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SAMMELBAND ZUR RINGVORLESUNG im Wintersemester 2017/2018 an der Universität zu Köln UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG Christoph Oslislo, Rebekka Rehm [Hrsg.]
Das Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln Das Institut für Wirtschaftspolitik (iwp) wurde 1950 Wirtschaftspolitische Forschung erfolgt zuallererst als unabhängiges wirtschaftswissenschaftliches For- im Dienste der Gesellschaft. Das iwp möchte mit der schungsinstitut an der Universität zu Köln gegrün- problemlösungsorientierten Forschung nicht nur det. Gründer waren Prof. Dr. Alfred Müller-Armack, einen Beitrag zur praktischen Beratung der Politik, der geistige Vater der Sozialen Marktwirtschaft, und sondern auch den Transfer der Erkenntnisse in die Dr. h. c. Franz Greiß. interessierte Öffentlichkeit leisten: Daher genießen Die vorrangige Aufgabe des Instituts liegt in der Un- der Austausch mit der Öffentlichkeit und die Betei- tersuchung aktueller grundlegender Probleme im ligung an der öffentlichen Diskussion einen hohen Bereich der Wirtschaftspolitik. Das besondere Au- Stellenwert. Sie prägen neben Forschung und Politik- genmerk gilt dabei den institutionellen Rahmenbe- beratung das Selbstverständnis des iwp. dingungen einer funktionsfähigen Sozialen Markt- Die wissenschaftliche und organisatorische Leitung wirtschaft. Das iwp schlägt die Brücke zwischen des Instituts liegt zurzeit bei Prof. Dr. Felix Höffler, universitärer Forschung und wirtschaftspolitischer Prof. Michael Krause, PhD., und Dr. Steffen J. Roth. Praxis. Es hat den Anspruch, den aktuellen Stand der Wissenschaft für die Erarbeitung praktischer Politik Weitere Informationen erhalten Sie unter: empfehlungen zu nutzen. Ziel ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse zu übersetzen, dabei konkrete Ant- www.iwp.uni-koeln.de worten auf gesellschaftliche Herausforderungen zu erarbeiten und wirtschaftspolitisch gangbare Wege aufzuzeigen, durch die diese Herausforderungen ge- meistert werden können. Die praktische Umsetzung der akademisch erarbeiteten Lösungsansätze genießt bei der Arbeit des iwp höchste Priorität. Förderer der Ringvorlesung Die Ringvorlesung wird gefördert im Rahmen der „Wissenschaft und Praxis“ treten in einen Dialog; da- Förderinitiative „Dialog Junge Wissenschaft und bei stehen innovative Ideen und konkrete Lösungs Praxis“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung. ansätze im Fokus. In dieser Initiative treffen Studierende mit Experten Die Herausgabe dieses Begleitbands zur Ringvorle- aus Wirtschaft, Staat, Gesellschaft und Medien zu- sung wird ermöglicht durch die großzügige Unter- sammen, um praxisbezogene Themen zu diskutieren. stützung der Otto Wolff Stiftung. UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG 2
Inhalt Vorwort............................................................................................................................................................................. 4 Prof. Dr. Felix Höffler, Prof. Michael Krause, Ph.D., Dr. Steffen J. Roth Einleitung......................................................................................................................................................................... 6 Christoph Oslislo, Rebekka Rehm Was bedeutet es arm zu sein? Zum Armutsbegriff und der Armutssituation in Deutschland............................. 10 Prof. Dr. Georg Cremer Ökonomische Ungleichheit und Gerechtigkeit............................................................................................................ 16 Prof. Dr. Wilfried Hinsch Die Verteilung von Vermögen in Deutschland unter Berücksichtigung von Rentenanwartschaften................. 