Umwelt - Landwirtschaft und Ernährung 3/2016 - Initiative für sauberes ...

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Umwelt - Landwirtschaft und Ernährung 3/2016 - Initiative für sauberes ...
DOSSIER LANDWIRTSCHAFT < umwelt 3/2016
          3/2016

        umwelt
         Natürliche Ressourcen in der Schweiz

         Landwirtschaft
         und Ernährung
          Dossier:         Dem Standort angepasste Nutztierfütterung > Landwirtschaft, die Biodiversität fördert
                           > Innovative Verfahren der Agrikultur > Landwirtschaft und Welthandel

          Weitere Freie Bahn für Mäusefänger > Ein Vogel hilft beim Aufforsten > Motorräder mit
          Themen: lauter Klappe > Fiebermessen an unseren Flüssen

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Umwelt - Landwirtschaft und Ernährung 3/2016 - Initiative für sauberes ...
umwelt 3/2016 > EDITORIAL

                           Vom Schein und Sein
                                       Sattgrüne Wiesen, weidende Kühe, golden schimmernde Weizen­­
                                       felder, gut unterhaltene Ställe hinter stattlichen Bauernhäusern
                                       im Blumenschmuck: Beim Spaziergang oder vom Zug aus erken­
                                       nen nicht nur Touristinnen und Touristen, sondern auch wir,
                                       die wir hier wohnen, wie schön die Schweiz vielerorts ist. Zu
                                       verdanken ist das zu einem wesent­lichen Teil den Bauern­familien.
                                       Und weil die Werbung dieses s­ chöne Bild bis in unsere Wohn­
                           zimmer trägt, fällt es uns schwer, auch die kritischen Aspekte der Land­
                           wirtschaft zu sehen. Das vorliegende Dossier versucht beides: innovative
                           Ansätze zu würdigen, ohne die Folgen der hochintensiven Landwirtschaft
                           zu unterschlagen.
                              Tatsächlich hält die Schweizer Landwirtschaft das BAFU auf Trab. Kaum
                           ein einzelner anderer Sektor nutzt und beeinflusst so gross­flächig natür­
                           liche Ressourcen wie Boden, Wasser, Luft, Artenvielfalt, Klima und Land­
                           schaften – und zwar nicht nur hierzulande, sondern weltweit. Dabei
                           werden auch Prozesse angestossen, die unseren Sinnen und unserem
                           ­Be­wusstsein ent­gehen. Wir sehen nicht die dicke Ammoniakglocke, die
                           Wälder und Biotope überdüngt, die Belastungen durch Pflanzenschutz­
                           mittel und Gülle, die das Leben in den Gewässern und auf dem Land
                            schädigen, den Funk­tionsverlust der Böden, die sich unter der Last schwerer
                            Maschinen verdichten.
                              Den wichtigsten Beitrag zur Ernährungssicherheit leistet die hiesige Land­
                            wirtschaft, wenn sie die natürlichen Ressourcen nicht schädigt. Leider ist
                            das heute noch längst nicht durchgehend der Fall. Der Bundesrat hat
                            den Handlungsbedarf erkannt und mit der Agrarpolitik 2014–2017 die in
                            den 1990er-Jahren begonnene Agrarreform weiter verstärkt. Diese strebt
                            eine nachhaltige Landwirtschaft an, welche die Tragfähigkeit der Öko­
                            systeme respektiert.
                              Das Dossier fasst verschiedene heisse Kartoffeln an und beleuchtet die
                            vielfältige Thematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Fachleute stecken
                            den historischen, ökonomischen und ökologischen Rahmen ab und erläu-
                            tern, was Schweizer Nutztiere sinnvollerweise fressen und produzieren –
                            und was nicht. Wir beschreiben Umwelteffekte der intensiven Produktion,
                            genauso wie innovative Landwirtinnen und Landwirte, die sich mit Enga­
                            gement auf die laufend ändernden Rahmenbedingungen einlassen, und
                            die Forschung, welche neue Wege Richtung Entlastung der Umwelt bahnt.
                            Nicht zuletzt werden auch die Grossverteiler ins Bild gerückt, die sowohl
                            die Produktion als auch unsere Nachfrage nach Nahrungsmitteln stark
                            beeinflussen.
                              Ich wünsche Ihnen eine lohnende Lektüre!
                                                                      Franziska Schwarz, Vizedirektorin BAFU

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Umwelt - Landwirtschaft und Ernährung 3/2016 - Initiative für sauberes ...
umwelt 3/2016

                                                        Dossier Landwirtschaft
                                                                          4 «Das Bild der Landwirtschaft beruht auf
                                                                            verklärten Projektionen»
                                                                            Das landwirtschaftliche System im Überblick
                                                                          8 Die Schweiz ist ein Grasland
                                                                            Ausreichend Grünfutter für eine effiziente Milchproduktion vorhanden
                                                                         12 Biodiversitätsförderung in der Landwirtschaft
                                                                            Intensivierung schadet der biologischen Vielfalt

                                                          16      ____ Der virtuose Landwirt
                                                                       Einkommensquellen geschickt kombiniert

          Hofladen, Markus Bühler-Rasom                                  20 Tiermast frisst Landschaft
                                                                            Industriebauten im ländlichen Raum
                                                                         24 Pioniergeist zugunsten einer umweltschonenden Landwirtschaft
                                                                            Massnahmen gegen Pestizidbelastung und Bodenverdichtung

                                                          28      ____ Die Macht der Genossenschaften
                                                                       Durchschlagender Erfolg grosser Selbsthilfeorganisationen

                                                                         32 Ernährungssicherheit durch standortangepasste Landwirtschaft
                                                                            Aus der Geschichte lernen

          Werbespot 2012 Naturaplan Coop

                                                        Weitere Themen
                                                                         39 Comeback der Steinfliege in der Steinach

                                                           42
                                                                            Befreiung eines Fliessgewässers vom Abwasser

                                                                   ____ Freie Bahn für freie Wiesel
                                                                        Ausbau der Ökologischen Infrastruktur

                                                                         46 Wasserwissen 2.0
                                                                            Der Hydrologische Atlas als digitale Plattform
                                                                         48 Der Arvenpflanzer im Rheinwald
                                                                            Die Aufforstung im Hinterrheintal ist ein Geduldspiel
                                                                         51 Schwere Bikes mit lauter Klappe haben ausgedröhnt
                                                                            Neue Lärmvorschriften für Motorräder
           Naturpark Thal, Elias Bader
                                                                         54 Fiebermessen an Schweizer Flüssen
                                                                            Die Wassertemperatur ist ein Indikator des Klimawandels

           Herausgeber: Bundesamt für Umwelt BAFU • 3003 Bern • +41 58 462 99 11 • www.bafu.admin.ch • info@bafu.admin.ch
           Gratisabo: umweltabo@bafu.admin.ch • Das Magazin im Internet: www.bafu.admin.ch/magazin2016-3

           Titelbild: Bild: Keystone                    Rubriken            36__   Vor Ort                       60__   Tipps
                                                                            38__   International                 61__   Impressum
                                                                            57__   Bildung                       62__   Intern
                                                                            58__   Recht                         63__   umwelt unterwegs
                                                                            58__   Publikationen

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umwelt 3/2016 > DOSSIER LANDWIRTSCHAFT

       ÖKONOMIE UND ÖKOLOGIE IN DER SCHWEIZER LANDWIRTSCHAFT

       «Das Bild der Landwirtschaft
       beruht auf verklärten Projektionen»
       Die heute geltenden agrarpolitischen Rahmenbedingungen behindern eine wettbewerbsfähige und
       ökologische Land- und Ernährungswirtschaft. umwelt unterhielt sich mit zwei Fachpersonen über die
       vielschichtigen Zusammenhänge in der hiesigen Agrarbranche. Interview: Lucienne Rey

