes Schulsys- Aufnahme einer Berufsaus- vor. Aus ihrer Sicht sei es tem mit einem anspruchs- bildung nach dem Nationa- aber nicht förderlich, wenn Erstveröffentlichung: vollen Abitur, einem aussa- len Pakt für Ausbildung und Lehrerinnen und Lehrer die- Newsletter für das Netzwerk gekräftigen und nachgefrag- Fachkräftenachwuchs solche se Aufgabe als Additum Berufswahl-SIEGEL 01/2019 6 > PROFIL | April 2019
PROFIL > dphv: schlaglichter KMK Jahresgespräch: Qualität trotz Lehrkräftemangel sichern Die Bundesvorsitzenden der Lehrerverbände im dbb haben sich am 14. März 2019 zum Jahresgespräch der Kultusministerkonferenz in Berlin getroffen. »Wir sind froh, dass die Kultusministerinnen und -minister und die dbb Lehrer- verbände sich einig sind in dem Ziel, trotz des zum Teil massiven Lehrkräfte- mangels die pädagogische Qualität in unseren Schulen zu sichern«, so die übereinstimmende Meinung der Vorsitzenden der dbb Lehrerverbände. Die Vorsitzenden der Lehrerverbände unter dem Dach des dbb(v.l.n.r.): Jürgen Böhm (VDR und zugleich stellvertretender Bundesvorsitzender des dbb), Udo Beckmann (VBE), Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing (DPhV), der Präsident der Kultusministerkonferenz Staatsminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz, Eugen Straubinger (BvLB) und Dr. Bernd Uwe Althaus (KEG). Die Vorsitzenden der Lehrerverbände Jürgen Böhm (VDR), Eugen Straubinger (BvLB), Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing (DPhV), und Udo Beckmann (VBE) im Gespräch mit dem dbb-Bundesvorsitzenden, Ulrich Silberbach (2.v.r.) In den Bildungsbereich investieren Bei der dbb-Bundesvorstandssitzung in Berlin trafen sich die Lehrerverbände im dbb und mahnen angesichts der Missstände: Lehrkräftemangel führt zu Entprofessionalisierung! Es fehlt eine Stärkung der Attraktivität des Lehrerberufs! Wir brauchen Investitionen im Bildungsbereich und überzeugende Konzepte für die junge Generation! Eine neue gute Kooperation Schleswig-Holstein: Die ‘Frauen im DPhV’ begehen Senkung des Unterrichts- den Internatio- deputats dringend notwendig nalen Frauen- Gelungene Vertreterversammlung des Philologenverban- tag internatio- des Schleswig-Holstein: mit Kultusministerin Karin Prien, nal: unter der die in Schleswig-Holstein im letzten Jahr wieder die ver- Leitung von bindlichere Grundschulempfehlung und die schulartspezi- Gabriela Kasig- fische Lehrerbildung einführte, dem Vorsitzenden Jens Fin- keit, nach ei- ger, der das vor zehn Jah- nem Vortrag ren ausgesetzte ehemalige der Bundesvor- ‘Weihnachtsgeld’ und eine sitzenden Lin-Klitzing zum Thema: »Qualität des Unter- Senkung des Unterrichts- richts: Guter Unterricht muss wieder in den Vordergrund deputats in Schleswig-Hol- treten«, referierte die Präsidentin des Schweizer Verbands stein forderte und der für Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, Carole Sierro, »Zur DPhV-Bundesvorsitzenden Situation von Lehrkräften – insbesondere der Frauen an Lin-Klitzing, die den Fest- Schweizer Gymnasien«! Hochinteressant! Eine gute Ver- vortrag zum Thema ‘Kern- anstaltung vom 7. bis 9. März in Königswinter – und: in geschäft Unterricht, guter der Schweiz liegt die Übergangsquote zum Gymnasium Unterricht!’ hielt. Eine gute bei zwanzig Prozent! Auf eine gute weitere Kooperation Veranstaltung mit vielen zwischen unseren beiden Gymnasiallehrerverbänden! Delegierten und Gästen! 8 > PROFIL | April 2019
PROFIL > frauen im dphv Frühjahrstagung der Frauenpolitischen AG im DPhV Unterrichtsqualität und Lehrkräftegesundheit Aktuelle und dauerhafte Herausforderungen an deutschen und schweizerischen Gymnasien Vom 7. bis 9. März 2019 trafen sich die DPhV-Frauen zu ihrer jährli- gesammelter Daten (zum Beispiel durch Schulleis- chen Frühjahrstagung in Königswinter zum Thema ‘Arbeitsorganisa- tungsstudien) reicht allein tion und Qualität des Unterrichts – aktuelle Herausforderungen für nicht aus, um Bildung quali- Gymnasiallehrerinnen’. tativ zu verbessern. Auch die bestehenden Bil- D ie Vorsitzende des menhängt, ist selbstver- putate, Bezahlung/Besol- dungsstandards, die in den Deutschen Philolo- ständlich. dung, Digitalisierung, Bil- einzelnen Bundesländern un- genverbandes, Prof. dungsstandards und Abitur- terschiedlich umgesetzt wur- Dr. Susanne Lin-Klitzing, er- Gelingensbedingungen für anforderungen. Eine Vielzahl den und werden, bedürfen, öffnete mit einem sehr inte- guten Unterricht liegen ei- ressanten Impulsvortrag und nerseits wesentlich im Agie- > Die Präsidentin des Ver- legte den Fokus auf die Fra- ren und in der Haltung der eins Schweizer Gymnasi- ge, was ‘guter Unterricht’ für Lehrperson selbst begründet allehrerinnen und Gym- Belastung und Beanspru- (vgl. Ergebnisse zahlreicher nasiallehrer, Carole Sier- chung von Gymnasiallehr- Studien, zum Beispiel Hat- ro, war am zweiten Tag, kräften bedeute. Rund vier- tie), andererseits aber auch dem Internationalen zig Prozent Männer und in bildungs- und berufspoli- Frauentag, zu Gast bei sechzig Prozent Frauen sind tischen Entscheidungen, für der Frauen AG in Königs- an Deutschlands Gymnasien deren Verbesserung wir als winter: Die Bundesvorsit- tätig. Dass die Unterrichts- Verbandsvertreterinnen zu- zende des DPhV, Susanne Lin-Klitzing, begrüßte qualität elementar mit dem nehmend kämpfen müssen. Carole Sierro und beton- Umfang und der Ausgestal- Als Themen seien stichwort- te, »dass sie sich auf eine tung der Arbeitszeit zusam- artig genannt: Stundende- interessante und lebhaf- te Diskussion freue«. 10 > PROFIL | April 2019
