INDIEKINO MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO

 
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INDIEKINO MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
D SORRY WE MISSED YOU Unversöhnlicher denn je D MILES DAVIS – BIRTH OF THE COOL Musik und Stil D DIE
­WÜTENDEN Auf dünnem Eis D BROTHERS Pakt des Schweigens D DAS VORSPIEL Darstellerische Finesse D 1917
Atemberaubende Kamera D MILCHKRIEG IN DALSMYNNI Korrupte Kooperative D INTRIGE Dilemma D QUEEN & SLIM
 Polit-Pop D LITTLE JOE Schleichendes Unbehagen D WEATHERING WITH YOU Es regnet ständig D LINDENBERG! MACH
DEIN DING Die Furcht wegsaufen D FREIES LAND Schurkereien im Oderbruch D VARDA PAR AGNÈS Das Leben und die
Bilder D JUDY Träume? Die hatte ich mal D DAS FREIWILLIGE JAHR Ohne große Worte

Magazin FÜR unabhängigeS KINO                                            D 5 D JANUAR/FEBRUAR 2020

indiekinoMAG

                                        LITTLE JOE – START AM 9.1.2020
INDIEKINO MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
SIXTEEN FILMS UND WHY NOT PRODUCTIONS
                                          P R ÄS E N T I E R E N

         Herausragendes
         politisches Kino!
            SPIEGEL ONLINE

     Ergreifend gespielt und
          mit dem Herz
       am richtigen Fleck.
        BERLINER MORGENPOST

      Ein packendes Werk.
          Großes Kino.
                LA CROIX

                                             REGIE
                                    K E N L OAC H

                SORRY
                WE MISSED YOU
                                        DREHBUCH
                                PAU L L AV E R T Y
K R I S H I TC H E N   D E B B I E H O N E Y WO O D                RHYS STONE      K AT I E P R O C T O R

                        WWW.SORRYWEMISSEDYOU-DERFILM.DE                 /NFPKINO

                 AB 30. JANUAR IM KINO
INDIEKINO MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
Editorial
Das neue Jahr beginnen wir mit einer extra-dicken Ausgabe. Das hat
zwei Gründe. Zum einen ist im Kino im Januar immer viel los, und zum
anderen hat die Berlinale ihren Termin verschoben und findet jetzt erst
Ende Februar (20.2.–1.3.) statt. Dieses Jahr gibt es deshalb ein Januar/
Februar-Heft, das alle Filme bis Mitte Februar vorstellt, und ein Februar/
März-Heft, das dann Mitte Februar mit der Berlinale-Vorberichterstattung
einsetzt.
Und was ist so los im Januar? Es wird politisch und musikalisch, und sehr
unterschiedliche neue Arbeiten von Veteranen des Arthouse Kinos – Ken
Loach (83), Terrence Malick (77), Abel Ferrara (69), Roman Polanski
(86) und Rosa von Praunheim (77) – zeigen, dass man nicht alle alten
weißen Männer über einen Kamm scheren sollte. Begeistert hat uns vor
allem SORRY WE MISSED YOU von Ken Loach, der ganz nah am Alltag
der Leute ist, die nicht so oft auf der Leinwand zu sehen sind, weil sie
weder glamourös noch gefährlich noch kreativ sind, sondern sich mit
ihren Familien gerade so am Existenzminimum durchhangeln. Mitreißen-
des Kino, bei dem die Frage, ob der selbständige Paketbote Ricky das
Päckchen rechtzeitig zustellen kann, weitaus spannender ist als die, ob
Luke Skywalker das Universum rettet. Am meisten Kopfzerbrechen hat
uns die Frage gemacht, wie wir mit Roman Polanski und seinem neuen
Film INTRIGE umgehen sollen, der in Venedig mit dem silbernen Löwen
ausgezeichnet wurde. Unmittelbar vor Kinostart des Films in Frankreich
hat eine weitere Frau Polanski der Vergewaltigung beschuldigt. Der Fall
liegt viele Jahre zurück, und das Verbrechen, wenn es denn stattgefunden
hat, ist verjährt. Aber es ist bei weitem nicht die einzige Anschuldigung,
und in den USA läuft seit 1977 ein Verfahren gegen den Regisseur. In
Frankreich haben Frauen die Premiere gesprengt und zum Boykott des
Films aufgerufen. Wir haben uns für eine Besprechung entschieden (Seite
22). Geben wir damit möglicherweise einem mehrfachen Vergewaltiger
Raum? Wäre Nicht-Beachtung Zensur? Wo verläuft die Grenze, wo sollte
sie verlaufen? Lassen sich Werk und Leben trennen? Was tun mit Künst-
ler*innen, deren Ästhetik man liebt, oder deren Politik man schätzt, deren
Handlungen man aber verwerflich findet? Diese Fragen beschäftigen uns.
Die Antworten sind im Fluss.

Wir wünschen euch ein gutes Jahr 2020!
Eure INDIEKINO Redaktion

Die Februar/März-Ausgabe von INDIEKINO erscheint am 18.2.
INDIEKINO MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
INDIEINHALT
                                                                       50 „GENREFILME NEIGEN DAZU, AM ENDE
                                                                          ALLE PROBLEME ZU LÖSEN“ INTERVIEW
06 Magazin                                                                MIT JESSICA HAUSNER ZU LITTLE JOE

10 „MAN MUSS RAUS UND SICH                                             52 Weiter im KINO
	EINMISCHEN, NICHT NUR DASITZEN
	UND JAMMERN“ INTERVIEW MIT KEN                                        54 Kinohighlights
   LOACH ZU SORRY WE MISSED YOU
                                                                       58 Kinderfilme
14 MUSIK UND STIL MILES DAVIS –
	BIRTH OF THE COOL                                                     61 Kinoadressen, Impressum, Abo

16 AUF DÜNNEM EIS DIE WÜTENDEN                                         62 Nachbild

Neu im JANUAR/FEBRUAR
29 1917                             42   Darkroom – Tödliche Tropfen   49   Die Kunst der Nächstenliebe   10 Sorry We Missed You
48 Albrecht Schnider –              47   Enkel für Anfänger            38   Lindenberg! Mach dein Ding    43 Spuren
   Was bleibt                       42   Freies Land                   50   Little Joe                    34 Swans – Where Does
28 Alkohol – Der globale Rausch     23   Das Freiwillige Jahr          48   Little Women                     A Body End
56 Als Hitler das rosa Kaninchen    20   Das geheime Leben der         18   The Lodge                     37 Tommaso
   stahl                                 Bäume                         44   Looking at the Stars          24 Varda par Agnès
48 Bombshell – Das Ende des         35   La Gomera                     37   Der Marktgerechte Mensch      36 Ein verborgenes Leben
   Schweigens                       20   Gundermann Revier             19   Milchkrieg in Dalsmynni       46 Vom Gießen des
18 Brothers                         22   Intrige                       14   Miles Davis –                    Zitronenbaums
20 Butenland                        39   Jojo Rabbit                        Birth of the Cool             19 Das Vorspiel
47 Character One: Susan             40   Judy                          21   Mystify: Michael Hutchence    32 Weathering With You
28 Congo Murder                     48   Just Mercy                    20   Nachlass – Passagen           34 Weisser, weisser Tag
38 Crescendo –                      20   Klavierstunden                26   Una Primavera                 30 Why Don’t You Just Die
   #makemusicnotwar                 27   Knives Out –                  30   Queen & Slim                  16 Die Wütenden
                                         Mord ist Familiensache        26   Romys Salon

Starts der Woche
56 Als Hitler das rosa Kaninchen
                                    16.1.                              23.1.                              6.2.
   stahl
                                    29 1917                            20 Das geheime Leben der           20   Butenland
20 Gundermann Revier
                                    48 Albrecht Schnider –                Bäume                           28   Congo Murder
                                       Was bleibt                      39 Jojo Rabbit                     47   Enkel für Anfänger
2.1.                                47 Character One: Susan            20 Nachlass – Passagen             23   Das Freiwillige Jahr
40 Judy                             38 Crescendo –                     19 Das Vorspiel                    22   Intrige
27 Knives Out –                        #makemusicnotwar                16 Die Wütenden                    18   The Lodge
   Mord ist Familiensache           20 Klavierstunden                                                     37   Tommaso
14 Miles Davis –                    38 Lindenberg! Mach dein Ding      30.1.                              24   Varda par Agnès
   Birth of the Cool                37 Der Marktgerechte Mensch        42   Darkroom – Tödliche Tropfen
26 Una Primavera                    46 Vom Gießen des                  48   Just Mercy                    13.2.
                                       Zitronenbaums                   49   Die Kunst der Nächstenliebe   48 Bombshell – Das Ende des
9.1.                                32 Weathering With You             48   Little Women                     Schweigens
28   Alkohol – Der globale Rausch   30 Why Don’t You Just Die          21   Mystify: Michael Hutchence    35 La Gomera
18   Brothers                                                          26   Romys Salon                   44 Looking at the Stars
42   Freies Land                                                       10   Sorry We Missed You           43 Spuren
50   Little Joe                                                        36   Ein verborgenes Leben         34 Weisser, weisser Tag
19   Milchkrieg in Dalsmynni
30   Queen & Slim
34   Swans – Where Does                                                Starts ab 20.2. in unserer
     A Body End                                                        Februar/März-Ausgabe
D4     D JANUAR/FEBRUAR 2020
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INDIEMAGAZiN

