JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N 36. JAHRGANG / NR. 146 á“ôùú äëåðç 29. NOVEMBER 2021 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021 1
Chanukka in Berlin. Foto: © F. Butzmann ST OL PE R ST E I N E M I LT E N BE RG In der Mainstraße wohnten NANNY HESS BELLA HESS SIEGFRIED HESS GEB. FREUDENBERGER JG. 1923 JG. 1930 JG. 1896 DEPORTIERT 1941 DEPORTIERT 1941 DEPORTIERT 1941 RIGA RIGA RIGA ERMORDET ERMORDET ERMORDET 24.8.1943 Unser Titelbild: Buch-Cover Megillat Chanukka von Chagi Ben Arzi. Siehe dazu auch unseren Beitrag auf Seite 5. Bilder Rückseite: Nr. 1: Kulturpolitikpreis für Dr. Schuster, links Jutta Schuster, © Deutscher Kulturrat / Jule Roehr. Nr. 2: Die Sulzbacher Tora wird in die Amberger Synagoge gebracht. © Petra Hartl Oberpfalz Medien. Nr. 3: Das Hochzeitspaar, siehe dazu Seite 26, © privat. Nr. 4: Urkunde zur Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, © Bun- desregierung Jeco Denzel. Nr. 5: Hochzeitsparty, © privat. Nr. 6: Archivleiter Dr. Ittai Joseph Tamari, © berebild. Nr. 7: Blick ins Zentralarchiv in Heidelberg, © Zentralrat der Juden/Gregor Zielke. 2 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
EDITOR I A L Liebe Leserinnen, liebe Leser, semitismus als Gefahr einen höheren Stellenwert in der öffentlichen Debatte der Deutsche Koordinierungsrat (DKR) und einige Bundesländer sind diesem der Gesellschaften für Christlich-Jüdische „Vorgehen“ mit ländereigenen Antisemi- Zusammenarbeit ist die Dachorganisation tismus-Beauftragten gefolgt. der örtlichen Gesellschaften. Er vergibt in Ganz persönlich möchte ich noch anmer- jedem Jahr zur Eröffnung der „Woche der ken, dass ich Frau Dr. Merkel im direkten Brüderlichkeit“ an besonders verdiente Gespräch immer als sehr interessiert, als Persönlichkeiten die Buber-Rosenzweig- nachfragend und zuhörend erlebt habe. Medaille. Im vergangenen Jahr erhielt Und diese Wertschätzung der Bundes- Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel diese kanzlerin hat mich stark beeindruckt. besondere Auszeichnung. Sie konnte aber Erwähnen möchte ich noch kurz, dass wegen der Pandemie nicht übergeben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier werden. Das wurde in diesem Sommer im vor wenigen Tagen, und leider zu spät für kleinen Kreis im Bundeskanzleramt von eine angemessene redaktionelle Würdi- den drei DKR-Präsidenten nachgeholt. Ich gung, in New York die Leo-Baeck-Medaille habe, und das sehr gerne, die Laudatio auf des Leo-Baeck-Instituts erhalten hat. Zu Frau Dr. Merkel gehalten (siehe Seite 18 dieser Auszeichnung möchte ich dem in diesem Heft). Bundespräsidenten ganz herzlich gratu- Mir war dabei besonders wichtig, ihr Ein- lieren. treten für fundamentale jüdische Belange deutlich zu machen. Da gab es im Bereich Und ja, als Arzt möchte ich sagen: Impfen „Religionsfreiheit“ nach einem unseligen ist ganz wichtig. Es hilft wirklich allen Urteil des Kölner Landgerichts im Jahre Menschen, die Pandemie zu beherrschen. 2012 eine ärgerliche öffentliche Debatte über die halachisch vorgeschriebene Brit Bleiben Sie gesund und achten Sie auf Mila. Die Bundeskanzlerin hatte damals kanzlerin niemals verhandelbar.“ Ihr his- sich, auf Ihre Familie und auf alle Men- unsere religiösen Bedürfnisse sofort ver- torisches Verantwortungsbewusstsein und schen in Ihrer Umgebung. standen und sich, neben anderen, erfolg- ihre Solidarität mit Israel waren ebenfalls reich dafür eingesetzt, dass der Bundes- zu spüren, als Bundeskanzlerin Angela Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und tag kein Gesetz verabschiedet, das die Merkel 2012 die Ratsversammlung des Leser, ein frohes Fest, Beschneidung als Körperverletzung ein- Zentralrats besuchte. gestuft hätte. Auch ihr Verständnis, dass der Antisemi- C H AG C H A N U K K A SA M E AC H Unvergessen ist auch ihr Besuch des israe- tismus eine bedrohliche Gefahr für die lischen Parlamentes. „Die historische Ver- Demokratie darstellt, hat überzeugt. Als Ihr antwortung Deutschlands“, sagte sie dort wir ihr nach der Bundestagswahl 2017 Dr. Josef Schuster in ihrer Rede, sei Teil der Staatsräson vorschlugen, einen Antisemitismus-Be- Präsident ihres Landes. „Das heißt, die Sicherheit auftragten zu berufen, ist sie unserem des Zentralrats der Juden in Deutschland und Israels ist für mich als deutsche Bundes- Vorschlag gefolgt. Seitdem hat der Anti- des Landesverbandes der IKG in Bayern Chanukka 5782 Dokumentation IMPRESSUM Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4 Buber-Rosenzweig-Medaille JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN Laudatio von Dr. Josef Schuster authentisch bayerisch jüdisch Antiochus und der Makkabäeraufstand Von Yizhak Ahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 auf Bundeskanzlerin Angela Merkel . . 18 Redaktionsleitung: Benno Reicher, Rede von Bundeskanzlerin Merkel Vorländerweg 25, 48151 Münster, Telefon 0251-7475546 Kultur zur Verleihung der Ehrendoktorwürde www.bayerisch-jüdisch.de des Israel Institut of Technlogy . . . . . 20 Das jüdische Archiv redaktion@berejournal.de Von Benno Reicher . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Bayern Wir erscheinen im April zu Pessach, Kulturpolitikpreis für Schuster . . . . . . 8 im September zu Rosch Haschana und DenkOrt Deportationen – im Dezember zu Chanukka Jüdisches Museum Berlin . . . . . . . . . . 10 zweite Eröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 In dieser Ausgabe mit Beiträgen von Jüdisches Museum Frankfurt . . . . . . . 11 Sulzbacher Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Rab. J. Berger, Yizhak Ahren, Angela Mehr als Steine Synagoge Reichenbachstraße . . . . . . 24 Genger, Daniel Hoffmann, Regina Kon, Von Benno Reicher . . . . . . . . . . . . . . . 12 Eine Traum-Chassene . . . . . . . . . . . . . 26 Gaby Pagener-Neu, Benno Reicher, Josef Schuster und Priska Tschan-Wiegelmann Gedenkstättenarbeit sichern . . . . . . . 14 Aus den jüdischen Gemeinden Herausgeber: Landsverband Israelitischer in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Kultusgemeinden in Bayern Nachrichten aus Frankreich Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 37 Gesamtherstellung: Druckerei Höhn, Elie Korchia Inh. Martin Höhn, Gottlieb-Daimler-Str. 14, Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 15 Russischer Beitrag . . . . . . . . . . . . . 43 69514 Laudenbach Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021 3