PROFIL > frauen im dphv nasiallehrer (VSG-SSPES- Trotz der Feminisierung des SSISS), Carole Sierro. Der VSG Berufs sind die besser be- mit seinen 24 Kantonal- und zahlten Stellen die in der seinen 21 Fachverbänden ist Oberstufe, wo mehr Männer die einzige Vertretung der arbeiten. Gymnasiallehrpersonen in der Schweiz und arbeitet in Sierro referierte zur ‘Situati- allen Gremien mit, die die on von Lehrkräften – insbe- Politik in der Schweiz be- sondere der Frauen an stimmen. Enge Zusammen- Schweizer Gymnasien’, aus- arbeit besteht ebenfalls mit gehend von einer Umfrage dem Dachverband der Lehre- des VSG zur Teilzeitbeschäfti- rinnen und Lehrer in der gung durchgeführt vom Schweiz (LCH), der Vereini- 3.November 2016 bis zum gung der Hochschuldozen- 20. Januar 2017 bei Lehrper- ten (VSH) sowie dem Syndi- sonen der Gymnasien und cat des enseignants romands Fachmittelschulen in der (SER; ‘French-speaking te- Schweiz und in Liechten- achers union Swizerland’). stein. Von den 5000 Mitglie- 47 Prozent der Lehrpersonen dern im Verband haben 2614 so Lin-Klitzing, stets kriti- Am zweiten Tag, dem Inter- in der Schweiz sind Frauen, an der Umfrage teilgenom- scher Evaluation. Ein Problem nationalen Frauentag, be- unter den jungen Lehrkräf- men. Teilzeit bedeutet, weni- sieht sie bei den Standards grüßten wir die Präsidentin ten gibt es sogar fünfzig Pro- ger als neunzig Prozent zu zum Beispiel darin, dass es des Vereins Schweizer Gym- zent Frauen mit einem gro- arbeiten. eine zu geringe ‘Grundsiche- nasiallehrerinnen und Gym- ßen Anteil an Teilzeitarbeit. Sehr interessant für alle Zu- rung’ (Mindeststandards) hörerinnen waren einerseits und gleichzeitig zu wenige die Unterschiedlichkeit der > für die ‘Leistungsstarken’ Alle Mitglieder Frauen AG des DPhV. Wertschätzung von Bildung (Optimalstandards) gibt. in Deutschland und der Schweiz, in der Schweiz ins- Kontinuierliches Eintreten besondere der beruflichen für den Bildungsauftrag der Bildung, andererseits aber Schulen, den die Kultusmi- auch die vielen Übereinstim- nisterkonferenz bereits 2004 mungen bei den Problemen formuliert hat, betonte Lin- von Lehrpersonen, die, so der Klitzing auch als Leitfaden Schwerpunkt der Umfrage, ihrer Arbeit, besonders im die Teilzeitbeschäftigung Austausch mit schulpoliti- wählen. Sierro führte aus, schen Entscheidungsträgern dass sich der Frauenanteil in allen Bundesländern: »Der sehr stark in Abhängigkeit Auftrag der schulischen Bil- von den verschiedenen Fä- dung geht weit über die chergruppen unterscheidet. funktionalen Ansprüche von Als Gründe für die Teilzeit Bildungsstandards hinaus. Er wurde von den Teilnehmen- zielt auf Persönlichkeitsent- den der Umfrage vor allem wicklung und Weltorientie- die Arbeitsbelastung (61 Pro- rung, die sich aus der Begeg- zent) und die Familie (56 Pro- nung mit zentralen Gegen- zent) genannt, wobei dies in ständen unserer Kultur erge- den Sprachregionen der ben. Schülerinnen und Schü- Schweiz (deutschsprachig, ler sollen zu mündigen Bür- französischsprachig, italie- gerinnen und Bürgern erzo- nischsprachig) unterschied- gen werden, die verantwor- lich ist. tungsvoll, selbstkritisch und konstruktiv ihr berufliches Sierro erläuterte weitere und privates Leben gestalten Ergebnisse bezogen auf die und am politischen und ge- Thematik ‘Lehrergesundheit’, sellschaftlichen Leben teil- wobei auch in der Schweiz nehmen können.« (Kultusmi- das Risiko für ein Burnout nisterkonferenz 2004 ff, S. 6) bei Lehrkräften deutlich er- > PROFIL | April 2019 11
PROFIL > frauen im dphv höht ist. Dazu kommt, dass Gesundheitsmanagement siebzig Prozent der Teilzeit- zu betreiben. lehrpersonen ihr Pensum • Unterstützungsangebote wegen Überlastung reduzie- müssen den Lehrpersonen ren, obwohl sie dann über- und den Schulleitungen proportional mehr arbeiten. zur Verfügung stehen. Für alle nachvollziehbar war die Schlussfolgerung, dass • Wir stimmen überein, dass dies zu höheren Kosten für der Anspruch an die Quali- die Arbeitgeber führt, aber tät von Unterricht und die auch Auswirkungen auf die Bedeutung unserer Hal- Qualität des Unterrichts hat. tung zum Lehrer*innenbe- Die Studie zeigte deutlich ruf und zum gymnasialen Faktoren mit negativem Ein- Lehramt in beiden Ländern fluss auf die Gesundheit der wichtig sind – und zwar Lehrpersonen: psychosozia- trotz wesentlicher struktu- ler Druck, eine schmale reller und finanzieller Un- Grenze zwischen Berufs- und terschiede in den Bil- Privatleben und die Spar- dungssystemen der maßnahmen der Kantonsre- Schweiz und Deutsch- gierungen, die eine Verdich- lands. tung von Arbeitsaufgaben Als Anregung und Arbeits- bei gleichzeitigem Missver- aufträge für unser frauenpo- hältnis zur Bezahlung zur litisches Gremium nehmen Folge haben. Diese Faktoren wir aus den Vorträgen und können wir für hiesige Ver- den damit verbundenen leb- hältnisse annähernd genau- haften Diskussionen mit: so bestätigen. • Wie optimieren wir unsere Für Sierro ist aber auch wich- interne und externe Kom- tig, dass jede Lehrkraft sich munikation, um unser Gre- selbst analysiert und ein mium und