20 Prof. Dr. Carsten Schröder, Dr. Markus M. Grabka, Prof. Dr. Timm Bönke Ungleichheitswahrnehmung und Umverteilungspräferenzen – ein internationaler Vergleich............................ 26 Dr. Judith Niehues Wie durchlässig ist unsere Gesellschaft? Über soziale Mobilität in Deutschland................................................... 32 Prof. Dr. Marita Jacob Vermessung des Glücks: Zum Verhältnis von Wohlstand und Lebenszufriedenheit............................................ 38 Prof. Dr. Ronnie Schöb Steuern als Instrument der Umverteilung.................................................................................................................... 44 Prof. Dr. Thiess Büttner Wie „sozial“ ist die Sozialversicherung? Paradoxe Verteilungswirkungen von gesetzlicher Renten- und Krankenversicherung............................................................................................................................................. 50 Prof. Dr. Friedrich Breyer Kostet weniger Ungleichheit Wachstum?..................................................................................................................... 54 Prof. Dr. Gert G. Wagner Gefährdet Ungleichheit den gesellschaftlichen Frieden? Ungleichheit als Ursache und Wirkung von Gewalt....................................................................................................................................................................... 60 Dr. Anke Höffler Demokratie ohne Wähler? Über die Wechselwirkungen zwischen ökonomischer und politischer Ungleichheit..................................................................................................................................................................... 66 Prof. Dr. Frank Decker Welche Rolle spielen politische Maßnahmen bei der Gewährleistung gleicher (Bildungs-)Chancen? – Aufstieg durch Bildung............................................................................................................................................... 72 Ministerin Yvonne Gebauer INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN 3
Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, soziale Ungleichheit ist ein Thema von großer ge- uns grundlegenden konzeptionellen Problemstel- sellschaftlicher Relevanz, welches sich aktuell erneut lungen gewidmet, wie zum Beispiel der Messbarkeit eines großen Interesses in Politik und Öffentlichkeit von Armut. Anschließend haben wir uns der Empirie erfreut. Aus wissenschaftlicher Perspektive besteht zugewandt – nicht nur einer Bestandsaufnahme der jedoch keineswegs in allen Punkten Einigkeit: Nimmt Ungleichheit, sondern auch einer Betrachtung der die Ungleichheit zu? Wenn ja, aus welchen Gründen? subjektiven Wahrnehmungen von Ungleichheit. Im Welche Maßnahmen würden der Ungleichheit ent- letzten Teil der Reihe haben wir uns mit den Aus- gegenwirken? Nach welchem Kriterium lässt sich wirkungen von Ungleichheit und möglichen politi- bestimmen, welche dieser Maßnahmen umgesetzt schen Maßnahmen beschäftigt. Hierzu zählten bei- werden sollten? spielsweise bildungspolitische und steuerpolitische Diesen und weiteren Fragen war die Ringvorlesung Fragen. Zu allen Themen referierten ausgewiesene „Ungleichheit und Umverteilung“ des Instituts für Expertinnen und Experten aus den Wirtschaftswis- Wirtschaftspolitik im Wintersemester 2017/2018 ge- senschaften, aber auch aus anderen Disziplinen, wie widmet. Zu ihrer Beantwortung haben wir im Laufe der Soziologie und Philosophie sowie aus der politi- des Semesters verschiedene Blickwinkel eingenom- schen Praxis. men: Im ersten Teil der Vorlesungsreihe haben wir UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG 4
