JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN

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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N

36. JAHRGANG / NR. 146                                     á“ôùú äëåðç                                              29. NOVEMBER 2021

                                                                                                      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021   1
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Chanukka in Berlin.                                                                                              Foto: © F. Butzmann

                                         ST OL PE R ST E I N E M I LT E N BE RG
                                                  In der Mainstraße wohnten

                                                         NANNY HESS
              BELLA HESS                                                                             SIEGFRIED HESS
                                                     GEB. FREUDENBERGER
                JG. 1923                                                                                 JG. 1930
                                                            JG. 1896
            DEPORTIERT 1941                                                                          DEPORTIERT 1941
                                                       DEPORTIERT 1941
                 RIGA                                                                                     RIGA
                                                             RIGA
              ERMORDET                                                                                 ERMORDET
                                                      ERMORDET 24.8.1943

Unser Titelbild: Buch-Cover Megillat Chanukka von Chagi Ben Arzi. Siehe dazu auch unseren Beitrag auf Seite 5.

Bilder Rückseite: Nr. 1: Kulturpolitikpreis für Dr. Schuster, links Jutta Schuster, © Deutscher Kulturrat / Jule Roehr. Nr. 2: Die
Sulzbacher Tora wird in die Amberger Synagoge gebracht. © Petra Hartl Oberpfalz Medien. Nr. 3: Das Hochzeitspaar, siehe dazu
Seite 26, © privat. Nr. 4: Urkunde zur Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, © Bun-
desregierung Jeco Denzel. Nr. 5: Hochzeitsparty, © privat. Nr. 6: Archivleiter Dr. Ittai Joseph Tamari, © berebild. Nr. 7: Blick ins
Zentralarchiv in Heidelberg, © Zentralrat der Juden/Gregor Zielke.

2      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
EDITOR I A L

Liebe Leserinnen, liebe Leser,                                                                                          semitismus als Gefahr einen höheren
                                                                                                                        Stellenwert in der öffentlichen Debatte
der Deutsche Koordinierungsrat (DKR)                                                                                    und einige Bundesländer sind diesem
der Gesellschaften für Christlich-Jüdische                                                                              „Vorgehen“ mit ländereigenen Antisemi-
Zusammenarbeit ist die Dachorganisation                                                                                 tismus-Beauftragten gefolgt.
der örtlichen Gesellschaften. Er vergibt in                                                                             Ganz persönlich möchte ich noch anmer-
jedem Jahr zur Eröffnung der „Woche der                                                                                 ken, dass ich Frau Dr. Merkel im direkten
Brüderlichkeit“ an besonders verdiente                                                                                  Gespräch immer als sehr interessiert, als
Persönlichkeiten die Buber-Rosenzweig-                                                                                  nachfragend und zuhörend erlebt habe.
Medaille. Im vergangenen Jahr erhielt                                                                                   Und diese Wertschätzung der Bundes-
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel diese                                                                                 kanzlerin hat mich stark beeindruckt.
besondere Auszeichnung. Sie konnte aber                                                                                 Erwähnen möchte ich noch kurz, dass
wegen der Pandemie nicht übergeben                                                                                      Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
werden. Das wurde in diesem Sommer im                                                                                   vor wenigen Tagen, und leider zu spät für
kleinen Kreis im Bundeskanzleramt von                                                                                   eine angemessene redaktionelle Würdi-
den drei DKR-Präsidenten nachgeholt. Ich                                                                                gung, in New York die Leo-Baeck-Medaille
habe, und das sehr gerne, die Laudatio auf                                                                              des Leo-Baeck-Instituts erhalten hat. Zu
Frau Dr. Merkel gehalten (siehe Seite 18                                                                                dieser Auszeichnung möchte ich dem
in diesem Heft).                                                                                                        Bundespräsidenten ganz herzlich gratu-
Mir war dabei besonders wichtig, ihr Ein-                                                                               lieren.
treten für fundamentale jüdische Belange
deutlich zu machen. Da gab es im Bereich                                                                                Und ja, als Arzt möchte ich sagen: Impfen
„Religionsfreiheit“ nach einem unseligen                                                                                ist ganz wichtig. Es hilft wirklich allen
Urteil des Kölner Landgerichts im Jahre                                                                                 Menschen, die Pandemie zu beherrschen.
2012 eine ärgerliche öffentliche Debatte
über die halachisch vorgeschriebene Brit                                                                                Bleiben Sie gesund und achten Sie auf
Mila. Die Bundeskanzlerin hatte damals                     kanzlerin niemals verhandelbar.“ Ihr his-                    sich, auf Ihre Familie und auf alle Men-
unsere religiösen Bedürfnisse sofort ver-                  torisches Verantwortungsbewusstsein und                      schen in Ihrer Umgebung.
standen und sich, neben anderen, erfolg-                   ihre Solidarität mit Israel waren ebenfalls
reich dafür eingesetzt, dass der Bundes-                   zu spüren, als Bundeskanzlerin Angela                        Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und
tag kein Gesetz verabschiedet, das die                     Merkel 2012 die Ratsversammlung des                          Leser, ein frohes Fest,
Beschneidung als Körperverletzung ein-                     Zentralrats besuchte.
gestuft hätte.                                             Auch ihr Verständnis, dass der Antisemi-                           C H AG C H A N U K K A SA M E AC H
Unvergessen ist auch ihr Besuch des israe-                 tismus eine bedrohliche Gefahr für die
lischen Parlamentes. „Die historische Ver-                 Demokratie darstellt, hat überzeugt. Als                     Ihr
antwortung Deutschlands“, sagte sie dort                   wir ihr nach der Bundestagswahl 2017                                   Dr. Josef Schuster
in ihrer Rede, sei Teil der Staatsräson                    vorschlugen, einen Antisemitismus-Be-                                          Präsident
ihres Landes. „Das heißt, die Sicherheit                   auftragten zu berufen, ist sie unserem                       des Zentralrats der Juden in Deutschland und
Israels ist für mich als deutsche Bundes-                  Vorschlag gefolgt. Seitdem hat der Anti-                        des Landesverbandes der IKG in Bayern

  Chanukka 5782                                            Dokumentation                                                IMPRESSUM
  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4                 Buber-Rosenzweig-Medaille                                    JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
                                                           Laudatio von Dr. Josef Schuster                              authentisch bayerisch jüdisch
  Antiochus und der Makkabäeraufstand
  Von Yizhak Ahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5   auf Bundeskanzlerin Angela Merkel . . 18                     Redaktionsleitung: Benno Reicher,
                                                           Rede von Bundeskanzlerin Merkel                              Vorländerweg 25, 48151 Münster,
                                                                                                                        Telefon 0251-7475546
  Kultur                                                   zur Verleihung der Ehrendoktorwürde
                                                                                                                        www.bayerisch-jüdisch.de
                                                           des Israel Institut of Technlogy . . . . . 20
  Das jüdische Archiv                                                                                                   redaktion@berejournal.de
  Von Benno Reicher . . . . . . . . . . . . . . . . . 6    Bayern                                                       Wir erscheinen im April zu Pessach,
  Kulturpolitikpreis für Schuster . . . . . . 8                                                                         im September zu Rosch Haschana und
                                                           DenkOrt Deportationen –
                                                                                                                        im Dezember zu Chanukka
  Jüdisches Museum Berlin . . . . . . . . . . 10           zweite Eröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
                                                                                                                        In dieser Ausgabe mit Beiträgen von
  Jüdisches Museum Frankfurt . . . . . . . 11              Sulzbacher Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23       Rab. J. Berger, Yizhak Ahren, Angela
  Mehr als Steine                                          Synagoge Reichenbachstraße . . . . . . 24                    Genger, Daniel Hoffmann, Regina Kon,
  Von Benno Reicher . . . . . . . . . . . . . . . 12       Eine Traum-Chassene . . . . . . . . . . . . . 26             Gaby Pagener-Neu, Benno Reicher, Josef
                                                                                                                        Schuster und Priska Tschan-Wiegelmann
  Gedenkstättenarbeit sichern . . . . . . . 14             Aus den jüdischen Gemeinden                                  Herausgeber: Landsverband Israelitischer
                                                           in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28   Kultusgemeinden in Bayern
  Nachrichten aus Frankreich
                                                           Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 37               Gesamtherstellung: Druckerei Höhn,
  Elie Korchia                                                                                                          Inh. Martin Höhn, Gottlieb-Daimler-Str. 14,
  Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 15          Russischer Beitrag . . . . . . . . . . . . . 43              69514 Laudenbach

                                                                                                                                 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021   3
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
C H A N U K K A 57 8 2

                                                           CHANUKKA
                                                  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger

                                                  ten seine goldenen und silbernen Kult-       reines Olivenöl herstellen konnte. Aus
                                                  geräte. Durch das Aufstellen von grie-       Freude über den wiedereingeweihten
                                                  chischen Götzenbildern und Statuen im        Tempel ordneten die damaligen Gelehr-
                                                  Tempel verunreinigten sie ihn für den        ten an, acht Tage lang, alle Jahre wieder,
                                                  Kult der Israeliten.“ So die nüchterne       Lichter anzuzünden und die biblischen
                                                  Beschreibung des klassischen Gelehrten       Lobgesänge der Psalmen ertönen zu las-
                                                  Maimonides. Ein ähnliches Vorgehen           sen. Diese Tage wurden Channukat Ha-
                                                  hatte es im Heiligen Land seit der Unter-    misbeach, d.h. Wiedereinweihung des
                                                  werfung durch das Babylonische Reich         Altars, genannt.
                                                  von Nebukadnezar im 6. Jahrhundert vor       Die späteren Geschlechter sahen im Kampf
                                                  der Zeitrechnung nicht gegeben. Im Ge-       um die jüdische Lebensform vornehmlich
                                                  genteil, die Griechen, insbesondere Ale-     eine geistige, ideologische Anstrengung.
                                                  xander der Große, der vor mehr als 2500      Nicht die physische Kraft oder der Macht-
                                                  Jahren lebte, sind den Juden, ihrem Land     kampf hinterließen in der Erinnerung der
                                                  und ihrer Religion mit großem Respekt        Israeliten tiefe Spuren, sondern die Ge-
                                                  und gebührender Toleranz begegnet.           nugtuung, dass es gelungen war, den Rah-
                                                  Aus dieser respektvollen Begegnung           men des selbständigen jüdischen Lebens
                                                  zweier bedeutender Kulturen der Antike       im eigenen Land zu sichern. Der Kampf
                                                  erwuchsen zahlreiche große Werke. Da-        der Makkabäer wurde nicht als ein Er-
            Rabbiner Joel Berger                  her traf die Brutalität der syrischen Er-    oberungskrieg geführt, um fremde Ge-
                                                  oberer und Plünderer die Israeliten unvor-   biete zu unterwerfen, sondern nur um der
Die Christen beginnen am 24. Dezember             bereitet. Das gesamte Volk, außer einigen    jüdischen Lebensart in Freiheit huldigen
ihre Weihnachtsfeiertage, wir Juden da-           Hellenisten, kollaborierende Juden, hat      zu können.
gegen begehen Chanukka. Sowohl Chris-             schweres Leid auf sich nehmen müssen.        Die jüdische Tradition datiert die Tempel-
ten wie auch Juden feiern mit Licht,              Maimonides summiert die nachfolgenden        weihe auf den 25. Tag des jüdischen
Freude und Geschenken.                            Begebenheiten so: „Als die Unterdrückung     Monats Kislew. Bis heute beginnt in der
Wir stecken die Chanukkalichter in dem            unerträglich wurde, erbarmte sich Gott       jüdischen Welt das Fest an diesem Tag.
achtarmigen Leuchter, Chanukkija ge-               über sein Volk. Die rettende Hilfe kam       Jung und Alt, Männer und Frauen zün-
nannt, an. Diese Lichter, die wir acht            von den Söhnen der Priesterfamilie der       den beseelt nach dem Sprechen der Se-
Tage lang mit Segenssprüchen und Ge-              Haschmonäer. Sie führten den bewaffne-       genssprüche die Lichter an. Acht Tage
sängen anzünden, erinnern uns an den              ten Kampf gegen die Eindringlinge. Als       lang, an jedem Tag ein Licht mehr. Am
Kampf der Makkabäer im 2. Jahrhundert             eine Vollendung ihres Freiheitskampfes       ersten Schabbat-Tag des Chanukka-Festes
vor der Zeitrechnung. Die Söhne Matitja-          wollten sie den Tempel von Jerusalem         bildet die prophetische Schriftlesung in
hus, des alten Priesters, wie auch ihre           und den Altar wieder ihrer Bestimmung        der Synagoge einen Abschnitt aus den
Anhänger aus dem einfachen Volk, woll-            übergeben.                                   Werken des Propheten Sacharja (4:1–4).
ten ihre jüdische Lebensart, gegründet            Jedoch als sie den Tempel von den Göt-       Der Prophet verwendet hier die Form
auf den Geboten der Tora, in ihrem Hei-           zenbildern gereinigt hatten, fanden sie      einer Parabel. Der Bote des Herrn fragte
matland sichern. Gerade deswegen be-              nur ein kleines Krüglein Öl, das für einen   ihn: „Was siehst du?“ Er erwiderte: „Ich
kamen sie mit den hellenisierten Macht-           Tag gereicht hätte, um die Menora, den       sehe einen Leuchter aus reinem Gold ...
habern, die ihr Land besetzten, Schwie-           Tempelleuchter zu entzünden. Dennoch         und sieben Lampen darauf, je sieben Röh-
rigkeiten.                                        brannte das Licht acht Tage lang. So lan-    ren zu den sieben Lampen oben darauf,
Mehr als tausend Jahre danach, schil-             ge dauerte es nämlich, bis man wieder        und zwei Ölbäume daran …“ – „Was be-
derte der mittelalterliche Gelehrte und                                                        deuten diese, mein Herr?“ – Er erwiderte:
Philosoph Maimonides diese historische                                                         „Das Wort Gottes an (Gouverneur) Seru-
Epoche: „Zur Zeit des zweiten Tempels in                                                       bawel: Nicht durch Macht und nicht
Jerusalem führten die aus dem damali-                                                          durch Kraft, sondern durch meinen Geist,
gen Syrien stammenden hellenistischen                                                          – spricht der Ewige, der Herr aller Ge-
Herrscher judenfeindliche Gesetze ein.                                                         schöpfe …“
Sie verboten unter ihrer Herrschaft die                                                        Von dieser Lektüre ausgehend, wollten
Ausübung jeglicher Formen der alther-                                                          die jüdischen Gelehrten nicht den Sieg
gebrachten Gebote des jüdischen Volkes.                                                        oder den Helden in den Mittelpunkt der
Sie führten eine Herrschaft der Willkür                                                        Gedankenwelt des Chanukkafestes stel-
anstelle der Gebote der Tora ein.                                                              len, sondern vielmehr das Wunder. Siege
Sie entführten jüdische Kinder, um sie zu                                                      oder Niederlagen der Heeresführer wer-
hellenistischen Kämpfern in den Arenen                                                         den in Vergessenheit geraten, jedoch jene
zu erziehen. Sie raubten nicht nur die                                                         Lichter der Chanukkija, die acht Tage
Güter der jüdischen Einwohner, sondern                                                         lang Licht in die Dunkelheit strahlen und
schreckten auch nicht vor dem Heiligtum                                                        die Freude des Überlebens verbreiten, sie
der Israeliten in Jerusalem zurück. Sie                                                        sind unendlich tief in unserer Seele ver-
brachen in den Tempel ein und plünder-                                      © Rab. Y. Deusel   ankert.

4      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Antiochus und der Makkabäeraufstand
                                   Eine Betrachtung zu Chanukka von Yizhak Ahren