C H A N U K K A 57 8 2 CHANUKKA Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger ten seine goldenen und silbernen Kult- reines Olivenöl herstellen konnte. Aus geräte. Durch das Aufstellen von grie- Freude über den wiedereingeweihten chischen Götzenbildern und Statuen im Tempel ordneten die damaligen Gelehr- Tempel verunreinigten sie ihn für den ten an, acht Tage lang, alle Jahre wieder, Kult der Israeliten.“ So die nüchterne Lichter anzuzünden und die biblischen Beschreibung des klassischen Gelehrten Lobgesänge der Psalmen ertönen zu las- Maimonides. Ein ähnliches Vorgehen sen. Diese Tage wurden Channukat Ha- hatte es im Heiligen Land seit der Unter- misbeach, d.h. Wiedereinweihung des werfung durch das Babylonische Reich Altars, genannt. von Nebukadnezar im 6. Jahrhundert vor Die späteren Geschlechter sahen im Kampf der Zeitrechnung nicht gegeben. Im Ge- um die jüdische Lebensform vornehmlich genteil, die Griechen, insbesondere Ale- eine geistige, ideologische Anstrengung. xander der Große, der vor mehr als 2500 Nicht die physische Kraft oder der Macht- Jahren lebte, sind den Juden, ihrem Land kampf hinterließen in der Erinnerung der und ihrer Religion mit großem Respekt Israeliten tiefe Spuren, sondern die Ge- und gebührender Toleranz begegnet. nugtuung, dass es gelungen war, den Rah- Aus dieser respektvollen Begegnung men des selbständigen jüdischen Lebens zweier bedeutender Kulturen der Antike im eigenen Land zu sichern. Der Kampf erwuchsen zahlreiche große Werke. Da- der Makkabäer wurde nicht als ein Er- Rabbiner Joel Berger her traf die Brutalität der syrischen Er- oberungskrieg geführt, um fremde Ge- oberer und Plünderer die Israeliten unvor- biete zu unterwerfen, sondern nur um der Die Christen beginnen am 24. Dezember bereitet. Das gesamte Volk, außer einigen jüdischen Lebensart in Freiheit huldigen ihre Weihnachtsfeiertage, wir Juden da- Hellenisten, kollaborierende Juden, hat zu können. gegen begehen Chanukka. Sowohl Chris- schweres Leid auf sich nehmen müssen. Die jüdische Tradition datiert die Tempel- ten wie auch Juden feiern mit Licht, Maimonides summiert die nachfolgenden weihe auf den 25. Tag des jüdischen Freude und Geschenken. Begebenheiten so: „Als die Unterdrückung Monats Kislew. Bis heute beginnt in der Wir stecken die Chanukkalichter in dem unerträglich wurde, erbarmte sich Gott jüdischen Welt das Fest an diesem Tag. achtarmigen Leuchter, Chanukkija ge- über sein Volk. Die rettende Hilfe kam Jung und Alt, Männer und Frauen zün- nannt, an. Diese Lichter, die wir acht von den Söhnen der Priesterfamilie der den beseelt nach dem Sprechen der Se- Tage lang mit Segenssprüchen und Ge- Haschmonäer. Sie führten den bewaffne- genssprüche die Lichter an. Acht Tage sängen anzünden, erinnern uns an den ten Kampf gegen die Eindringlinge. Als lang, an jedem Tag ein Licht mehr. Am Kampf der Makkabäer im 2. Jahrhundert eine Vollendung ihres Freiheitskampfes ersten Schabbat-Tag des Chanukka-Festes vor der Zeitrechnung. Die Söhne Matitja- wollten sie den Tempel von Jerusalem bildet die prophetische Schriftlesung in hus, des alten Priesters, wie auch ihre und den Altar wieder ihrer Bestimmung der Synagoge einen Abschnitt aus den Anhänger aus dem einfachen Volk, woll- übergeben. Werken des Propheten Sacharja (4:1–4). ten ihre jüdische Lebensart, gegründet Jedoch als sie den Tempel von den Göt- Der Prophet verwendet hier die Form auf den Geboten der Tora, in ihrem Hei- zenbildern gereinigt hatten, fanden sie einer Parabel. Der Bote des Herrn fragte matland sichern. Gerade deswegen be- nur ein kleines Krüglein Öl, das für einen ihn: „Was siehst du?“ Er erwiderte: „Ich kamen sie mit den hellenisierten Macht- Tag gereicht hätte, um die Menora, den sehe einen Leuchter aus reinem Gold ... habern, die ihr Land besetzten, Schwie- Tempelleuchter zu entzünden. Dennoch und sieben Lampen darauf, je sieben Röh- rigkeiten. brannte das Licht acht Tage lang. So lan- ren zu den sieben Lampen oben darauf, Mehr als tausend Jahre danach, schil- ge dauerte es nämlich, bis man wieder und zwei Ölbäume daran …“ – „Was be- derte der mittelalterliche Gelehrte und deuten diese, mein Herr?“ – Er erwiderte: Philosoph Maimonides diese historische „Das Wort Gottes an (Gouverneur) Seru- Epoche: „Zur Zeit des zweiten Tempels in bawel: Nicht durch Macht und nicht Jerusalem führten die aus dem damali- durch Kraft, sondern durch meinen Geist, gen Syrien stammenden hellenistischen – spricht der Ewige, der Herr aller Ge- Herrscher judenfeindliche Gesetze ein. schöpfe …“ Sie verboten unter ihrer Herrschaft die Von dieser Lektüre ausgehend, wollten Ausübung jeglicher Formen der alther- die jüdischen Gelehrten nicht den Sieg gebrachten Gebote des jüdischen Volkes. oder den Helden in den Mittelpunkt der Sie führten eine Herrschaft der Willkür Gedankenwelt des Chanukkafestes stel- anstelle der Gebote der Tora ein. len, sondern vielmehr das Wunder. Siege Sie entführten jüdische Kinder, um sie zu oder Niederlagen der Heeresführer wer- hellenistischen Kämpfern in den Arenen den in Vergessenheit geraten, jedoch jene zu erziehen. Sie raubten nicht nur die Lichter der Chanukkija, die acht Tage Güter der jüdischen Einwohner, sondern lang Licht in die Dunkelheit strahlen und schreckten auch nicht vor dem Heiligtum die Freude des Überlebens verbreiten, sie der Israeliten in Jerusalem zurück. Sie sind unendlich tief in unserer Seele ver- brachen in den Tempel ein und plünder- © Rab. Y. Deusel ankert. 4 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
Antiochus und der Makkabäeraufstand Eine Betrachtung zu Chanukka von Yizhak Ahren Sowohl am Purim- als auch am Chanuk- mit: Ein gewisser Bär Frank aus Preßburg lassen kann. So schreibt er z.B., dass die ka-Fest wird in das zentrale Achtzehn- hatte eine in Venedig 1548 veröffentlich- Religionsverfolgung, die den Makkabäer- gebet der Abschnitt „Al Hanissim“ (Für te Übersetzung von Megillat Antiochus Aufstand auslöste, im 23. Jahr der Herr- die Wunder) eingeschaltet. Nach einem ins Deutsche gesehen und nicht ahnend, schaft von Antiochus begann; in Wirklich- gemeinsamen Einleitungssatz wird das dass eine hebräische Fassung dieses Tex- keit regierte der seleukidische König nur Wunder von Purim beziehungsweise tes längst vorliegt, eine weitere Überset- elf Jahre (175 bis 164). Ferner sind einige Chanukka kurz und prägnant beschrie- zung in der Sprache der Heiligen Schrift seiner Angaben unvereinbar mit den Be- ben. Wer etwas mehr über die Purim- angefertigt und 1806 publiziert. richten im Ersten Makkabäer-Buch und im Geschichte wissen möchte, der kann die Im seinerzeit in Deutschland populären Zweiten Makkabäer-Buch. Die Megillat Megillat Esther studieren, die an Purim Siddur „Avodat Israel“ (Rödelheim 1868, Antiochus will Wundergeschichten und sogar zweimal in der Synagoge verlesen nachgedruckt in Tel Aviv 1957) sind die Halachot von Chanukka bekanntmachen, wird. Ein Buch, das die Chanukka- 74 hebräischen Verse von Megillat An- diese Rolle sollte nicht als eine historische Geschichte erzählt, findet man aber im tiochus abgedruckt. Der Abdruck dieses Quelle betrachtet werden. Tenach nicht. Textes war dem Herausgeber wichtig, An dieser Stelle möchte ich notieren, was Um