unseren Ver- Gleichgewicht findet, um die band zu stärken, Mitglie- eigene Gesundheit langfris- der zu gewinnen, zu bin- tig zu erhalten und nicht zu den und in Verantwortung gefährden. Auf den Punkt zu bringen? gebracht heißt dies, dass ei- ne ‘Flucht’ in die Teilzeitbe- • Welche Veranstaltungsan- schäftigung nicht wie bisher gebote machen wir in un- eine Lösung sein darf, um seren Ländern, welche das Belastungserleben zu re- Fortbildungsbedarfe ha- duzieren und Gesundheit zu ben wir? erhalten: »Gesunde Lehrerin- • Mit welchen wiederholten nen und Lehrer = gute Schu- und neuen bildungs- und le«, so Carole Sierro. berufspolitischen Forde- Die Schweizer Lehrerverbän- rungen treten wir öffent- de formulierten folgende lich auf, um guten Unter- Forderungen an die Politik: richt gestalten zu können? • Der Berufsauftrag muss • Wie stärken wir insbeson- mit den verfügbaren Res- dere Lehrerinnen, damit sourcen im Einklang ste- sie in hohem Ausmaß in hen. unserem Verband aktiv mitarbeiten können? • Schulbauten müssen den Gesundheitsnormen ent- • Gemäß der Aussage Carole sprechen (CO2, Lärm, Sierros über ihre Verbands- usw.). arbeit: »Wir haben die Chance, mitzureden!« – • Die Schulen erhalten Wir DPhV-Frauen nutzen Ressourcen, um effektives sie! ■ 12 > PROFIL | April 2019
PROFIL > tarifverhandlungen Ohne das Engagement unserer Mitglieder in den Landesverbänden bei den Aktionen des dbb beamtenbund und tarifunion im Vorfeld der Verhandlungsrun- den wäre dieses Ergeb- nis nicht möglich ge- wesen. Tarifergebnis 2019: Realeinkommen der Gymnasiallehrkräfte steigt außer Hessen, scheitern könn- dass die Arbeitgeber auf die sen. Bedanken möchten wir von STEFFEN PABST, MARKUS GRETZSCHEL & te. Es scheint mittlerweile ein Forderungen der Gewerk- uns auch bei den vielen verbe- JÖRG BOHMANN Ritual der Tarifgemeinschaft schaft mit Gegenforderungen amteten Gymnasiallehrkräf- der Länder zu sein, dass es zu reagierten. Wertschätzung ten, die in ihrer Freizeit die Ak- O bwohl insgesamt der den ersten zwei Terminen kei- der Arbeit des öffentlichen tionen unserer tarifbeschäftig- Abschluss der Einkom- ne ernsthafte Auseinanderset- Dienstes der Länder sieht an- ten Mitglieder in vielen Lan- mensrunde aus Sicht zung mit den Forderungen der ders aus. Ohne das Engage- desverbänden zahlreich unter- der Gymnasiallehrkräfte posi- Arbeitnehmerseite gibt. Erst ment unserer Mitglieder in stützt haben. tiv zu bewerten ist, hatte es zum letzten geplanten Ter- den Landesverbänden bei den bis zuletzt ausgesehen, dass min wurde konkret auf die Aktionen des dbb beamten- Für den Deutschen Philologen- aufgrund der Blockadehal- Forderungen der Arbeitneh- bund und tarifunion im Vor- verband ist diese Einkommens- tung der Arbeitgeberseite die merseite eingegangen. Die feld der Verhandlungsrunden runde erst abgeschlossen, Einkommensrunde 2019 für Besonderheit der diesjährigen wäre das nachstehende Er- wenn die Ergebnisse system- die Beschäftigten der Länder, Tarifrunde war außerdem, gebnis nicht möglich gewe- gleich übertragen worden sind. 14 > PROFIL | April 2019
PROFIL > tarifverhandlungen Zusammenfassung der für die Wie ist der Tarifabschluss aus Sicht des Gymnasiallehrkräfte relevanten Ergebnisse Deutschen Philologenverbandes zu bewerten? > Entgelterhöhung Die allgemeine Erhöhung des Entgelts stellt eine positive Ent- wicklung dar, da sie bei den voraussichtlichen Inflationsraten ei- • Rückwirkend zum 1. Januar 2019 erfolgt in den ne reale Nettolohnerhöhung in den nächsten Jahren erwarten Erfahrungsstufen 2 bis 6 eine Erhöhung der lässt. Die Inflationsrate wird für 2019 von der Europäischen Tabellenwerte von 3,01 Prozent. Zentralbank in Höhe von 1,6 Prozent, für 2020 von 1,7 Prozent • Zum 1. Januar 2020 erfolgt in den und für das Jahr 2021 von 1,8 Prozent prognostiziert. Erfahrungsstufen 2 bis 6 eine weitere Erhöhung um 3,12 Prozent und Beispielrechnung für eine Lehrkraft • zum 1. Januar 2021 in diesen Stufen in der Entgeltgruppe 13 Stufe 6: nochmals um 1,29 Prozent. Diese erhielt bei Vollbeschäftigung im Jahr 2018 ein Tabel- • Abweichend erfolgt in der Stufe 1 eine Anhebung ab lenentgelt von 5458,41 Euro. Durch den Tarifabschluss 1. Januar 2019 um 4,5 Prozent, ab 1. Januar 2020 um steigt das Entgelt zum 1. Januar 2021 auf 5872,94 Euro, 4,3 Prozent und ab 1. Januar 2021 um 1,8 Prozent. Dies also um insgesamt 414,53 Euro. Das entspricht annähernd spielt aber für die grundständig ausgebildeten Gymnasial- der Bezahlung von zwei Unterrichtsstunden im Jahr 2018. lehrkräfte nur eine untergeordnete Rolle, da ihnen bei Einstellung als Tarifbeschäftigter sechs Monate des Referen- Kritisch ist die lange Laufzeit von 33 Monaten zu bewerten, da dariats auf die Stufenlaufzeit anerkannt werden und sie über diesen Zeitraum weder auf Entwicklungen im Arbeits- somit nach sechs Monaten bereits die Stufe 2 erreichen. markt noch auf Veränderungen im Finanzbereich reagiert wer- den kann. Außerdem sind die auch in dieser Verhandlungsrunde > Regelungen bei Höhergruppierungen nicht gelösten Probleme, wie das Fehlen einer stufengleichen Ein Wechsel in eine höhere Entgeltgruppe ist häufig mit ei- Höhergruppierung, in weite Ferne gerückt. nem Übergang in eine niedrigere Erfahrungsstufe verbunden. Als Fazit ist festzustellen, dass der Abschluss zwar in der allge- Dadurch