Sowohl am Purim- als auch am Chanuk-         mit: Ein gewisser Bär Frank aus Preßburg      lassen kann. So schreibt er z.B., dass die
ka-Fest wird in das zentrale Achtzehn-       hatte eine in Venedig 1548 veröffentlich-     Religionsverfolgung, die den Makkabäer-
gebet der Abschnitt „Al Hanissim“ (Für       te Übersetzung von Megillat Antiochus         Aufstand auslöste, im 23. Jahr der Herr-
die Wunder) eingeschaltet. Nach einem        ins Deutsche gesehen und nicht ahnend,        schaft von Antiochus begann; in Wirklich-
gemeinsamen Einleitungssatz wird das         dass eine hebräische Fassung dieses Tex-      keit regierte der seleukidische König nur
Wunder von Purim beziehungsweise             tes längst vorliegt, eine weitere Überset-    elf Jahre (175 bis 164). Ferner sind einige
Chanukka kurz und prägnant beschrie-         zung in der Sprache der Heiligen Schrift      seiner Angaben unvereinbar mit den Be-
ben. Wer etwas mehr über die Purim-          angefertigt und 1806 publiziert.              richten im Ersten Makkabäer-Buch und im
Geschichte wissen möchte, der kann die       Im seinerzeit in Deutschland populären        Zweiten Makkabäer-Buch. Die Megillat
Megillat Esther studieren, die an Purim      Siddur „Avodat Israel“ (Rödelheim 1868,       Antiochus will Wundergeschichten und
sogar zweimal in der Synagoge verlesen       nachgedruckt in Tel Aviv 1957) sind die       Halachot von Chanukka bekanntmachen,
wird. Ein Buch, das die Chanukka-            74 hebräischen Verse von Megillat An-         diese Rolle sollte nicht als eine historische
Geschichte erzählt, findet man aber im       tiochus abgedruckt. Der Abdruck dieses        Quelle betrachtet werden.
Tenach nicht.                                Textes war dem Herausgeber wichtig,           An dieser Stelle möchte ich notieren, was
Um die spürbare Lücke zu schließen, hat      denn früher war es in manchen Gemein-         mir beim wiederholten Lesen von Megil-
vor langer Zeit ein frommer Mann die         den üblich, an Chanukka Megillat Antio-       lat Antiochus aufgefallen ist. An mehre-
Megillat Antiochus (Antiochus Rolle) ver-    chus in der Synagoge vorzutragen. Frei-       ren Stellen hat mich der Text an die
fasst, und zwar in aramäischer Sprache.      lich gab es unterschiedliche Minhagim:        Megillat Esther erinnert; der Autor hat
Den Namen des Autors kennen wir nicht        in einem Ort las man die Antiochus-Rolle      ungewöhnliche Formulierungen benutzt,
und wir wissen nicht einmal, in welchem      nach der Haftara am Schabbat-Vormittag,       die in der anderen Rolle stehen. Nur zwei
Jahrhundert er gelebt hat. Die Forscher      anderswo nach dem Mincha-Gebet am             Beispiele seien hier angeführt: Antiochus
sind sich nicht einig, ob die Megillat       Schabbat von Chanukka.                        greift offensichtlich ein Argument von
Antiochus schon im dritten oder erst im      Unumstritten ist die Tatsache, dass es        Haman auf: „Des Königs Gesetze voll-
achten Jahrhundert der üblichen Zeit-        keine halachische Verpflichtung gibt, die     bringen sie (die Juden) nicht, und es
rechnung verfasst wurde.                     Antiochus-Rolle vorzutragen – dies ge-        frommt dem König nicht, sie zu tolerie-
Die Megillat Antiochus war in gewisser       schieht freiwillig zur Bekanntmachung         ren“ (Esther 3,8). In der Megillat Antio-
Weise jahrhundertelang ein Bestseller,       des Wunders. Anzumerken ist, dass in          chus wird eine Belohnung in Aussicht
der ins Hebräische und in andere Spra-       unserer Zeit die Megillat Antiochus nur       gestellt, die in der Megillat Esther als
chen übersetzt wurde; ins Deutsche sogar     noch in sehr wenigen Synagogen gelesen        Ehrung vorgeschlagen wurde: „Man brin-
mehrfach. Hugo Herrmanns Übertragung         wird. Daher ist diese Rolle heute in vielen   ge das Königsgewand … und das Pferd,
ins Deutsche findet man in der immer         jüdischen Kreisen kaum bekannt.               auf dem der König reitet“ (Esther 6,8).
noch lesenswerten Anthologie „Maoz           Forscher haben festgestellt, dass der Autor   Sind diese Parallelen nur Zufall? Das hal-
Tzur. Ein Chanukka-Buch“ (Berlin 1918).      von Megillat Antiochus kein Historiker        te ich für sehr unwahrscheinlich. Indem
Eine Kuriosität teilte Seligmann Isaac Bär   war, auf dessen Mitteilungen man sich ver-    der Verfasser von der Megillat Antiochus
                                                                                           mehrere Sprachwendungen verwendet,
                                                                                           die in einer bekannten biblischen Rolle
                                                                                           vorkommen, will er aufmerksame Leser
                                                                                           zum Nachdenken bringen. Das Purim-
                                                                                           Wunder ist anders geartet als das Cha-
                                                                                           nukka-Wunder – aber doch gibt es ge-
                                                                                           meinsame Züge.
                                                                                           Eingangs habe ich bemerkt, dass die
                                                                                           Megillat Antiochus geschrieben wurde,
                                                                                           um eine verspürte Lücke zu schließen.
                                                                                           Nun, da heutzutage an Chanukka keine
                                                                                           die Ereignisse schildernde Rolle in der
                                                                                           Synagoge vorgelesen wird, taucht das
                                                                                           alte Problem wieder auf: Wie kann je-
                                                                                           mand sein Wissen über den Makkabäer-
                                                                                           Aufstand vertiefen?
                                                                                           Vor einigen Jahren hat der israelische
                                                                                           Autor Chagi Ben Arzi ein instruktives
                                                                                           Büchlein für das breite Publikum und für
                                                                                           den Schulunterricht veröffentlicht – „Me-
                                                                                           gillat Chanukka“ (Jerusalem 2006) –, das
                                                                                           wissenschaftlich fundiert ist und aus-
                                                                                           drücklich die Funktion von Megillat An-
                                                                                           tiochus übernehmen soll. Dieses schön
                                                                                           aufgemachte hebräische Lehrbuch ent-
                                                                                           hält acht Kapitel, sodass der interessierte
                                                                                           Leser an jedem der acht Chanukka-Tage
                                                                                           Neues über die Entwicklung des Makka-
Chanukka-Traditionen Lattkes und Dreidel-Spiel.                             © Mare-Bild    bäer-Aufstands erfahren kann.

                                                                                                  Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021   5
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
K U LT U R

                                                    Das Jüdische Archiv
                                                             Von Benno Reicher

HEIDELBERG Drei Rabbiner, Andreas                  er mit seinen Plänen erfolgreich sein wird.
Nachama, Avichai Apel und Zsolt Balla,             Tamari möchte zunächst nicht mehr be-
begleiteten mit ihren Brachot und einem            nötigte ältere Verwaltungsakten und an-
Schehechejanu Mitte September den Fest-            deres Archivgut der jüdischen Gemeinden,
akt zur Einweihung der neuen Räumlich-             Organisationen und Vereine vor der Ver-
keiten für das „Zentralarchiv zur Erfor-           nichtung „sichern“, aufarbeiten und kata-
schung der Geschichte der Juden in                 logisieren. Nur so kann das Material zu
Deutschland“. 1987 gründete der Zentral-           Forschungszwecken zur Verfügung ge-
rat der Juden das Archiv, das seitdem Ak-          stellt werden. Darüber hinaus ist er natür-
ten der Jüdischen Gemeinden sowie Lite-            lich auch an allen anderen „Überlieferun-
ratur über das Judentum in Deutschland             gen“ in Form von Akten und Dokumen-
sammelt. Hinzu kommen wertvolle Do-                ten, von Zeitungen und anderem Schrift-
kumente aus der Zeit vor dem National-             gut interessiert.
sozialismus und der Shoa. Angesiedelt              Seinen Sammlungsgegenstand will er zeit-
war das Archiv bisher in der Heidelberger          lich nicht einschränken, aber ein Schwer-
Innenstadt in der auch vom Zentralrat ge-          punkt ist schon der Aufbau der Gemein-
gründeten „Hochschule für Jüdische Stu-            den nach 1945, denn er befürchtet zu
dien“. Für das seit der Gründung ständig           Recht, dass wichtige Dokumente mangels
wachsende Archiv waren die Arbeitsbe-              archivalischer Fachkenntnisse verloren
dingungen in der Hochschule aber mittler-          gehen könnten. Deshalb sucht er das per-
weile in den dort beengten Verhältnissen           sönliche Gespräch mit den Verantwort-
zu schwierig geworden, zumal auch Ar-              lichen in Gemeinden und Institutionen,
chivbestände ausgelagert werden mussten.           er geht auf sie zu und seine Mitarbeiter
Die neuen Räume des Archivs, die Maga-             holen das Archivgut auch ab.                     Auf diesem Gelände der ehemaligen Tabak-
zine, der Lesesaal und die Büros der Mit-          Er habe auch die Erfahrung gemacht,              fabrik Landfried ist auch das Archiv unter-
arbeiter liegen jetzt in einem ehemaligen          sagt er im Gespräch, dass die Übernahme          gebracht.
Gewerbegebiet unweit des Heidelberger              des Materials durch sein Archiv für die
Hauptbahnhofs.                                     Gemeinden und Verbände sehr entlas-              Dank finanzieller Förderung durch das
Die neuen Räumlichkeiten sind hell, wir-           tend sei. Sie könnten sicher sein, dass ihre     Bundesinnenministerium konnte das Ar-
ken einladend und sie sind großzügig be-           Akten fachgerecht aufbewahrt würden              chiv unter der Leitung von Dr. Tamari in
messen für das weiter wachsende Archiv.            und sie hätten Platz gewonnen. Der Ar-           den vergangenen Jahren personell aus-
Die Archivalien füllen schon jetzt viel            chivdirektor und seine Mitarbeiter sind          gebaut werden sowie die Erstellung von
mehr als 2000 Regalmeter. Aber ausrei-             freundliche und offene Menschen. Ihnen           Findbüchern und die Digitalisierung der
chend Platz für zukünftige Wachstum ist            kann man gerne seine „Archivalien“,              Bestände vorantreiben. Damit soll das
vorhanden und der Archivdirektor Dr. Ittai         auch thematisch relevante „Privatsamm-           Zentralarchiv auf ein Niveau mit Bundes-
Joseph Tamari wird ihn brauchen, wenn              lungen“ anvertrauen.                             und Landesarchiven gebracht werden.