FILMFESTIVAL MAX OPHÜLS PRIZE                                                    Der Ehrenpreis beim Max Ophüls Filmfestival geht 2020 an Rosa von
Praunheim. Der Regisseur und Aktivist prägte mit seinem über 150 Kurz- und Langfilme umfassenden Schaffen den schwulen und queeren Film (nicht
nur) in Deutschland und scheute dabei nie vor Tabubrüchen zurück. Das Filmfestival, das vom 20. bis 21.1. zum 42. Mal in Saarbrücken an den Start
geht, hat sich seit 1980 der Förderung des deutschsprachigen Nachwuchsfilms verschrieben, und so stehen neben der Würdigung einer Legende
auch diesmal wieder junge und innovative Filme in vier Wettbewerben im Mittelpunkt. Für alle, die es von weit her nach Saarbrücken zieht, bietet das
Festival in Kooperation mit der Bahn ein Veranstaltungsticket an. Wer es nicht schafft, kann Rosa von Praunheims jüngste Arbeit DARKROOM – TÖD-
LICHE TROPFEN (Besprechung auf Seite 42) , der am 30.1. startet, schauen. ffmop.de

                                                                                     STUTTGARTER FILMWINTER
                                                                                     Vom 16.-19.1. erforscht der „Stuttgarter Filmwinter – Festival
                                                                                     for Expanded Media“ in Grenzgängen von Film und Medienkunst
                                                                                     die Abwesenheit. Der Verein Wand 5, der das Festival seit über
                                                                                     30 Jahren ausrichtet, hat ein Programm mit Filmen, Ausstel-
                                                                                     lungen, Workshops, Performances und anderen experimentier-
                                                                                     freudigen Veranstaltungen zusammengestellt, die es im FITZ!
                                                                                     Cinema, im Theater tri-bühne und dem Kunstbezirk in Stuttgart
                                                                                     zu sehen und erleben gibt. Zentrum des Filmprogramms
                                                                                     sind die drei Wettbewerbe zu Kurzfilm, Medien im Raum und
                                                                                     Network Culture. Das „Warm Up“ zum Festival ist bereits im
                                                                                     Gange und mündet am Abend vor dem offiziellen Festivalbeginn
                                                                                     in einer Ausstellung und Musikperformance. Für jüngere Gäste
                                                                                     haben die Kurator*innen ein eigenes Kinder- und Jugendpro-
                                                                                     gramm zusammengestellt. filmwinter.de
                                                                       FragMANts

                                      Hessischer Dokfilmtag                                        Am 26.1. findet zum allerersten Mal der “Hessi-
                                      sche Dokumentarfilmtag“ statt. Als Motto hat sich die Regionalgruppe des bundesweiten Dokumentarfilmver-
                                      bandes AG DOK „Näher an der Wirklichkeit“ gewählt: „In einer Zeit des Verlustes der Glaubwürdigkeit in den
                                      Medien und in der Politik soll die Bedeutung des Dokumentarfilms, der von der Nähe zu ihren Protagonisten
                                      und Themen lebt, hervorgehoben werden.“ Alles über Spielorte, Gäste und Termine demnächst unter:
                                      hessischer-dokumentarfilmtag.de

D6    D JANUAR/FEBRUAR 2020
INDIEKINO MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
INDIEMAGAZIN

  AUSSTELLUNG: MAXIMILIAN SCHELL Eine Sonderausstellung zu
  ­ aximilian Schell (1930-2014), einem der ersten deutschen Nachkriegs-Schauspieler, denen in Hollywood der Durch-
  M
  bruch gelang, findet noch bis 19. April im Frankfurter Filmmuseum statt. Fotos aus dem Nachlass geben im Foyer einen
  ersten Überblick über die vielfältige Karriere des Schauspielers, Regisseurs und Produzenten. Vertieft wird die Betrach-
  tung dann mit Filmmaterial, gezeigt auf 20 Monitoren, das in seine künstlerische Laufbahn eintauchen lässt. Außerdem
  gehören Dokumentaraufnahmen und Interviews, Dokumente und Objekte zur Ausstellung. Der Oscarpreisträger Schell
  wirkte über fünf Jahrzehnte hinweg in zahlreichen internationalen Produktionen mit. Für seine Rolle im Film JUDGMENT AT
  NUREMBERG (Urteil von Nürnberg, USA 1961, Regie: Stanley Kramer) erhielt er 1962 den Oscar. Außerdem stand er selbst
  hinter der Kamera, unter anderem als Regisseur des Dokumentarfilms MARLENE (D 1984) über Marlene Dietrich. dff.film

                                                                              JUNG & ABGEDREHT                                     Junge Filmschaffende
                                                                              zwischen 14 und 27 zeigen beim 8. Hanauer Jugendfilmfestival „Jung
                                                                              & Abgedreht“ am 26.1. unter dem Motto „Schön kurz“ ihre Kurzfilme
                                                                              im Kinopolis. Auf dem Programm stehen etwa ein Kammerspiel auf der
                                                                              Toilette (BYE, Regie: Elias Grünthal, 17), eine Influencer-Parodie (JEDEM
                                                                              SEINS, AMIGO!, R: Hoang Quynh Nguyen, 22) oder ein Animationsfilm
                                                                              über das Tourette-Syndrom (TIC TIC TACK, R: Theresa Lucas, 22). Andere
                                                                              Filme thematisieren Rassismus, psychische Gesundheit, Technologie­
                                                                              nutzung oder den Klimawandel. jungundabgedreht.de

AUGUST
DIEHL PACHNER
             VALERIE            MATTHIAS
                          SCHOENAERTS
                                                   BRUNO
                                                   GANZ
                                                                MARIA
                                                              SIMON             »Terrence Malicks bester Film seit ‘The Tree of Life’.«
                                                                                                             INDIEWIRE.COM

                                                                                 »Kino in seiner mächtigsten und heiligsten Form.«
                                                                                                                 VARIETY

                                                                                     »Stilistisch und intellektuell überwältigend.«
                                                                                                          PROGRAMMKINO.DE

                             EIN
VERBORGENES
   LEBEN
                            EIN FI LM VON

            TERRENCE MALICK

                    www.ein–verborgenes–leben.de

AB 30. JANUAR 2020 IM KINO
INDIEKINO MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
INDIEMAGAZiN

                                                                                                                                                 Swatted

                                     TRANSMEDIALE                          Die transmediale, das Berliner Festival für Medienkunst und digitale Kultur,
                                     beschäftigt sich 2020 unter dem Titel „End to End“ mit Netzwerkkulturen. Vom 28.1. bis zum 2.2. setzen sich
                                     Künstler*innen und Denker*innen in Bildern, Filmen, Vorträgen und Diskussionen mit diesem und weiteren Themen
                                     des digitalen Zeitalters auseinander. Am „Film & Video Tag“, Donnerstag, 30.1., läuft neben fünf Kurzfilmen der
                                     Dokumentarfilm PRESENT.PERFECT. (US/HK 2019) von Shengze Zhu, der ausschließlich aus Livestream-Film­
                                     material von chinesischen Streaming-Sites besteht. Einige Programmpunkte, darunter auch Gespräche mit den
                                     Kurator*innen, richten sich in der Rubrik „Student Forum“ speziell an Studierende. transmediale.de

WELTWEITE VORFÜHRUNG VON BAMBERGER KURZFILMTAGE Die
SHOAH Claude Lanzmann arbeitete elf Jahre, von 1974 bis 1985, Bamberger    Kurzfilmtage, ältestes Festival Bayerns, finden vom 27.1. bis
                                                              2.2. statt. An sieben Tagen laufen 150 Filme, schwerpunktmäßig aus
lang an SHOAH, einem 9½-stündigen Interview-Film, in dem Opfer und Täter
                                                                                  dem deutschsprachigen Raum, in sechs Locations. Dazu gehören die
der systematisch betriebenen Ermordung von Juden durch das Deutsche
                                                                                  Kinos Lichtspiel und Odeon, aber auch die Stadtbücherei, der Morph-
Reich zu Wort kommen. Der Film gilt als »epochales Meisterwerk der Erin­-
                                                                                  Club und das Künstlerhaus Villa Concordia, eine idyllisch am Ufer der
ne­rungskultur« und ist dennoch nur selten in ganzer Länge im Kino zu sehen.
                                                                                  Regnitz gelegene Barockvilla. Festivalbesucher*innen lernen also neben
Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz am 27.1.2020
                                                                                  den Filmen auch die Bamberger Kulturlandschaft von verschiedenen Sei-
hat das internationale literaturfestival berlin [ilb] Individuen, Schulen, Uni-
                                                                                  ten kennen. Lokale Filmschaffende zeigen im Wettbewerb „Regionalfilm“
versitäten, und kulturelle Institutionen zu einer weltweiten Filmvorführung
                                                                                  ihre Arbeiten. Das Aufspüren und Unterstützen junger Nachwuchstalente
von SHOAH aufgerufen Damit knüpft das ilb an die Serie der weltweiten
                                                                                  steht im Vordergrund – unter anderem zeigten Oscarpreisträger wie
Lesungen an, die es seit 2006 zu verschiedenen Themen, vor allem auf die
                                                                                  Florian Henckel von Donnersmarck und Pepe Danquart hier ihre ersten
Menschenrechte bezogen, organisiert hat. literaturfestival.com
                                                                                  Werke. bambergerkurzfilmtage.de
D8     D JANUAR/FEBRUAR 2020
INDIEKINO MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
BEST OF GENRENALE VOL. 1 Das Genrenale-Filmfestival wurde einst als                                                                 INDIEMAGAZIN