die spürbare Lücke zu schließen, hat denn früher war es in manchen Gemein- mir beim wiederholten Lesen von Megil- vor langer Zeit ein frommer Mann die den üblich, an Chanukka Megillat Antio- lat Antiochus aufgefallen ist. An mehre- Megillat Antiochus (Antiochus Rolle) ver- chus in der Synagoge vorzutragen. Frei- ren Stellen hat mich der Text an die fasst, und zwar in aramäischer Sprache. lich gab es unterschiedliche Minhagim: Megillat Esther erinnert; der Autor hat Den Namen des Autors kennen wir nicht in einem Ort las man die Antiochus-Rolle ungewöhnliche Formulierungen benutzt, und wir wissen nicht einmal, in welchem nach der Haftara am Schabbat-Vormittag, die in der anderen Rolle stehen. Nur zwei Jahrhundert er gelebt hat. Die Forscher anderswo nach dem Mincha-Gebet am Beispiele seien hier angeführt: Antiochus sind sich nicht einig, ob die Megillat Schabbat von Chanukka. greift offensichtlich ein Argument von Antiochus schon im dritten oder erst im Unumstritten ist die Tatsache, dass es Haman auf: „Des Königs Gesetze voll- achten Jahrhundert der üblichen Zeit- keine halachische Verpflichtung gibt, die bringen sie (die Juden) nicht, und es rechnung verfasst wurde. Antiochus-Rolle vorzutragen – dies ge- frommt dem König nicht, sie zu tolerie- Die Megillat Antiochus war in gewisser schieht freiwillig zur Bekanntmachung ren“ (Esther 3,8). In der Megillat Antio- Weise jahrhundertelang ein Bestseller, des Wunders. Anzumerken ist, dass in chus wird eine Belohnung in Aussicht der ins Hebräische und in andere Spra- unserer Zeit die Megillat Antiochus nur gestellt, die in der Megillat Esther als chen übersetzt wurde; ins Deutsche sogar noch in sehr wenigen Synagogen gelesen Ehrung vorgeschlagen wurde: „Man brin- mehrfach. Hugo Herrmanns Übertragung wird. Daher ist diese Rolle heute in vielen ge das Königsgewand … und das Pferd, ins Deutsche findet man in der immer jüdischen Kreisen kaum bekannt. auf dem der König reitet“ (Esther 6,8). noch lesenswerten Anthologie „Maoz Forscher haben festgestellt, dass der Autor Sind diese Parallelen nur Zufall? Das hal- Tzur. Ein Chanukka-Buch“ (Berlin 1918). von Megillat Antiochus kein Historiker te ich für sehr unwahrscheinlich. Indem Eine Kuriosität teilte Seligmann Isaac Bär war, auf dessen Mitteilungen man sich ver- der Verfasser von der Megillat Antiochus mehrere Sprachwendungen verwendet, die in einer bekannten biblischen Rolle vorkommen, will er aufmerksame Leser zum Nachdenken bringen. Das Purim- Wunder ist anders geartet als das Cha- nukka-Wunder – aber doch gibt es ge- meinsame Züge. Eingangs habe ich bemerkt, dass die Megillat Antiochus geschrieben wurde, um eine verspürte Lücke zu schließen. Nun, da heutzutage an Chanukka keine die Ereignisse schildernde Rolle in der Synagoge vorgelesen wird, taucht das alte Problem wieder auf: Wie kann je- mand sein Wissen über den Makkabäer- Aufstand vertiefen? Vor einigen Jahren hat der israelische Autor Chagi Ben Arzi ein instruktives Büchlein für das breite Publikum und für den Schulunterricht veröffentlicht – „Me- gillat Chanukka“ (Jerusalem 2006) –, das wissenschaftlich fundiert ist und aus- drücklich die Funktion von Megillat An- tiochus übernehmen soll. Dieses schön aufgemachte hebräische Lehrbuch ent- hält acht Kapitel, sodass der interessierte Leser an jedem der acht Chanukka-Tage Neues über die Entwicklung des Makka- Chanukka-Traditionen Lattkes und Dreidel-Spiel. © Mare-Bild bäer-Aufstands erfahren kann. Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021 5
K U LT U R Das Jüdische Archiv Von Benno Reicher HEIDELBERG Drei Rabbiner, Andreas er mit seinen Plänen erfolgreich sein wird. Nachama, Avichai Apel und Zsolt Balla, Tamari möchte zunächst nicht mehr be- begleiteten mit ihren Brachot und einem nötigte ältere Verwaltungsakten und an- Schehechejanu Mitte September den Fest- deres Archivgut der jüdischen Gemeinden, akt zur Einweihung der neuen Räumlich- Organisationen und Vereine vor der Ver- keiten für das „Zentralarchiv zur Erfor- nichtung „sichern“, aufarbeiten und kata- schung der Geschichte der Juden in logisieren. Nur so kann das Material zu Deutschland“. 1987 gründete der Zentral- Forschungszwecken zur Verfügung ge- rat der Juden das Archiv, das seitdem Ak- stellt werden. Darüber hinaus ist er natür- ten der Jüdischen Gemeinden sowie Lite- lich auch an allen anderen „Überlieferun- ratur über das Judentum in Deutschland gen“ in Form von Akten und Dokumen- sammelt. Hinzu kommen wertvolle Do- ten, von Zeitungen und anderem Schrift- kumente aus der Zeit vor dem National- gut interessiert. sozialismus und der Shoa. Angesiedelt Seinen Sammlungsgegenstand will er zeit- war das Archiv bisher in der Heidelberger lich nicht einschränken, aber ein Schwer- Innenstadt in der auch vom Zentralrat ge- punkt ist schon der Aufbau der Gemein- gründeten „Hochschule für Jüdische Stu- den nach 1945, denn er befürchtet zu dien“. Für das seit der Gründung ständig Recht, dass wichtige Dokumente mangels wachsende Archiv waren die Arbeitsbe- archivalischer Fachkenntnisse verloren dingungen in der Hochschule aber mittler- gehen könnten. Deshalb sucht er das per- weile in den dort beengten Verhältnissen sönliche Gespräch mit den Verantwort- zu schwierig geworden, zumal auch Ar- lichen in Gemeinden und Institutionen, chivbestände ausgelagert werden mussten. er geht auf sie zu und seine Mitarbeiter Die neuen Räume des Archivs, die Maga- holen das Archivgut auch ab. Auf diesem Gelände der ehemaligen Tabak- zine, der Lesesaal und die Büros der Mit- Er habe auch die Erfahrung gemacht, fabrik Landfried ist auch das Archiv unter- arbeiter liegen jetzt in einem ehemaligen sagt er im Gespräch, dass die Übernahme gebracht. Gewerbegebiet unweit des Heidelberger des Materials durch sein Archiv für die Hauptbahnhofs. Gemeinden und Verbände sehr entlas- Dank finanzieller Förderung durch das Die neuen Räumlichkeiten sind hell, wir- tend sei. Sie könnten sicher sein, dass ihre Bundesinnenministerium konnte das Ar- ken einladend und sie sind großzügig be- Akten fachgerecht aufbewahrt würden chiv unter der Leitung von Dr. Tamari in messen für das weiter wachsende Archiv. und sie hätten Platz gewonnen. Der Ar- den vergangenen Jahren personell aus- Die Archivalien füllen schon jetzt viel chivdirektor und seine Mitarbeiter sind gebaut werden sowie die Erstellung von mehr als 2000 Regalmeter. Aber ausrei- freundliche und offene Menschen. Ihnen Findbüchern und die Digitalisierung der chend Platz für zukünftige Wachstum ist kann man gerne seine „Archivalien“, Bestände vorantreiben. Damit soll das vorhanden und der Archivdirektor Dr. Ittai auch thematisch relevante „Privatsamm- Zentralarchiv auf ein Niveau mit Bundes- Joseph Tamari wird ihn brauchen, wenn lungen“ anvertrauen. und Landesarchiven gebracht werden. Archivleiter Dr. Tamari. Fotos (4): © Zentralrat der Juden/Gregor Zielke 6 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