       umwelt: Frau Baur, Herr Jenny, Lebensmittel­         Worauf ist dieses unzutreffende Bild zurück­
       geschäfte und Wochenmärkte präsentieren schöne       zuführen?
       Waren, niemand muss in der Schweiz hungern –         PB: In unseren sich rasch ändernden Zeiten seh­
       und trotzdem steht die Landwirtschaft immer wieder   nen wir uns nach Vertrautem. Die Werbung der
       auf der politischen Agenda. Weshalb?                 Grossverteiler spielt mit unserer Sehnsucht nach
       Priska Baur (PB): Die Landwirtschaft ist tatsäch­    einer heilen Welt. Sie zeigt Kühe beim Grasen auf
       lich ein Dauerbrenner. Das grosse Interesse für      der Wiese und Hühner beim Körnerpicken unter
       sie ist verständlich, bei der Ernährung ist jede     blauem Himmel. Dabei fressen Kühe Kraftfutter,
       und jeder Experte. In der politischen Debatte        und die Hühner werden in Hallen gemästet. Die
       wiederum nehmen alle für sich in Anspruch,           Realität möchten wir lieber nicht sehen, denn
       eine nachhaltige Landwirtschaft zu wollen und        sie bringt uns mit unserem Konsumverhalten
       gute Lösungen zu kennen. Eine sachliche und          in Konflikt.
       respektvolle Auseinandersetzung scheint oft
       nicht möglich. Dies ist aus meiner Sicht nicht       MJ: Die Geflügelproduktion ist ein gutes Beispiel,
       primär die Folge divergierender wirtschaftlicher     um zu zeigen, dass das Bild der Schweizer Land­
       Interessen, sondern grundsätzlich verschiedener      wirtschaft auf verklärten Projektionen beruht.
       Einstellungen und Werte. In der Agrarpolitik         Wegen der sehr hohen Tierbestände stösst die
       wird kaum ausgehend von Fakten, sondern von          Schweiz viel zu viel Ammoniak aus. Seit 20 Jah­
       Vorstellungen und Gefühlen entschieden.              ren verharren unsere Emissionen auf jährlich
                                                            48 000 Tonnen, obwohl die Umwelt höchstens                  1990
                                                                                                                     273 000
       Markus Jenny (MJ): In die Entscheidungen spielen     25 000 Tonnen verkraften würde. Wenn nun
       sehr wohl finanzielle Interessen hinein. Denn        beispielsweise in einem Kanton die öffentliche
       weltweit wird die Landwirtschaft von den vor- und    Hand während 5 Jahren mit Investitionen von
                                                                                                                                       TONNEN
       nachgelagerten Branchen dominiert – also etwa        6 Millionen eine 3-prozentige Reduktion des Am­
       den Saatgut-, Pestizid- und Düngemittelfirmen auf    moniakausstosses erreicht, gleichzeitig aber so
       der einen und der Nahrungsmittelbranche auf          viele Hühnerställe bewilligt werden, dass sich die
       der anderen Seite. Da geht es um viel Geld. Hin­     Emissionen wieder um 1,5 Prozent erhöhen, ist
       gegen stimme ich der Ansicht zu, dass zahlreiche     das volkswirtschaftlich wie auch ökologisch nicht
       landwirtschaftspolitische Entscheidungen, die        nur unsinnig, sondern unbestritten schädlich.                 EINFUHR VON
       letztlich von der breiten Bevölkerung mitgetra­                                                                  FUTTERMITTELN
       gen werden, aufgrund eines Bauchgefühls gefällt      Solche Zahlen sprechen für sich, das sind Fakten. Die   (TROCKENSUBSTANZ)
       werden. Und dieses wiederum wird bestimmt vom        müssten doch alle überzeugen?
                                                                                                                     Quelle: SBV – Futtermittelbilanz,
       Bild einer Landwirtschaft, das mit der Realität      MJ: Das Problembewusstsein in der Bevölkerung                                 BFS 2015
       wenig zu tun hat.                                    und der Landwirtschaft ist gering, weil der Wis­           Bilder: Markus Bühler-Rasom

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Umwelt - Landwirtschaft und Ernährung 3/2016 - Initiative für sauberes ...
2013
                           DOSSIER LANDWIRTSCHAFT < umwelt 3/2016

                                                 1 175 000
                                                           TONNEN

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Umwelt - Landwirtschaft und Ernährung 3/2016 - Initiative für sauberes ...
umwelt 3/2016 > DOSSIER LANDWIRTSCHAFT

                                 senstransfer zum Teil bewusst untergraben wird.             absolvieren eine gute Ausbildung, aber sie sind
                                 Die Agrarpresse ist weitgehend auf die Meinung              überfordert, weil sie gar nicht auf jedem Gebiet
                                 des Schweizer Bauernverbands ausgerichtet. Ab­              professionell handeln können. Sie sind stark auf
                                 weichende Ansichten dringen nicht bis zu den                Beratung angewiesen, und dabei nehmen die vor­
                                 Bauern durch. Zahlreiche Artikel sind stark vom             gelagerten Branchen grossen Einfluss. So stellen
                                 Interesse der Vorgelagerten wie beispielsweise              etwa die Anbieter von Pflanzenschutzmitteln mehr
                                 der Futtermittel-, Saatgut- und Pestizidhändler             Berater als die Behörden.
                                 beeinflusst. Das geht so weit, dass kritische Stim­
                                 men innerhalb der Landwirtschaft – und die gibt             MJ: In der Milchwirtschaft zeigt sich, dass Land­
                                 es – ein Sprachrohr ausserhalb der bäuerlichen              wirte, die auf eine standortangepasste Produktion
                                      Presse finden müssen, um ihre Botschaft                mit eigenem Futter setzen, ökonomisch meist
                                      durchzubringen.                                        besser abschneiden als solche, die eine fremd­
                                                                                             mittelabhängige Intensivproduktion betreiben.
                                           PB: Der Schweizer Bauernverband kommuni­          Sie halten Kühe, die jährlich 6000 bis 7000 Liter
                                           ziert geschickt. Er überbringt mit seiner Er­     Milch geben statt 10 000 und die sie vor allem
                                           nährungssicherheitsinitiative die Botschaft,      mit Gras füttern. Diese Landwirte verzichten
                                           dass die Schweizer Landwirtschaft heute           auf eine hochtechnisierte und von Importfut­
                                           am Produzieren ge­hindert werde, wo doch          ter abhängige Produktion. Weniger wäre also­
                                           diese durch möglichst hohe Erträge zu mehr        mehr – und ein Segen für die an Überproduktion
                                           Versorgungssicherheit beitrage. Dabei argu­       und Preiszerfall leidende Milchwirtschaft. Über­
                                            mentiert er mit dem sogenannten Selbstver­       haupt zeigt der Blick auf die landwirtschaftliche
                                            sorgungsgrad, der angeblich «nur noch» bei       Gesamtrechnung, dass die Eigenwirtschaftlichkeit
                   Priska Baur            55 bis 60 Prozent liege. Diese Argumentation       der Schweizer Landwirtschaft äusserst gering ist.
             Nach ihrem Agronomie-        scheint auf den ersten Blick plausibel, doch       Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass diese sehr
             studium an der Eidge-        sie führt in die Irre. Bei Nahrungsmitteln, die    kostenintensiv produziert. So «fressen» die Kosten
             nössischen Technischen       sich vom Klima her in der Schweiz erzeugen         rund 77 Prozent der Einnahmen eines Betriebes
             Hochschule Zürich (ETHZ)
                                          lassen– etwa Brotgetreide, Kartoffeln und          weg. Verglichen mit unseren Nachbarländern ist
             arbeitete P­ riska Baur als
             Projektleiterin für die      Fleisch –, beträgt der Selbstversorgungsgrad       der Gesamtaufwand um 40 bis 60 Prozent höher.
             landwirtschaft­liche Be­ra­ bereits heute gegen 100 Prozent, bei Milch          Der Hauptteil der Kosten entfällt auf importierte
             tungsagentur Agro­futura      sogar deutlich mehr. Zugleich wird er aber        Futtermittel. Die Betriebe «füttern» also vor allem
             AG und den Thinktank          überschätzt, weil wir für viele vermeintlich      den vorgelagerten Sektor, der umso mehr verdient,
              Avenir Suisse. Heute ist
                                           inländische Nahrungsmittel auf Importe            je intensiver produziert wird.
              sie als Forscherin und
              Dozentin an der Zürche   r   angewiesen sind. Dies gilt ganz besonders
              Hochschule für Ange-         für die Fleischproduktion: Fielen in Krisen­      Der Staat lässt der Landwirtschaft pro Jahr knapp
              wandte Wissen­schaften        zeiten die Futtermittelimporte weg, müsste       4 Milliarden Franken an Direktzahlungen und anderen
              (ZHAW) tätig.                 ein grosser Teil der Tierbestände geschlachtet   Stützungsmassnahmen zukommen. Damit sollten
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                                            werden. Und die Pouletproduktion käme            die Bauern doch auf einen einträglichen Verdienst
                                            ganz zum Erliegen, da auch die Eltern der        kommen?
                                     Masthybriden laufend importiert werden müssen.          PB: Vor über 20 Jahren fiel in der Landwirtschafts­
                                     Der Selbstversorgungsgrad sagt wenig aus über die       politik der wichtige Grundsatzentscheid, Einkom­
                                     Versorgungssicherheit der Bevölkerung.                  mens- und Preispolitik voneinander zu trennen.
                                                                                             Die Preise sollten dem Markt überlassen werden,
                                 Seit Jahren geht die Zahl der Bauernbetriebe stetig         während die Einkommen der Bauern durch die
                                 zurück. Lässt das nicht hoffen, dass grössere Betriebe      Direktzahlungen gesichert werden sollten. Leider
                                 professioneller und wirtschaftlicher geführt werden?        ist die Politik auf halbem Weg stehen geblieben.
                                 PB: Ein robuster Zusammenhang zwischen Be­                  Die Direktzahlungen wurden ausgebaut, die Preise
                                 triebsgrösse, Wirtschaftlichkeit und Ökologie ist           werden aber nach wie vor stark gestützt. Gemäss
                                 nicht nachweisbar. Es gibt kleine erfolgreiche              Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche
                                 Betriebe und grosse, die scheitern. Ziel der Politik        Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verdankt
                                 sollte es sein, klare Bedingungen zu schaffen, und          die hiesige Landwirtschaft jährlich rund 6 Milliar­
                                 nicht, Strukturen vorzugeben. Tatsache ist, dass            den Franken ihrer Einnahmen der Politik. Unsere
                                 hierzulande viele Betriebe sehr vielseitig aufge­           Landwirte gehören damit immer noch zu den am
                                 stellt sind. Die jungen Bäuerinnen und Bauern               meisten geschützten Bauern weltweit.