dreckiger kleiner Gegenpol zur großen anspruchsvollen Berlinale gegründet, findet aber schon länger nicht mehr
parallel statt. Das Festival hat sich den Genres verschrieben, die es im deutschen Kino schwerer haben. Nun gehen
neun Kurzfilme aus dem letztjährigen Festivalprogramm auf Torrnee, in denen es absurd, schwarzhumorig und
etwas blutig wird. Ein Familienstreit und eine Warteschlange auf einem Selbstmörderdach sind da noch die profans-
ten Situationen. Aliens, Dämonen, mörderisches Nasenbluten, ein Vopo-Kommissar mit speziellen Fähigkeiten, und
ein Selfie sind schon ein anderes Kaliber. Vom LASERPOPE ganz zu schweigen. cinemaobscure.blogspot.com

                               VERLOSUNG: MEIN LEBEN MIT AMANDA Als die siebenjährige
                               Amanda bei einem Terroranschlag ihre Mutter verliert, muss ihr Onkel, der 24-jährige David mitten in der eigenen
                               Trauer für sie da sein. MEIN LEBEN MIT AMANDA erzählt sehr zart davon, wie Amanda und David zusammenwach-
                               sen und findet die emotionalsten Momente nicht in der großen Geste oder in den hilflosen Ritualen, mit denen die
                               Gesellschaft den Schock zu mildern versucht, sondern in kleinen Details und Alltagsmomenten. Im Kino war Mikhaël
                               Hers schöner Film leider nur kurz zu sehen, jetzt gibt es die Gelegenheit, dies wenigstens zu Hause nachzuholen. Bei
                               Interesse schreibt uns bis zum 15.1. eine Mail an info@indiekino.de

               Ein Film von                                                                                                arsenalfilm.de
            H . PÁ L M A S O N

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               Ab 13. Februar im Kino
INDIEKINO MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
INDIEFEATURE

                      „Man muss raus und sich
                       einmischen, nicht nur
                       dasitzen und jammern“
                          Interview mit Ken Loach zu SORRY WE MISSED YOU

D 10   D JANUAR/FEBRUAR 2020
INDIEFEATURE

Ken Loach muss man eigentlich nicht vorstellen. Zum Oeuvre des Regisseurs gehören Klassiker wie KES (1969), RIFF RAFF
(1991), LADYBIRD, LADYBIRD (1994), LAND AND FREEDOM (1995), THE NAVIGATORS (2001), JUST A KISS (2004), LOOK-
ING FOR ERIC (2009), JIMMY’S HALL (2014) und Cannes-Gewinner I, DANIEL BLAKE (2016). In seinen Filmen, die mal mehr
Komödie, mal mehr Drama, und meist irgendwo dazwischen angesiedelt sind, ist Loach immer fest auf der Seite der Under-
dogs, seien es Bauarbeiter, Putzfrauen, Sozialist*innen im Spanischen Bürgerkrieg oder irische Wiederstandkämpfer*innen.
Einen O.B.E (das britische Equivalent zum Bundesverdienstkreuz) lehnte er ab: „…it’s not a club you want to join when you
look at the villains who’ve got it.“ Bereits mehrfach hat der mittlerweile 82-Jährige seinen Rückzug aus dem Filmgeschäft
angekündigt, aber es dann im Ruhestand – zum Glück! – nicht ausgehalten. Das Interview führte Thomas Abeltshauser mit
Ken Loach im September auf dem Filmfest in San Sebastián.

INDIEKINO: Nach I, DANIEL BLAKE, der 2016 in Cannes mit der Goldenen           Das ist die Herausforderung. Aber man muss es auf ein individuelles
Palme ausgezeichnet wurde, haben Sie angekündigt, das sei wahrschein-          Drama herunterbrechen, sonst ist es bloße Propaganda. Wir wollten eine
lich Ihr letzter Film. Nun sind Sie inzwischen 80 und machen fleißig weiter.   einfache, kleine Geschichte erzählen, bei der deutlich wird, es ist nur die
Ihr neues Sozialdrama SORRY WE MISSED YOU handelt von einer Familie,           Spitze des Eisbergs, und durch die eine wirtschaftliche Struktur sichtbar
die unter den Folgen der Finanzkrise von 2008 leidet. Was treibt Sie an?       wird. Wir haben unzählige solcher Geschichten gehört.

Ken Loach: Es passiert einfach zu viel Schlimmes! Jedes Mal, wenn ich die      Wie gewinnen Sie das Vertrauen der Betroffenen, sich Ihnen zu öffnen?
Nachrichten einschalte, denke ich: Darüber müssten wir was machen. Ich
bin ständig mit Paul Laverty, meinem Drehbuchautor, in Kontakt und wir         Paul Laverty ist sehr gut darin. Er versuchte es zunächst über die Gewerk-
reden über alles Mögliche. So kam es auch zu SORRY WE MISSED YOU.              schaften, aber alle hatten Angst. Also ging er frühmorgens zu Fuhrparks
Wir sprachen lange über die sich rasant verändernde Arbeitswelt. Noch          und kam mit den Fahrern ins Gespräch. Er sagte von Anfang an, dass es
vor einer Generation hatten viele Menschen das ganze Leben denselben           um einen Film geht und sicherte ihnen Anonymität zu. Mit einigen Fah-
Arbeitsplatz, der die Sicherheit brachte, um eine Familie zu gründen, ein      rern verbrachte er dann einen ganzen Tag im Wagen und erlebte ihren
Haus zu bauen und sein Leben zu planen. Das verschwindet gerade.               Arbeitsalltag.

Können Sie das erläutern?                                                      Sie haben die beiden Hauptrollen mit Laien besetzt, die aus ähnlichen
                                                                               Verhältnissen kommen. Um es glaubwürdiger zu machen?
Zwei Drittel aller neuen Jobs sind prekär und ohne jede Sicherheit. Viele
sind mittlerweile vermeintlich selbständig, und alles Risiko ist auf den       Unbedingt! Ricky ist eigentlich selbständiger Klempner, Debby gibt Nach-
einzelnen Arbeiter abgewälzt, weil er nun ein unabhängiger Anbieter einer      hilfe für Schüler. Beide wollten schon lange schauspielern, und es wirkt
Leistung ist und kein Festangestellter. So hat er keinen Lohnausgleich bei     sehr authentisch, weil sie diese Welt sehr genau kennen.
Krankheit, keinen bezahlten Urlaub und im Falle des Lieferdienstfahrers
in meinem Film auch keine Versicherung für sein eigenes Fahrzeug. Wenn         Die bittere Ironie ist, dass die Mutter als Heimpflegerin arbeitet, um so
da irgendwas schiefläuft, ist er dran. Das war die Grundidee, Paul fing        ihre eigene Familie zu ernähren, aber dadurch keine Zeit mehr hat, sich
dann an zu recherchieren, sprach mit Betroffenen, die ihm ihre Erfahrun-       um sie zu kümmern.
gen schilderten. Paul wollte das auch als Familiengeschichte erzählen,
denn dort wird der Stress sichtbar, dem die Menschen mehr und mehr             Wir haben viel mit Frauen in diesem Beruf gesprochen. Viele haben 20
ausgesetzt sind.                                                               Minuten pro Klienten und erhalten dafür nur ein Drittel des Mindeststun-
                                                                               denlohns, der bei 8,50 Pfund liegt. Also bekommen sie weniger als drei
SORRY WE MISSED YOU setzt damit auf gewisse Weise fort, was Sie                Pfund, brauchen aber oft eine halbe Stunde und mehr, um mit öffentli-
bereits in I, DANIEL BLAKE thematisiert hatten.                                chen Verkehrsmitteln zu den Leuten zu kommen, die Anfahrt wird nicht
                                                                               vergütet. Das sind Armutstarife!
Und beide sind in Newcastle angesiedelt. Daniel Blake ist Opfer bürokrati-
scher Sanktionen und um die Ecke wohnt eine Familie, in der beide Eltern       Die Auseinandersetzungen innerhalb der Familie verlaufen immer ähnlich.
prekäre Arbeiter sind, die ums Überleben kämpfen. Es sind zwei Seiten          Wollen Sie damit zeigen, dass wir Menschen Gewohnheitstiere sind?
derselben Situation.
                                                                               Sind wir das etwa nicht? Der Vater versucht, eine Art Autorität aufrecht-
Wie schwierig ist es, ein soziales oder politisches Thema in einen Spiel-      zuerhalten, die traditionelle patriarchale Struktur. Die Rolle der Mutter ist
film zu verwandeln?                                                            auszugleichen, für Frieden zu sorgen. Und der Sohn ist der Gefangene in