Prof. Dr. Felix Im Wintersemester 2017/2018 fand bereits die ach- Höffler te Vorlesungsreihe dieser Art des Instituts für Wirt- schaftspolitik statt. Seit 2010 sind die Ringvorlesun- Direktor des gen zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen ein Instituts für fester Bestandteil unseres Veranstaltungsangebots. Wirtschaftspolitik Sie adressieren nicht nur das universitäre Fachpub- likum, sondern auch die interessierte Öffentlichkeit. Die Bildung solcher Brücken zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit verstehen wir als wichtige Aufga- Foto: Lisa Beller be unseres Instituts. Studierenden geben die Ring- vorlesungen Anregungen für die Spezialisierung innerhalb der eigenen Disziplin und ermöglichen zugleich den Blick über den Horizont des eigenen Faches hinaus. Wir freuen uns darüber, dass das In- teresse an dem Format immer groß war und im Laufe Prof. Michael der Jahre weiter zugenommen hat. Wir danken dem Krause, Ph.D. Fördererkreis und den institutionellen Förderern des Instituts für Wirtschaftspolitik sehr herzlich für ihre großzügige Unterstützung, mit der sie dieses Ange- Direktor des bot ermöglichen. Instituts für In diesem Jahr gibt das Institut für Wirtschaftspolitik Wirtschaftspolitik zum vierten Mal einen Begleitband zur Ringvorle- sung heraus, für den die Referentinnen und Referen- ten ihre zentralen Thesen zusammengefasst und so Foto: Lisa Beller einer weiterführenden Auseinandersetzung zugäng- lich gemacht haben. Ihnen allen möchten wir sehr herzlich danken. Für die Herausgabe dieses lesens- werten Überblicks und die Organisation der Ver- anstaltungsreihe danken wir Christoph Oslislo und Rebekka Rehm. Dr. Steffen J. Roth Wir wünschen Ihnen viel Spaß und Erkenntnisge- winn bei der Lektüre. Die Mitarbeiterinnen und Mit- Direktor und arbeiter des Instituts für Wirtschaftspolitik freuen Geschäftsführer des sich darauf, Sie bei einer unserer nächsten Veranstal- Instituts für tungen willkommen zu heißen. Wirtschaftspolitik INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN 5
Einleitung Rebekka Rehm Christoph Oslislo Institut für Institut für Wirtschaftspolitik Wirtschaftspolitik an der Universität an der Universität zu Köln zu Köln Im Wintersemester 2017/2018 war die Ringvorle- Eine erste Herausforderung ist es also, unterschiedli- sung des Instituts für Wirtschaftspolitik dem The- che Wertvorstellungen als solche zu erkennen. ma „Ungleichheit und Umverteilung“ gewidmet. Interessanterweise beschränkt sich jedoch die Die Auswahl des Themas war nicht zuletzt dadurch Schwierigkeit, eine gemeinsame Gesprächsgrundla- motiviert, dass zwar häufig über die Verteilung der ge zu schaffen, nicht auf eindeutig normative Fragen, Einkommen, Vermögen und Chancen sowie vertei- sondern betrifft teilweise auch Aspekte der beschrei- lungspolitische Maßnahmen diskutiert wird, aller- benden Analyse. So besteht beispielsweise keine Ei- dings gewinnbringende Debatten zu diesen Themen nigung darüber, welches das geeignetste Verteilungs- selten sind. Häufig fehlt eine gemeinsame Gesprächs- oder Armutsmaß ist. Die verschiedenen Konzepte, grundlage, da Begriffe unterschiedlich verwendet die in der Debatte eine Rolle spielen, unterscheiden werden, verschiedene Annahmen über den Status sich fundamental und führen dementsprechend zu Quo zugrunde liegen und/oder persönliche Wertvor- ganz unterschiedlichen Einschätzungen der Vertei- stellungen nicht explizit, sondern implizit einfließen. lung bzw. des Ausmaßes von Armut. Wie problema- Unklarheiten können also auf vielen Ebenen beste- tisch es sein kann, wenn kein geeigneter