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Umwelt - Landwirtschaft und Ernährung 3/2016 - Initiative für sauberes ...
DOSSIER LANDWIRTSCHAFT < umwelt 3/2016

       MJ: Ziel der Agrarpolitik 2014–2017 ist, die           Bevölkerung von 8,2 Millionen Personen immer
       pauschale Stützung der Produktion abzubauen            noch ausreichend versorgen könnten. Dies würde
       und die gemeinwirtschaftlichen Leistungen wie          aber bedingen, dass wir dann unsere Produk­
       die Erhaltung der Biodiversität oder die Res­          tion und unser Konsumverhalten grundlegend
       sourceneffizienz zu fördern. Das Prinzip, nicht        verändern, das heisst viel mehr Kartoffeln und
       marktfähige Güter fair abzugelten, hat allgemein       Brotgetreide erzeugen und weniger Tiere hal­
       Gültigkeit. Es ist volkswirtschaftlich unsinnig,       ten. Die Studienergebnisse zeigen zudem, dass
       eine überintensive Produktion zu stützen und           die vielfach vermuteten Zielkonflikte zwischen
       gleichzeitig die Sanierung der verursachten            einer sicheren Versorgung und weiteren Zielen
       Schäden mit Steuergeldern berappen zu müssen.          der Agrarpolitik nicht existieren. Eine ressour­
       Hinzu kommt, dass die Abgeltung gemeinwirt­            censchonend produzierende Agrarwirtschaft,
       schaftlicher Leistungen nicht in Konflikt zum          die auch die Umweltziele Landwirtschaft (UZL)
       Agrarfreihandel steht, während protektionisti­         des Bundes erreicht, trägt entscheidend
       sche Massnahmen zum Schutz der Produktion              zur Erhaltung der Versorgungsicherheit
       nicht toleriert werden.                                bei. Wenn wir allerdings unsere heutigen
                                                              Ernährungsgewohnheiten beibehalten, ist die
       Wieso beharren denn viele Landwirte trotzdem           Konsequenz einer versorgungssicher und res­
       darauf, ihr Einkommen in erster Linie durch die        sourcenschonend produzierenden Schweizer
       Produktion zu erzielen, und lehnen Direktzahlungen     Landwirtschaft, dass gewisse Nahrungsmittel
       als Teil ihrer Einkünfte ab?                           verstärkt importiert werden müssen.
       PB: Die Bauern möchten möglichst viele Nah­
       rungsmittel erzeugen und damit zur Welter­             PB: Die Schweizer Landwirtschaft erzeugt
       nährung beitragen. Nicht nur in der Schweiz            heute mehr Nahrungsmittel als je zuvor. Doch
       haben sie aber noch weitere Aufgaben. Sie sollen       fatalerweise lenkt der Blick auf die Mengen
       ökologisch nachhaltig und nachfragekonform             und Kalorien davon ab, dass ihre zentrale                      Markus Jenny
       produzieren und für eine vielfältige Landschaft        Herausforderung nicht darin liegt, mehr zu               studierte Biologie an der
       sorgen. Für zahlreiche Landwirte ist jedoch ein        produzieren, sondern sich der Realität des               Universität Zürich und pro-
       guter Bauer einer, der hohe Erträge erzielt, un­       zunehmenden Wettbewerbs zu stellen.                      movierte an der Universität
       abhängig davon, ob die Rechnung aufgeht.                                                                        Basel über die Feldlerche im
                                                                                                                       Kulturland. Seit 30 Jahren
                                                              Weiterführende Links zum Artikel:                        arbeitet er als Spezialist für
       MJ: Dabei signalisiert der Markt durchaus,                                                                      Agrarökologie und Landwirt-
                                                              www.bafu.admin.ch/magazin2016-3-01
       wohin sich unsere Landwirtschaft entwickeln                                                                     schaft bei der Schweizeri-
       müsste. Sie sollte Güter bereitstellen, die von der                                                              schen Vogelwarte Sempach.
       Kundschaft nachgefragt werden und eine hohe                                                                      Ausserdem ist er Präsident
       Wertschöpfung erzielen. Erwünscht wäre etwa                                                                      der Denkwerkstatt Vision
                                                                                                                        Landwirtschaft.
       inländisches Bio- und Extensogetreide, das ohne
                                                                                                                       Bild: zVg
       oder mit weniger Pflanzenschutzmitteln und
       ohne Wachstumsregulatoren angebaut wird. Dass
       heute nach wie vor rund zwei Drittel des Biobrot­
       getreides importiert werden müssen, zeigt, dass
       unsere Landwirtschaft in einigen Bereichen am
       Markt vorbeiproduziert. Bei Erzeugnissen aus der
       mit hohem Pestizid- und Düngereinsatz arbeiten­
       den «Turbo-Landwirtschaft» wird die Schweiz nie
       konkurrenzfähig sein – diese werden in anderen
       Ländern viel kostengünstiger hergestellt.

       Wäre denn eine nicht auf die Mengenproduktion von
       Agrargütern ausgerichtete Landwirtschaft grund­                    KONTAKT
       sätzlich in der Lage, die gesamte Bevölkerung in der               Hans Ulrich Gujer
                                                                          Sektion Landschaftsmanagement
       Schweiz zu ernähren?
                                                                          Koordinator Kommission Landwirtschaft BAFU
       MJ: Eine Studie von Vision Landwirtschaft be­                      +41 58 462 80 04
       legt, dass wir im Falle einer Krise die heutige                    hans.gujer@bafu.admin.ch

                                                                                                                                                        7

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Umwelt - Landwirtschaft und Ernährung 3/2016 - Initiative für sauberes ...
umwelt 3/2016 > DOSSIER LANDWIRTSCHAFT

       FÜTTERN MIT EIGENEN RESSOURCEN

       Die Schweiz
       ist ein Grasland
       Die Schweizer Landwirtschaft könnte genug Milch für den Inlandbedarf liefern ohne Kraftfutter­
       zugaben an Kühe. Weidehaltung trägt dazu bei, den Ammoniakausstoss zu mindern.
       Ernährungspolitische, ökologische, aber auch wirtschaftliche Argumente sprechen ebenfalls ­
       für eine grasbasierte Milchproduktion. Text: Hansjakob Baumgartner