Jetzt sind die Bestände adäquat unter- gebracht und langfristig gesichert. Dies alles würdigte der Zentralrat der Juden in Deutschland mit dem Festakt im neuen Archiv in Heidelberg. „Das Zentralarchiv birgt einen Schatz: das Gedächtnis der jüdischen Gemeinden“, sagte Zentralratspräsident Dr. Schuster in seiner Einweihungsrede. Das Archiv sei gleichermaßen ein Ort der Selbstverge- wisserung wie der Bildung. Für die jüdische Gemeinschaft sei es wichtig, die Geschichte der jüdischen Gemeinden nach dem Zweiten Weltkrieg zu kennen. „Noch mehr am Herzen liegt es mir allerdings, dass sich die nichtjüdische Umgebung damit befasst“ (die komplette Rede von Dr. Schuster dokumentieren wir in einem weiteren Beitrag). Für das Bundesinnenministerium, das das Archiv maßgeblich finanziell fördert, Archiveröffnung, von links: Prof. Barbara Traub, Präsidiumsmitglied des Zentralrats, kam Staatssekretärin Anne Katrin Bohle Staatssekretärin Anne Katrin Bohle und BW-Wissenschaftsministerin Theresia Bauer. zur Eröffnung nach Heidelberg. Sie war in einer früheren Funktion in dem Kölner Eine besondere Nähe zum Zentralarchiv keiten für das Zentralarchiv entsteht auch Archiv-Einsturz von 2009 involviert und hat Baden-Württembergs Ministerin für ein neues Wahrzeichen für die jüdische hatte persönlich erlebt, wie dramatisch Wissenschaft und Kunst, Theresia Bauer. Kultur mitten in der Stadt Heidelberg.“ der Verlust von „Überlieferung“ ist. „Un- Sie hat „um die Ecke“ ihr Wahlkreisbüro. Archivdirektor Dr. Tamari will auch die sere Kenntnisse vom jüdischen Leben in Es freue sie, mit dem Zentralarchiv einen Zusammenarbeit mit Archiven auf Landes- Deutschland sind von vielen Lücken ge- so spannenden neuen Nachbarn zu be- und Bundesebene intensivieren. Michael prägt“, erklärte sie. „Das liegt auch da- kommen. „Ich finde, das Archiv passt ge- Hollmann, Präsident des Bundesarchivs, ran, dass es lange keine nennenswerten nau hierher“, sagte Theresia Bauer. „Die- auch Gast der Veranstaltung, sicherte Bemühungen gab, Zeugnisse jüdischer ses neue Wahrzeichen befindet sich hier dem Zentralarchiv seine Unterstützung Zeitgeschichte zu sammeln und so auch im Landfriedkomplex in einem hoch inno- zu. Er beglückwünschte den Zentralrat Quellen zu haben, die Geschichtsschrei- vativen und kreativen Umfeld.“ Und sie er- und das Archiv und bemerkte, es sei klug, bung und Reflexion ermöglichen.“ gänzte weiter: „Mit den neuen Räumlich- das eigene Gedächtnis zu pflegen. Grußwort von Dr. Josef Schuster beim Festakt zur Einweihung des Zentralarchivs am 14. September 2021 in Heidelberg HEIDELBERG Wer heute eine Umfrage für das damalige „Gesamtarchiv der deut- kennt. Wer waren die Gründer der jüdi- zum jüdischen Leben in Deutschland schen Juden“. schen Gemeinden nach dem Zweiten macht, wird auf zwei Phänomene stoßen: Die Nationalsozialisten wollten sämtliche Weltkrieg? Womit hatten sie zu kämpfen? Die meisten Bürger schätzen die Zahl der Spuren jüdischen Lebens vernichten. Der Wie gelang es ihnen, mit, wenn ich es so hier lebenden Juden um mindestens das Bedeutung von Archiven waren sie sich nennen darf, zertrümmerten Seelen und Zehnfache höher als sie ist. Und sie haben durchaus bewusst. Außerdem nutzten sie in einem zertrümmerten Land diesen keine Ahnung, wie nach der Shoa über- die personengebundenen Akten für die Aufbauwillen zu entwickeln? haupt wieder jüdische Gemeinden in Verfolgung von Juden. Hier im Zentralarchiv finden sich zum Deutschland entstanden sind. Dass das Judentum in Deutschland viel Beispiel Dokumente der DP-Camps und Und wer dann noch nach einem Ereignis mehr ist als die Shoa, das würdigen wir viele weitere Schätze, die das Wunder des in Zusammenhang mit Juden in Deutsch- mit dem Festjahr „1700 Jahre jüdisches Wiederaufbaus jüdischen Lebens wider- land fragt, wird sehr häufig als Antwort Leben in Deutschland“. Und es freut mich spiegeln. Für die jüdische Gemeinschaft hören: die Reichspogromnacht 1938. ganz außerordentlich, dass wir genau in selbst ist es wichtig, diese Geschichte zu Denn mit Juden wird am ehesten die diesem Festjahr die neuen Räume des kennen. Noch mehr am Herzen liegt es Shoa assoziiert, obwohl das Wissen über Zentralarchivs zur Erforschung der Ge- mir allerdings, dass sich die nicht-jüdi- die Shoa in der Breite der Bevölkerung schichte der Juden in Deutschland ein- sche Umgebung damit befasst. ziemlich gering ist. Doch dass 1938 die weihen können. Die neuen Räume stehen Ich habe Ihnen eingangs geschildert, wie Synagogen brannten, ist recht vielen auch für die Neuaufstellung des Archivs. gering die Kenntnisse in der Bevölkerung Menschen bekannt. Das Zentralarchiv birgt einen Schatz: das über das Judentum sind. Die meisten Mal abgesehen davon, dass nicht nur die Gedächtnis der jüdischen Gemeinden. Es haben von unserem heutigen jüdischen Synagogen brannten, ist ein Faktum verwahrt – wie sein Leiter, Herr Tamari, Leben und unseren Gemeinden keine selbst vielen Menschen neu, die über das es einmal ausgedrückt hat – die „jüdische Vorstellung. Mangelndes Wissen über Jahr 1938 mehr wissen als der Durch- Existenz im Nachkriegsdeutschland“. Das eine bestimmte Gruppe von Menschen, schnitt: 1938 wurden praktisch alle jüdi- Zentralarchiv ist gleichermaßen ein Ort vor allem über eine Minderheit, führt schen Archive in Deutschland von der der Selbstvergewisserung wie der Bildung. jedoch fast immer zu Vorurteilen. Dieses Gestapo beschlagnahmt. Das gilt für Eine gefestigte jüdische Identität bildet Phänomen mit all seinen schreck lichen Archive einzelner Gemeinden ebenso wie sich nur, wenn man seine Geschichte Folgen zieht sich wie ein roter Faden Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021 7
durch die deutsch-jüdische Geschichte. innenministerium, wofür ich Ihnen, sehr auch der Umgang mit Schriftstücken Auch heute noch gilt: Selbst wer persön- geehrte Frau Staatssekretärin, stellver- durch Erben ein Problem. Die Erben lich noch nie einen Juden getroffen hat, tretend herzlich danke! Friedrich Schillers sollen angeblich seine wer sich für das Judentum eigentlich gar Erwähnen möchte ich darüber hinaus raren Manuskripte zerschnitten haben, nicht interessiert, kennt antisemitische den Präsidenten des Bundesarchivs, Prof. um sie an möglichst viele Verehrer zu ver- Vorurteile. Sie werden von Generation zu Hollmann, und den Präsidenten des teilen. Generation weitergegeben. Das soll sich Landesarchivs Baden-Württemberg, Prof. Wertvolle Schriften, wichtige Quellen so unter anderem durch das Festjahr „1700 Maier. Beide Archive haben ihr großes aufzubewahren, dass damit noch nach Jahre“ ändern. Mit rund 1.500 Veranstal- Knowhow zur Verfügung gestellt, um das Hunderten von Jahren gearbeitet werden tungen sollen die