Archivleiter Dr. Tamari.                          Fotos (4): © Zentralrat der Juden/Gregor Zielke

6      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Jetzt sind die Bestände adäquat unter-
gebracht und langfristig gesichert. Dies
alles würdigte der Zentralrat der Juden in
Deutschland mit dem Festakt im neuen
Archiv in Heidelberg.
„Das Zentralarchiv birgt einen Schatz: das
Gedächtnis der jüdischen Gemeinden“,
sagte Zentralratspräsident Dr. Schuster in
seiner Einweihungsrede. Das Archiv sei
gleichermaßen ein Ort der Selbstverge-
wisserung wie der Bildung. Für die
jüdische Gemeinschaft sei es wichtig, die
Geschichte der jüdischen Gemeinden nach
dem Zweiten Weltkrieg zu kennen. „Noch
mehr am Herzen liegt es mir allerdings,
dass sich die nichtjüdische Umgebung
damit befasst“ (die komplette Rede von
Dr. Schuster dokumentieren wir in einem
weiteren Beitrag).
Für das Bundesinnenministerium, das
das Archiv maßgeblich finanziell fördert,    Archiveröffnung, von links: Prof. Barbara Traub, Präsidiumsmitglied des Zentralrats,
kam Staatssekretärin Anne Katrin Bohle       Staatssekretärin Anne Katrin Bohle und BW-Wissenschaftsministerin Theresia Bauer.
zur Eröffnung nach Heidelberg. Sie war
in einer früheren Funktion in dem Kölner     Eine besondere Nähe zum Zentralarchiv        keiten für das Zentralarchiv entsteht auch
Archiv-Einsturz von 2009 involviert und      hat Baden-Württembergs Ministerin für        ein neues Wahrzeichen für die jüdische
hatte persönlich erlebt, wie dramatisch      Wissenschaft und Kunst, Theresia Bauer.      Kultur mitten in der Stadt Heidelberg.“
der Verlust von „Überlieferung“ ist. „Un-    Sie hat „um die Ecke“ ihr Wahlkreisbüro.     Archivdirektor Dr. Tamari will auch die
sere Kenntnisse vom jüdischen Leben in       Es freue sie, mit dem Zentralarchiv einen    Zusammenarbeit mit Archiven auf Landes-
Deutschland sind von vielen Lücken ge-       so spannenden neuen Nachbarn zu be-          und Bundesebene intensivieren. Michael
prägt“, erklärte sie. „Das liegt auch da-    kommen. „Ich finde, das Archiv passt ge-     Hollmann, Präsident des Bundesarchivs,
ran, dass es lange keine nennenswerten       nau hierher“, sagte Theresia Bauer. „Die-    auch Gast der Veranstaltung, sicherte
Bemühungen gab, Zeugnisse jüdischer          ses neue Wahrzeichen befindet sich hier      dem Zentralarchiv seine Unterstützung
Zeitgeschichte zu sammeln und so auch        im Landfriedkomplex in einem hoch inno-      zu. Er beglückwünschte den Zentralrat
Quellen zu haben, die Geschichtsschrei-      vativen und kreativen Umfeld.“ Und sie er-   und das Archiv und bemerkte, es sei klug,
bung und Reflexion ermöglichen.“             gänzte weiter: „Mit den neuen Räumlich-      das eigene Gedächtnis zu pflegen.

               Grußwort von Dr. Josef Schuster beim Festakt
   zur Einweihung des Zentralarchivs am 14. September 2021 in Heidelberg
HEIDELBERG Wer heute eine Umfrage            für das damalige „Gesamtarchiv der deut-     kennt. Wer waren die Gründer der jüdi-
zum jüdischen Leben in Deutschland           schen Juden“.                                schen Gemeinden nach dem Zweiten
macht, wird auf zwei Phänomene stoßen:       Die Nationalsozialisten wollten sämtliche    Weltkrieg? Womit hatten sie zu kämpfen?
Die meisten Bürger schätzen die Zahl der     Spuren jüdischen Lebens vernichten. Der      Wie gelang es ihnen, mit, wenn ich es so
hier lebenden Juden um mindestens das        Bedeutung von Archiven waren sie sich        nennen darf, zertrümmerten Seelen und
Zehnfache höher als sie ist. Und sie haben   durchaus bewusst. Außerdem nutzten sie       in einem zertrümmerten Land diesen
keine Ahnung, wie nach der Shoa über-        die personengebundenen Akten für die         Aufbauwillen zu entwickeln?
haupt wieder jüdische Gemeinden in           Verfolgung von Juden.                        Hier im Zentralarchiv finden sich zum
Deutschland entstanden sind.                 Dass das Judentum in Deutschland viel        Beispiel Dokumente der DP-Camps und
Und wer dann noch nach einem Ereignis        mehr ist als die Shoa, das würdigen wir      viele weitere Schätze, die das Wunder des
in Zusammenhang mit Juden in Deutsch-        mit dem Festjahr „1700 Jahre jüdisches       Wiederaufbaus jüdischen Lebens wider-
land fragt, wird sehr häufig als Antwort     Leben in Deutschland“. Und es freut mich     spiegeln. Für die jüdische Gemeinschaft
hören: die Reichspogromnacht 1938.           ganz außerordentlich, dass wir genau in      selbst ist es wichtig, diese Geschichte zu
Denn mit Juden wird am ehesten die           diesem Festjahr die neuen Räume des          kennen. Noch mehr am Herzen liegt es
Shoa assoziiert, obwohl das Wissen über      Zentralarchivs zur Erforschung der Ge-       mir allerdings, dass sich die nicht-jüdi-
die Shoa in der Breite der Bevölkerung       schichte der Juden in Deutschland ein-       sche Umgebung damit befasst.
ziemlich gering ist. Doch dass 1938 die      weihen können. Die neuen Räume stehen        Ich habe Ihnen eingangs geschildert, wie
Synagogen brannten, ist recht vielen         auch für die Neuaufstellung des Archivs.     gering die Kenntnisse in der Bevölkerung
Menschen bekannt.                            Das Zentralarchiv birgt einen Schatz: das    über das Judentum sind. Die meisten
Mal abgesehen davon, dass nicht nur die      Gedächtnis der jüdischen Gemeinden. Es       haben von unserem heutigen jüdischen
Synagogen brannten, ist ein Faktum           verwahrt – wie sein Leiter, Herr Tamari,     Leben und unseren Gemeinden keine
selbst vielen Menschen neu, die über das     es einmal ausgedrückt hat – die „jüdische    Vorstellung. Mangelndes Wissen über
Jahr 1938 mehr wissen als der Durch-         Existenz im Nachkriegsdeutschland“. Das      eine bestimmte Gruppe von Menschen,
schnitt: 1938 wurden praktisch alle jüdi-    Zentralarchiv ist gleichermaßen ein Ort      vor allem über eine Minderheit, führt
schen Archive in Deutschland von der         der Selbstvergewisserung wie der Bildung.    jedoch fast immer zu Vorurteilen. Dieses
Gestapo beschlagnahmt. Das gilt für          Eine gefestigte jüdische Identität bildet    Phänomen mit all seinen schreck lichen
Archive einzelner Gemeinden ebenso wie       sich nur, wenn man seine Geschichte          Folgen zieht sich wie ein roter Faden