Maßstab hen: gewählt wird, lässt sich an einem Beispiel verdeutli- Mit der Frage, wie die Verteilungspolitik ausgestal- chen, das der erste Referent der Ringvorlesung, Herr tet sein sollte, ist untrennbar die Frage verbunden, Georg Cremer, vorgetragen hat: Oft wird suggeriert, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen würde. Auf dass die Anzahl der Bezieher staatlicher Transfer- diese Frage gibt es offensichtlich keine eindeutige leistungen als Maßstab für Armut dienen könnte. und allgemein zustimmungsfähige Antwort. Schwie- Das impliziert jedoch, dass Armut in Folge einer rigkeiten entstehen vor allem dann, wenn wertende Erhöhung der Transferleistungen zunimmt und da- Begriffe in der Verteilungsdebatte auf unterschiedli- mit gleichzeitig der Empfängerkreis der Leistungen che Weisen verwendet werden. So scheinen sich zum wächst. Politische Maßnahmen zur Verringerung der Beispiel der Forderung nach Chancengerechtigkeit Armut durch das Steuer-Transfer-System erscheinen Vertreter fast aller politischen Lager anschließen nach diesem Maßstab vergeblich oder sogar kontra- zu können, obwohl davon auszugehen ist, dass sich produktiv. die zugrundeliegenden Gerechtigkeitsvorstellungen Die gesellschaftliche Debatte über Ungleichheit und stark unterscheiden: Manchen erscheint es bereits Umverteilung wird auch davon geprägt, dass die gerecht, wenn jeder ohne Diskriminierung am wirt- subjektiven Vorstellungen vieler Menschen davon, schaftlichen Geschehen teilnehmen kann, während wie die Einkommen bzw. Vermögen verteilt sind, andere erst einen sehr weitgehenden Ausgleich un- nicht der tatsächlich objektiv messbaren Verteilung terschiedlicher Möglichkeiten als gerecht empfinden. entsprechen. Wie im Vortrag von Frau Judith Nie- UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG 6
Quelle: Diermeier, M. / Goecke, H. / Niehues, J. / Thomas, T. (2017): Verzerrte Wahrnehmung: Wie Berichte über Un- gleichheit verunsichern, IW-Kurzberichte, Nr. 63. hues deutlich wurde, stellen sich viele Menschen noch verändert (siehe Abbildung 1). Die Autoren die Einkommensverteilung in Deutschland deutlich zeigen außerdem, dass das Ausmaß der Berichter- ungleicher vor, als sie tatsächlich ist. Gleichzeitig un- stattung über Ungleichheit die Einschätzungen der terscheiden sich die einzelnen subjektiven Wahrneh- Bevölkerung zum Thema beeinflusst. Sie untersu- mungen deutlich voneinander. Unterschiedliche Po- chen diesen Zusammenhang anhand von Haushalts- sitionen in der gesellschaftlichen Verteilungsdebatte befragungsdaten des sozio-ökonomischen Panels aus liegen also möglicherweise auch darin begründet, den Jahren 2001 bis 2015. Eine besonders intensive dass unterschiedliche Annahmen über den Status Berichterstattung über Ungleichheit in der Woche Quo der Verteilung getroffen werden. vor einer Befragung erhöhte erstens signifikant die Der Diskurs über Ungleichheit wird maßgeblich von Wahrscheinlichkeit, dass die Befragten Sorgen um der medialen Berichterstattung geprägt. Zunächst die wirtschaftliche Situation äußerten. Zweitens einmal ist beobachtbar, dass die mediale Berichter- führte sie dazu, dass weniger Befragte zufrieden mit stattung über Ungleichheit nicht immer tatsächliche der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit wa- Entwicklungen widerspiegelt. Verdeutlichen lässt ren. Auch diese Befunde legen nahe, dass die Debatte sich das zum Beispiel an einem Befund von Dier- über Ungleichheit und Verteilungspolitik nicht aus- meier et al. (2017)1 verdeutlichen. Die Autoren do- schließlich von objektiven Befunden determiniert kumentieren unter anderem, dass sich der Anteil der wird. Berichte in deutschen