Menschen bis ins nächste Zentralarchiv zu professionalisieren. kann – das ist die Kunst der Archivare Jahr hinein mit der jüdischen Religion Und vor allem Ihnen, lieber Herr Tamari, und ihr Verdienst. Von dem, was bewahrt und Kultur vertraut gemacht werden. gilt mein Dank! Unter Ihrer Leitung wur- wurde und zugänglich ist, hängt unser Doch wir brauchen auch Orte, an denen den die Bestände enorm erweitert, ein Bild, unsere Deutung der Vergangenheit nachhaltig dieses Wissen bewahrt und Mitarbeiterstab aufgebaut und eine IT- ab. zur Verfügung gestellt wird. Orte wie das Abteilung sowie eine Bibliothek begrün- Als sich nach 1990 endlich Archive in der Zentralarchiv. An dieser Stelle möchte ich det. Und ich weiß, dass Sie sich nicht ehemaligen Sowjetunion für die inter- Peter Honigmann danken und ihm aus scheuen, im Zweifelsfall selbst in einen nationale Forschung öffneten, fand sich der Ferne meine Grüße übermitteln! Keller zu steigen und dann Akten in Ihr manches Puzzleteil, um ein bis dahin 1987 gründete der Zentralrat der Juden Auto zu laden, um sie nach Heidelberg zu lückenhaftes Bild endlich zu vervollstän- das Zentralarchiv in Heidelberg. Erster bringen. Sie sind unermüdlich mit den digen. Auch Teile des „Gesamtarchivs der Leiter war der ehemalige Präsident der Gemeinden in Kontakt. Denn unsere Ge- deutschen Juden“ fanden sich in einem Landesarchivdirektion in Stuttgart, Pro- meinden sind autonom, und leider haben Moskauer Sonderarchiv, von dessen Exis- fessor Eberhard Gönner. Ihm folgte 1991 bisher nicht alle erkannt, warum es nicht tenz die westliche Welt erst 1990 erfuhr. Peter Honigmann, der heute aus gesund- nur sinnvoll, sondern auch immens wich- Ich bin sehr glücklich, dass wir für die heitlichen Gründen leider nicht hier sein tig ist, ihre Dokumente hier in Heidelberg Bestände des Zentralarchivs jetzt eine kann. aufbereiten und verwahren zu lassen. adäquate Unterbringung gefunden haben Um die Geschichte des jüdischen Lebens Archive speichern Vergangenes für die und mit dem Ausbau des Archivs so gut im Nachkriegsdeutschland noch besser Zukunft. Doch nach Schätzungen von Ex- vorankommen. Damit verbindet sich mei- als bisher für die Forschung und für Inte- perten landen nur fünf Prozent der Doku- ne Hoffnung, dass auch das Zentralarchiv ressierte zugänglich zu machen, ist der- mente, die eine Epoche hervorbringt, in dazu beiträgt, das Wissen über das jüdi- zeit die Digitalisierung der Bestände in Archiven. Manches landet auch in Auk- sche Leben zu erhöhen und damit letzt- vollem Gange. Wir erhalten dabei groß- tionshäusern und später in verschlosse- lich den Zusammenhalt in unserer Gesell- zügige Unterstützung durch das Bundes- nen Privatsammlungen. Manchmal ist schaft zu stärken. Kulturpolitikpreis für Schuster BERLIN. Anfang Oktober ehrte der Deut- Die Auszeichnung würdigt das außer- dentschaft von Dr. Josef Schuster im Zen- sche Kulturrat in Berlin den Präsidenten ordentliche kulturelle wie kultur- und tralrat der Juden auszeichnet. Darüber des Zentralrats der Juden in Deutschland, bildungspolitische Engagement und die hinaus wird insbesondere durch das Fest- Dr. Josef Schuster, mit dem ersten Deut- stete Dialogbereitschaft mit anderen ge- jahr „1700 Jahre jüdisches Leben in schen Kulturpolitikpreis. sellschaftlichen Gruppen, die die Präsi- Deutschland“ ein deutlicher Akzent auf die Vielfältigkeit des gegenwärtigen jüdi- schen Lebens in Deutschland gesetzt. Zur Preisverleihung in der Berliner Staats- bibliothek erklärte die Präsidentin des Deutschen Kulturrates, Prof. Dr. Susanne Keuchel: „Differenz ist ein wichtiges Ele- ment, unsere Einzigartigkeit in Vielfalt er- fahrbar zu machen, kulturelle Haltungen und Werte zu entwickeln. Diese Vielfalt erlebbar zu machen, in dem die eigenen Rituale anderen offen zugänglich ge- macht werden und zugleich mit dieser Offenheit auch Offenheit zu zeigen für alternative Rituale und Differenz, ist der Kitt für unsere Gesellschaft und Grund- lage gesellschaftlichen Zusammenhalts. Hierzu, sehr geehrter Herr Dr. Schuster, haben Sie einen wesentlichen Beitrag ge- leistet.“ Die Laudatio auf Dr. Josef Schuster hielt die Kulturstaatsministerin Prof. Monika Grütters: „Zwar sind Sie kein Kardiologe, Von links: Kulturstaatsministerin Prof. Monika Grütters MdB, Zentralratspräsident Dr. lieber Herr Schuster, zwar haben Sie sich Josef Schuster, Kulturratspräsidentin Prof. Dr. Susanne Keuchel. in Ihrer internistischen Praxis mehr mit Foto: © Deutscher Kulturrat/Jule Roehr Magen und Darm als mit dem Herzen be- 8 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
schäftigt. Doch im Herzen der Demo- kratie, im demokratischen Diskurs, in der Rachel Salamander Konfrontation zwischen unterschiedlichen Ende August hat die Münchner Literatur- Lebensweisen und Weltanschauungen, wissenschaftlerin Rachel Salamander den entfaltet Ihr Engagement wohltuende, ja renommierten Heine-Preis der Stadt Düs- heilende Kräfte. Heilende Kräfte, damit seldorf erhalten. Die Laudatio im Schau- meine ich z. B., dass Sie dem Gift des Anti- spielhaus hat Bundespräsident Frank-Wal- semitismus die Medizin der Aufklärung ter Steinmeier gehalten. entgegensetzen: im Kultur- und Bildungs- Der Heine-Preis zählt zu den bedeutend- angebot des Zentralrats, aber auch in sten Literatur- und Persönlichkeitspreisen Ihren Reden und Gastbeiträgen.“ in Deutschland und wird seit 1972 verlie- Der Preisträger des ersten Deutschen Kul- hen; er ist mit 50.000 Euro dotiert. Die turpolitikpreises ging in seiner Dankes- Auszeichnung wird durch die vom Rat rede unter anderem auf die Bedeutung der Stadt Düsseldorf eingesetzte Jury „an der Erinnerungskultur ein: „Eine leben- Persönlichkeiten verliehen, die durch ihr dige Erinnerungskultur und, was mir geistiges Schaffen unter anderem den noch wichtiger ist, ein gutes Zusammen- sozialen und politischen Fortschritt för- leben von Juden und Nicht-Juden wird dern, der Völkerverständigung dienen uns nur gelingen, wenn Wissen über die oder die Erkenntnis von der Zusammen- deutsche Geschichte und über das gegen- gehörigkeit aller Menschen verbreiten“. wärtige jüdische Leben auch bei Men- Die Jury begründete ihre Entscheidung schen ohne akademische Bildung vorhan- Das laufende Festjahr „1700 Jahre jüdi- für Rachel Salamander folgendermaßen: den ist. Und zwar in jeder Generation.