                                                                                                 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021   7
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
durch die deutsch-jüdische Geschichte.                innenministerium, wofür ich Ihnen, sehr      auch der Umgang mit Schriftstücken
Auch heute noch gilt: Selbst wer persön-              geehrte Frau Staatssekretärin, stellver-     durch Erben ein Problem. Die Erben
lich noch nie einen Juden getroffen hat,              tretend herzlich danke!                      Friedrich Schillers sollen angeblich seine
wer sich für das Judentum eigentlich gar              Erwähnen möchte ich darüber hinaus           raren Manuskripte zerschnitten haben,
nicht interessiert, kennt antisemitische              den Präsidenten des Bundesarchivs, Prof.     um sie an möglichst viele Verehrer zu ver-
Vorurteile. Sie werden von Generation zu              Hollmann, und den Präsidenten des            teilen.
Generation weitergegeben. Das soll sich               Landesarchivs Baden-Württemberg, Prof.       Wertvolle Schriften, wichtige Quellen so
unter anderem durch das Festjahr „1700                Maier. Beide Archive haben ihr großes        aufzubewahren, dass damit noch nach
Jahre“ ändern. Mit rund 1.500 Veranstal-              Knowhow zur Verfügung gestellt, um das       Hunderten von Jahren gearbeitet werden
tungen sollen die Menschen bis ins nächste            Zentralarchiv zu professionalisieren.        kann – das ist die Kunst der Archivare
Jahr hinein mit der jüdischen Religion                Und vor allem Ihnen, lieber Herr Tamari,     und ihr Verdienst. Von dem, was bewahrt
und Kultur vertraut gemacht werden.                   gilt mein Dank! Unter Ihrer Leitung wur-     wurde und zugänglich ist, hängt unser
Doch wir brauchen auch Orte, an denen                 den die Bestände enorm erweitert, ein        Bild, unsere Deutung der Vergangenheit
nachhaltig dieses Wissen bewahrt und                  Mitarbeiterstab aufgebaut und eine IT-       ab.
zur Verfügung gestellt wird. Orte wie das             Abteilung sowie eine Bibliothek begrün-      Als sich nach 1990 endlich Archive in der
Zentralarchiv. An dieser Stelle möchte ich            det. Und ich weiß, dass Sie sich nicht       ehemaligen Sowjetunion für die inter-
Peter Honigmann danken und ihm aus                    scheuen, im Zweifelsfall selbst in einen     nationale Forschung öffneten, fand sich
der Ferne meine Grüße übermitteln!                    Keller zu steigen und dann Akten in Ihr      manches Puzzleteil, um ein bis dahin
1987 gründete der Zentralrat der Juden                Auto zu laden, um sie nach Heidelberg zu     lückenhaftes Bild endlich zu vervollstän-
das Zentralarchiv in Heidelberg. Erster               bringen. Sie sind unermüdlich mit den        digen. Auch Teile des „Gesamtarchivs der
Leiter war der ehemalige Präsident der                Gemeinden in Kontakt. Denn unsere Ge-        deutschen Juden“ fanden sich in einem
Landesarchivdirektion in Stuttgart, Pro-              meinden sind autonom, und leider haben       Moskauer Sonderarchiv, von dessen Exis-
fessor Eberhard Gönner. Ihm folgte 1991               bisher nicht alle erkannt, warum es nicht    tenz die westliche Welt erst 1990 erfuhr.
Peter Honigmann, der heute aus gesund-                nur sinnvoll, sondern auch immens wich-      Ich bin sehr glücklich, dass wir für die
heitlichen Gründen leider nicht hier sein             tig ist, ihre Dokumente hier in Heidelberg   Bestände des Zentralarchivs jetzt eine
kann.                                                 aufbereiten und verwahren zu lassen.         adäquate Unterbringung gefunden haben
Um die Geschichte des jüdischen Lebens                Archive speichern Vergangenes für die        und mit dem Ausbau des Archivs so gut
im Nachkriegsdeutschland noch besser                  Zukunft. Doch nach Schätzungen von Ex-       vorankommen. Damit verbindet sich mei-
als bisher für die Forschung und für Inte-            perten landen nur fünf Prozent der Doku-     ne Hoffnung, dass auch das Zentralarchiv
ressierte zugänglich zu machen, ist der-              mente, die eine Epoche hervorbringt, in      dazu beiträgt, das Wissen über das jüdi-
zeit die Digitalisierung der Bestände in              Archiven. Manches landet auch in Auk-        sche Leben zu erhöhen und damit letzt-
vollem Gange. Wir erhalten dabei groß-                tionshäusern und später in verschlosse-      lich den Zusammenhalt in unserer Gesell-
zügige Unterstützung durch das Bundes-                nen Privatsammlungen. Manchmal ist           schaft zu stärken.

                                                  Kulturpolitikpreis für Schuster
BERLIN. Anfang Oktober ehrte der Deut-                Die Auszeichnung würdigt das außer-          dentschaft von Dr. Josef Schuster im Zen-
sche Kulturrat in Berlin den Präsidenten              ordentliche kulturelle wie kultur- und       tralrat der Juden auszeichnet. Darüber
des Zentralrats der Juden in Deutschland,             bildungspolitische Engagement und die        hinaus wird insbesondere durch das Fest-
Dr. Josef Schuster, mit dem ersten Deut-              stete Dialogbereitschaft mit anderen ge-     jahr „1700 Jahre jüdisches Leben in
schen Kulturpolitikpreis.                             sellschaftlichen Gruppen, die die Präsi-     Deutschland“ ein deutlicher Akzent auf
                                                                                                   die Vielfältigkeit des gegenwärtigen jüdi-
                                                                                                   schen Lebens in Deutschland gesetzt.
                                                                                                   Zur Preisverleihung in der Berliner Staats-
                                                                                                   bibliothek erklärte die Präsidentin des
                                                                                                   Deutschen Kulturrates, Prof. Dr. Susanne
                                                                                                   Keuchel: „Differenz ist ein wichtiges Ele-
                                                                                                   ment, unsere Einzigartigkeit in Vielfalt er-
                                                                                                   fahrbar zu machen, kulturelle Haltungen
                                                                                                   und Werte zu entwickeln. Diese Vielfalt
                                                                                                   erlebbar zu machen, in dem die eigenen
                                                                                                   Rituale anderen offen zugänglich ge-
                                                                                                   macht werden und zugleich mit dieser
                                                                                                   Offenheit auch Offenheit zu zeigen für
                                                                                                   alternative Rituale und Differenz, ist der
                                                                                                   Kitt für unsere Gesellschaft und Grund-
                                                                                                   lage gesellschaftlichen Zusammenhalts.
                                                                                                   Hierzu, sehr geehrter Herr Dr. Schuster,
                                                                                                   haben Sie einen wesentlichen Beitrag ge-
                                                                                                   leistet.“
                                                                                                   Die Laudatio auf Dr. Josef Schuster hielt
                                                                                                   die Kulturstaatsministerin Prof. Monika
                                                                                                   Grütters: „Zwar sind Sie kein Kardiologe,
Von links: Kulturstaatsministerin Prof. Monika Grütters MdB, Zentralratspräsident Dr.              lieber Herr Schuster, zwar haben Sie sich
Josef Schuster, Kulturratspräsidentin Prof. Dr. Susanne Keuchel.                                   in Ihrer internistischen Praxis mehr mit
                                                     Foto: © Deutscher Kulturrat/Jule Roehr        Magen und Darm als mit dem Herzen be-

8      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
schäftigt. Doch im Herzen der Demo-
kratie, im demokratischen Diskurs, in der
                                                                                             Rachel Salamander
Konfrontation zwischen unterschiedlichen                                                    Ende August hat die Münchner Literatur-
Lebensweisen und Weltanschauungen,                                                          wissenschaftlerin Rachel Salamander den
entfaltet Ihr Engagement wohltuende, ja                                                     renommierten Heine-Preis der Stadt Düs-
heilende Kräfte. Heilende Kräfte, damit                                                     seldorf erhalten. Die Laudatio im Schau-
meine ich z. B., dass Sie dem Gift des Anti-                                                spielhaus hat Bundespräsident Frank-Wal-
semitismus die Medizin der Aufklärung                                                       ter Steinmeier gehalten.
entgegensetzen: im Kultur- und Bildungs-                                                    Der Heine-Preis zählt zu den bedeutend-
angebot des Zentralrats, aber auch in                                                       sten Literatur- und Persönlichkeitspreisen
Ihren Reden und Gastbeiträgen.“                                                             in Deutschland und wird seit 1972 verlie-
Der Preisträger des ersten Deutschen Kul-                                                   hen; er ist mit 50.000 Euro dotiert. Die
turpolitikpreises ging in seiner Dankes-                                                    Auszeichnung wird durch die vom Rat
rede unter anderem auf die Bedeutung                                                        der Stadt Düsseldorf eingesetzte Jury „an
der Erinnerungskultur ein: „Eine leben-                                                     Persönlichkeiten verliehen, die durch ihr
dige Erinnerungskultur und, was mir                                                         geistiges Schaffen unter anderem den
noch wichtiger ist, ein gutes Zusammen-                                                     sozialen und politischen Fortschritt för-
leben von Juden und Nicht-Juden wird                                                        dern, der Völkerverständigung dienen
uns nur gelingen, wenn Wissen über die                                                      oder die Erkenntnis von der Zusammen-
deutsche Geschichte und über das gegen-                                                     gehörigkeit aller Menschen verbreiten“.
wärtige jüdische Leben auch bei Men-                                                        Die Jury begründete ihre Entscheidung
schen ohne akademische Bildung vorhan-         Das laufende Festjahr „1700 Jahre jüdi-      für Rachel Salamander folgendermaßen:
den ist. Und zwar in jeder Generation.“        sches Leben in Deutschland“ zeigt diesen     „Die Literaturwissenschaftlerin und Pub-
                                       bere.   Reichtum.                                    lizistin hat couragiert maßgeblich zum
                                               In diesem Heft werden Juden gefragt,         Wiederaufbau des jüdischen intellektuel-
        bpb:magazin                            was ihre Identität ausmacht und Marina
                                               Weisband spricht über ihre Migrationsge-
                                                                                            len Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg
                                                                                            in Deutschland beigetragen. Als Unter-
Wie sieht jüdisches Leben im Jahr 2021         schichte als Kontingentflüchtling. Das Ma-   nehmerin holte sie mit ihren Literatur-
in Deutschland aus? Im 20. Magazin der         gazin stellt jüdisches Leben in Deutsch-     handlungen all die jüdischen Autorinnen
Bundeszentrale für politische Bildung          land in Zahlen dar und redet Tacheles        und Autoren, deren Bücher einst ver-
(bpb) geht es um jüdische Identität, die       über jiddische Begriffe im Deutschen. Wie    brannt worden waren, in den Kanon
deutsche Erinnerungskultur zum Holo-           moderner Antisemitismus aussieht, erklärt    deutscher Literatur zurück. In Zeitungen
caust, modernen Antisemitismus und wie         der Antisemitismusbeauftragte des Landes     und Zeitschriften diskutiert sie öffent-
man gegen ihn vorgeht.                         Baden-Württemberg Michael Blume. „Das        lichkeitswirksam über die Bedeutung von
Als Bürger in unserer Demokratie ganz          Heft wirft auch Schlaglichter darauf, wie    Literatur und setzt sich ganz im Sinne
selbstverständlich sichtbar sein: dieser       vielseitig Juden derzeit leben, arbeiten,    Heinrich Heines für Völkerverständigung
Wunsch verbindet 200.000 Juden in              glauben“, schreibt bpb-Präsident Thomas      und gegen Antisemitismus ein.“
Deutschland. Jüdisches Leben in Deutsch-       Krüger im Vorwort. Diese Diversität jüdi-    Die Laudatio des Bundespräsidenten und
land findet heute nicht nur in Synagogen       schen Lebens in Deutschland sei ein Ge-      Rachel Salamanders Rede: „Heine und
statt, sondern auch in Schulen und Kü-         schenk, das keineswegs selbstverständlich    der deutsche Donner“ hat jetzt die Edition
chen, auf Bühnen und Kundgebungen.             sei. www.bpb.de.                             Suhrkamp in einem Sonderdruck heraus-
                                                                                            gegeben.