                     Das landwirtschaftliche Betriebskonzept des Ho­     1990 um 40 % gestiegen. Hochleistungs­kühe, die
                     fes von Susanne Käch und Joss Pitt in Gampelen      jährlich 10 000 oder mehr Kilogramm (kg) Milch
                     (BE) ist weit hergeholt und naheliegend zugleich.   liefern, fressen nebst Gras auch viel Kraftfutter
                     Weit hergeholt, weil es sich an einem Versuchs­     – Getreide, Mais, Soja. Sie werden damit zu
                     betrieb in der fernen Heimat von Joss orientiert:   Nahrungskonkurrentinnen des Menschen. «Die
                     Die Lincoln University Dairy Farm (LUDF) in Neu­    Ackerflächen, auf denen Futtermittel für unser
                     seeland ist weltweit führend bei der Entwicklung    Milchvieh produziert wird, würden reichen, um
                     von Weidemilch-Produktionssystemen. Susanne         2 Millionen Menschen zu ernähren», schätzt
                     und Joss setzen im Berner Seeland um, was auf       Hans Ulrich Gujer, Landwirtschaftsfachmann
                     der anderen Seite des Globus an Wissen und          im BAFU.
                     Erfahrung generiert wird. Ihre derzeit 55 Milch­       Ein wachsender Teil der Futtermittel stammt
                     kühe sind von Frühling bis Herbst auf der Weide     aus dem Ausland. Massiv zugenommen haben
                     und fressen fast ausschliesslich Gras.              in den letzten Jahren namentlich die Sojaimpor­
                       Das Naheliegende daran ist, dass diese Form       te. 41 % davon werden an Rindvieh verfüttert
                     der Kuhhaltung bestens an hiesige Verhältnis­       (haupt­sächlich Milchkühe) und 59 % an Schwei­
                     se angepasst ist. Reichlich Niederschläge und       ne und Hühner.
                     tiefgründige Böden lassen unsere Wiesen und            Der Selbstversorgungsgrad bei Milch und
                     Weiden so üppig grünen wie sonst fast nirgends      Milchprodukten lag 2013 bei 115 %. Der Über­
                     in Europa. Andererseits eignet sich ein Grossteil   schuss drückt auf den Milchpreis. Um die Ein­
                     der Schweizer Landwirtschaftsfläche aus topo­       kommenseinbussen zu kompensieren, versu­
                     grafischen oder klimatischen Gründen kaum für       chen manche Betriebe, noch mehr zu melken
                     den Ackerbau. Auf diesen Flächen ist die Milch­     – ein Teufelskreis. Susanne und Joss sind aus
                     kuhhaltung auf Grasbasis die ressourceneffizien­    diesem ausgebrochen. «Kiwi-Cross» nennen sie
                     teste Form der Landwirtschaft. Die Wiederkäuer      ihre Rinderrasse, eine Kreuzung aus neuseelän­
                     verwandeln für Menschen unverdauliches, aber        dischen Friesian und Jersey Cows. Es sind eher
                     bei uns bestens gedeihendes Gras in hochwertige     kleine und leichte Kühe, pro Jahr geben sie etwa
                     Nahrungsmittel in Form von Milchprodukten           6500 kg Milch. 26,6 Hektaren (ha) Futterflächen
                     und Fleisch.                                        stehen ihnen zur Verfügung. Davon sind gut
                                                                         18 ha Wei­de, die übrigen entfallen auf Kunst­
                     Viehfutter statt Nahrung für Menschen               wiesen und Biodiversitätsförderungsflächen. Die
                     Indessen hat sich die Milchproduktion in jüngs­     zum Betrieb von Susanne und Joss gehörenden
                                                                                                                             Quelle: BAFU;
                     ter Zeit von der Grünlandwirtschaft teilweise       Blumenwiesen am Dälihubel sind im Frühsom­          Bilder: Ex-Press (unten);
                     abgekoppelt. Die Milchleistung pro Kuh ist seit     mer eine Augenweide und liefern würziges Heu.       Markus Bühler-Rasom

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Umwelt - Landwirtschaft und Ernährung 3/2016 - Initiative für sauberes ...
DOSSIER LANDWIRTSCHAFT< umwelt 3/2016

                                           IST
                                           48 KILOTONNEN
                           2014
                      AMMONIAKEMISSIONEN
                           DER SCHWEIZER
                         LANDWIRTSCHAFT
                                PRO JAHR

                            SOLL
                           25 KILOTONNEN

Umwelt_03-2016_de.indd 9                                                                     08.08.16 13:27
Umwelt - Landwirtschaft und Ernährung 3/2016 - Initiative für sauberes ...
umwelt 3/2016 > DOSSIER LANDWIRTSCHAFT

                         Maximale Effizienz                                                 «Es fehlt das Vertrauen in Gras»
                         Um den richtigen Zeitpunkt für den Beginn der Bewei­               «Mit den Graslandressourcen der Schweiz könnte die
                         dung nicht zu verpassen, wird wöchentlich auf allen                hiesige Landwirtschaft ohne Weiteres genug Milch für
                         Flächen die Graslänge gemessen. Das ausgeklügelte                  den Inlandbedarf produzieren», hält der emeritierte
                         Grünlandmanagement ermöglicht einen rekordver­                     HAFL-Professor Peter Thomet fest. Derzeit gibt es aber
                         dächtig hohen Milchertrag pro Fläche. Dies ergab                   hierzulande nur wenige Milchwirtschaftsbetriebe, die
                         eine an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebens­              ohne Kraftfutter arbeiten. Es fehle «das Vertrauen in
                         mittelwissenschaften (HAFL) in Zollikofen (BE) durch­              Gras», meint Susanne Käch. Die Landwirtschaftsschu­
                         geführte vergleichende Effizienzanalyse. Geleitet                  len, die Beratung, die Futtermittelindustrie kämen
                                               wurde die Studie von Peter T­ homet,         alle mit derselben Botschaft: Mit Gras allein seien
            NUTZTIERBESTAND                    der dort zu dieser Zeit noch als             Kühe nicht ausreichend ernährt. «Ein falsches Dog­

                                    2010
                                               Professor für Futterbau tätig war            ma», findet sie. «Die Evolution hat das Rind zum Gras­
                                               und inzwischen pensioniert ist.              fresser gemacht.» Auch die Forschung habe gezeigt,
                                               14 Milchproduktions­betriebe –               dass es Kühen, die nur Gras fressen, an nichts fehle.
       Grossvieheinheiten pro Hektare          teils mit Hochleistungskühen im                 Ihr Partner Joss Pitt fordert deshalb eine «Graskultur»
       landwirtschaftlicher Nutzfläche,        Stall, teils mit Weidevieh – wur­            für die Schweizer Landwirtschaft: Die Weidemilch­
       Vergleich mit den Nachbarländern        den unter die Lupe genommen.                 produktion müsse von den Forschungsanstalten, den
                                   Quelle: BLW
                                               Unter i­hnen war auch der Hof                Schulen und der Beratung gefördert werden. Hilfreich
                                               von ­Susanne und Joss. Er schnitt            wäre ausserdem ein Versuchs- und Demonstrations­
                                               am besten ab. Fast 14 700 kg Milch           betrieb.
                                        Schweiz 1,71

                                               pro ha wurden hier gemolken.                    Denn auch die Ökobilanz spricht für den Vollwei­
                                               Stallbetriebe brachten es auf                debetrieb. Die erwähnte Studie des Berufsbildungs­
                                               höchstens 12 700 kg – denn für die           zentrums Hohenrain ergab, dass zum Beispiel die
                                               Berechnung der Flächeneffizienz              Ammoniakemissionen im Stallhaltungssystem um ein
                                               müssen auch die «Schattenflächen»            Drittel höher sind als im Weidebetrieb. Ammoniak
                                               einbezogen werden, auf denen das             (NH3) entsteht bei Luftkontakt aus dem stickstoffhal­
                                               benötigte Kraftfutter angebaut               tigen Harnstoff im Urin der Tiere. Weil Letzterer auf
                                               wird.                                        den Weiden rasch versickert, ist der NH3-Ausstoss dort
                                                 Dass der Vollweidebetrieb auch             geringer als im Stall. Zudem verteilen weidende Tiere
                                               ökonomisch gut dasteht, zeigt eine           den Hofdünger direkt, weshalb auch ein Grossteil der
                                               Studie des Berufsbildungszentrums            NH3-Verluste beim Ausbringen der Gülle entfällt. Das
                                               Hohenrain (LU). Zum Vergleich                Schweizer Rindvieh trägt 78 % zu den landwirtschaft­
                                                       Deutschland 1,07

                                               standen zwei Herden: Die eine                lichen Emissionen bei.
                                               wurde – abgesehen von einem
                                               täglich dreistündigen Weidegang              Ammoniak bedroht die Artenvielfalt …
                                               – im Stall gehalten und mit Gras-            Die Ammoniakemissionen sind die Hauptursache
                      Österreich 0,87

                                                                          Frankreich 0,81

                                               und Maissilage sowie Kraftfutter             für einen unerwünschten ökologischen Trend:
                                               ernährt; die andere blieb während            die Düngung aller Lebensräume aus der Luft.
       Italien 0,77