“ sches Leben in Deutschland“ zeigt diesen „Die Literaturwissenschaftlerin und Pub- bere. Reichtum. lizistin hat couragiert maßgeblich zum In diesem Heft werden Juden gefragt, Wiederaufbau des jüdischen intellektuel- bpb:magazin was ihre Identität ausmacht und Marina Weisband spricht über ihre Migrationsge- len Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland beigetragen. Als Unter- Wie sieht jüdisches Leben im Jahr 2021 schichte als Kontingentflüchtling. Das Ma- nehmerin holte sie mit ihren Literatur- in Deutschland aus? Im 20. Magazin der gazin stellt jüdisches Leben in Deutsch- handlungen all die jüdischen Autorinnen Bundeszentrale für politische Bildung land in Zahlen dar und redet Tacheles und Autoren, deren Bücher einst ver- (bpb) geht es um jüdische Identität, die über jiddische Begriffe im Deutschen. Wie brannt worden waren, in den Kanon deutsche Erinnerungskultur zum Holo- moderner Antisemitismus aussieht, erklärt deutscher Literatur zurück. In Zeitungen caust, modernen Antisemitismus und wie der Antisemitismusbeauftragte des Landes und Zeitschriften diskutiert sie öffent- man gegen ihn vorgeht. Baden-Württemberg Michael Blume. „Das lichkeitswirksam über die Bedeutung von Als Bürger in unserer Demokratie ganz Heft wirft auch Schlaglichter darauf, wie Literatur und setzt sich ganz im Sinne selbstverständlich sichtbar sein: dieser vielseitig Juden derzeit leben, arbeiten, Heinrich Heines für Völkerverständigung Wunsch verbindet 200.000 Juden in glauben“, schreibt bpb-Präsident Thomas und gegen Antisemitismus ein.“ Deutschland. Jüdisches Leben in Deutsch- Krüger im Vorwort. Diese Diversität jüdi- Die Laudatio des Bundespräsidenten und land findet heute nicht nur in Synagogen schen Lebens in Deutschland sei ein Ge- Rachel Salamanders Rede: „Heine und statt, sondern auch in Schulen und Kü- schenk, das keineswegs selbstverständlich der deutsche Donner“ hat jetzt die Edition chen, auf Bühnen und Kundgebungen. sei. www.bpb.de. Suhrkamp in einem Sonderdruck heraus- gegeben. Kulturministerin Monika Grütters BERLIN. Die Staatsministerin für Kultur hin Hass, Hetze, Rassismus und Frem- und Medien, Monika Grütters, hat Mitte denfeindlichkeit führen können. Wir wer- November das ehemalige Konzentrations- den die Millionen Jüdinnen, Juden und und Vernichtungslager Auschwitz besucht. alle anderen Menschen niemals verges- Sie hat sowohl in der Gedenkstätte des sen, die dem Rassenwahn der Nazis zum Stammlagers Auschwitz als auch im ehe- Opfer fielen. maligen Außenlager Auschwitz-Birkenau der Millionen Menschen gedacht, die dort Aus den Gräueltaten der Nationalsozialis- und an vielen anderen Orten in Europa ten erwächst eine große Verantwortung von den Nazis ermordet wurden. Außer- für uns, jetzt und für alle Zeit. Die Aus- dem hat Grütters in der Internationalen einandersetzung mit dem Holocaust ist Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/ und bleibt für mich der zentrale Orien- Auschwitz Gespräche mit den dort Ver- tierungspunkt, von dem ausgehend wir antwortlichen und jungen Gästen geführt. unsere eigene Geschichte betrachten. Deshalb müssen wir uns aktuellen Ten- Dazu erklärte die Ministerin: „Das Kon- denzen, die Menschheitsverbrechen der zentrations- und Vernichtungslager Ausch- NS-Zeit zu relativieren, energisch entge- witz war ein von Deutschen betriebenes genstellen. Das Eintreten gegen Anti- Vernichtungslager. Es ist weltweit das semitismus und Diskriminierungen ist Symbol für die unfassbaren Verbrechen, nicht nur ein staatliches Handlungsprin- die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg zip, sondern eine moralische Pflicht jedes begangen wurden. Auschwitz zeigt, wo- Einzelnen von uns.“ Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021 9
Jüdisches Museum Berlin BERLIN Bis zum 13. März zeigt das Jü- leben. Dabei hinterfragt er stereotype Bil- unveränderlichen Identität begegnen und dische Museum Berlin erstmals Frédéric der und Vorstellungen, um neue Pers- einer davon in ein Bild gefasst wird. Wir Brenners neuen fotografischen Essay pektiven zu eröffnen, auf Menschen und müssen uns trauen, unsere innere Man- ZERHEILT. „Das Jüdische Museum hat Fragen, die sich um die jüdisch-deutsche nigfaltigkeit – die vielen Fremden in uns 2018 begonnen, die Arbeit zu erwerben“, Geschichte drehen. – zu entdecken, ihr zu begegnen und sie erläutert Museumsdirektorin Hetty Berg. zu zeigen und dabei Verfremdung zu- „Dank der Unterstützung durch die Freun- Theresia Ziehe, Kuratorin für Fotografie zulassen und anzunehmen statt an Fik- de des Jüdischen Museums Berlin konn- am Jüdischen Museum, unterstreicht: tionen festzuhalten, die wir entwickelt ten wir unsere Fotografische Sammlung „Brenner zielt mit seinem fotografischen haben, um die unerträgliche, dissonante, um diese tiefgründige, vielschichtige und Essay nicht auf eine erschöpfende Doku- sich ständig verändernde Wirklichkeit unabgeschlossene Auseinandersetzung mentation des Status quo jüdischen Le- innen und außen zu überbrücken, die tat- mit dem Jüdischsein in dem Berlin von bens heute in Deutschland ab. Seine sächlich wahre Nähe und Ver trautheit heute erweitern, die jegliche Festschrei- Bilder bieten vielmehr fragmentarische verhindern. Wir müssen uns der Unsicher- bung von Identität vermeiden will. Zu- Einblicke in das Leben in Berlin voller heit und der Unmöglichkeit des Verste- gleich ist die Ausstellung ein Beitrag zum Paradoxien, Dissonanzen, Leerstellen und hens stellen.“ Themenjahr – 1700 Jahre jüdisches Leben widerstreitender Narrative zwischen Ver- in Deutschland. Denn das Museum will gangenheitsbewältigung und dem Wunsch Frédéric Brenner ist bekannt für seine die Vielfalt jüdischen Lebens und jüdi- nach Erlösung. Dieser komplexe Blick, fotografische Erforschung von Sehnsucht, scher Perspektiven zeigen.“ der Vergangenheit und Zukunft mit dem Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein. Heute verbindet, lädt die Besucher ein, Sein Werk Diaspora, Homelands in Exile Mit seiner Kamera nimmt der interna- sich immer wieder aufs Neue mit den ist Resultat einer 25-jährigen Recherche tional renommierte Fotograf Frédéric Bildern auseinanderzusetzen.“ Sie zeigen in über 40 Ländern, um ein visuelles Ge- Brenner seit über 40 Jahren die vielfälti- mal vertraut scheinende, mal bizarre, dächtnis jüdischer Menschen am Ende gen Formen jüdischen Lebens in der Dia- mal verstörende Impressionen von Ort- des 20. Jahrhunderts zu schaffen. Seine spora und dessen Repräsentationen in losigkeit und Entfremdung, die weit über letzte Publikation ist An Archeology of den Blick. In dem neuen fotografischen die jüdische Geschichte oder die Ge- Fear and Desire (2014). Er lebt und arbei- Essay ZERHEILT, entstanden zwischen schichte Berlins hinausweisen. tet in Berlin und Jerusalem. 2016 und 2019, betrachtet er Berlin als Bühne verschiedener Inszenierungen des Frédéric Brenner selbst betont: „Ein Por- Der Fotoessay mit einer Einleitung von Jüdischen und porträtiert Orte und In- trät ist etwas sehr Intimes. Der Fotogra- Frédéric Brenner und einem Text von dividuen – Neuankömmlinge, Alteinge- fierende und der oder die Fotografierte Elad Lapidot ist auch im Hatje Cantz Ver- sessene, Konvertiten, Zuwanderer und müssen sich von der Illusion verabschie- lag als Buch und als Katalog zur Ausstel- andere, die sich in Berlin niedergelassen den, dass sich hier einzelne Menschen lung erschienen, herausgegeben von Oren haben oder auch nur vorübergehend hier mit einem klar definierten Selbst, einer Myers. www.jmberlin.de. Aus dem fotografischen Essay ZERHEILT von Frédéric Brenner, JMB, erworben mit Unterstützung der Freunde des Jüdischen Museums Berlin. 10 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