Leitmedien, der dem Thema Die skizzierten Phänomene unterstreichen die Rele- Ungleichheit gewidmet ist, in den vergangenen zehn vanz einer differenzierten Auseinandersetzung mit Jahren verdoppelt hat. Im gleichen Zeitraum hat sich dem Thema „Ungleichheit und Umverteilung“, über die Verteilung der Einkommen de facto jedoch kaum das wir deshalb ein ganzes Semester lang diskutiert haben. Ziel war es, zunächst die Gesprächsgrundlage zu verbessern, um darauf aufbauend lösungsorien- 1 Diermeier, M. / Goecke, H. / Niehues, J / Thomas, T. (2017): Verzerrte Wahrnehmung: Wie Berichte über Ungleichheit ver- tiert debattieren zu können. Dank der Expertinnen unsichern, IW-Kurzberichte, Nr. 63. und Experten aus vielen verschiedenen Disziplinen INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN 7
haben wir von sehr unterschiedlichen Perspektiven „Wie durchlässig ist unsere Gesellschaft? Über soziale auf den Themenbereich profitiert. Die bisher ange- Mobilität in Deutschland“ gewidmet. Der Fokus des deuteten Fragestellungen geben also nur einen klei- Beitrags liegt auf der intergenerationalen beruflichen nen Vorgeschmack auf die Inhalte dieses Sammel- Klassenmobilität. Frau Jacob geht der Frage nach, ob bandes, für den die Referentinnen und Referenten sich Kinder in den gleichen oder anderen beruflichen ihre Thesen noch einmal zusammengefasst haben. In Klassenpositionen befinden wie/als ihre Eltern. folgender Reihenfolge finden Sie in diesem Band ihre Im Beitrag „Die Vermessung des Glücks – Zum Ver- Ausführungen zu den folgenden Themen: hältnis von Wohlstand und Lebenszufriedenheit“ Der Beitrag „Was bedeutet es arm zu sein? Zum Ar- thematisiert Herr Ronnie Schöb zentrale Erkennt- mutsbegriff und der Armutssituation in Deutsch- nisse der ökonomischen Glücksforschung. Den Aus- land“ ist der Bedeutung der Armut in einem wohl- gangspunkt seiner Analyse bildet die Beobachtung, habenden Land wie Deutschland gewidmet. Herr dass einerseits Menschen mit einem höheren Ein- Georg Cremer thematisiert zunächst den Begriff des kommen in Befragungen eine größere Lebenszufrie- Armutsrisikos. Anschließend beschreibt er, wie sich denheit angeben als solche mit einem niedrigeren der Anteil der Menschen, die einem solchen Risiko Einkommen, andererseits aber festgestellt wurde, ausgesetzt sind, verändert hat und erläutert, welche dass die durchschnittliche Lebenszufriedenheit ei- Faktoren diese Entwicklung bedingt haben. An- ner Bevölkerung im internationalen Vergleich mit schließend geht er auf die Ausgestaltung der Trans- steigendem Wohlstand nicht zunimmt. Er führt ver- fersysteme ein und formuliert Korrekturbedarf sowie schiedene Erklärungen für dieses Phänomen an und weitere Anforderungen an die Arbeitsmarkt- und formuliert auf dieser Grundlage Implikationen für Sozialpolitik. die wirtschaftspolitische Praxis. Herr Wilfried Hinsch leitet in seinem Beitrag „Öko- Herr Thiess Büttner widmet sich in seinem Beitrag nomische Ungleichheit und Gerechtigkeit“ her, wel- „Steuern als Instrument der Umverteilung“ den allo- cher Grad an Ungleichheit mit bestimmten Gerech- kativen und distributiven Wirkungen des deutschen tigkeitsvorstellungen vereinbar ist. Im Mittelpunkt Steuersystems. Dazu stellt er zunächst die Ausge- seiner Ausführungen steht das Differenzprinzip, staltung und Entwicklung des Einkommensteuerta- demzufolge Ungleichheiten zum größtmöglichen rifs dar. Anschließend erläutert er, warum die Ver- Vorteil der am wenigsten Begünstigten sein müssen. teilungswirkung der Einkommensteuer durch den Herr Hinsch argumentiert auch, warum es negati- Steuerwettbewerb beschränkt wird und thematisiert ve Auswirkungen auf die Gesellschaft haben kann, die