können sich finanzielle Nachteile für die höhergrup- meinen Einkommensentwicklung begrüßenswert ist. Er ent- pierte Lehrkraft ergeben. Die Forderung der Gewerkschaften, spricht jedoch leider nicht den modernen Abschlüssen anderer Beschäftigte und damit auch Gymnasiallehrkräfte bei Aufstieg Branchen, die deutlich stärker die aktuellen Vorstellungen der in eine höhere Entgeltgruppe stets mindestens in die bisheri- Arbeitnehmer zu Arbeits- und Lebensbedingungen in der Ge- ge Erfahrungsstufe einzugruppieren, konnte auch in dieser sellschaft berücksichtigen. Als Beispiel sei hier die Metallindus- Tarifrunde nicht durchgesetzt werden. Der Garantiebetrag, trie oder die Deutsche Bahn genannt – mit einer Wahlmöglich- der den Mindestwert der Erhöhung des Tabellenwertes bei keit hinsichtlich mehr Einkommen oder mehr Freizeit. Bei den einer Höhergruppierung festlegt, wird jedoch ab 1. Januar Lehrkräften wäre dies die Wahl zwischen mehr Geld oder weni- 2019 in den für Gymnasiallehrkräfte relevanten Entgeltgrup- ger Pflichtstunden in Analogie zu der Wochenarbeitszeit bei an- pen (ab E 9) von 64,13 Euro auf 180,00 Euro angehoben. deren Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Hier erwarten wir von den Verhandlungsführern des dbb beamtenbund und Jahressonderzahlung ■ > tarifunion in Zukunft mehr Innovation. Die Jahressonderzahlung wird bis 2021 auf dem Niveau von 2018 eingefroren. Die letzte Stufe der Anhebung der Sonder- > Die dbb Bundestarifkommission stimmte dem Tarifkompromiss zu zahlung Ost auf das Niveau West wird aber 2019 durchgeführt. Damit sinkt das Niveau der Jahressonderzahlung in der 13 von 50 Prozent des durchschnittlichen Gehaltes der Monate Juli, August und September im Jahr 2018 auf etwa 46,5 Pro- zent im Jahr 2012, in der 14 und 15 von 35 Prozent auf etwa 32,5 Prozent im gleichen Zeitraum. Beispielrechnung für eine Lehrkraft in der Entgeltgruppe 13, Stufe 6: Durch das Tarifergebnis wird die Jahressonderzahlung im Tarifgebiet Ost 2019 auf das West-Niveau von 2729,20 Euro angehoben und verbleibt bis 2021 auf diesem Stand. Ohne das Einfrieren würde sie bis 2021 bis auf 2936,47 Euro anwachsen. Dem Gehaltszuwachs von ins- gesamt 4974,36 Euro im Jahr 2021 zum Jahr 2018 steht somit eine Reduktion von 207,27 Euro gegenüber. > PROFIL | April 2019 15
PROFIL > inklusion: interview Interview: »Man darf diese Dinge nicht verschweigen« Zu schnell, zu radikal, zu ideologisch – die Art, wie Inklusion an Schulen in Deutschland umge- setzt wird, schadet dem Bildungssystem und gefährdet das Wohl vieler Kinder. Dieser Mei- nung ist der Gymnasiallehrer und Autor Micha- el Felten. Im Interview mit Johanna Böttges plädiert er für eine ehrlichere Debatte. Herr Felten, was läuft falsch fahrungen haben Sie persön- bei der Umsetzung der Inklu- lich mit Inklusion gemacht? sion? In Metropolen wie Köln ge- Das Ganze geht aus von der hen etwa sechzig Prozent ei- UN-Behindertenrechtskon- nes Jahrgangs aufs Gymnasi- vention, die dafür plädiert, al- um. Das heißt, wir haben len Kindern das Recht auf Bil- schon jetzt, ohne Kinder mit dung im allgemeinen Schul- Lernbeeinträchtigung, eine system zu gewährleisten. In riesige Palette an Leistungs- Deutschland ist von Teilen des fähigkeiten. Es ist überhaupt pädagogischen Diskurses da- nicht möglich, jedem Schüler raus gemacht worden: Alle gerecht zu werden. Da kom- > Michael Felten arbeitete 36 Jahre als Gymnasiallehrer für Mathematik Kinder mit Beeinträchtigun- men entweder die Schwä- und Kunst in Köln. Er ist Dozent in der Lehrerausbildung und Autor päd- gen haben in Zukunft das cheren zu kurz, denen man agogischer Sachbücher. Für ‘Zeit Online’ beantwortet er Fragen an den Recht, an jeder Schulform un- versucht, am Gymnasium ei- Lehrer in der Serie ‘Schulfrage’. Sein jüngstes Projekt findet sich unter: terrichtet zu werden – was ne Chance zu geben – oder www.initiative-unterrichtsqualitaet.de letztlich, wenn man es prak- die Leistungsstarken. Es ist tisch betrachtet, entweder ei- schwer vorstellbar, worin der ne extrem teure Lösung be- Sinn bestehen soll, auch lichst die ganze Vielfalt auch te von Schülern, die besser deuten würde oder massive noch Kinder mit geistigen anderer Menschen kennen- zurechtkommen. Damit ris- Beeinträchtigungen des Ler- Entwicklungsstörungen auf- lernen sollen. Und wenn im kiert man zusätzliche Ent- nens für alle Beteiligten. Die zunehmen, die dort über- allgemeinen Schulgesetz von wicklungsstörungen für die- UNO hatte aber primär dieje- haupt keine Mitlernperspek- Nordrhein-Westfalen steht, ses Kind. Für die anderen un- nigen Länder im Auge, in de- tive haben. Eltern haben das Recht, für ter Umständen auch. Und nen Kinder mit Behinderung Sie sprechen von einer »In- ihr Kind mit besonderem För- für den Lehrer, der versucht, bislang vom öffentlichen klusionsfalle«. Warum? derbedarf eine Regelschule sich zu zerreißen, eben auch. Schulsystem ausgeschlossen Weil das Schlagwort ‘Ge- zu wählen, hört sich das gut sind. Was die UNO überhaupt meinsames Lernen’ auf den an. Aber wenn das Kind dann Wenn das Gemeinsame Ler- nicht wollte, war, unser hoch- ersten Blick sehr wohltuend dort im Gegensatz zur För- nen Grenzen hat, inwieweit entwickeltes Förderschulsys- anmutet. Es ist sicher eine derschule nur zwei oder drei kann man dann überhaupt tem einzustampfen und dafür grundsätzlich sinnvolle pä- Stunden pro Woche von ei- noch von Inklusion spre- zu sorgen, dass sich in dagogische Herangehens- ner sonderpädagogischen chen? Deutschland eine Einheits- weise, dass man versucht, Kraft betreut wird, fällt die- Die radikale Inklusion nach schule entwickelt. keine unnötigen Trennungen ser wohlklingende Begriff in dem Motto »Wir gehen alle Sie sind Lehrer an einem Köl- zwischen Schülern zu vollzie- sich zusammen. Es erlebt die in dieselbe Schule und das ner Gymnasium. Welche Er- hen. Dass die Kinder mög- riesigen Leistungsfortschrit- tut uns allen am besten« > > PROFIL | April 2019 17