          Kulturministerin Monika Grütters
BERLIN. Die Staatsministerin für Kultur        hin Hass, Hetze, Rassismus und Frem-
und Medien, Monika Grütters, hat Mitte         denfeindlichkeit führen können. Wir wer-
November das ehemalige Konzentrations-         den die Millionen Jüdinnen, Juden und
und Vernichtungslager Auschwitz besucht.       alle anderen Menschen niemals verges-
Sie hat sowohl in der Gedenkstätte des         sen, die dem Rassenwahn der Nazis zum
Stammlagers Auschwitz als auch im ehe-         Opfer fielen.
maligen Außenlager Auschwitz-Birkenau
der Millionen Menschen gedacht, die dort       Aus den Gräueltaten der Nationalsozialis-
und an vielen anderen Orten in Europa          ten erwächst eine große Verantwortung
von den Nazis ermordet wurden. Außer-          für uns, jetzt und für alle Zeit. Die Aus-
dem hat Grütters in der Internationalen        einandersetzung mit dem Holocaust ist
Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/            und bleibt für mich der zentrale Orien-
Auschwitz Gespräche mit den dort Ver-          tierungspunkt, von dem ausgehend wir
antwortlichen und jungen Gästen geführt.       unsere eigene Geschichte betrachten.
                                               Deshalb müssen wir uns aktuellen Ten-
Dazu erklärte die Ministerin: „Das Kon-        denzen, die Menschheitsverbrechen der
zentrations- und Vernichtungslager Ausch-      NS-Zeit zu relativieren, energisch entge-
witz war ein von Deutschen betriebenes         genstellen. Das Eintreten gegen Anti-
Vernichtungslager. Es ist weltweit das         semitismus und Diskriminierungen ist
Symbol für die unfassbaren Verbrechen,         nicht nur ein staatliches Handlungsprin-
die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg         zip, sondern eine moralische Pflicht jedes
begangen wurden. Auschwitz zeigt, wo-          Einzelnen von uns.“

                                                                                                   Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021   9
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Jüdisches Museum Berlin
BERLIN Bis zum 13. März zeigt das Jü-               leben. Dabei hinterfragt er stereotype Bil-   unveränderlichen Identität begegnen und
dische Museum Berlin erstmals Frédéric              der und Vorstellungen, um neue Pers-          einer davon in ein Bild gefasst wird. Wir
Brenners neuen fotografischen Essay                 pektiven zu eröffnen, auf Menschen und        müssen uns trauen, unsere innere Man-
ZERHEILT. „Das Jüdische Museum hat                  Fragen, die sich um die jüdisch-deutsche      nigfaltigkeit – die vielen Fremden in uns
2018 begonnen, die Arbeit zu erwerben“,             Geschichte drehen.                            – zu entdecken, ihr zu begegnen und sie
erläutert Museumsdirektorin Hetty Berg.                                                           zu zeigen und dabei Verfremdung zu-
„Dank der Unterstützung durch die Freun-            Theresia Ziehe, Kuratorin für Fotografie      zulassen und anzunehmen statt an Fik-
de des Jüdischen Museums Berlin konn-               am Jüdischen Museum, unterstreicht:           tionen festzuhalten, die wir entwickelt
ten wir unsere Fotografische Sammlung               „Brenner zielt mit seinem fotografischen      haben, um die unerträgliche, dissonante,
um diese tiefgründige, vielschichtige und           Essay nicht auf eine erschöpfende Doku-       sich ständig verändernde Wirklichkeit
unabgeschlossene Auseinandersetzung                 mentation des Status quo jüdischen Le-        innen und außen zu überbrücken, die tat-
mit dem Jüdischsein in dem Berlin von               bens heute in Deutschland ab. Seine           sächlich wahre Nähe und Ver trautheit
heute erweitern, die jegliche Festschrei-           Bilder bieten vielmehr fragmentarische        verhindern. Wir müssen uns der Unsicher-
bung von Identität vermeiden will. Zu-              Einblicke in das Leben in Berlin voller       heit und der Unmöglichkeit des Verste-
gleich ist die Ausstellung ein Beitrag zum          Paradoxien, Dissonanzen, Leerstellen und      hens stellen.“
Themenjahr – 1700 Jahre jüdisches Leben             widerstreitender Narrative zwischen Ver-
in Deutschland. Denn das Museum will                gangenheitsbewältigung und dem Wunsch         Frédéric Brenner ist bekannt für seine
die Vielfalt jüdischen Lebens und jüdi-             nach Erlösung. Dieser komplexe Blick,         fotografische Erforschung von Sehnsucht,
scher Perspektiven zeigen.“                         der Vergangenheit und Zukunft mit dem         Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein.
                                                    Heute verbindet, lädt die Besucher ein,       Sein Werk Diaspora, Homelands in Exile
Mit seiner Kamera nimmt der interna-                sich immer wieder aufs Neue mit den           ist Resultat einer 25-jährigen Recherche
tional renommierte Fotograf Frédéric                Bildern auseinanderzusetzen.“ Sie zeigen      in über 40 Ländern, um ein visuelles Ge-
Brenner seit über 40 Jahren die vielfälti-          mal vertraut scheinende, mal bizarre,         dächtnis jüdischer Menschen am Ende
gen Formen jüdischen Lebens in der Dia-             mal verstörende Impressionen von Ort-         des 20. Jahrhunderts zu schaffen. Seine
spora und dessen Repräsentationen in                losigkeit und Entfremdung, die weit über      letzte Publikation ist An Archeology of
den Blick. In dem neuen fotografischen              die jüdische Geschichte oder die Ge-          Fear and Desire (2014). Er lebt und arbei-
Essay ZERHEILT, entstanden zwischen                 schichte Berlins hinausweisen.                tet in Berlin und Jerusalem.
2016 und 2019, betrachtet er Berlin als
Bühne verschiedener Inszenierungen des              Frédéric Brenner selbst betont: „Ein Por-     Der Fotoessay mit einer Einleitung von
Jüdischen und porträtiert Orte und In-              trät ist etwas sehr Intimes. Der Fotogra-     Frédéric Brenner und einem Text von
dividuen – Neuankömmlinge, Alteinge-                fierende und der oder die Fotografierte       Elad Lapidot ist auch im Hatje Cantz Ver-
sessene, Konvertiten, Zuwanderer und                müssen sich von der Illusion verabschie-      lag als Buch und als Katalog zur Ausstel-
andere, die sich in Berlin niedergelassen           den, dass sich hier einzelne Menschen         lung erschienen, herausgegeben von Oren
haben oder auch nur vorübergehend hier              mit einem klar definierten Selbst, einer      Myers. www.jmberlin.de.