                                               der ganzen Vegetationsperiode auf            Natürlicher­weise gelangt pro Hektare jährlich 0,5 bis
                                               der Weide und frass einzig Gras              1 kg Stickstoff (N) in unsere Böden. Im Jahr 2010
                                               und Heu. Ergebnis: Die Stallkühe             waren es in der Schweiz durchschnittlich 23 kg/ha
                                               gaben im Schnitt jährlich 8900 kg            in die Waldfläche und 14 kg/ha auf die restliche Lan­
                                               Milch, die Weidekühe annähernd               desfläche; die Werte schwanken je nach Standort
                                               6100 kg. Weil aber im Weidesys­              zwischen 3 und 55 kg/ha. Im Mittel stammen zwei
                                               tem kein Kraftfutter zugekauft               Drittel davon aus der Landwirtschaft.
                                               werden muss und der Arbeitsan­                 Die Stickstoffeinträge bewirken, dass an magere
                                               fall deutlich geringer ist, war der          Standorte angepasste Pflanzen von nährstofflieben­
                                               Arbeitsverdienst hier um mehr als            den Konkurrenten verdrängt werden. Sämtliche
                                               50 % höher.                                  Hochmoore, über 80 % der Flachmoore und rund
                                                 Auch für Susanne und Joss geht             40 % der besonders artenreichen Wiesen und Weiden
                                               die Rechnung auf. Die vierköpfige            unseres Landes sind derzeit zu hohen Stickstoffein­
                                               Familie kommt ohne Nebenerwerb               trägen ausgesetzt (siehe auch umwelt 2/2014, Dossier
                                               gut über die Runden.                         Stickstoff).

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DOSSIER LANDWIRTSCHAFT < umwelt 3/2016

          Beitrag für graslandbasierte                         Massnahmen: den Einsatz von Schleppschläuchen
                                                               beim Ausbringen der Gülle; bauliche und betrieb­
          Milch- und Fleischproduktion                         liche Vorkehrungen zur Reduktion der Emissionen
          GMF                                                  aus den Ställen; das Abdecken der Güllelager.
                                                                  «Berechnungen des International Institute for
          Mit dem Beitrag für graslandbasierte Milch- und      Applied Systems Analysis (IIASA) ergaben, dass
          Fleischproduktion wird seit 2014 eine Produktion     das Reduktionspotenzial bei konsequenter und
          gefördert, die dem betriebsspezifischen Stand­       flächendeckender Anwendung der besten verfüg­
          ortpotenzial angepasst ist. Gegenüber vielen         baren Technik und Praxis in der Landwirtschaft bei
          umliegenden Ländern besitzt die Schweiz einen        gleichbleibender Produktion etwa 40 % beträgt»,
          grossen Standortvorteil in der Grasproduktion. Im    bestätigt Reto Meier von der Sektion Luftqualität
          Fokus steht die effiziente Nutzung von Wiesen- und   im BAFU. Das Ziel könnte damit erreicht werden.
          Weidefutter für die Milch- und Fleischproduk­-
          tion. Von diesem Beitrag profitieren Betriebe, die   Tierbestände senken
          den Futterbedarf vorwiegend durch Gras, Heu,         Erreichbar wäre das Umweltziel wohl auch mit einer
          Emd und Grassilage decken. Der Beitrag für Wie-      Kombination von technischen Massnahmen und
          sen und Weiden beträgt 200 Franken pro Hektare       einer Anpassung der Tierbestände an die heimische
          und Jahr.                                            Produktionsbasis, denn rund 65 % der Fleisch- und
                                                               20 % der Milchproduktion beruhen auf importier­
                                                               tem Futter. Dies wäre ein wichtiger Schritt hin zu
                                                               einer ökologischen Gesundung unserer Landwirt­
       … und die Stabilität der Wälder                         schaft.
       Der Dünger aus der Luft ist eine der grössten             Dazu beitragen könnten wir als Konsumierende
       Gefahren für die Artenvielfalt der Schweiz.             auch mit unseren Ernährungsgewohnheiten: Ge­
       Ebenso für die Stabilität der Wälder. Bei rund          mäss einer Studie von AgroEcoConsult würde die
       95 % der Schweizer Wälder werden die noch tole­         Fleischproduktion im Inland bei einem Verzicht
       rierbaren Eintragsmengen pro Jahr, die Critical         auf Futtermittelimporte auf rund die Hälfte sinken.
       Loads, durch Einträge aus der Luft überschritten.       Entweder müssten wir mehr Fleisch einführen –
       Die Stickstoffeinträge bewirken, dass die Bäume         oder den Konsum halbieren.
       zügig wachsen. Dies führt zu einer unausgewo­
       genen Ernährung, da Bäume andere Nährstoffe                                                                     Höhere Fruchtbarkeit
       nicht im gleichen Mass aufnehmen können. Sie                                                                    der Tiere, geringere
       werden anfälliger für Frost, Trockenheit und                                                                    Ammoniak­emissionen
       Schadinsekten.                                                                                                  und ein höheres Ein-
         Im Boden wird Ammonium in Nitrat umgewan­                                                                     kommen für die Bauern
       delt. Dieser chemische Prozess trägt zur Boden­                                                                 dank Einsparungen
       versauerung bei. Als Folge davon werden andere                                                                  beim Kraftfutter sind
       wichtige Nährstoffe ausgewaschen. Die Bäume                                                                     einige Aspekte, die die
       konzentrieren ihr Wurzelwachstum daher auf                                                                      Weidehaltung attraktiv
       die oberen Bodenschichten, wo die Stickstoffver­                                                                machen.
       fügbarkeit und die Nährstoffnachlieferung aus                                                                                Bild: BAFU-Archiv
       der Streu hoch sind. Die tieferen Bodenschichten
       hingegen werden spärlicher durchwurzelt. Die
       flachen Wurzelteller reduzieren die Standfes­
                                                               Weiterführende Links zum Artikel:
       tigkeit der ­Bäume. Untersuchungen des Insti­
                                                               www.bafu.admin.ch/magazin2016-3-02
       tuts für Angewandte Pflanzenbiologie (IAP) in
       Schönenbuch (BL) ergaben, dass der Orkan Lothar
       1999 auf versauerten Böden viermal mehr Bäume
       entwurzelte als auf weniger sauren Flächen.                         KONTAKTE                                 Victor Kessler
         Gemäss Luftreinhaltekonzept des Bundes sollen                     Beat Achermann                           Leiter Fachbereich
                                                                           Sektion Luftqualität                     Direktzahlungsprogramme
       die Ammoniakemissionen in der Schweiz gesamt­                       BAFU                                     Bundesamt für Landwirtschaft, BLW
       haft um 40 % vermindert werden. Die Landwirt­                       +41 58 46 299 78                         058 463 31 34
       schaft setzt dafür hauptsächlich auf technische                     beat.achermann@bafu.admin.ch             victor.kessler@blw.admin.ch

                                                                                                                                                 11

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umwelt 3/2016 > DOSSIER LANDWIRTSCHAFT

       MONOTONIE IM KULTURLAND

       Biodiversitätsförderung
       in der Landwirtschaft
       Die Intensivierung in der Landwirtschaft hat die biologische Vielfalt in den Äckern und Wiesen
       des Mittel­landes massiv verringert und bedroht nun auch die Biodiversitäts-Hotspots im
       Alpenraum. Um den Trend zu brechen, hat der Bund Instrumente zur Förderung der Biodiversität
       weiterentwickelt. Text: Nicolas Gattlen