                                                                                                                           JANUAR/FEBRUAR 2020 D       11 D
INDIEFEATURE

diesem Szenario. Sie sind festgefahren in dieser Dynamik, das wollte ich      sozialistische Partei in ganz Europa. Wo ist da Enttäuschung? Dieses
durch den immer gleichen Ablauf verdeutlichen. Die Körpersprache, wie         Gerede ist kontraproduktiv. Ich bin voller Hoffnung. Aber man muss raus
sich jemand bewegt und im Raum positioniert, sagt sehr viel über einen        und sich einmischen, nicht nur dasitzen und jammern.
Menschen aus.
                                                                              Zugleich wird die Kritik lauter, die Linke habe die klassische Arbeiter­
Sie kämpfen seit Jahrzehnten für soziale Gerechtigkeit und prangern mit       familie vergessen.
Ihren Filmen die Ausbeutung und den Sozialabbau in Großbritannien an.
Die Rechtspopulisten sind dort wie in großen Teilen Europas auf dem Vor-      Wer sagt das? Der freie Markt beutet die Menschen aus und darunter
marsch, die Linke scheint dem wenig entgegensetzen zu können. Sind Sie        leiden vor allem die Familien. Alleine der mentale Stress, davon handelt
von ihren alten Mitstreitern enttäuscht?                                      ja auch mein Film. Die Leute schuften 12, 14 Stunden und lassen sich
                                                                              am Arbeitsplatz, ob als Krankenschwester oder als Fahrer eines Liefer-
Die Fronten, was rechts und was links ist, sind heute klarer als je zuvor.    services, nichts anmerken. Und wenn sie nach Hause kommen, sind sie
Die Rechten glauben an einen freien Markt, eine kapitalistische Wirt-         völlig erschöpft, ungeduldig und gereizt. Und darunter leiden die Kinder.
schaft und eine globalisierte Produktion, in der sich die Bourgeoisie die     Das ist doch offensichtlich.
billigsten Arbeiter suchen kann, um sie auszubeuten. Das ist für mich die
Rechte. Die Linke steht für gemeinsame Güter und Planwirtschaft, um           Im Kino gibt außer Ihnen diesen Menschen kaum noch jemand eine
den Planeten zu retten und Gerechtigkeit am Arbeitsplatz herzustellen.        Stimme.
Die Grenzen sind eindeutig, es gibt da keinen Mittelweg. Die Verzweif-
lung über die Linke kenne ich, seit ich denken kann – es ist die einfa-       Weil die Investoren und Finanziers nicht daran interessiert sind. Es lässt
che Ausflucht für Leute, die sich nicht einmischen wollen. Gehen Sie          sich damit kein Geld verdienen. Und sie entscheiden, was produziert wird.
zu irgendeinem Gewerkschaftstreffen und sie werden Leute finden, die          Also nicht wir Filmemacher haben diese Menschen vergessen, es gibt
bereit sind zu kämpfen. Ich bin nicht verzweifelt, sondern im Gegenteil       schlicht immer weniger Möglichkeiten, ihre Geschichten zu erzählen. Wir
sehr hoffnungsvoll.                                                           hatten früher mehr Freiheiten.

Weite Teile der Arbeiterklasse wählen heute populistische und nationalis-     Ist Ihr Anspruch dabei, auf bestimmte Situationen und soziale Ungerech-
tische Parteien. Wie erklären Sie sich diesen Rechtsruck?                     tigkeiten aufmerksam zu machen, oder verstehen Sie Ihr Kino auch als
                                                                              Medium, um Dinge zu verändern?
Geschichte wiederholt sich. Hitler und Mussolini wurden auch gewählt.
Es gibt natürlich ein großes reaktionäres Element innerhalb der Arbei-        Zuallererst geht es darum zu zeigen, dass es passiert, auf eine Art, die
terklasse, das können wir nicht leugnen. Aber das ändert nichts an der        glaubwürdig ist. Ich halte es mit Bertold Brecht: „Und ich dachte immer:
Tatsache, dass sie durch die herrschende Klasse für deren Profitmaximie-      die allereinfachsten Worte müssen genügen. Wenn ich sage, was ist, muss
rung ausgebeutet wird. Doch die Versprechen des Kapitalismus sind sehr        jedem das Herz zerfleischt sein.“ Es ist wichtig, Missstände klar zu benen-
stark und werden durch die Medien und ihre Vergötterung von Unterneh-         nen, und alleine das sollte uns wütend machen. Und wenn es mir gelingt,
mern gefüttert, auch wenn es den meisten immer schlechter geht und            dadurch Leute aufzurütteln und es eine Bewegung oder politische Organi-
wir unsere Umwelt zerstören. Aber viele glauben diese Lügen. In ihren         sation oder Gewerkschaft gibt, die sich für diese Belange einsetzt, liegt es
Augen sind nicht die Verantwortlichen schuld, sondern die anderen, die        am Zuschauer, ob er nach dem Kinobesuch einfach nach Hause geht oder
auch arm sind, oft eine andere Hautfarbe haben. Sie nehmen ihnen ver-         sich informiert und engagiert. Aber nehmt es zumindest wahr, ignoriert es
meintlich die Arbeitsplätze und Wohnungen weg. Es ist immer einfacher,        nicht! Mehr kann ein Film nicht leisten.
nach unten zu treten. Das ist eine Denkweise, die wir bekämpfen müssen.
Aber ich habe auch Hoffnungen, vor allem in die Jugend, die gerade für        Trotz allem gibt es in SORRY WE MISSED YOU kleine Hoffnungs­-
das Klima auf die Straße geht. Wir müssen ihnen zuhören! Sonst droht es       schimmer …
zu verpuffen, weil sie sehen, dass sich nichts ändert. Jetzt geht es darum,
diese Proteste und Forderungen in eine kohärente politische Bewegung zu       Mein Ansatz ist, mit Empathie zu beobachten. Ich will nicht nur die
überführen. Hier ist vor allem die Linke gefordert.                           Umstände erklären, sondern auch die Solidarität feiern, die Unterstüt-
                                                                              zung, Zuneigung und den Humor, die ich auch bei den am meisten Ausge-
Wieso sind Sie trotz allem optimistisch?                                      beuteten noch immer entdecken kann.

Wenn es um Veränderung geht, gibt es natürlich immer Meinungsver-             Erreichen Sie mit Ihren Filmen, die Leute, die es konkret betrifft?
schiedenheiten. Aber bei allem was schief läuft in Großbritannien, haben
wir mit Jeremy Corbyns Labour Party zumindest eine starke linke Opposi-       Viele gehen sonst gar nicht ins Kino, vor allem ins Arthousekino. Aber wir
tionspartei, mit einem Programm, das Punkte fordert wie einen radikalen       hatten über 700 Filmvorführungen bei Gewerkschaftsgruppen, Selbsthil-
Wandel zu ökologischer Produktion, erhöhte Investitionen in den öffentli-     feorganisationen, Fußballvereinen und Pubs, oft in den ärmsten Gegen-
chen Dienst, Gewerkschaftsrechte für alle, um die Ausbeutung durch pre-       den des Landes. Bei vielen waren Paul und ich selbst dabei und redeten
käre Arbeitsverhältnisse und die Privatisierung des Gesundheitssystems        mit den Menschen. Es war deutlich, dass wir mit der Geschichte einen
zu beenden, und vieles mehr. Und die Chancen stehen gut, dass wir mit         Nerv treffen.
diesem Programm die Wahlen gewinnen könnten, wir sind die stärkste            D Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser

D 12    D JANUAR/FEBRUAR 2020
Großbritannien 2019 D 100 min D R: Ken Loach D B: Paul Laverty D S: Jonathan Morris
D M: George Fenton D D: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor
D V: NFP marketing & distribution