Unser Mut FRANKFURT Noch bis zum 18. Januar sche Mandatsgebiet Palästina oder in die ranten aus Europa vorbereitet und ziehen zeigt das Jüdische Museum Frankfurt USA. eine Lehre aus dem Massenmord an den die Wechselausstellung „Unser Mut, Andere gehen aus Überzeugung in die Juden. Im selben Jahr ruft David Ben Juden in Europa 1945–48“. Von Biały- sowjetische Zone, wie etwa nach Ost- Gurion den unabhängigen Staat Israel stok über Frankfurt nach Amsterdam, Berlin, um sich am Aufbau eines sozialis- aus. Mit der Auflösung der Flüchtlings- von Berlin über Budapest nach Bari: Es tischen Staates zu beteiligen. In Budapest lager und der Gründung Israels verlassen ist die erste Ausstellung, die die jüdi- und Amsterdam können die Überleben- die meisten Juden Europa. sche Nachkriegserfahrung von Flucht, den auf Strukturen und Einrichtungen Zur Ausstellung ist im De Gruyter Verlag Vertreibung, Selbstvergewisserung und der Vorkriegsgemeinden zurückgreifen ein reich bebilderter Katalog erschienen. Wiederaufbau in einer gesamteuropäi- und diese wieder aufbauen. Viele von Er gibt die Stadt- und Personenporträts schen Perspektive darstellt. ihnen lassen sich hier dauerhaft nie- der Ausstellung detailliert wieder und der. Während es in Białystok nicht ge- umfasst zehn wissenschaftliche Essays Die Ausstellung basiert auf einem mehr- lingt, eine jüdische Gemeinde aufrecht zu namhafter Autoren. Er baut auf ausge- jährigen Forschungsprojekt zur Lebens- erhalten, entwickelt sich die niederschle- wählten Vorträgen der internationalen situation von Juden an ausgewählten sische Gemeinde Dzierżoniów für wenige Konferenz „Building from Ashes. Jews in Orten in Mitteleuropa, das das Jüdische Jahre zu einem teil-autonomen Gebiet Postwar Europe (1945–1950)“ auf, die Museum gemeinsam mit dem Leibniz-In- der Hoffnung auf ein florierendes jüdi- das Jüdische Museum im Dezember 2017 stitut für jüdische Geschichte und Kul- sches Leben nach der Shoa. gemeinsam mit dem Leibniz-Institut für tur durchgeführt hat. Aufbauend auf die- Die Ausstellung mündet in einem Raum, jüdische Geschichte und Kultur, dem Fritz- sen Forschungsergebnissen unterstreicht der das Jahr 1948 als Wendepunkt in der Bauer-Institut und der Goethe-Universität die Ausstellung, dass jüdische Überleben- Nachkriegszeit thematisiert. Die General- Frankfurt am Main veranstaltete. de nicht etwa eine homogene Gruppe von versammlung der UNO beschließt sowohl Die Ausstellung wurde von Dr. Kata Bo- passiven Opfern bildeten, sondern ihr Le- die Teilung des britischen Mandatsgebiets hus und Erik Riedel kuratiert, Dr. Werner ben in der unmittelbaren Nachkriegszeit Palästina in ein von Juden und ein von Hanak hatte die kuratorische Projekt- in großem Maße selbst organisierten und Arabern verwaltetes Gebiet wie auch die leitung inne. Wissenschaftlich wurde das aktiv gestalteten. Der Ausstellungstitel Grundsätze eines neuen, internationalen Team von Prof. Dr. Atina Grossmann, „Unser Mut“ unterstreicht diesen Gestal- Rechtsverständnisses: das Übereinkom- Cooper Union, New York City, und Dr. Eli- tungswillen; er bezieht sich auf ein jiddi- men über die Verhütung und Bestrafung sabeth Gallas, Leibniz-Institut – Simon sches Partisanenlied aus dem Jahr 1943 des Völkermordes und die Allgemeine Dubnow, Leipzig, beraten. wie auch auf den Namen der ersten Zei- Erklärung der Menschenrechte. Beide tung im DP-Camp Zeilsheim in Frankfurt. Grundsätze werden von jüdischen Emig- www.juedischesmuseum.de Mit den Jahren 1945–48 sind Erfahrun- gen verbunden, die die jüdische Gegen- wart bis heute prägen: Jüdische Soldaten in den alliierten Armeen befreien als Sie- ger die Überlebenden aus Verstecken und Konzentrations- und Vernichtungslagern. Emigranten, Überlebende und Soldaten versuchen, den Massenmord zu doku- mentieren. Unter der Obhut der amerika- nischen Militärverwaltung entstehen La- ger für jüdische Geflüchtete, die wenig später wieder verschwinden. Jüdische Gemeinden werden wieder aufgebaut, Traditionen aus der Vorkriegszeit auf- gegriffen. Es sind Jahre der Flucht, der Selbstvergewisserung wie auch der Suche nach einem Zuhause und nach Gerechtig- keit. Besonders vielfältig und zugleich intensiv ist die Kunst- und Kulturproduk- tion in jener Zeit. Die Ausstellung „Unser Mut“ zeichnet die vielfältigen Erfahrungen von Juden in der unmittelbaren Nachkriegszeit in per- sönlichen Zeugnissen sowie an sieben ausgewählten Städte und Gemeinden nach: In Osteuropa finden die Überleben- den zumeist keine Verwandten, sondern feindlich gesinnte Nachbarn vor, die sich an ihrem Hab und Gut bereichert haben. Viele fliehen weiter gen Westen in die Displaced Persons Camps der amerika- nischen Militärverwaltung wie etwa in Frankfurt-Zeilsheim und von dort später Ariel Schlesingers Skultpur „Untitled“ auf dem Vorplatz des neuen Jüdischen Museums über Transitstädte wie Bari in das briti- Frankfurt. Foto: Norbert Miguletz © Jüdisches Museum Frankfurt Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021 11
Mehr als Steine Von Benno Reicher WÜRZBURG Anfang November eröff- nete die bayerische Kulturstaatssekretä- rin Anna Stolz in der Würzburger Resi- denz die Ausstellung „Mehr als Steine. Synagogen in Unterfranken“. Die Prä- sentation des Würzburger Staatsarchivs gemeinsam mit dem Projekt „Synagogen- Gedenkband Bayern“ will jüdisches Leben und Kultur in Unterfranken zeigen. Eine wesentliche Bedeutung kommt dabei den Synagogen zu, die nun gewürdigt wer- den, ebenso wie das nun abgeschlossene Publikationsprojekt der Synagogen-Ge- denkbände (s.a. dazu unseren weiteren Beitrag). Synagogen seien mehr als bloße Bauwerke, erklärte die Staatssekretärin zur Eröffnung, „sie sind Zeugen der jüdi- schen Kultur und Ausdruck des jüdischen Glaubens überall in der Welt.“ Zum reichen jüdischen Erbe in Unter- Die gesamte fünfbändige Buchreihe über die bayerischen Synagogen. © Kunstverlag Josef Fink franken gehört auch die Würzburger Ge- meinde, in den Quellen seit 1147 belegt. den Archiven zentral“, sagte die General- Synagogen-Bücher, erläutert dazu: „Viele Sie war ein Ort großer jüdischer Gelehr- direktorin der Staatlichen Archive Bayerns, Schriftstücke wurden für die Synagogen- samkeit mit überregional bedeutenden Dr. Margit Ksoll-Marcon. „Das Staatsarchiv Gedenkbände erstmals von der Forschung Rabbinern, einer Talmudhochschule und Würzburg verwahrt einen reichen Quel- rezipiert. Die Ausstellung stellt die Baufor- mindestens zwei Synagogen. Der vor lenschatz an Bauakten, Bauplänen und men von Synagogen in Unterfranken vor 1803/1806 in zahlreiche Herrschaften Fotografien, auf den im Rahmen der lang- und ihre Entwicklung von unscheinbaren zersplitterte spätere Regierungsbezirk jährigen Forschungsarbeit an den Synago- Hinterhof-Synagogen zu repräsentativen Unterfranken war das am dichtesten mit gen-Gedenkbänden auch intensiv zurück- Bauwerken, deren Türme und Kuppeln jüdischen Gemeinden besiedelte Gebiet gegriffen wurde.