PROFIL > inklusion: interview Anteil der Schüler mit sonderpädagogischer Förderung oder Außenklassen. Das ist ei- ne Förderklasse in einem Angaben in Prozent aller Schüler an allgemeinbildenden Schulen Schulverband, also etwa einer Real- oder Hauptschule, die eine Regelklasse als Partner- klasse hat. Und die sind in di- rektem Austausch. Sie ma- chen nicht nur Feste und Au- ßerschulisches zusammen, sondern haben zum Beispiel Sport zusammen. Alles, wo man wirklich Gemeinsamkeit erleben kann. Sinnvoll können auch Partner- schulen sein. Förderschule und Regelschule können in dichterem Kontakt zueinan- der stehen, nicht nur baulich. Es ist auch denkbar, so wie es in Nordrhein-Westfalen jetzt angestrebt wird, Schwer- punktschulen zu bilden, zum Beispiel im Sekundarstufe I- Bereich oder im Grundschul- bereich. Das sind Regelschu- len, an denen besonders gute Bedingungen bestehen, um Kindern mit besonderem För- Das Angebot an Förderschulen ist zwar insgesamt rückläufig, doch in der Mehrzahl der Bundesländer derbedarf gerecht zu werden. bleiben sie der vorherrschende Ort für sonderpädagogische Förderung. Von insgesamt rund 520.000 Dann wäre also nicht mehr je- Schülern mit sonderpädagogischer Förderung wurden im Schuljahr 2016/2017 knapp sechzig Prozent de Grundschule verpflichtet, in Förderschulen unterrichtet. Die Inklusions- und Förderquoten variieren jedoch stark je nach Bun- Förderkinder aufzunehmen, desland. Quelle: Sekretariat der KMK 2018/Nationaler Bildungsbericht wie von der Vorgängerregie- rung gedacht. Dort wären aber auch mehrere Sonderpä- ist einfach eine Illusion. An rungen mit dieser Art von in- gut aufgehoben sein kön- dagogen, die alle Förderbe- Modellschulen hat man sehr tegrierender Bildung ge- nen. Denn sie erleben dort darfe abdecken, sodass diese fruchtbare Erfahrungen mit macht. Aber wenn jetzt an nicht das, was man sich un- Schulen den Kindern die ge- begrenzter Inklusion ge- allen Schulen der Sparmodus ter dem Begriff Gemeinsa- ballte Kompetenz der sonder- macht, früher Integration ge- der Inklusionsschule prakti- mes Lernen vorstellt. Sie er- pädagogischen Fachkräfte zur nannt. Zu 20 oder 25 ‘Regel- ziert wird – der Sonderschul- leben gerade den großen Un- Verfügung stellen. Das war in kindern’, wie ich das kurz lehrer guckt nur noch spora- terschied. Wir haben es bei den letzten vier oder fünf Jah- nenne, kommen 5 wohlaus- disch rein und vielleicht ist dieser überhasteten und ren nicht der Fall. gesuchte Förderkinder, die ab und zu noch ein Schulbe- schlecht ausgestatteten In- einen ähnlichen Förderbe- gleiter dabei –, dann können klusion mit einer Logik des Welche Rolle sollten Förder- darf haben. Neben der nor- wir unsere Modellschulen Misslingens zu tun. Man fin- schulen künftig spielen? malen Grundschullehrerin schließen. det einen schönen Begriff, Unsere Förderschulen, in de- hat die Klasse eine Sonder- ‘Gemeinsames Lernen’, um nen die Lehrer kleine Gruppen pädagogin, die die ganze Für wen kann so ein integra- das Empfinden von Unter- betreuen und die Kinder über Zeit mit dieser kleinen Grup- tiver Unterricht gelingen schieden zu reduzieren. Tat- längere Zeit kennen, haben pe und in Verbindung mit und für wen nicht? sächlich wird dieses dadurch bisher sehr gute Arbeit geleis- den Regelschülern arbeiten Das kommt auf die Schul- aber verstärkt. tet. Das ist durch die Inklusi- kann. Das ist etwas, das form an, also das Anforde- onseuphorie der letzten Jahre funktioniert. Es liegen mitt- rungslevel eines Gymnasi- Kennen Sie Positivbeispiele? arg in den Hintergrund getre- lerweile aber jede Menge ums, einer Realschule, einer In einigen Bundesländern ten. Die Förderschule sollte Warnungen und Erfahrungs- Hauptschule. Und da ist es gibt es andere Zugangswei- auf jeden Fall erhalten blei- berichte von Lehrern und Lei- sicher so, dass Kinder etwa sen. Dazu gehört zum Bei- ben, weil sie den Kindern mit tern solcher Schulen vor, die mit dem Förderschwerpunkt spiel in Bayern und Baden- besonderen Entwicklungsstö- sagen: Wir haben bis zu drei- geistige Entwicklung an ei- Württemberg die Etablie- rungen – entweder in be- ßig Jahre sehr positive Erfah- ner Realschule nicht wirklich rung sogenannter Partner- stimmten Phasen ihrer Schul- 18 > PROFIL | April 2019