     Sorry We Missed You
     Unversöhnlicher denn je

Ken Loach ist wütend. Sehr wütend. Während Pedro Almodóvar und Mar-
tin Scorsese selbstreflexiv zurückblicken, Woody Allen sich in nostalgi-
schen Träumereien verliert und Clint Eastwood sich mit Senioren-Gangs-
tern amüsiert, ist Ken Loach gegenwärtiger und unversöhnlicher denn je.
Sein neuer Film SORRY WE MISSED YOU knöpft sich die Ich-AG vor. Ricky
Turner aus Newcastle macht sich als Paketbote selbstständig. Wenn alles
gut läuft, werden er und seine Frau Abbie, die als ambulante Altenpfle-
gerin arbeitet, das Häuschen abbezahlen können. In der Hoffnung auf
ein Leben, das wenigstens ein bisschen komfortabler ist, verkaufen die
­Turners Abbies Kleinwagen und schaffen sich einen Lieferwagen an.
 Womit sie nicht gerechnet haben, ist der erbarmungslose Druck. Für den
 Fall, das eben mal nicht alles gut läuft, gibt es keinen Puffer: Jede Verspä-
 tung wird mit Sanktionen bestraft, und wenn Ricky ausfällt, muss er einen
 Ersatzfahrer bezahlen. Das erste, was ein Kollege ihm gibt, ist eine Plas-
 tikflasche – in die kann er pinkeln, wenn keine Zeit zum Aussteigen ist.
 Während zuhause Sohn Seb die Schule schwänzt und dringend Aufmerk-
 samkeit bräuchte, rast Ricky durch die Stadt, die Katastrophe immer dicht
 auf den Fersen. Auch wenn hier und da, im Privaten, noch Orte der Wärme
 und Geborgenheit zu finden sind, wird erschreckend deutlich, dass es für
 die Turners keinen Plan B gibt. Wie zu Beginn der Industrialisierung haben
 die kleinsten Rädchen im globalen Getriebe – auch in Europa – so gut wie
 keinerlei Absicherung und kaum Perspektiven mehr. Ken Loach und sein
 langjähriger Drehbuchautor Paul Laverty inszenieren das mit einer Dring-
 lichkeit und Energie, die 60 Jahre jüngere Filmemacher*innen gesetzt und
 müde wirken lässt. Diese politische Zwei-Mann-Bewegung hat offenbar
 nicht vor, die Klappe zu halten, solange es Missstände gibt, die benannt
 werden müssen. Und das ist sehr gut so. D Hendrike Bake

  Start am 30.1.2020                            Ken Loach takes the ‘I Incorporated’
  ¢ Alle Spielorte und Termine auf              world to task: Ricky Turner from New-
     www.indiekino.de                           castle becomes a self-employed parcel
                                                carrier. If everything goes well, he and
                                                his wife Abbie, an outpatient geriatric
                                                nurse, can pay off their little house….

                                                                                           AB 23. JANUAR IM KINO
INDIEFEATURE

“Ich möchte mich so fühlen, wie Miles Davis spielt” sagt die Autorin Farah      Miles Davis’ Autobiografie und viele Talking Heads. Die Musik selbst
Griffin in Stanley Nelsons exzellentem Dokumentarfilm MILES DAVIS –             könnte mehr Raum bekommen, Nelson legt stets nach wenigen Sekun-
BIRTH OF THE COOL. Wer würde das nicht gern? Kaum ein anderer Musi-             den Text über die Stücke und schiebt Davis’ eigentliche Kunst in den
ker ist so unmittelbar identifizierbar. Es reicht einer dieser klaren, entwe-   Hintergrund, aber immerhin lässt Nelson die richtigen Leute reden, und
der gedämpften, oft vibrationslosen Töne, die immer klingen als würden          alle haben tatsächlich etwas zu sagen. Und so klappert der Film nicht
sie direkt über einem Abgrund schweben, als wären sie immer kurz davor          nur die wichtigsten künstlerischen und biografischen Stationen in Davis’
zu zersplittern oder zu implodieren, oder einer der messerscharfen unge-        Leben ab, sondern zeigt auch die kulturelle Relevanz von Davis’ Musik
dämpften Töne, die in die Stille schneiden: Das kann nur Miles sein, mit all    und Stil: die Ablehnung jeder Spur von „Minstrelsy“ im Bebop, also allem,
seiner Eleganz, Präzision, unsentimentaler Romantik und Wut.                    was an die rassistischen „Blackface“-Shows des 19. Jahrhunderts erin-
                                                                                nerte, in denen das Stereotyp der immer fröhlichen, tanzenden und sin-
Regisseur Stanley Nelson hat vor MILES DAVIS – BIRTH OF THE COOL                genden, naiv-tumben Schwarzen vermittelt wurde. Dann die Entstehung
zahlreiche politische Dokumentarfilme gemacht, darunter den mit zwei            einer neuen, eleganten, selbstbewussten Schwarzen Männlichkeit im
Emmys ausgezeichneten FREEDOM RIDERS, über Bürgerrechtsakti-                    Rassengrenzen überschreitenden Cool-Jazz, die sich in den totschicken
vist*innen, die in den 60er Jahren die Rassentrennung durch gemein-             und sündhaft teuren Brooks-Brothers-Anzügen, die Davis trug, ebenso
same Bus- und Zugfahrten bekämpften, aber auch Filme über die Black             spiegelte wie in den urbanen, soundorientierten Arrangements seit den
Panthers und über den Mord an Emmett Till. Sein Film über Miles Davis           Aufnahmen zu „Birth of the Cool“ von 1949. „Birth of the Cool“ war auch
ist eine der besseren Musikerbiografien der letzten Jahre, ohne dass sie        die erste der epochalen Kooperationen von Davis mit dem Arrangeur Gil
sich formal unbedingt von anderen unterscheidet. Es gibt Fotocollagen,          Evans, die klassische Musik und Jazz zu neuen Klangwelten verbanden.
die historische Ereignisse und Zeitkolorit vermitteln, viele Fotoporträts       Miles Davis erste Ehefrau, die Tänzerin Frances Taylor, weckte bei Davis
und Filmaufnahmen von Miles Davis, eine Off-Erzählung mit Texten aus            die Begeisterung für Flamenco, die zu „Sketches of Spain“ (1960) führen

D 14    D JANUAR/FEBRUAR 2020
INDIEFEATURE

                                                                                              Miles Davis –
                                                                                              Birth of
                                                                                              the Cool
                                                                                              Musik und Stil

sollte, seine zweite Ehefrau, die feministische Funk-Musikerin Betty Davis,   Miles Davis war eine komplexe Persönlichkeit und eine kulturelle Ikone.
die mit Sly Stone und Jimi Hendrix befreundet war, inspirierte Davis zu       Wenn der Schlagzeuger Lenny White sagt: „Wir wollten nicht nur spielen
den Jazz-Rock-Funk-Experimenten seit „Bitches Brew“ (1970).                   wie Miles Davis, wir wollen Miles Davis sein“, sieht das von heute aus
                                                                              betrachtet vielleicht ein wenig anders aus. Aber der Wunsch, sich so füh-
Nelsons Film verschweigt nicht die dunklen Seiten von Davis’ Geschichte,      len, wie Miles Davis gespielt hat, das lässt sich kaum vermeiden. Ein paar
die Alkohol- und Kokainsucht oder die Arroganz, mit denen er Musiker-         Töne aus „Sketches of Spain“ oder „Kind of Blue“ und jeder Widerstand
kollegen behandelte (Archie Shepp: „He said: Who are you? Shepp? Fuck         schmilzt. D Tom Dorow
you! You can’t sit in with me!“). Aber er zeigt auch den alltäglichen Ras-
sismus, dem Davis in den USA ausgesetzt war. Weniger deutlich wird
der Film, wenn es um Davis’ Gewalttätigkeiten gegenüber Frauen geht.
Frances Taylor berichtet zwar von einem Schlag ins Gesicht, nachdem sie
bei einem Clubbesuch angemerkt hatte, dass Quincy Jones ein attraktiver
                                                                              USA 2019 D 113 min D R: Stanley Nelson D S: Lewis Erskine, Natasha Livia Mottola, Yusuf
Mann sei. „Das war der erste, aber unglücklicherweise nicht der letzte“,      Kapadia D M: Miles Davis D V: Piece of Magic Entertainment
sagt Taylor. Aber Nelson lässt die Interviews mit Davis’ Partnerinnen auf
einem versöhnlichen Schlussakkord enden. „Ich bereue nicht, ich ver-
                                                                                Start am 2.1.2020                              Stanley Nelson’s film about Miles
gebe nicht, aber ich liebe“ sagt Frances Taylor, die Davis auch gezwungen       ¢ Alle Spielorte und Termine auf               Davis is one of the better musician’s
hatte, ihr Engagement bei der ersten Broadway-Produktion von „West                 www.indiekino.de                            biographies in recent years, without
                                                                                                                               being formally different from the
Side Story“ aufzugeben. Angesichts der zahlreichen Geschichten über                                                            others.
Davis Gewalt gegen Frauen, die im Film nicht erwähnt werden, wirkt das
im Film wie eine Absolution.