besondere Problematik der kalten Progression. wenn von diesem Prinzip abgewichen wird. Im Beitrag „Wie ‚sozial‘ ist die Sozialversicherung? Herr Carsten Schröder und seine Kollegen Timm Paradoxe Verteilungswirkungen von gesetzlicher Bönke und Markus Grabka widmen sich in ih- Renten- und Krankenversicherung“ beschäftigt sich rem Beitrag der „Verteilung von Vermögen in Herr Friedrich Breyer mit der Frage, ob das beste- Deutschland unter Berücksichtigung von Ren- hende deutsche Renten- und Krankversicherungs- tenanwartschaften“. Sie erläutern zunächst, wa- system zur Verschärfung von Ungleichheit beiträgt. rum es überraschend ist, dass die Ansprüche an Er erläutert dazu wesentliche Grundprinzipien der die Rentenversicherer üblicherweise nicht in Ver- Sozialversicherung und argumentiert, dass diese im teilungsanalysen einbezogen werden und zeigen bestehenden System verletzt werden. Außerdem dis- anschließend, inwiefern sich die Vermögensvertei- kutiert er, ob die Reformvorschläge, die in der po- lung anders darstellt, wenn sie um diesen Faktor litischen Debatte kursieren, diesen Prinzipien eher korrigiert wird. gerecht werden. Im Beitrag „Ungleichheitswahrnehmung und Um- Der Beitrag von Herrn Gert G. Wagner mit dem Titel verteilungspräferenzen – ein internationaler Ver- „Kostet weniger Ungleichheit Wachstum?“ ist sowohl gleich“ stellt Frau Judith Niehues dar, dass die sub- den positiven als auch den negativen Wirkungen von jektive Wahrnehmung der Ungleichheit und die Ungleichheit auf das wirtschaftliche Wachstum ge- tatsächlich messbare Ungleichheit auseinanderfallen widmet. Zunächst plausibilisiert Herr Wagner theo- und wie sich die Abweichungen zwischen verschie- retisch verschiedene mögliche Wirkungskanäle. An- denen Ländern unterscheiden. Anschließend disku- schließend fasst er empirische Erkenntnisse zu der tiert sie, welche Implikationen solche Abweichungen Frage zusammen, wie sich Ungleichheit insgesamt für Umverteilungspräferenzen bzw. die gesellschaftli- auf das wirtschaftliche Wachstum auswirkt. che Verteilungsdebatte haben könnten. Frau Anke Höffler thematisiert „Ungleichheit als Der Beitrag von Frau Marita Jacob ist dem Thema Ursache und Wirkung von Gewalt“. Sie geht insbe- UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG 8
sondere der Frage nach, ob Ungleichheit den gesell- schaftlichen Frieden gefährdet. Nach der Erläuterung konzeptioneller Grundlagen stellt sie zunächst ver- schiedene theoretische Ansätze dar, die erklären, wa- rum Ungleichheit eine Bedrohung für das friedliche Zusammenleben darstellen könnte. Anschließend präsentiert sie empirische Erkenntnisse, die bei der Beantwortung der Frage eine Rolle spielen. Im Beitrag „Demokratie ohne Wähler? Über die Wechselwirkungen zwischen ökonomischer und po- litischer Ungleichheit“ erläutert Herr Frank Decker zunächst, wie sich Ungleichheit auf die Wahlbeteili- gung und das Wahlverhalten auswirkt. Dabei arbeitet er einen sich selbst potentiell verstärkenden Prozess heraus, der darin besteht, dass vor allem die Wahl- beteiligung von denjenigen Bevölkerungsgruppen zurückgeht, deren Interessen im politischen Pro- zess ohnehin schon wenig Berücksichtigung finden. Schließlich diskutiert er Mechanismen und Maßnah- men, die diesem Phänomen entgegenwirken könn- ten. Der Beitrag „Welche Rolle spielen politische Maß- nahmen bei der Gewährleistung gleicher (Bildungs-) Chancen? – Aufstieg durch Bildung“ stellt eine Schriftfassung des Vortrags von Frau Ministerin Yvonne Gebauer dar, die sich dem Thema „Bildungs- gerechtigkeit“ aus der Perspektive der politischen Praxis nähert. Sie stellt zunächst einige grundlegende Prinzipien vor, an denen sich ihre Schulpolitik orien- tiert und diskutiert anschließend vor diesem Hinter- grund verschiedene bildungspolitische Instrumente. Viel Spaß beim Lesen! INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN 9