PROFIL > inklusion: interview laufbahn oder in manchen werden, wenn für sie kein ex- sie versucht, eine Verbindung Fällen auch während der gan- ZUM WEITERLESEN pliziter Förderbedarf im zwischen Gemeinsamem und zen Zeit – die besseren Förder- Michael Felten: schwereren Sinne festgestellt Besonderem zu schaffen. Das bedingungen bietet. ‘Die Inklusionsfalle – wird. Wir müssen jedem Kind sieht man in jedem Fachun- Wie eine gut gemeinte stärker gerecht werden. Das terricht, bei jeder Klassenun- Die Übergänge zwischen För- Idee unser Bildungssystem bedeutet zum Beispiel für ternehmung. Sie haben im- derschulen und Regelschulen ruiniert’ Gütersloher Verlagshaus hochbegabte Kinder, dass sie mer Kerne, die sie gemeinsam müssten aber flexibler sein. einerseits mit weniger leis- gestalten können, aber bei Man müsste immer entschei- tungsstarken Kindern zusam- einzelnen Schülern jeweils den können: Wo soll ein Kind menkommen, andererseits spezielles Vorwissen, spezielle jetzt im Moment, für das aber auch spezielle Anre- Interessen, spezielle Abnei- nächste Quartal oder Halb- gungs- und Verwirklichungs- gungen, spezielle Schwierig- jahr, beschult werden? Wir möglichkeiten finden. Es ist keiten. Das muss man versu- müssen dual-inklusiv denken. tragisch, dass wir durch die- chen zu verbinden. Die Erfah- Diesen Begriff hat Otto Speck, sen unausgereiften Inklusi- rung zeigt, dass das innerhalb emeritierter Sonderpädagoge onssturm in manchen Bun- eines sorgfältig gegliederten der LMU München, geprägt. desländern in eine Situation Schulsystems eigentlich gut Es geht darum, für jedes ein- gekommen sind, wo alle Be- möglich war. Das gegliederte zelne Kind festzustellen, wo troffenen ganz schnell sagen: Schulsystem ist viel effektiver es optimal aufgehoben ist. Damit will ich lieber nichts zu und sinnvoller, als manche Das ist für die meisten Kinder tun haben. Debatten nahelegen. Man hat die Regelschule. Und für man- auch innerhalb einer Gymna- che Kinder ist es eben, pha- Beim Inklusionsgedanken sial-, Haupt- oder Realschul- senweise oder auch für die Zwischen den Stühlen stehen geht es auch um den Um- klasse ein Leistungsspektrum. ganze Schulzeit, die Förder- auch Kinder, die als Legasthe- gang mit Heterogenität im Die sind nicht homogen. Aber schule mit ihrer hochspezifi- niker anerkannt wurden oder weiteren Sinne, zum Beispiel man kann in dieser gemäßig- schen Expertise. denen man eine Rechen- hinsichtlich kultureller oder ten Heterogenität besonders Die Gruppe der Hochbegabten schwäche attestiert hat. Das sozialer Hintergründe. Wie gut lernen. ■ steht häufig zwischen den sind alles Kinder, die bisher lässt sich damit umgehen? Stühlen. Wo sehen Sie künftig Förderung erfuhren und de- Es ist eine grundsätzliche He- Erstveröffentlichung: deren Platz? nen jetzt Fördermittel gekürzt rausforderung für Schule, dass Begegnungen Nr. 2-2018
PROFIL > gastbeitag: inklusion ta le n? Full To lusio In k Foto: Sangoiri/AdobeStock Fakten und Überlegungen zur Situation in Deutschland und den USA 20 > PROFIL | April 2019
PROFIL > gastbeitrag: inklusion Inclusion? von BERND AHRBECK, JEANMARIE BADAR, MARION FELDER, JAMES KAUFFMAN & KATRIN SCHNEIDERS Zusammenfassung: Der Artikel setzt sich mit der Debatte um eine ‘full inclusion’ in den USA und eine ‘totale Inklusion’ in Deutschland auseinander. Dabei wird grundlegend auf den In- klusionsbegriff und das jüngste Dokument der Vereinten Natio- nen (UN General Comment No. 4, 2016) eingegangen. Eine vollständige Inklusion hat sich nach Jahrzehnte langen Dis- kussionen und Erfahrungen weder in den USA noch in an- deren Ländern als praktikabel erwiesen. Die Autoren und Autorinnen plädieren für ein moderates Inklusionsver- ständnis. Sie äußern die Be- fürchtung, dass das Bestreben nach ‘full inclusion’/’totaler In- klusion’ den spezifischen Auftrag der Sonderpädagogik untergra- ben und sie möglicherweise so- gar existentiell gefährden kann. • weiter auf der nächsten Seite > PROFIL | April 2019 21
PROFIL > gastbeitag: inklusion Fo t o: Die Behindertenrechtskonvention ist inzwi- uf ot op schen von Deutschland, Österreich und ix l 10 der Schweiz unterzeichnet worden, /A d ob nicht aber von den USA! e St ock ie gemeinsame Beschulung von Schüle- rinnen und Schülern mit und ohne Behin- derung ist ein über die Jahrzehnte kontrovers diskutiertes Thema der Sonderpädagogik. Die Debatten wer- den mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Positio- nen sowohl in den USA als auch in Deutschland sowie in ande- ren europäischen Staaten geführt. Auch wenn die spezielle Be- schulung von lernbeeinträchtigten Kindern in Deutschland his- torisch einen Sonderweg darstellt, liegen allgemeine Fragestel- lungen zur Integration/Inklusion und solche, die sich auf die gesamte Breite der Förderschwerpunkte beziehen, in vielen Ländern recht nahe beieinander. Die Situation in den USA ist insofern bis heute von besonderer Bedeutung, als die dortige Entwicklung in den letzten vierzig > Die schulische Umsetzung von Inklusion Jahren maßgeblich zur gemeinsamen Beschulung von Kindern und UN- Behindertenrechtskonvention und Jugendlichen mit und ohne Behinderung beigetragen hat. in nationalstaatlichen Settings Wie in keinem anderen Land sind in den USA die Bürgerrechte von Menschen mit Behinderung schon früh im American for In Deutschland wird heftiger als in anderen europäischen Län- Disabilities Act (ADA) gesetzlich verankert worden. Die Behin- dern darüber gestritten, wie die BRK auszulegen ist. Bislang dertenrechtskonvention (BRK) wird deshalb mitunter auch als existiert hier, ebenso wie in anderen Ländern keine allgemein Weiterentwicklung der ADA angesehen. Es soll deshalb der Fra- anerkannte Definition der Inklusion. Die