      Eigentlich sollte es um die biologische Vielfalt      wenn ein breites genetisches Spektrum es den
      im Schweizer Kulturland gut bestellt sein: Seit       Tier- und Pflanzenarten ermöglicht, sich an
      1999 muss jeder Betrieb, der Direktzahlungen          Umweltveränderungen anzupassen und lang­
      beziehen will, ökologische Ausgleichsflächen          fristig zu überleben. Die Landwirtschaft profitiert
      (sog. Biodiversitätsförderflächen) anlegen. Heute     zudem bei der Entwicklung nachhaltiger Produk­
      sind im Minimum 7 % der landwirtschaftlichen          tionssysteme von der Vielfalt an Nützlingen und
      Nutzfläche Bestandteil des ökologischen Leis­         bei Neuzüchtungen von der Biodiversität.
      tungsnachweises. Seit 2001 werden zudem die
      Vernetzung dieser Flächen und die floristische        Mangelnde Qualität der Förderflächen
      Qualität abgegolten.                                  Die 2013 publizierte Studie der Forschungs­
        Trotzdem hat die Biodiversität im Grün- und         anstalt Agroscope «Operationalisierung der
      Ackerland weiter abgenommen. Laut Monitoring­         Umweltziele Landwirtschaft – Bereich Ziel- und
      programmen des Bundes ähneln sich die Arten­          Leitarten, Lebensräume (OPAL)» hat den Anteil
      gemeinschaften in der Schweiz immer mehr. Die         an landwirtschaftlicher Nutzfläche ermittelt, der
      anspruchslosen Arten nehmen zu, während die           aufgrund der Bedürfnisse bestimmter, für die
      Spezialisten zum Teil starke Einbussen verzeich­      jeweilige R­ egion typischer Arten als Lebensraum
      nen. So ist etwa der Flächenbestand der Trocken­      mit ökologischer Qualität zur Verfügung stehen
      wiesen und -weiden zwischen 1996 und 2006 noch        sollte. Sie kommt zum Schluss, dass heute noch
      einmal um rund 20 % zurückgegangen. Auch die          deutliche Defizite bestehen. Von den Biodiver­
      Qualität der Flach- und Hochmoore hat sich in         sitätsförderflächen, im Mittelland heute rund
      dieser Zeit verschlechtert, weil Pufferzonen fehlen   ein Zehntel der landwirtschaftlichen Nutz­fläche,
      und die Nutzung von Flachmooren intensiviert          weisen mindestens 75 % keine ausreichende
      oder aber aufgegeben wurde. Dramatisch ist der        ökologische Qualität auf. Dies unter anderem,
      Rückgang der Ackerbegleitflora und der Fromen­        weil zahlreiche Förderflächen an ungeeigneten
      talwiesen, d. h. der wenig intensiv genutzten, nur    Standorten angelegt wurden: an schattigen Wald­
      mit Mist gedüngten Blumenwiesen. Im Mittelland        rändern oder in ehemals intensiv genutzten Wie­
      sind solche Blumenwiesen seit 1950 auf 2 bis          sen, wo kaum noch Samen von lichtliebenden
      5 % ihrer ursprünglichen Fläche geschrumpft.          Pflanzen vorhanden sind. Überdies werden die
      Mit den Lebensräumen schwinden die Bestän­            Flächen oft nicht zielführend gepflegt und sind
      de spezialisierter Pflanzen- und Tierarten –­         untereinander schlecht vernetzt.
      fatal nicht nur für die Natur, sondern auch für         In den Bergregionen gibt es noch deutlich mehr      Quelle: BAFU; Bilder: Markus
                                                                                                                  Bühler-Rasom, Getreideernte (unten);
      uns Menschen. Denn die natürlichen Grundla­           Standorte mit hoher Biodiversität. Doch auch          front.switzerland-photos.com,
      gen für unsere Existenz sind nur dann gesichert,      diese sind bedroht, wie eine Untersuchung der         Landschaft in der Waadt

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DOSSIER LANDWIRTSCHAFT < umwelt 3/2016

                                          FLÄCHEN AN
                                   TROCKENWIESEN UND -WEIDEN
                                       DER SCHWEIZ (grün)

                            1900                                   2010

                                                                                                   13

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umwelt 3/2016 > DOSSIER LANDWIRTSCHAFT

                              Schweizerischen Vogelwarte Sempach zeigt. Sie          Milchzahlen belegen, dass die Intensivierung
                              hat den Landschaftswandel im Engadin zwischen          zunehmend höhere Lagen erfasst. So werden
                              den Jahren 1987/88 und 2009/10 auf 38 repräsenta­      heute im Berggebiet im Vergleich zu den frühen
                              tiven Flächen analysiert. «Die auffälligste Verän­     Neunzigerjahren auf einer um 17 % kleineren
                              derung war die Zunahme der Fettweiden», erklärt        Fläche 4 % mehr Milch produziert.
                              Roman Graf, A ­ utor der Studie. «Ihr Bestand hat
                              sich in 20 Jahren verdreifacht, und derjenige der      Höhere Anreize für Biodiversitätsförderflächen
                              Fettwiesen nahm um 15 % zu. Diese Entwicklung          Diese Entwicklung läuft der biologischen Vielfalt
                              ging auf Kosten der artenreichen Magerwiesen,          zuwider. Die Politik hat das Problem erkannt: In
                              deren Fläche um 55 % zurückging. Einst er­             der Agrarpolitik 2014–2017 wurden die Tierbei­
                              tragsschwache Wiesen werden heute intensiver           träge reduziert und die finanziellen Anreize für
                              genutzt, das heisst künstlich bewässert, stärker ge­   das Anlegen von qualitativ wertvollen Biodiver­
                              düngt, früher und häufiger gemäht.» Auf 71 % der       sitätsförderflächen erhöht.
                              untersuchten Flächen konstatierten die Forscher           Dass dieser Ansatz zu einer in jeder Hinsicht
                              eine Vorverschiebung des ersten Grasschnitts –         nachhaltigen Landwirtschaft führen kann, zeigt
                              ermöglicht durch neue Silierverfahren. Für Wie­        der Betrieb von Victor Peer in der Engadiner
                              senbrüter wie Feldlerche und Braunkehlchen eine        Ortschaft Ramosch. Der Biobauer hält knapp
                              fatale Entwicklung: Die Matte wird gemäht, noch        50 Kühe und bewirtschaftet 60 Hektaren Land, das
                              bevor die Brut flügge ist. Nicht selten wird bei       vom Talboden (1100 m ü. M) bis hinauf auf eine
                              der Mahd auch das brütende Weibchen ge­tötet,          Privatalp (1700–2000 m ü. M) reicht. Den Grossteil
                              was den Rückgang der Bestände beschleunigt.            nutzt er extensiv oder wenig intensiv. 60 % der
                              Auch das verstärkte Düngen macht den Vögeln zu         Nutzfläche sind als Biodiversitätsförderflächen
                              schaffen, denn in der dichten Vegetation ist die       angemeldet, wovon rund 50 % botanisch wertvoll
                              Jagd nach Spinnen und Insekten fast unmöglich.         sind und 70 % Vernetzungsbeiträge erhalten. Im
                                                                                     Vernetzungsprojekt richtet sich die Bewirtschaf­
                              Intensivierung schadet der biologischen Vielfalt       tung der Förderflächen gezielt auf die Bedürfnisse
                              «Aus dem Mittelland und den Jurahöhen sind             ausgewählter Arten: Extensive Wiesen dürfen erst
                              die Wiesenbrüter längst verschwunden, nun sind         ab Juli und nur schonend gemäht werden, zudem
                              ihre Bestände auch im Berggebiet eingebrochen»,        müssen sie über Kleinstrukturen wie Sträucher
                              bilanziert Roman Graf. Gemäss einer Bestandsauf­       oder Stein- und Asthaufen verfügen.
                              nahme der Vogelwarte auf den Referenzflächen              «Die Voraussetzung für eine gute botanische
                              im Engadin hat sich die Zahl der Braunkehlchen –       Qualität ist hier oben günstig», erklärt Berg­bauer
                              aufgeführt auf der Roten Liste der bedrohten           Peer. «Über Generationen hinweg wurde das
                              ­Arten – in den letzten 20 Jahren nahezu halbiert.     Land nur wenig intensiv genutzt. Es mangelte an
                               Schlecht geht es auch der Feldlerche (–58 %) und      ­Wasser, und der Dünger liess sich nicht so einfach
                               dem Baumpieper (–47 %). Obschon sich die Studie        auf die Hänge bringen.» Er stellt aber auch eine
                               auf das Engadin beschränkt, sind die Ergebnisse        Verstärkung des Intensivierungsdrangs fest. Dazu
                               laut Roman Graf typisch für den ganzen Schwei­         habe auch der Strukturwandel beigetragen. Heute
                               zer Alpenraum.«Unterhalb von 1500 Metern über          teilten sich in Ramosch 15 Bauern eine Fläche, die
                               Meer (m ü. M). hat ein veri­tabler Umbruch statt­      vor 30 Jahren noch von 35 Bauern bewirtschaftet
                               gefunden. Und leider weichen die Wiesenbrüter          wurde. Die Folge: Topografisch schwieriger zu
                               nicht einfach in höhere Lagen aus, denn die güns­      bearbeitende Flächen würden aufgegeben, wäh­
                               tigen Brutplätze sind dort meist schon besetzt.»       rend sich die Arbeitskraft auf intensiv nutzbare
                                 Die Schuld für diese Entwicklung mag Roman           Flächen konzentriere.
                               Graf nicht den Bauern zuschieben. «Sie folgen            Mit der Agrarpolitik 2014–2017 wurden zudem
                               den wirtschaftlichen Anreizen. Bund und Kanto­         Landschaftsqualitätsbeiträge als neue Direktzah­
                               ne haben die Intensivierung durch fehlgeleitete        lungsart eingeführt. Sie zielen auf eine multi­
                               Direktzahlungen für Tierhaltung oder Struktur­         funktionale Nutzung ab, die auch der Pflege der
                               verbesserungen vorangetrieben.» Im Engadin etwa        Kulturlandschaft gerecht werden soll. Die Gemein­
                               seien im Rahmen von Meliorationen unzählige            den Ramosch und Tschlin – inzwischen zu Valsot
                               Sprinkleranlagen eingeführt worden, und die            fusioniert – wurden als Pilotregion für ein Land­
                               Dauerbewässerung habe die Intensivierung der           schaftsprojekt ausgewählt. Es entlohnt die Land­
                               Grünlandbewirtschaftung begünstigt. Auch die           wirte für die Erhaltung und Pflege von prägenden