Prof. Dr. Georg Was bedeutet es arm zu sein? Cremer Zum Armutsbegriff und der Ehem. General- Armutssituation in sekretär des Deutschland Deutschen Caritas- verbandes In einem reichen Land wie Deutschland ist es er- es zwischen 2010 und 2016 um 37% ab und lag 2016 forderlich, Armut und Armutsrisiko in Relation zu deutlich unter dem Wert von 2004. Auf die griechi- dem Lebensniveau der breiten Mitte zu erfassen. sche Armutsrisikoquote hatte dies jedoch kaum Aus- Grundlegend für die Armutsmessung in Europa ist wirkungen. Sie lag im gesamten Zeitraum bei oder die Definition des Rates der Europäischen Gemein- etwas über 20%, 2016 betrug sie 21,2%. Die Erklä- schaften von 1985: „Verarmte Personen [sind] Einzel- rung hierfür ist einfach. Sowohl in der Phase der Ex- personen, Familien und Personengruppen, die über pansion als auch des Niedergangs blieb die relative so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel Einkommensverteilung in Griechenland – genauer verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlos- gesagt die relative Verteilung der statistisch erfassten sen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, Einkommen – annähernd konstant (zumindest be- als Minimum annehmbar ist.“ zogen auf die unteren Einkommensgruppen). Im Fall Dies ist eindeutig ein relatives Verständnis von Ar- Griechenland spiegelte die Armutsrisikoquote weder mut, denn die Vorstellungen darüber, was als Mini- den Anstieg des Wohlstands, noch den Absturz wi- mum annehmbar ist, verändern sich mit der Auswei- der. In gleicher Weise kann die Armutsrisikoquote tung des Wohlstands in einer Gesellschaft. Aber wie auch eine deutliche Verbesserung der sozialen Lage operationalisiert man dieses Minimum? Die heute im Zeitverlauf ignorieren. dominierende statistische Konvention erfasst dieje- Wie hat sich das Armutsrisiko entwickelt? Im langen nigen als im Armutsrisiko lebend, die über weniger Zeitvergleich ist der Trend eindeutig. Die Einkom- als 60% des mittleren Einkommens (Median der Ver- mensungleichheit und mit ihr die Armutsrisikoquo- teilung der Nettoäquivalenzeinkommen) verfügen. te haben deutlich zugenommen. Aber es lohnt ein Die Schwelle für einen Allleinstehenden liegt, je nach differenzierter Blick auf den zeitlichen Verlauf der Einkommenserhebung, bei Werten zwischen 942 Entwicklung seit der Wiedervereinigung. Bis 1998 und 1.050 Euro. war die Armutsrisikoquote mit Schwankungen ten- Der Begriff des Armutsrisikos verweist darauf, dass denziell leicht rückläufig. Gründe hierfür sind der eine Person mit einem Einkommen unterhalb der so Abbau der zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung definierten Armutsrisikoschwelle noch nicht zwin- bestehenden krassen Einkommensunterschiede zwi- gend als arm zu bezeichnen ist. Diese Differenzie- schen Ost und West und die deutliche Anhebung der rung spielt im öffentlichen Diskurs in Deutschland Renten in Ostdeutschland. Zwischen 1998 und 2005 jedoch keine Rolle. Armut und Armutsrisiko werden stieg die Armutsrisikoquote sehr stark an, von unter ganz überwiegend synonym verwendet. 