Auffassungen darü- ge nachgegangen werden, welche Schlüsse sich aus dem im- ber, was unter Inklusion zu verstehen sei, variieren erheblich. mensen amerikanischen Erfahrungsschatz für die gegenwärti- Den einen Pol bildet die Vorstellung, Inklusion sei unteilbar: ge Situation in Deutschland ziehen lassen. Alle Schülerinnen und Schüler müssten in einer Klasse unter- richtet, jegliche institutionelle Differenzierung aufgegeben Die fachlichen Auseinandersetzungen und politischen Kontro- und von Behinderungskategorien weitgehend Abstand genom- versen um die Integration sind ähnlich wie in Europa auch in men werden (Hinz und andere 2010). Diesem totalen Inklusi- den USA nicht abgeschlossen. Sie setzen sich inzwischen vor onsverständnis entspricht der Begriff der ‘full inclusion’, der allem unter dem Stichwort der Inklusion fort. Die von den Ver- sich in den angelsächsischen Ländern durchgesetzt hat. Die einten Nationen 2006 verabschiedete BRK hat wesentlich dazu Vollzeitunterrichtung aller Kinder in einer Regelklasse gilt die- beigetragen, dass sich die Diskussion um die gemeinsame Be- ser Inklusionsvorstellung zufolge als ausschließlich legitimer schulung intensiviert und in Teilen an Schärfe zugenommen Bezugspunkt (Felder/Schneiders 2016). hat. Bemerkenswerterweise ist die BRK inzwischen von Deutschland, Österreich und der Schweiz unterzeichnet wor- Am anderen Ende des Spektrums findet sich ein Inklusionsver- den, nicht aber von den USA, wobei dort die staatliche Souve- ständnis, das sehr viel moderater ausfällt. Entschieden wird für ränität ebenso wie bei anderen internationalen Konventionen mehr schulische Gemeinsamkeit plädiert, eine totale Auflö- eine wichtige Rolle spielt. sung aller speziellen Einrichtungen aber abgelehnt, der Wert
PROFIL > gastbeitrag: inklusion einschlägiger Fachkategorien betont und Bildungsstandards als eine kulturelle Notwendigkeit angesehen, die nicht in Fra- ge gestellt werden darf. Der Fördergedanke gilt als besonders hohes Gut. Jedes Kind soll den für sich angemessenen päda- gogischen Rahmen und richtigen Ort erhalten; das kann auch eine spezielle Einrichtung sein. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch wird diese Position als ‘inclusion’ bezeichnet. Vor diesem Hintergrund lässt sich die heftige Kritik einordnen, die der UN-Fachausschuss (CRPD 2015) an der Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland geübt hat – unterstützt von zahlreichen deutschen Institutio- nen, Organisationen und Einzelpersonen (zum Beispiel Schu- mann 2016). Die BRK werde in Deutschland, so heißt es dort, im Bildungsbereich nur inkonsequent, unzureichend und schlechter als in anderen Ländern umgesetzt. Deutschland verfehle die Ziele der Inklusion auch deshalb, weil Kinder mit Behinderung nur auf einem qualitativ niedrigen Niveau geför- dert würden. In einer gemeinsamen Stellungnahme von Bund und Ländern unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und unter Mitwirkung der Bundeskultusministerkon- ferenz wird dem ent- Foto: mimpki/AdobeStock schieden widerspro- chen. Das soge- nannte ‘German Statement’ (2015) verdeut- licht, »dass Deutschland nicht bereit ist, der normativen Auslegung des Fachausschusses > zu folgen« (Eser Jedes Kind soll den für sich angemessenen 2016, 23). Auch pädagogischen Rahmen und richtigen Ort erhalten, der Fördergedanke gilt hier als zukünftig soll ein besonders hohes Gut. Weg beschritten werden, der insti- tutionelle Differenzierungen vorsieht und Sonderschulen mit einschließt. Eine ‘Menschenrechtsverletzung’ wird darin nicht gesehen. Im ‘German Statement’ (Absatz 11) heißt es: »Der Begriff ‘Segregation’ hat eine starke negative Konnotation. Als Vertragsstaat ist Deutschland mit einer solchen Ansicht nicht einverstanden. Das Bildungssystem in Deutschland baut auf das natürliche Recht der Eltern auf, die Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen, das in Artikel 6 (2) des Grundge- setzes gewährleistet ist. Ein Bildungssystem, das den Eltern erlaubt, zwischen Inklusion in Regelschulen und Sonderschu- len zu wählen, hält sich an diese Verfassungsgrundsätze.« Und zur Bildungsqualität wird ausgesagt: »Deutschland weist darauf hin, dass die Vorstellung für Deutschland nicht gültig ist, dass Schüler an Sonderschulen Bildung von geringwertiger Qualität erfahren« (German Statement 2015, Absatz 4). Dem stehe auch die außerordentlich fundierte akademische Ausbil- dung der Lehrkräfte entgegen. Zur aktuellen Faktenlage: Gegenwärtig werden in Deutsch- land rund 508.000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpäda- gogischem Förderbedarf unterrichtet, davon rund 335.000 > > PROFIL | April 2019 23