                                                                                                                                 JANUAR/FEBRUAR 2020 D                 15 D
INDIEFEATURE

         Die Wütenden
         Auf dünnem Eis
Schon die Eröffnungssequenz macht die Parallele deutlich: Eine Men-         Fronten und Verhaltensweisen einführen. Gwada (Djibril Zonga) ist der
schenmenge vor dem Arc de Triomphe in Paris. Die Tricolore weht viel-       ruhige Pol, Chris (Alexis Manenti) der Psycho, der überzeugt davon ist, mit
fach im Wind. Der Nationalstolz wird gefeiert. Eine Momentaufnahme          harter Hand mehr zu erreichen. Es gibt den selbsternannten Bürgermeis-
wie aus der Französischen Revolution. Aber die Bilder sind aktuell, von     ter, einen Gangsterboss, der als Sprachrohr für die Gemeinde dient, die
der vergangenen WM 2018. Darüber liegt in übergroßen Lettern der Titel:     Muslimbruderschaft, die im Hintergrund die Strippen zieht. Und dann gibt
LES MISÉRABLES. Doch die Parallelen in Ladj Lys Sozialdrama zu Victor       es die Jungen, Gewaltbereiten, die sich nichts sagen lassen. Solange hier
Hugos Klassiker gehen tiefer. Da wäre zunächst der Stadtteil Montfer-       niemand die Nerven verliert, bleibt es ruhig. Doch am Rande des Viertels
meil vor den Toren der Hauptstadt, in weiten Teilen der Handlungsort        haben die Roma ihr Lager aufgeschlagen, ein Wanderzirkus. Der junge
von Hugos Werk. Auch 150 Jahre später herrscht dort bittere Armut und       Issa kommt auf die Idee, ein Löwenjunges zu entführen und entfesselt
soziale Ungerechtigkeit. Regisseur Ly weiß, wovon er erzählt, wuchs er      damit einen Krieg, zwischen dessen Fronten Stéphane und seine Kollegen
doch selbst in Montfermeil auf und war mittendrin in den blutigen Aus-      geraten.
schreitungen von 2005, die auch seinen Film inspirierten. Hier ist es der   Regisseur Ladj Ly versteht seinen Film als Warnung an die Politik. 15 Jahre
junge Polizist Stéphane (Damien Bonnard), der aus der Provinz in den        nach den schweren Ausschreitungen in den Banlieues hat sich nichts
sozialen Brennpunkt kommt, um dort Dienst zu schieben. An seinem            geändert. Eine neue Generation ist herangewachsen. Es ist an der Politik,
ersten Arbeitstag erlebt er die Spannungen in dem Viertel zunächst vom      sich um sie zu kümmern. Ly gelingt ein lebensnaher Einblick in eine Welt
Rücksitz des Peugeots aus, während ihn seine neuen Kollegen in die          abseits des Systems. Ein Mikrokosmos mit eigenen Regeln und Gesetzen,

D 16    D JANUAR/FEBRUAR 2020
„Roman Polanskis
                                                                                                                                            bester Film
                                                                                                                                       seit DER PIANIST“
                                                                                                                                             Filmstarts.de

                                                                                                                                            filmfestspiele venedig 2019

                                                                                                                                            silberner löwe
                                                                                                                                            großer preis der jury

                                                                                                                                            EIN FILM VON

                                                                                                                                        ROMAN POLANSKI

in dem eine Handvoll Polizisten versucht, für Ordnung zu sorgen. Ein täg-
                                                                                           INTRIGE
licher Eierlauf, der einen hochspannenden Film ergibt, den Kameramann
Julien Poupard in vibrierende Bilder umsetzt. Ein intensiver Film, der unter
die Haut geht und Hugos Worte im letzten Akt schmerzhaft ins Gedächt-
nis ruft: „Merkt Euch, Freunde! Es gibt weder Unkraut noch schlechte                                                                   Ab 6. Februar
Menschen. Es gibt bloß schlechte Gärtner.“ D Lars Tunçay
                                                                                                                                         im Kino
Originaltitel: Les Misérables D Frankreich 2019 D 103 min D R: Ladj Ly D B: Ladj Ly,
Giordano Gederlini, Alexis Manenti D K: Julien Poupard D S: Flora Volpelière D D: Damien
Bonnard, Alexis Manenti, Djebril Zonga D V: Wild Bunch/Alamode/Central Film

  Start am 23.1.2020                              Director Ladj Ly found Victor Hugo’s
  ¢ Alle Spielorte und Termine auf                “Les Misérables“ in the Parisian                                                        /Intrige.DerFilm
     www.indiekino.de                             Banlieues of today.
                                                                                           PHOTO GUY FERRANDIS / ALL RIGHTS RESERVED
INDIEKRITIKEN

Originaltitel: Kardeşler D Türkei/Deutschland/Bulgarien 2017 D 103 min D R: Ömür Atay     Großbritannien 2019 D 100 min D R: Veronika Franz, Severin Fiala D K: Thimios Bakatakis
D B: Ömür Atay D D: Yiğit Ege Yazar, Caner Şahin, Gözde Mutluer D V: Filmdisposition      D S: Michael Palm D M: Danny Bensi, Saunder Jurriaans D D: Richard Armitage, Riley
Wessel                                                                                    Keough, Jaeden Martell, Lia McHugh, Alicia Silverstone D V: SquareOne

       Brothers                                                                                The Lodge
       Pakt des Schweigens                                                                     Slowburn-Horror

Wie fremdgesteuert funktioniert Yusuf (Ege Yazar) in der Jugendstrafan-                   Dass den österreichischen Filmemacher*innen Severin Fiala und Vero-
stalt. Seit vier Jahren besteht sein Leben aus der täglichen Routine aus                  nika Franz nach dem Erfolg ihres elegant konstruierten Horrorfilms ICH
Aufstehen, Bett Machen, Arbeiten, Hofgang. Besuch hatte er in all den                     SEH, ICH SEH die österreichische Filmproduktionslandschaft zu eng
Jahren nie. Dann taucht plötzlich sein Bruder Ramazan (Caner Sahin) auf.                  würde, war abzusehen. Ihr neuer Film THE LODGE ist eine britisch-fran-
Yusufs Entlassung steht kurz bevor, und Ramazan begleitet ihn in sein                     zösisch-amerikanische Koproduktion, die unter dem Hammer Films Label
neues Leben, der Arbeit in der familiären Raststätte. Der 17-Jährige will                 erscheint. Wäre THE LODGE ein paar Wochen früher erschienen, wäre der
aber eigentlich nur seine Mutter endlich wiedersehen, ihr gegenüber tre-                  Film das perfekte Weihnachtsgegengift gewesen. Zwei Kinder, der Teen-
ten und sagen, dass er unschuldig hinter Gittern saß. Doch die Begegnung                  ager Aidan und seine acht Jahre alte kleine Schwester Mia trauern um
wird seine Erwartungen nicht erfüllen, und in dem stillen, verschlossenen                 ihre vor einem halben Jahr plötzlich verstorbene Mutter. Ihr Vater Richard
Yusuf reift eine Wut gegen jene, die seine Zeit im Gefängnis zu verantwor-                lässt sie kurz vor den Weihnachtsfeiertagen mit seiner neuen Verlobten
ten haben, gebremst nur von der eigenen Schuld, die er auf sich geladen                   Grace (Riley Keough) für ein paar Tage auf einer eingeschneiten, aber gut
hat.                                                                                      ausgestatteten Jagdhütte allein. Die Hütte spielt offenbar eine große Rolle
Ömür Atays BROTHERS beginnt fast schon etwas zu langsam. Am Anfang                        im Leben der Familie, denn die Kinder besitzen ein großes Puppenhaus,
wirkt der Debütfilm wie ein undurchdringliches Geflecht von Andeutun-                     das der Originalhütte detailgetreu nachempfunden ist, und in dem Pup-
gen. Die Gründe für Yusufs Haft lässt Atay lange im Dunkeln. Doch es                      pen symbolträchtige Stellungen einnehmen. Das erinnert stark an die
lohnt sich, Geduld zu haben, die Gesten und Blicke der Brüder genau zu                    Modelle, die Tony Colette in Ari Asters HEREDITARY baut, was vermutlich
studieren, ihre Worte aufzunehmen. Denn mit dem Auftauchen einer wei-                     Zufall ist, zumal Fiala/Franz und Aster ähnliche Themen umkreisen. Die
teren Figur verdichtet sich die Handlung in der zweiten Hälfte des Films                  Kinder finden schnell heraus, dass Grace die einzige Überlebende einer
zu einem starken Finale: Yasemin (Gözde Mutluer) ist in dem Motel der                     christlichen Selbstmordsekte ist, und bemerken, dass ihr die Madonnen-
Brüder gestrandet. Ihr Verlobter ist mit uneingelösten Versprechen abge-                  bilder und Kruzifixe in der Hütte Unbehagen bereiten. Bald geschehen
zogen. Ihre Figur und die der Mutter auf der einen, die Brüder und der                    seltsame Dinge, und wie schon in ICH SEH, ICH SEH bleibt oft unklar, was
Onkel auf der anderen verbinden sich am Ende zu einem kraftvollen Por-                    Realität und was Halluzination ist. THE LODGE ist ein psychologischer
trät der türkischen Gesellschaft – das Patriarchat, die Blutsbande, die                   Slowburn-Horrorfilm, der mehr mit Atmosphäre als mit Schocks arbeitet
bedingungslose Hörigkeit gegenüber den Älteren. Im Zentrum steht Yusuf,                   und mehrere Wendungen nimmt, die weniger überraschend sind, als dass
ein Kind, das zum Mann werden musste, um für die Familie einzustehen,                     sie ständig als Möglichkeiten über der Geschichte schweben. Der antireli-
still aber stark verkörpert von Ege Yazar. D Lars Tunçay                                  giöse und morbide Stil von Fiala und Franz wirkt trotz der internationalen
                                                                                          Produktion mindestens so österreichisch wie die Filme von Ulrich Seidl.
                                                                                          D Tom Dorow

  Start am 9.1.2020                             After four years in juvenile detention,     Start am 6.2.2020                              The first US film from Austrian direct-
  ¢ Alle Spielorte und Termine auf              Yusuf gets out of jail and is just 17.      ¢ Alle Spielorte und Termine auf               ing duo Severin Fiala and Veronika
     www.indiekino.de                           His big brother wants to drag him into         www.indiekino.de                            Franz (GOODNIGHT MOMMY). Two
                                                crime again, but Yusuf flees from the                                                      children drive to a mountain cabin with
                                                family and the memories of his crime.                                                      their soon-to-be stepmother. Mysteri-
                                                                                                                                           ous things happen.