Aus dem fotografischen Essay ZERHEILT von Frédéric Brenner, JMB, erworben mit Unterstützung der Freunde des Jüdischen Museums Berlin.

10      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
Unser Mut
FRANKFURT Noch bis zum 18. Januar             sche Mandatsgebiet Palästina oder in die      ranten aus Europa vorbereitet und ziehen
zeigt das Jüdische Museum Frankfurt           USA.                                          eine Lehre aus dem Massenmord an den
die Wechselausstellung „Unser Mut,            Andere gehen aus Überzeugung in die           Juden. Im selben Jahr ruft David Ben
Juden in Europa 1945–48“. Von Biały-          sowjetische Zone, wie etwa nach Ost-          Gurion den unabhängigen Staat Israel
stok über Frankfurt nach Amsterdam,           Berlin, um sich am Aufbau eines sozialis-     aus. Mit der Auflösung der Flüchtlings-
von Berlin über Budapest nach Bari: Es        tischen Staates zu beteiligen. In Budapest    lager und der Gründung Israels verlassen
ist die erste Ausstellung, die die jüdi-      und Amsterdam können die Überleben-           die meisten Juden Europa.
sche Nachkriegserfahrung von Flucht,          den auf Strukturen und Einrichtungen          Zur Ausstellung ist im De Gruyter Verlag
Vertreibung, Selbstvergewisserung und         der Vorkriegsgemeinden zurückgreifen          ein reich bebilderter Katalog erschienen.
Wiederaufbau in einer gesamteuropäi-          und diese wieder aufbauen. Viele von          Er gibt die Stadt- und Personenporträts
schen Perspektive darstellt.                  ihnen lassen sich hier dauerhaft nie-         der Ausstellung detailliert wieder und
                                              der. Während es in Białystok nicht ge-        umfasst zehn wissenschaftliche Essays
Die Ausstellung basiert auf einem mehr-       lingt, eine jüdische Gemeinde aufrecht zu     namhafter Autoren. Er baut auf ausge-
jährigen Forschungsprojekt zur Lebens-        erhalten, entwickelt sich die niederschle-    wählten Vorträgen der internationalen
situation von Juden an ausgewählten           sische Gemeinde Dzierżoniów für wenige        Konferenz „Building from Ashes. Jews in
Orten in Mitteleuropa, das das Jüdische       Jahre zu einem teil-autonomen Gebiet          Postwar Europe (1945–1950)“ auf, die
Museum gemeinsam mit dem Leibniz-In-          der Hoffnung auf ein florierendes jüdi-       das Jüdische Museum im Dezember 2017
stitut für jüdische Geschichte und Kul-       sches Leben nach der Shoa.                    gemeinsam mit dem Leibniz-Institut für
tur durchgeführt hat. Aufbauend auf die-      Die Ausstellung mündet in einem Raum,         jüdische Geschichte und Kultur, dem Fritz-
sen Forschungsergebnissen unterstreicht       der das Jahr 1948 als Wendepunkt in der       Bauer-Institut und der Goethe-Universität
die Ausstellung, dass jüdische Überleben-     Nachkriegszeit thematisiert. Die General-     Frankfurt am Main veranstaltete.
de nicht etwa eine homogene Gruppe von        versammlung der UNO beschließt sowohl         Die Ausstellung wurde von Dr. Kata Bo-
passiven Opfern bildeten, sondern ihr Le-     die Teilung des britischen Mandatsgebiets     hus und Erik Riedel kuratiert, Dr. Werner
ben in der unmittelbaren Nachkriegszeit       Palästina in ein von Juden und ein von        Hanak hatte die kuratorische Projekt-
in großem Maße selbst organisierten und       Arabern verwaltetes Gebiet wie auch die       leitung inne. Wissenschaftlich wurde das
aktiv gestalteten. Der Ausstellungstitel      Grundsätze eines neuen, internationalen       Team von Prof. Dr. Atina Grossmann,
„Unser Mut“ unterstreicht diesen Gestal-      Rechtsverständnisses: das Übereinkom-         Cooper Union, New York City, und Dr. Eli-
tungswillen; er bezieht sich auf ein jiddi-   men über die Verhütung und Bestrafung         sabeth Gallas, Leibniz-Institut – Simon
sches Partisanenlied aus dem Jahr 1943        des Völkermordes und die Allgemeine           Dubnow, Leipzig, beraten.
wie auch auf den Namen der ersten Zei-        Erklärung der Menschenrechte. Beide
tung im DP-Camp Zeilsheim in Frankfurt.       Grundsätze werden von jüdischen Emig-                            www.juedischesmuseum.de
Mit den Jahren 1945–48 sind Erfahrun-
gen verbunden, die die jüdische Gegen-
wart bis heute prägen: Jüdische Soldaten
in den alliierten Armeen befreien als Sie-
ger die Überlebenden aus Verstecken und
Konzentrations- und Vernichtungslagern.
Emigranten, Überlebende und Soldaten
versuchen, den Massenmord zu doku-
mentieren. Unter der Obhut der amerika-
nischen Militärverwaltung entstehen La-
ger für jüdische Geflüchtete, die wenig
später wieder verschwinden. Jüdische
Gemeinden werden wieder aufgebaut,
Traditionen aus der Vorkriegszeit auf-
gegriffen. Es sind Jahre der Flucht, der
Selbstvergewisserung wie auch der Suche
nach einem Zuhause und nach Gerechtig-
keit. Besonders vielfältig und zugleich
intensiv ist die Kunst- und Kulturproduk-
tion in jener Zeit.
Die Ausstellung „Unser Mut“ zeichnet die
vielfältigen Erfahrungen von Juden in
der unmittelbaren Nachkriegszeit in per-
sönlichen Zeugnissen sowie an sieben
ausgewählten Städte und Gemeinden
nach: In Osteuropa finden die Überleben-
den zumeist keine Verwandten, sondern
feindlich gesinnte Nachbarn vor, die sich
an ihrem Hab und Gut bereichert haben.
Viele fliehen weiter gen Westen in die
Displaced Persons Camps der amerika-
nischen Militärverwaltung wie etwa in
Frankfurt-Zeilsheim und von dort später       Ariel Schlesingers Skultpur „Untitled“ auf dem Vorplatz des neuen Jüdischen Museums
über Transitstädte wie Bari in das briti-     Frankfurt.                            Foto: Norbert Miguletz © Jüdisches Museum Frankfurt