PROFIL > gastbeitrag: inklusion an speziellen Förderschulen und etwa 173.000 an allgemeinen die allerdings nur dann vorzuziehen ist, wenn sie nicht mit Schulen. Die gemeinsame Beschulung von Schülerinnen und speziellen Förderbedürfnissen kollidiert. Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist in den In den Jahren 2012/2013 betrug die Förderquote in den USA letzten Jahren deutlich angestiegen, von 2009 bis 2014 hat dreizehn Prozent. Die meisten Schüler mit sonderpädagogi- sich ihr Anteil von 19,2 Prozent auf 34,1 Prozent erhöht. Dabei schem Förderbedarf werden in Regelschulen unterrichtet, nur muss jedoch beachtet werden, dass sich die Förderquote 2,9 Prozent aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung selbst verändert hat, seit 2005 von 5,7 Prozent auf 7,0 Prozent gehen in private (Sonder-)Schulen oder staatliche Sonderschu- aller Schülerinnen und Schüler. Die Folge ist, dass die gemein- len. Bei gemeinsamer Beschulung nehmen 61,8 Prozent der same Beschulung zwar zunimmt, zugleich aber die Anzahl der Kinder und Jugendlichen mehr als achtzig Prozent der Zeit am speziell Beschulten nur begrenzt zurückgeht (KMK 2016). regulären Unterricht teil (45,1 Prozent der Schülerinnen und Obwohl in den USA ähnlich wie in Deutschland über die schu- Schüler mit Verhaltensstörungen, 16,3 Prozent der Kinder und lische Inklusion und den Inklusionsbegriff diskutiert wird, be- Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung, 13,3 Pro- steht dort eine ganz andere rechtliche Ausgangslage. Das US- zent derjenigen, die eine Mehrfachbehinderung aufweisen). Bundesgesetz, das die Sonderpädagogik seit 1975 regelt, ist Etwa sechzig Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Lern- der ‘Individuals with Disabilities Education Act’. Darin ist ein behinderungen besuchen überwiegend den Regelunterricht Kontinuum von alternativen Platzierungen vorgesehen, ge- (National Center for Education Statistics 2015). Auch wenn die mäß des im IDEA Act festgelegten Prinzips der ‘least restricti- speziellen Beschulungen rückläufig sind, kann von einer ve environment’ – also keine ‘full inclusion’ oder totale Inklusi- durchgängigen gemeinsamen Beschulung nicht die Rede sein. on. Der US-Bundesgerichtshof hat dies ausdrücklich bestätigt: Eine totale Inklusion ist im Rahmen einer mehr als vierzigjäh- Die ‘full inclusion’ widerspricht diesem Gesetz, ist also mit der rigen Integrations- und Inklusionstradition bisher nicht er- geltenden Rechtsordnung unvereinbar. Gleichwohl wird inzwi- reicht worden – trotz eines erheblichen Ressourceneinsatzes. schen auch in den USA eine totale Inklusion eingefordert, mit Die visionäre Vorstellung einer ‘full inclusion’, die zu einem Hinweis auf die BRK und ihren Artikel 24 (Kauffman und ande- neuen Zeitalter der Pädagogik führt, in einer Schule, die sich re 2017b). als exemplarischer Vorläufer einer wahrhaft inklusiven Gesell- schaft erweist, findet bisher nirgends Erfüllung. Eine vollstän- Foto: WavebreakMediaMicro/AdobeStock dige Inklusion gibt es nach Angaben der World Health Organi- zation (WHO 2011) bislang in keinem Land der Welt. Und es spricht einiges dafür, dass sie nur unter ganz erheblichen Schwierigkeiten zu realisieren oder sogar gänzlich unmöglich ist. Das belegen unter anderem Erfahrungen aus Ländern mit einer langen Integrationskultur. Die Probleme, die dort auftre- ten, ähneln denen, die auch in den USA unter anderen Aus- gangsvoraussetzungen bestehen. Bildungstraditionen und vorgängige Schulstrukturen spielen dabei nur eine begrenzte Rolle. Die sich neu entfaltenden Problemlagen folgen offen- sichtlich einer eigenen inneren Logik, die über eine erhebliche Durchschlagskraft verfügt. Die hohen Ideale, die an eine inklusive Umsteuerung geknüpft wurden, haben sich als nur begrenzt realistisch erwiesen. An vielen Orten wurden die ursprünglichen Ziele wieder aufgege- ben und auf Strukturen zurückgegriffen, die bis dahin als ent- > behrlich bzw. überwunden galten. Einiges Aufsehen hat eine Die aktuelle Faktenlage zeigt, dass die gemeinsame Beschulung von Schülerinnen und Schülern in den Schrift Warnocks (2005) erregt, in der sie sich für Großbritan- letzten Jahren deutlich angegestiegen ist. nien von der zuvor vehement vertretenen Idee einer totalen Inklusion verabschiedet hat. Ein solches Inklusionsverständnis ist auch umstritten und das Die Einsicht, dass eine vollständige Entdifferenzierung des nicht nur innerhalb der Wissenschaft. Stärker als in Deutsch- Schulsystems weder sinnvoll noch möglich ist, findet sich land und mit mehr politischem Gewicht nehmen dort die gro- auch in Norwegen, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen. ßen Interessensverbände behinderter Menschen Stellung. Sie Spezielle Einrichtungen werden dort wieder vermehrt ange- vertreten dabei zum Teil Positionen, die sich deutlich von einer boten, zum Teil auf Wunsch der Eltern oder weil pädagogische ‘full inclusion’ abwenden und dem nahestehen, was in Notwendigkeiten dies erzwingen, insbesondere bei Schülerin- Deutschland als moderates Inklusionsverständnis gilt (zum nen und Schülern mit Verhaltensstörungen. The »era of inclu- Beispiel: National Association of the Deaf 2002; Learning Dis- sive education in the Norwegian school system is over. Inclusi- abilities Association of America 2012). Befürwortet wird ein ve education is no longer a central topic in Norwegian policy Nebeneinander unterschiedlicher Beschulungsformen mit making«, so wird Eva Simonsen, eine führende Inklusionsfor- dem Ziel, dass jedes Kind den für ihn geeigneten Entwick- scherin, im IE-Newsletter der Nordic Educational Research As- lungsweg beschreiten kann. Die Umwelt soll so gestaltet wer- sociation (2016) wiedergegeben. Finnland unterrichtet knapp den, dass möglichst viel schulische Gemeinsamkeit entsteht, 40 Prozent Kinder und Jugendliche, die sonderpädagogische 24 > PROFIL | April 2019
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