D 18      D JANUAR/FEBRUAR 2020                                                                                                            Termine unter www.indiekino.de
INDIEKRITIKEN

Deutschland 2019 D 99 min D R: Ina Weisse D B: Ina Weisse, Daphne Charizani D K: Judith    Originaltitel: Héraðið D Island 2019 D 90 min D R: Grímur Hákonarson D B: Grímur Hákonar-
Kaufmann D S: Hansjörg Weißbrich D D: Nina Hoss, Ilja Monti, Simon Abkarian, Sophie Rois   son D K: Mart Taniel D D: Arndís Hrönn Egilsdóttir, Hinrik Ólafsson, Sigurður Sigurjónsson,
D V: Port-au-Prince                                                                        Hannes Óli Ágústsson D V: Alamode Filmdistribution

     Das Vorspiel                                                                               Milchkrieg in Dalsmynni
     Darstellerische Finesse                                                                    Korrupte Kooperative

Zuweilen korrespondieren Filme auf so stupende, wenn auch nicht inten-                     Nahe der isländischen Kleinstadt Dalsmynni betreiben Inga und Reynir
dierte Art miteinander, dass es verlockend ist, sie in Relation zueinander                 einen Milchhof, der schon lange in seiner Familie ist. Zu zweit schaffen sie
zu setzen. DAS VORSPIEL, Regie Ina Weisse, ist ein Film über Enttäu-                       die Arbeit kaum, und es wäre einfacher, die Schulden abzuzahlen, wenn
schung, Verhärtung, über eine Frau ohne Mitte. Ein Film über Musik-Be-                     sie nicht verpflichtet wären, nur mit der örtlichen Genossenschaft Handel
sessenheit, ein Film über eine Frau (Nina Hoss) zwischen fünf Männern                      zu treiben. Als Reynir bei einem Unfall stirbt, ist es eine Erleichterung für
(Sohn, Vater, Mann, Liebhaber, Geigen-Schüler). Ihrer Mitte ist auch Lara,                 Inga, dass die Genossenschaft den Hof führt, während sie trauert, und sie
Protagonistin in Jan-Ole Gersters im November gestarteten gleichnami-                      kaum noch gebraucht wird. Aber dann erzählt ihr ein Arbeiter, dass Reynir
gen Film verlustig gegangen. Beide, Pianistin Lara und Violinistin Anna,                   abtrünnige Bauern an die Genossenschaft verraten und so in den Ruin
haben auf eine Karriere als Musikerin verzichten müssen. Bei Lara war                      getrieben hat. Voller Wut schreibt Inga auf Facebook über die mafiösen
es das vernichtende Urteil eines Professors, bei Anna eine Angststörung.                   Methoden der Genossenschaft und findet kurz darauf heraus, wie richtig
Einmal fliegt Anna ob ihrer Nervosität bei einem Konzert der Violinbogen                   sie mit den Anschuldigungen liegt. Wenn Inga in Dalsmynni bleiben und
weg. Voller Wut fokussiert sie sich auf den Geigen-Unterricht. In beiden                   den Hof behalten will, soll sie den Mund halten. Das Fernsehen interes-
Filmen kommt es zu Übergriffigkeiten Musikschülern gegenüber, in bei-                      siert sich für ihre Geschichte. Von den anderen Milchbauern ist dagegen
den entlädt sich die Frustration der Hauptfiguren. Andere müssen büßen                     keine Hilfe zu erwarten. Dafür sind sie zu träge und passiv und scheuen
fürs eigene Versäumnis. Die sich sukzessive verhärmenden Gesichtszüge                      die Aufregung. Inga aber ist ganz die störrische Bäuerin und hat keine
Annas machen sie zu einer Art Leidensgenossin Laras. Ganz so nieder-                       Angst vor dramatischen Aktionen und einer Nacht hinter Gittern. Doch
drückend wie Jan-Ole Gersters Zweitling ist das mit Humor-Momenten                         alleine kann sie nicht gegen die Genossenschaft siegen.
gespickte VORSPIEL aber nicht. So wie LARA ohne das kühl kontrollierte                     Grímur Hákonarsons (STURE BÖCKE) MILCHKRIEG funktioniert auf ver-
Spiel Corinna Harfouchs kaum denkbar ist, prägt auch Hoss ihren Film.                      schiedenen Ebenen, die sich erst im Nachhinein voll erschließen. Nicht
Beeindruckend die Sequenz, in der ihr Eleve wider Erwarten doch zum                        nur geht es um Ingas innerliche Abrechnung mit einem Ehemann, der sie
Jahrgangs-Konzert erscheint: Was sich während des Auftritts auf Hoss’                      belogen hat, und ihre Anstrengung, sich von seinem Andenken zu befreien
Gesicht abspielt, wie sich stückweise Erleichterung, Freude breit macht,                   und als Bäuerin ernstgenommen zu werden. Im Kampf gegen den Agrar-
wie sich schließlich Hoss’ Augen langsam mit Tränen füllen, zeugt von                      Don im Strickpulli wird auch die Frage angeschnitten, wie sich Vereinigun-
darstellerischer Finesse und einem Sinn für Ökonomie. Beide, LARA und                      gen, die einmal die Interessen der Mitglieder verteidigt haben, so entwi-
DAS VORSPIEL, sind Berlin-Filme. Während man im streng durchkompo-                         ckeln, dass sie nur noch die eigenen Interessen – auch zum Nachteil der
nierten LARA BVG-Stationen und andere Orte erkennt, versinkt Ina Weis-                     Mitglieder – verfolgen, und ab wann es ganz allgemein im Leben an der
ses Berlin in einer die Unentschlossenheit ihrer Hauptfigur spiegelnden                    Zeit ist, eigene Wege zu gehen. D Christian Klose
Unschärfe. D Matthias von Viereck

  Start am 23.1.2020                             DAS VORSPIEL is a film about                Start am 9.1.2020                               After the death of her husband and
  ¢ Alle Spielorte und Termine auf               disappointment, about music obses-          ¢ Alle Spielorte und Termine auf                shortly before filing for bankrupcy,
     www.indiekino.de                            siveness, about a women without a              www.indiekino.de                             Icelandic dairy famer Inga goes against
                                                 center amongst five men (son, father,                                                       the local cooperative, accusing them
                                                 husband, lover, violin student).                                                            of operating a mafia scheme.

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INDIEKRITIKEN

Gundermann Revier                                                                Das geheime Leben der Bäume
„Wo nischt ist, ist alles möglich.“ Anhand seiner Songs führt Grit Lemkes        Das Buch „Das geheime Leben der Bäume“ des Forstwirtschaftlers und
schöner und persönlicher Film lose durch Gerhard Gundermanns Karriere            Försters Peter Wohlleben stand seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2015
von den Anfängen mit der Brigade Feuerstein, über die Soloerfolge bis hin        monatelang auf den Sachbuch-Bestsellerlisten. Wohlleben verband enor-
zu den Nachwendeauftritten. Auch, dass Gundermann für die Stasi arbei-           mes Fachwissen und eine Fülle von „Fun Facts“ – wie etwa die Tatsache
tete, kommt vor. Aber Lemkes Blick ist wesentlich weiter, schweifender           dass paarungswillige Bäume miteinander kommunizieren und hungernde
und fängt in Beobachtungen, die in ihrer Knappheit und Präzision etwas           Bäume einander aushelfen – mit der Vorstellung vom Wald als einem
von einem Gedicht haben, einen Landstrich und eine Generation ein, die           nahezu utopischen Gesellschaftssystem. Jetzt erklärt Wohlleben in der
in den letzten 30 Jahren komplett umgekrempelt wurden.                           Filmfassung das Leben der Waldbewohner noch einmal persönlich.