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DOSSIER LANDWIRTSCHAFT < umwelt 3/2016

         Biodiversitätsförderung im                                                                           regionalen Landschaftselementen. Knapp die
                                                                                                              Hälfte der 2014 entrichteten Landschaftsquali­
         Pflichtenheft der Bauern                                                                             tätsbeiträge entfielen auf Kleinstrukturen wie
                                                                                                              Einzelbäume, Hecken, Trockenmauern oder
         Die Schweizer Bäuerinnen und Bauern sind nicht allein der Produktion
                                                                                                              traditionelle Kulturlandschaften wie Wytweiden
         verpf lichtet, sondern auch der Umwelt. 1996 wurde der multifunktionale
                                                                                                              oder wieder kultivierte Ackerterrassen, die nebst
         Auftrag für die Landwirtschaft in der Bundesverfassung verankert. Im Bericht
                                                                                                              der landschaftlichen auch der biologischen Viel­
         «Umweltziele Landwirtschaft» (2008) haben das BAFU und das Bundesamt                                 falt zugutekommen. Viktor Peer war damals Mit­
         für Landwirtschaft den angestrebten Zustand für verschiedene Zielbereiche                            glied der Operativgruppe. Er erinnert sich, wie er
         ­formuliert, hergeleitet aus bestehenden Rechtsgrundlagen. Ein prioritäres                           gegen die Vorbehalte des Bauernverbandes und
          Ziel ist die Erhaltung und Förderung von einheimischen, schwerpunktmässig                           gegen das Misstrauen von Kollegen ankämpfen
          auf der landwirtschaftlichen Fläche vorkommenden oder von der landwirt-                             musste. Es sei nicht ihre Aufgabe, die Natur zu
          schaftlichen Nutzung abhängigen Arten und ihren Lebensräumen. Denn                                  fördern und die Landschaft zu pflegen, sondern
          unsere langfristige Versorgungssicherheit und unsere Produktionsgrundlagen                          Nahrungsmittel zu produzieren, bekam er zu
          ­hängen vom Zustand der Biodiversität ab. (nig)                                                     hören. Inzwischen aber hätten viele Landwirte
                                                                                                              ein anderes Selbstverständnis.
         Buchtipp: Biodiversität auf dem Landwirtschaftsbetrieb – Ein Handbuch für
         die Praxis. FiBL und Vogelwarte, 176 Seiten.                                                         Der Landwirt und die Biodiversität gewinnen
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                                                                                                              Nutzung ist nicht der Weg, den Victor Peer ein­
                                                                                                              schlagen will. Dagegen sprechen für ihn neben
                                                                                                              ökologischen auch wirtschaft­liche Gründe. Mit
                                                                                                              Schrecken habe er feststellen müssen, wie unbe­
                                 ENTWICKLUNG DER BRUTVOGELARTEN
                                                                                                              rechenbar der Preis für Milch sei. In den letzten
                                                                                                              Jahren ging dieser stets nach unten. «Mit jedem
                                                                                                              Liter Milch mache ich heute 80 Rappen Verlust»,
        140                                                                                                   erklärt der 56-jährige Landwirt.
                                                                                                                Dass die in Aussicht gestellten Förderbeiträge
                                                                                                              zum Gesinnungswandel beigetragen haben, will
        120                                                                                                   er nicht bestreiten: «Wieso auch. Die Schweizer
                                                                                                              Bevölkerung wünscht sich eine Landwirtschaft,
                                                                                                              die Rücksicht nimmt auf Natur und Landschaft,
                                                                                                              und wenn wir Bauern diesem Wunsch folgen,
        100
                                                                                                              haben wir Anrecht auf einen angemessenen
                                                                                                              Verdienst.» Victor Peer freut sich auch über
                                                                                                              den nicht materiellen Lohn: «Wenn ich im
         80                                                                                                   Frühjahr in meinen Wiesen blühende Enziane
                                                                                                              und Windröschen sehe oder ein Braunkehlchen
                                                                                                              auf einem Zaunpfahl, dann motiviert mich das
         60                                                                                                   weiterzumachen.»
              1990             1995               2000               2005               2010           2014

                     Regelmässige Brutvögel in der Schweiz (173 Arten)
                     Typische Kulturlandvögel (38 Arten)
                     Leit- und Zielarten gemäss «Umweltziele Landwirtschaft»                                  Weiterführende Links zum Artikel:
                     (46 spezifischere Arten)                                                                 www.bafu.admin.ch/magazin2016-3-03

       Im Rahmen der «Umweltziele Landwirtschaft» werden 46 Leit- und Zielarten                                            KONTAKT
       eingestuft. Dieser Index entwickelte sich zwischen 1990 und 2014 negativ. Bei                                       Gabriella Silvestri
                                                                                                                           Sektion Arten und Lebensräume
       den typischen Kulturlandvögeln sind die Bestände knapp unter dem Ausgangs-
                                                                                                                           BAFU
       zustand von 1990 langfristig stabil. Dies jedoch nur aufgrund von zunehmenden                                       +41 58 462 99 80
       Generalisten.                               Quelle: BFS 2015, Vogelwarte Sempach– Swiss Bird Index                 gabriella.silvestri@bafu.admin.ch

                                                                                                                                                                15

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umwelt 3/2016 > DOSSIER LANDWIRTSCHAFT

       GROSSE VIELFALT VON BETRIEBSMODELLEN

       Der virtuose Landwirt
       Engadinerschafe züchten, Holstein-Jersey-Kühe in höher gelegenen Regionen halten, M   ­ elkroboter
       einführen oder auf die Vertragslandwirtschaft setzen: Die Schweizer Landwirtschaft weist
       heute eine enorme Formenvielfalt auf. umwelt hat einige Bauern und B ­ äuerinnen ­getroffen, die
       gegenwärtig ihren Beruf neu erfinden – gestützt auf ökologische Projekte, Direktzahlungen
       und Neben­erwerbstätigkeiten. Text: Cornélia Mühlberger de Preux