                                                                                                  Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021   11
Mehr als Steine
                                                            Von Benno Reicher
WÜRZBURG Anfang November eröff-
nete die bayerische Kulturstaatssekretä-
rin Anna Stolz in der Würzburger Resi-
denz die Ausstellung „Mehr als Steine.
Synagogen in Unterfranken“. Die Prä-
sentation des Würzburger Staatsarchivs
gemeinsam mit dem Projekt „Synagogen-
Gedenkband Bayern“ will jüdisches Leben
und Kultur in Unterfranken zeigen. Eine
wesentliche Bedeutung kommt dabei den
Synagogen zu, die nun gewürdigt wer-
den, ebenso wie das nun abgeschlossene
Publikationsprojekt der Synagogen-Ge-
denkbände (s.a. dazu unseren weiteren
Beitrag). Synagogen seien mehr als bloße
Bauwerke, erklärte die Staatssekretärin
zur Eröffnung, „sie sind Zeugen der jüdi-
schen Kultur und Ausdruck des jüdischen
Glaubens überall in der Welt.“
Zum reichen jüdischen Erbe in Unter-               Die gesamte fünfbändige Buchreihe über die bayerischen Synagogen. © Kunstverlag Josef Fink
franken gehört auch die Würzburger Ge-
meinde, in den Quellen seit 1147 belegt.           den Archiven zentral“, sagte die General-     Synagogen-Bücher, erläutert dazu: „Viele
Sie war ein Ort großer jüdischer Gelehr-           direktorin der Staatlichen Archive Bayerns,   Schriftstücke wurden für die Synagogen-
samkeit mit überregional bedeutenden               Dr. Margit Ksoll-Marcon. „Das Staatsarchiv    Gedenkbände erstmals von der Forschung
Rabbinern, einer Talmudhochschule und              Würzburg verwahrt einen reichen Quel-         rezipiert. Die Ausstellung stellt die Baufor-
mindestens zwei Synagogen. Der vor                 lenschatz an Bauakten, Bauplänen und          men von Synagogen in Unterfranken vor
1803/1806 in zahlreiche Herrschaften               Fotografien, auf den im Rahmen der lang-      und ihre Entwicklung von unscheinbaren
zersplitterte spätere Regierungsbezirk             jährigen Forschungsarbeit an den Synago-      Hinterhof-Synagogen zu repräsentativen
Unterfranken war das am dichtesten mit             gen-Gedenkbänden auch intensiv zurück-        Bauwerken, deren Türme und Kuppeln
jüdischen Gemeinden besiedelte Gebiet              gegriffen wurde.“                             damals die Stadtbilder prägten.“
in Bayern. 1930 gab es im heutigen Un-             Die hauptsächlich aus den Beständen des       Die Ausstellung ist ein weiterer Höhe-
terfranken 112 Orte mit Synagogen. Nur             Staatsarchivs Würzburg stammenden             punkt im bayerischen Kalender zum Fest-
wenige davon sind heute noch im Orts-              Exponate wurden ergänzt durch Leih-           jahr 2021. Dazu ergänzt der Beauftragte
bild erkennbar. Nach den Zerstörungen              gaben und Reproduktionen aus dem Baye-        für jüdisches Leben und gegen Antisemi-
der Nationalsozialisten wurden viele Ge-           rischen Hauptstaatsarchiv, dem Museum         tismus, Dr. Ludwig Spaenle: „Mit dem
bäude abgerissen oder zweckentfremdet.             für Franken und aus zahlreichen anderen       Festjahr richten wir die Aufmerksamkeit
„Wo Baudenkmäler fehlen oder nur mehr              unterfränkischen Archiven.                    auf das jahrhundertelange Zusammen-
in Teilen erhalten sind, ist der Rückgriff         Dr. Cornelia Berger-Dittscheid, Kuratorin     leben von Christen und Juden in Bayern.“
auf schriftliche und bildliche Quellen in          der Ausstellung und auch Mitautorin der       Die Ausstellung zeige dies beispielhaft an
                                                                                                 der unterfränkischen Geschichte jüdischer
                                                                                                 Gotteshäuser und schärft damit unsere
                                                                                                 Aufmerksamkeit für Spuren jüdischen Le-
                                                                                                 bens, aber auch für jüdisches Leben heute
                                                                                                 in der Mitte unserer Gesellschaft.
                                                                                                 Die Ausstellung „Mehr als Steine. Syna-
                                                                                                 gogen in Unterfranken“ ist bis zum 28. Ja-
                                                                                                 nuar 2022 im Staatsarchiv Würzburg,
                                                                                                 Residenzplatz 2, Residenz-Nordflügel, zu
                                                                                                 sehen. Der Eintritt ist frei. Im Anschluss
                                                                                                 sind weitere Ausstellungsstationen in
                                                                                                 Franken geplant.

                                                                                                 Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag
                                                                                                 8.00–16.00 Uhr, Freitag 8.00–13.00 Uhr,
                                                                                                 geschlossen am 24. 12. 2021, 31. 12. 2021
                                                                                                 und 6./7. 1. 2022. Führungen für Gruppen
                                                                                                 (max. 20 Personen) werden zu festen Ter-
                                                                                                 minen angeboten. Weitere Informationen
Eröffnung der Ausstellung „Mehr als Steine“ in der Würzburger Residenz, von links: Be-
zirkstagspräsident von Unterfranken Erwin Dotzelt, Prof. Dr. Wolfgang Kraus, Mitheraus-          unter Tel.: 0931 35529-34. Kleiner Aus-
geber Synagogen-Gedenkbände, Dr. Ludwig Spaenle, bayerischer Antisemitismus-Beauf-               stellungskatalog Nr. 68: Mehr als Steine.
tragter, Dr. Cornelia Berger-Dittscheid, Mitarbeiterin Synagogen-Bände und Kuratorin der         Synagogen in Unterfranken, Konzeption
Ausstellung, Staatssekretärin Anna Stolz, Dr. Margit Ksoll-Marcon, Generaldirektorin             und Bearbeitung Cornelia Berger-Ditt-
Staatliche Archive Bayerns, Dr. Alexander Wolz, Leiter Staatsarchiv Würzburg und Prof.           scheid, 124 Seiten, München 2021, Staat-
Hans-Christoph Dittscheid, Mitherausgeber.      Foto © Ursula Schedl/Staatsarchiv Würzburg       liche Archive Bayerns.

12      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021
Synagogen-Gedenkband Bayern
                                               Die Artikel beschreiben die jüdischen        den in Bayern initiierten Gedenktafeln
                                               Gemeindestrukturen, Synagogen, Ritual-       der 1980er-Jahre weit hinausgehen und
                                               bäder, Schulen und Friedhöfe, erzählen       zu einer intensiven Auseinandersetzung
                                               von Rabbinern, jüdischen Lehrern und         mit der jüdischen Geschichte führen, z.B.
                                               Vorsängern, geben Einblicke in das religi-   in Form von Stolpersteinen.
                                               öse Leben der jüdischen Frauen, Männer       Diese Bücher „erfüllen den wissenschaft-
                                               und Kinder, aber auch in das Zusammen-       lichen Anspruch, neue Forschungsergeb-
                                               leben von Nichtjuden und Juden auf dem       nisse zum jüdischen Leben in Bayern zu-
                                               Land und in den Städten.                     sammenzutragen“, schreibt Zentralrats-
                                               Auch die Nachkriegszeit ab 1945 bis heute    präsident Schuster in seinem Geleitwort.
                                               wird dokumentiert: die kurzfristige Ent-     „Daher stellen die jetzt abgeschlossenen
                                               stehung von DP-Gemeinschaften und die        Bände einen großen Schatz dar.“
                                               zaghaften Versuche der Überlebenden,
                                               jüdisches Leben in Deutschland wieder        Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/2
                                               aufzubauen. Die daraus hervorgegange-        in zwei Teilbänden, herausgegeben von
                                               nen, heute in Bayern aktiven jüdischen       Wolfgang Kraus, Hans-Christoph Dittscheid,
                                               Gemeinden werden vorgestellt und ihre        Gury Schneider-Ludorff, bearbeitet von
                                               Strukturen beschrieben. Darüber hinaus       Cornelia Berger-Dittscheid, Gerhard Gro-
                                               unterziehen die Artikel auch den Umgang      nauer, Hans-Christof Haas, Hans Schlum-
                                               der verschiedenen Orte mit ihrer jüdi-       berger und Axel Töllner, unter Mitarbeit
                                               schen Vergangenheit und den ehemali-         von Hans-Christoph Dittscheid, Johannes
                                               gen jüdischen Bauwerken einer kritischen     Sander und Elmar Schwinger, mit Beiträ-
                                               Prüfung. Hier lassen sich auch die tief-     gen von Andreas Angerstorfer und Rotraud
                                               greifenden Veränderungen in der Ge-          Ries, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg
                                               denkkultur erkennen, die inzwischen in       im Allgäu, April 2021.
Synagoge von Bad Kissingen.                    vielen Orten über die ersten vom Landes-
         Foto: © Stadtarchiv Bad Kissingen.    verband der Israelitischen Kultusgemein-                                                     bere.

Teilbände haben wir schon in früheren
Heften von JÜDISCHES LEBEN IN BAY-
ERN vorgestellt (Nr. 106 April 2008 und
Nr. 125 September 2014). Wir nannten
sie „ein historisches Schwergewicht“. In
diesem Jahr hat das Buchprojekt nun ein
weiteres Mal an Gewicht zugelegt. Die
letzten beiden Teilbände über Unterfran-
ken erschienen im Frühjahr und brachten
ein höchst außergewöhnliches und be-
deutendes Forschungs- und Publikations-
projekt zum Abschluss.
Angeregt durch den israelischen Hydro-
biologen Prof. Meier Schwarz vom „Syna-
gogue Memorial“ in Jerusalem, geboren
1926 in Nürnberg, startete der evangeli-
sche Theologe Prof. Dr. Wolfgang Kraus
mit später wechselnden Kollegen aus un-
terschiedlichen Fächern, darunter auch
der Kunsthistoriker Prof. Dr. Hans-Chris-
toph Dittscheid, das Projekt zur Doku-
mentation aller jüdischen Gemeinden
und Synagogen in Bayern. Das Ausmaß
dieser Aufgabe war damals wohl nicht
absehbar.
„In drei bis fünf Jahren sollte alles in ei-
nem Band abgehandelt sein“, schreibt
Prof. Kraus in seinen Presse-Informatio-
nen. „Aus den drei bis fünf Jahren wur-
den knapp 20 Jahre und aus dem einen
Band wurden vier Teilbände bzw. fünf
Bücher.“ Auf 4.000 Seiten stellen die zahl-
reichen Forscher und Autoren über 200
jüdische Gemeinden in Bayern vor, da-
runter allein 115 in unterfränkischen
Städten und Dörfern.                           Synagoge von Mellrichstadt.                             Foto: © Staatliche Archive Bayerns

                                                                                                 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 146/2021     13
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