                                      D 2019 D 98 min D R: Grit Lemke                                                  Deutschland 2020 D R: Jörg Adolph
 Start am 12.12.2020                                                              Start am 23.1.2020

Klavierstunden                                                                   Nachlass – Passagen
Beim Klavierunterricht in Irland gibt es acht Prüfungen in unterschiedli-        Im Dokumentarfilm NACHLASS beschäftigten Christoph Hübner und
chen Leistungsklassen. Jedes Jahr bereiten sich 30.000 Klavierschüler*in-        Gabriele Voss sich mit den Hinterlassenschaften nach der Nazizeit. Sie
nen auf die Prüfungen vor. Der charmante und rührende Dokumentarfilm             porträtierten Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind,
von Ken Wadrop porträtiert einige von ihnen und ihre Lehrer*innen, von           Kinder und Enkel der Täter- und Opfergeneration. NACHLASS – PASSA-
dem unbefangenen kleinen Jungen, der bei seiner ersten Stunde einfach            GEN entstand im gleichen Zeitraum. Aus einer weiteren Perspektive geht
in die Tasten haut, über eine achtjährige Überfliegerin, ein junges Mäd-         es um Beobachtungen und Gespräche mit Historikern, Kuratoren, The-
chen mit Muskelschwäche, bis zu einer Frau, die nach tragischen Erleb-           rapeuten, Juristen. Diese zusätzlichen Episoden wurden zu neun kurzen
nissen wieder mit dem Klavierspielen begonnen hat.                               Einzel-Filmen montiert.

                                      Originaltitel: Making the Grade D Irland                                         Deutschland 2017 D R: Christoph Hübner,
 Start am 16.1.2020                   2017 D 85 min D R: Ken Wardrop              Start am 23.1.2020                   Gabriele Voss D D: Barbara Brix, Ulrich
                                                                                                                       Gantz, Jürgen Grislawski, Adi Kantor, Erda
                                                                                                                       Siebert

D 20    D JANUAR/FEBRUAR 2020                                                                                            Termine unter www.indiekino.de
INDIEKRITIKEN

Mystify: Michael Hutchence                                                    Butenland
Videoclipregisseur Richard Lowenstein zeichnet das Leben und die Kar-         Seit 2007 führen Karin und Jan Gerdes den elterlichen Hof von Jan als
riere des 1997 verstorbenen INXS-Frontmanns Michael Hutchence nach,           ein Altersheim für Kühe. Um das Projekt zu finanzieren, nehmen sie Feri-
mit einer Masse an Archiv- und Privataufnahmen des Sängers. Kom-              engäste auf und haben die Tierschutzstiftung Hof Butenland gegründet.
mentare von Freunden wie Bono und Kylie Minogue, Verwandten und               Filmemacher Marc Pierschel hat die beiden auf Hof Butenland über einen
INXS-Bandmitgliedern ermöglichen einen Blick hinter die Fassade, die er       Zeitraum von mehr als zwei Jahren mit der Kamera begleitet. Sein Film
der Klatschpresse zeigte, und erzählen von einem zerrissenen Menschen,        schildert den Alltag auf einem Hof, auf dem es keine Nutztiere mehr
der depressive Phasen, aggressive Schübe und Drogenprobleme hatte,            gibt, und hinterfragt den gegenwärtigen Status von Nutztieren in unserer
seine Familie und Freunde aber auch intensiv liebte.                          Gesellschaft.

                                     Australien 2019 D 102 min D R: Richard                                         Deutschland 2020 D 82 min D R: Marc
 Start am 30.1.2020                  Lowenstein                                Start am 6.2.2020                    Pierschel

          GOLDEN GLOBE NOMINIERUNGEN
          BESTER FILM DRAMA                            BESTE REGIE SAM MENDES                                BESTE FILMMUSIK

                                                    VOM REGISSEUR VON             SKYFALL

                                                ZEIT IST DER FEIND

                                                       A B 16. J A N U A R I M K I N O
INDIEKRITIKEN

       Intrige
                                                                               Originaltitel: J’accuse D Frankreich/Italien 2019 D 126 min D R: Roman Polanski
                                                                               D B: Robert Harris, Roman Polanski D K: Pawel Edelman D S: Hervé de Luze D M: Alexandre
                                                                               Desplat D D: Emmanuelle Seigner, Jean Dujardin, Louis Garrel, Mathieu Amalric
       Subtile Verweise                                                        D V: Weltkino

Kann man den Künstler und sein Kunstwerk unabhängig voneinander                Mobkultur, die ihre Opfer sucht, ohne sich um die Fakten zu kümmern,
betrachten? Diese Frage stellt sich in diesen Tagen besonders oft. Darf        bleiben subtil; jeder, der in den letzten Jahren auch nur sporadisch die
man noch Woody-Allen-Filme sehen? Darf man sich über den Literatur-            Entwicklungen, die Krisen der Demokratie verfolgt hat, wird nicht anders
nobelpreis für Peter Handke freuen? Und was macht eigentlich Roman             können, als Parallelen zu sehen.
Polanski? Der macht es Freunden wie Feinden mit seinem neuen Film
INTRIGE besonders schwer, einen Text über ein neues Werk zu schreiben,         Ob man allerdings auch Parallelen zwischen dem Schicksal Dreyfus’ und
ohne auf die Vergangenheit des Künstlers einzugehen. Das ist in diesem         dem von Polanski gesehen hätte? Wohl kaum, doch genau solche Paral-
Fall umso bedauerlicher, als die gleichermaßen fast dokumentarische,           lelen versuchte Polanski in einem weitreichenden Interview, das vor der
aber auch enorm spannend inszenierte Nachzeichnung der Dreyfus-Af-             Weltpremiere von INTRIGE beim Filmfestival von Venedig erschien, anzu-
färe ein Film ist, der zwar Ende des 19. Jahrhunderts spielt, aber auch viel   deuten. Ja, Polanski wurde von der Presse übel mitgespielt, vor allem als
über das 21. Jahrhundert erzählt.                                              er nach dem Mord an seiner damaligen Frau Sharon Tate einige Zeit als
                                                                               Verdächtiger galt. Und ja, er hat wie Dreyfus Exil erlebt: 1977 wurde er
Basierend auf einem Tatsachen-Roman von Robert Harris zeichnet                 wegen Vergewaltigung einer damals 13-Jährigen angeklagt – eine Tat, die
Polanski mit größter Genauigkeit den Justiz-Skandal nach, der ab 1894          er nicht abstreitet. Der Fall sollte in einem Vergleich beigelegt werden,
die Dritte Französische Republik erschütterte. Gleich in der ersten Szene      und als der Richter sich dennoch zu einem Strafverfahren entschloss,
sieht man, wie der jüdische Hauptmann Albert Dreyfus (Louis Garrell)           floh Polanski aus den USA und hat seine Wahlheimat seither nicht mehr
öffentlich degradiert und vor den Augen von tausenden, meist antisemi-         betreten können. Aber sich als Opfer einer antisemitischen Verschwö-
tischen Parisern gedemütigt wird. Er wurde für schuldig befunden, mili-        rung hinzustellen mutet angesichts der Umstände reichlich absurd an,
tärische Geheimnisse an den Erbfeind, das Deutsche Reich, verraten zu          eigentlich sogar obszön. Mit diesem Vergleich beschädigt Polanski seinen
haben. Verbannt auf die vor der Küste Südamerikas gelegene Teufelsinsel        eigenen Film, missbraucht in gewisser Weise die Dreyfus-Affäre für seine
hätte Dreyfus wohl nie wieder seine Heimat erblickt, wenn nicht der Zufall     eigenen Zwecke. Umso bedauerlicher ist das, da INTRIGE ein bemerkens-
einen Mann an die Spitze des Nachrichtendienstes gebracht hätte, der           werter Film ist, der in Venedig zu Recht mit dem Großen Preis der Jury
zwar selbst Antisemit, aber auch eine durch und durch rechtsgläubige           ausgezeichnet wurde, aber eben leider auch ein Film, der nicht isoliert
Person war: Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin). Schon nach kurzer          von seinem Autor betrachtet und gewürdigt werden kann. D Michael Meyns
Amtszeit findet Picquart deutliche Hinweise, die auf Dreyfus’ Unschuld
hindeuten, doch in den Führungsspitzen von Militär und Regierung will
davon niemand etwas wissen: Im Gegenteil. Bald sieht sich Picquart
selbst einer weitreichenden Intrige gegenüber, die die vorangegangenen
Lügen und Täuschungen vertuschen soll.

                                                                                 Start am 6.2.2020                             Roman Polanski’s new, controversial
Konservativ und klassisch inszeniert Polanski das, verlässt sich ganz auf        ¢ Alle Spielorte und Termine auf              film is about the antisemitic Dreyfus
die hyperrealistische Ausstattung, die das Paris der Jahrhundertwende               www.indiekino.de                           affair of 1894. The original title of the
                                                                                                                               film was J’ACCUSE, based on Emile
lebendig macht, seine exquisiten Darsteller und die unglaublich präzisen                                                       Zola’s famous article in which he
Bilder seines polnischen Kameramanns Pawel Edelman. Verweise auf den                                                           accused the military court of convict-
                                                                                                                               ing Dreyfus without evidence.
zunehmenden Antisemitismus der Gegenwart, auf Fake-News und eine

D 22      D JANUAR/FEBRUAR 2020                                                                                                Termine unter www.indiekino.de
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