       Eine Ebene mit sanften Hügeln und mildem               Der Wirtschaftlichkeit verpflichtet
       Klima dank des nahen Murtensees. Schmale               Unsere nächste Station befindet sich im Berner
       Wäldchen entlang des Flüsschens Chandon.               Jura. «Les Petites Fraises» heisst der kleine Bauern­
       Weite zartgrüne Wiesen, eine Herde schwarzer,          hof auf 1050 Metern über Meer in Les Reussilles.
       brauner und weisser Mutterschafe und eine Schar        In der Ferne drehen sich die Windräder auf dem
       umherspringender Lämmer. Wir befinden uns in           Mont Crosin. Valérie Piccand, deren Mutter aus
       Chandossel in der Nähe von Villarepos (FR), wo         Haiti und deren Vater aus Freiburg stammt,
       Lea Egli und Reto Fivian eine Schäferei führen.        kümmert sich mit ihrem Mann um den Betrieb.
       Ihre 213 Engadinerschafe – eine vom Aussterben         Den beiden Agronomen stehen rund 30 Hektaren
       bedrohte Rasse – bringen jährlich zwischen 300         Land zur Verfügung – alles Naturwiesen und
       und 400 Lämmer zur Welt. Auf diesem Hof steht          Weiden –, auf denen sie etwa 30 Kühe halten.
       das Wohl der Tiere im Mittelpunkt: grasbasierte        «Jeder Grashalm sollte gefressen und in Milch
       Fütterung, Weidehaltung während 9 Monaten im           verwandelt werden», so Valérie Piccand. Das Ziel
       Jahr, sparsamster Einsatz gezielt ausgewählter         ist eine maximale Rationalisierung der Arbeit,
       Medikamente. 60 Prozent der Einnahmen bezieht          weshalb sie ein Vollweidesystem mit saisonaler
       der Hof aus dem Verkauf von Lammfleisch, den           Abkalbung praktizieren. «Die Kühe müssen sich
       Rest aus Direktzahlungen. «Wir praktizieren eine       für dieses System eignen. Deshalb haben wir uns
       biologische Landwirtschaft, also ohne Pflanzen­        für eine Holstein-Jersey-Kreuzung entschieden.»
       schutzmittel und chemischen Dünger. Ein Viertel        Die Milch wird von der nahe gelegenen Käserei
       unseres Landes besteht aus Biodiversitätsförder­       in Les Reussilles zu Bio-Gruyère AOC verarbeitet.
       flächen; 320 Aren gelten im Hinblick auf die           Die Gebäude, Infrastrukturen und Einrichtungen
       Flora als hochwertig», erklärt Lea Egli. Ihr Partner   auf dem Hof sind einfach und funktionell. Das
       nennt einige der unzähligen Arten, die hier ge­        Betreiberpaar versucht, die Produktion zu opti­
       deihen: «Thymian, Salbei, Knolliger Hahnenfuss,        mieren und ebenso die Direktzahlungen (25 %
       Dornige Hauhechel … Und was die Fauna anbe­            Biodiversitätsförderflächen; die Direktzahlungen
       langt Hauhechel-Bläuling, Gelbbauchunke oder           machen rund einen Drittel des Umsatzes aus).
       auch Grünspecht.» Die Schäferei in Chandossel          Etwas oberhalb des Hofes befindet sich eine
       betreibt Direktvermarktung und bedient nicht           Trockenwiese, hinter dem kleinen Hügel eine
       nur Privatkunden und Restaurants, sondern auch         Feuchtwiese und darunter ein Hochstamm-                 Quelle: EFV– Bundeshaushalt,
                                                                                                                      BFS – Landwirtschaftliche Gesamtrechnung;
       das Gastronomieunternehmen Novae, von dem              Obstgarten: Auch sie werden durch Programme             Bilder: Keystone, Spinaternte (unten);
       später noch die Rede sein wird.                        des Bundes finanziell gefördert. Wie bei der            Aura, Bauernzmorge

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DOSSIER LANDWIRTSCHAFT < umwelt 3/2016

                                  2014
                               DIREKTZAHLUNGEN
                                     IN FRANKEN

                                         2,8
                                     MILLIARDEN

                            1985
                             0,61
                            MILLIARDEN

                                                                                      17

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umwelt 3/2016 > DOSSIER LANDWIRTSCHAFT

                              Milchproduktion (graslandbasierte Milch- und        Vom Feld in den Korb
                              Fleischproduktion GMF) steht auch bei den öko­      Weiter gehts nach Courgenay im Kanton Jura, wo
                              logischen Ausgleichsmassnahmen die Qualität         sich die Genossenschaft La Clef des Champs auf
                              im Vordergrund (Vernetzung, Qualitätsstufe II,      einer 2 Hektaren grossen Fläche an der «Moulin
                              landschaftliche Qualität). Letztlich möchte das     de la Terre» genannten Strasse der regionalen Ver­
                              Bauernpaar Piccard «einen gleich hohen Stunden­     tragslandwirtschaft verschrieben hat. Hier bauen
                              lohn erzielen, wie wir als Agronomen anderswo       3 Gärtner auf 180 Aren im Freien und 20 Aren in
                              verdienen würden». Von diesem Ziel sind sie je      Treibhäusern 30 bis 40 verschiedene Gemüse mit
                              nach Jahr nicht mehr weit entfernt. Wichtig ist     dem Label Bio Suisse an. Die Anforderungen sind
                              ihnen aber auch, Zeit für ihre Kinder zu haben,     also äusserst streng. «Wir verwenden Bio-Samen
                              sich in der Gemeinde zu engagieren, eine Parzelle   von Sativa, Zollinger und Bingenheimer, setzen
                              für Permakultur zu nutzen oder mit Freunden         nur organische Düngemittel ein und verzichten
                              einen grossen Gemüsegarten zu pflegen.              auf Behandlungen», erläutert Céline Corradetti,
                                                                                  die seit 2010 dort arbeitet. Gepflügt wird einmal
                              Zwischen Hightech und Wirtschaft des Teilens        pro Jahr, und zwar 10 bis 18 cm tief. Zudem setzt
                              Andere Höfe, andere Methoden. In Treyvaux (FR)      die Genossenschaft auf Gründüngung. «So wird
                              hat sich Alexandre Peiry für den Melkroboter        der Boden angereichert und belüftet und zugleich
                              entschieden, um seinen Betrieb rentabler zu         das Unkraut bekämpft», erklärt die ehemalige
                              gestalten und um nicht eine Diskushernie erlei­     Korbflechterin weiter. Klee bringt Stickstoff,
                              den zu müssen wie sein Vater. «Dazu mussten         Winterwicke sorgt für eine gute Bodenstruktur,
                              200 000 Franken investiert werden. Gleichzeitig     und Luzerne nützt Insekten und damit der Bio­
                              habe ich aber Zeit für weitere Tätigkeiten ge­      diversität.
                              wonnen. So bin ich beispielsweise für die Biogas­     La Clef des Champs zählt 210 Mitglieder. Diese
                              anlage in Ferpicloz zuständig», erzählt er. Dort    müssen pro Jahr mindestens 18 Arbeitsstunden
                              kann auch er seinen Hofdünger verwerten. Dieses     zur Produktion beitragen, um einen Teil der mo­
                              Netzwerk, an dem sich rund 50 Landwirte der         mentan auf 165 Körbe verteilten Gemüseernte zu
                              Region beteiligen, kommt allen zugute: denen,       erhalten. Für jährlich 870 Franken gibt es von
                              die zu viel, und denen, die zu wenig Hofdünger      April bis Anfang Dezember jede Woche eine
                              haben. Ausserdem ist Alexandre Peiry einer der      Lieferung und von Januar bis März einen Korb
                              Verwalter der Maiskooperative von Treyvaux          pro Monat, was einem Gegenwert von 24 Franken
                              und Umgebung. Diese fördert den gemeinsamen         pro Korb entspricht. Die Mitglieder beteiligen sich
                              Kauf von landwirtschaftlichen Betriebsmitteln,      an der Ernte und liefern die Körbe an die regio­
                              bietet Dienstleistungen für ihre Mitglieder und     nalen Depots in Pruntrut, Delsberg, Glovelier,
                              Kunden an oder das Mieten von Landmaschinen         Courgenay und Saignelégier.
                              zu Vorzugspreisen.
                                Alexandre Delisle von der «Ferme du Nord» in      Vom Feld und von der Weide auf den Teller
                              Ferlens (VD) hingegen hat die Milchwirtschaft       Lamm aus Chandossel, Gruyère aus Les Reus­
                              aufgegeben und sich auf die Produktion von          silles, Bio-Gemüse aus Courgenay: Die Region hat
                              Fleisch von Schweinen und von Salers-Rindern,       eine Fülle schmackhafter Produkte zu bieten.
                              einer alten Rasse aus dem französischen Zen­        Novae, ein Westschweizer Unternehmen im
                              tralmassiv, konzentriert. Dabei arbeitet er mit     Bereich Gemeinschaftsgastronomie mit Sitz in
                              einem Paar zusammen, das Erfahrung in der           Gland (VD), hat dies erkannt. Um seine rund­
                              Veredelung von Fleischprodukten hat. Sie stel­      80 Kunden – Restaurants, Schulkantinen, Unter­-
                              len die berühmten «Saucisses aux choux» sowie       nehmen, Alters- und Pflegeheime sowie Klini­
                              Schinken und Würste her und kümmern sich um         ken – zu beliefern, sucht es sich deshalb die
                              den Direktverkauf. Wie Alexandre Peiry ist auch     besten Produzenten vor Ort aus. Damit soll ein
                              Alexandre Delisle überzeugt von der «Wirtschaft     ­respektvoller Umgang mit der Natur gesichert
                              des Teilens» (Sharing Economy). Er ist gerade am     und sollen kurze Wege und Qualität bevorzugt
                              Erstellen der Plattform AgriJorat, die sämtliche     werden. «Wir arbeiten mit regionalen, saisonalen
                              Betriebe der Region erfassen soll. Sie wird es       und wenn möglich biologischen Erzeugnissen,
                              ermöglichen, Onlinebestellungen aufzugeben,          und wir kennen die Art der Herstellung. Ein
                              Maschinen und Wissen zu teilen und sich ganz         gutes Produkt braucht Raum und Zeit», so die
                              einfach gegenseitig zu unterstützen.                 Überzeugung von Stéphane Grégoire, stellver­

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