“ damals die Stadtbilder prägten.“ in Bayern. 1930 gab es im heutigen Un- Die hauptsächlich aus den Beständen des Die Ausstellung ist ein weiterer Höhe- terfranken 112 Orte mit Synagogen. Nur Staatsarchivs Würzburg stammenden punkt im bayerischen Kalender zum Fest- wenige davon sind heute noch im Orts- Exponate wurden ergänzt durch Leih- jahr 2021. Dazu ergänzt der Beauftragte bild erkennbar. Nach den Zerstörungen gaben und Reproduktionen aus dem Baye- für jüdisches Leben und gegen Antisemi- der Nationalsozialisten wurden viele Ge- rischen Hauptstaatsarchiv, dem Museum tismus, Dr. Ludwig Spaenle: „Mit dem bäude abgerissen oder zweckentfremdet. für Franken und aus zahlreichen anderen Festjahr richten wir die Aufmerksamkeit „Wo Baudenkmäler fehlen oder nur mehr unterfränkischen Archiven. auf das jahrhundertelange Zusammen- in Teilen erhalten sind, ist der Rückgriff Dr. Cornelia Berger-Dittscheid, Kuratorin leben von Christen und Juden in Bayern.“ auf schriftliche und bildliche Quellen in der Ausstellung und auch Mitautorin der Die Ausstellung zeige dies beispielhaft an der unterfränkischen Geschichte jüdischer Gotteshäuser und schärft damit unsere Aufmerksamkeit für Spuren jüdischen Le- bens, aber auch für jüdisches Leben heute in der Mitte unserer Gesellschaft. Die Ausstellung „Mehr als Steine. Syna- gogen in Unterfranken“ ist bis zum 28. Ja- nuar 2022 im Staatsarchiv Würzburg, Residenzplatz 2, Residenz-Nordflügel, zu sehen. Der Eintritt ist frei. Im Anschluss sind weitere Ausstellungsstationen in Franken geplant. Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag 8.00–16.00 Uhr, Freitag 8.00–13.00 Uhr, geschlossen am 24. 12. 2021, 31. 12. 2021 und 6./7. 1. 2022. Führungen für Gruppen (max. 20 Personen) werden zu festen Ter- minen angeboten. Weitere Informationen Eröffnung der Ausstellung „Mehr als Steine“ in der Würzburger Residenz, von links: Be- zirkstagspräsident von Unterfranken Erwin Dotzelt, Prof. Dr. Wolfgang Kraus, Mitheraus- unter Tel.: 0931 35529-34. Kleiner Aus- geber Synagogen-Gedenkbände, Dr. Ludwig Spaenle, bayerischer Antisemitismus-Beauf- stellungskatalog Nr. 68: Mehr als Steine. tragter, Dr. Cornelia Berger-Dittscheid, Mitarbeiterin Synagogen-Bände und Kuratorin der Synagogen in Unterfranken, Konzeption Ausstellung, Staatssekretärin Anna Stolz, Dr. Margit Ksoll-Marcon, Generaldirektorin und Bearbeitung Cornelia Berger-Ditt- Staatliche Archive Bayerns, Dr. Alexander Wolz, Leiter Staatsarchiv Würzburg und Prof. scheid, 124 Seiten, München 2021, Staat- Hans-Christoph Dittscheid, Mitherausgeber. Foto © Ursula Schedl/Staatsarchiv Würzburg liche Archive Bayerns. 12 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
Synagogen-Gedenkband Bayern Die Artikel beschreiben die jüdischen den in Bayern initiierten Gedenktafeln Gemeindestrukturen, Synagogen, Ritual- der 1980er-Jahre weit hinausgehen und bäder, Schulen und Friedhöfe, erzählen zu einer intensiven Auseinandersetzung von Rabbinern, jüdischen Lehrern und mit der jüdischen Geschichte führen, z.B. Vorsängern, geben Einblicke in das religi- in Form von Stolpersteinen. öse Leben der jüdischen Frauen, Männer Diese Bücher „erfüllen den wissenschaft- und Kinder, aber auch in das Zusammen- lichen Anspruch, neue Forschungsergeb- leben von Nichtjuden und Juden auf dem nisse zum jüdischen Leben in Bayern zu- Land und in den Städten. sammenzutragen“, schreibt Zentralrats- Auch die Nachkriegszeit ab 1945 bis heute präsident Schuster in seinem Geleitwort. wird dokumentiert: die kurzfristige Ent- „Daher stellen die jetzt abgeschlossenen stehung von DP-Gemeinschaften und die Bände einen großen Schatz dar.“ zaghaften Versuche der Überlebenden, jüdisches Leben in Deutschland wieder Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/2 aufzubauen. Die daraus hervorgegange- in zwei Teilbänden, herausgegeben von nen, heute in Bayern aktiven jüdischen Wolfgang Kraus, Hans-Christoph Dittscheid, Gemeinden werden vorgestellt und ihre Gury Schneider-Ludorff, bearbeitet von Strukturen beschrieben. Darüber hinaus Cornelia Berger-Dittscheid, Gerhard Gro- unterziehen die Artikel auch den Umgang nauer, Hans-Christof Haas, Hans Schlum- der verschiedenen Orte mit ihrer jüdi- berger und Axel Töllner, unter Mitarbeit schen Vergangenheit und den ehemali- von Hans-Christoph Dittscheid, Johannes gen jüdischen Bauwerken einer kritischen Sander und Elmar Schwinger, mit Beiträ- Prüfung. Hier lassen sich auch die tief- gen von Andreas Angerstorfer und Rotraud greifenden Veränderungen in der Ge- Ries, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg denkkultur erkennen, die inzwischen in im Allgäu, April 2021. Synagoge von Bad Kissingen. vielen Orten über die ersten vom Landes- Foto: © Stadtarchiv Bad Kissingen. verband der Israelitischen Kultusgemein- bere. Teilbände haben wir schon in früheren Heften von JÜDISCHES LEBEN IN BAY- ERN vorgestellt (Nr. 106 April 2008 und Nr. 125 September 2014). Wir nannten sie „ein historisches Schwergewicht“. In diesem Jahr hat das Buchprojekt nun ein weiteres Mal an Gewicht zugelegt. Die letzten beiden Teilbände über Unterfran- ken erschienen im Frühjahr und brachten ein höchst außergewöhnliches und be- deutendes Forschungs- und Publikations- projekt zum Abschluss. Angeregt durch den israelischen Hydro- biologen Prof. Meier Schwarz vom „Syna- gogue Memorial“ in Jerusalem, geboren 1926 in Nürnberg, startete der evangeli- sche Theologe Prof. Dr. Wolfgang Kraus mit später wechselnden Kollegen aus un- terschiedlichen Fächern, darunter auch der Kunsthistoriker Prof. Dr. Hans-Chris- toph Dittscheid, das Projekt zur Doku- mentation aller jüdischen Gemeinden und Synagogen in Bayern. Das Ausmaß dieser Aufgabe war damals wohl nicht absehbar. „In drei bis fünf Jahren sollte alles in ei- nem Band abgehandelt sein“, schreibt Prof. Kraus in seinen Presse-Informatio- nen. „Aus den drei bis fünf Jahren wur- den knapp 20 Jahre und aus dem einen Band wurden vier Teilbände bzw. fünf Bücher.“ Auf 4.000 Seiten stellen die zahl- reichen Forscher und Autoren über 200 jüdische Gemeinden in Bayern vor, da- runter allein 115 in unterfränkischen Städten und Dörfern. Synagoge von Mellrichstadt. Foto: © Staatliche Archive Bayerns Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021 13
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