11 auf über 14 Prozent. Wichtigster Grund hierfür Die Armutsrisikomessung mit Hilfe der 60%-Schwel- ist ein deutlicher Anstieg der Spreizung der Einkom- le abstrahiert vom Wohlstandsniveau. Dies ist ein men aus Arbeit. Die Wiedervereinigung war Teil ei- zentraler Punkt der Auseinandersetzung. Der Anteil ner historischen Zäsur; durch die plötzliche Öffnung der Armen verändert sich – unabhängig vom Wohl- der Volkswirtschaften Osteuropas wurden die Be- stand einer Gesellschaft – nicht, solange die relative schäftigungsverhältnisse in Deutschland unter einen Verteilung der Einkommen unverändert bleibt. starken Wettbewerbsdruck gesetzt. Verstärkt wurde Wie relevant das Wohlstandsniveau für die Inter- dies durch die zusätzliche Steuer- und Abgabenbelas- pretation der Armutsrisikoquote ist, zeigt das Bei- tung in Folge der Wiedervereinigung. In dieser Zäsur spiel Griechenland. Dieses Land macht nach einer sind die Lohnverhandlungen im Zusammenwirken verschuldungsgetriebenen Expansion seit 2010 eine zwischen Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften schwere Krise durch. Während das Medianeinkom- und Betriebsräten stark dezentralisiert worden. Ge- men zwischen 2004 und 2010 um 35% stieg, stürzte werkschaften und Betriebsräte akzeptierten Zuge- UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG 10
ständnisse, um Arbeitsplätze in den Unternehmen tiver werden und sich so die Werte dem Mikrozensus zu sichern. Die Dezentralisierung der Lohnfindung annähern. verbesserte die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Un- So sehr sich die einzelnen Erhebungen zu den Haus- ternehmen deutlich und schaffte damit die Grund- haltseinkommen, die der Berechnung der Armuts- lage für die beschäftigungspolitischen Erfolge der risikoquote zugrunde liegen, unterscheiden, sie zei- Hartz-Reformen. Erkauft wurde dies allerdings durch gen einheitlich die gleichen Risikogruppen. Es sind sinkende Löhne insbesondere am unteren Ende der Gruppen, die keinen (ausreichenden) Zugang zum Lohnverteilung. Zudem hat die Steuerentlastung für Arbeitsmarkt haben, langzeitarbeitslose Menschen, mittlere und obere Einkommen durch die rot-grüne Alleinerziehende, gering Qualifizierte. Dies weist auf Koalition zum Anstieg der Ungleichheit beigetragen. die Bedeutung der Zugangssicherung zu produktiver Der Grund, mit dem in der öffentlichen Debatte in Beschäftigung als Teil jeder Politik der Armutsprä- Deutschland üblicherweise die zunehmende Un- vention hin. Es gibt einen engen Zusammenhang gleichheit in Verbindung gebracht wird, fehlt hier: zwischen geringer Qualifikation, hohem Arbeitslo- Hartz IV. Da der massive Anstieg der Armutsrisi- sigkeitsrisiko bzw. einer nicht kontinuierlichen Be- koquote vor 2005 stattfand, kann allein vom zeitli- rufsbiografie in schlechter Bezahlung und hohem chen Ablauf her Hartz IV diese Entwicklung nicht Armutsrisiko. Da Menschen mit Migrationshinter- erklären. Die treibende Entwicklung hinter der zu- grund oft schlechter in das Bildungssystem und den nehmenden Ungleichheit der Einkommen, die wach- Arbeitsmarkt integriert sind, haben auch sie ein er- sende Lohnungleichheit, setzte bereits Ende der 1980 höhtes Armutsrisiko. Es ergibt sich auch daraus, dass Jahre ein, also lange vor der Agenda 2010. der Prozess der Integration Zeit braucht. Damit dürf- Im Vergleich zu dem Zeitraum bis 2005 ist die Zeit te in den nächsten Jahren, wenn die Integration einer danach, also die Zeit nach Hartz IV, eher von Kons- hohen Zahl von Flüchtlingen zu bewältigen ist, die tanz oder einem nur moderaten Anstieg der Armuts- Armutsrisikoquote leicht zunehmen. risikoquote von etwa einem Prozentpunkt gekenn- Neben der Armutsrisikoquote gilt in der öffentlichen zeichnet. Am äußersten Rand zeigen die SOEP-Werte Debatte die Zahl der Empfänger von Hartz IV und erneut ein Anstieg. Allerdings muss berücksichtigt der Grundsicherung im Alter als wichtiger Armut- werden, dass eine deutlich bessere Erfassung der sindikator. Wer Transferleistungen bezieht, ist damit Bevölkerung mit Migrationshintergrund im SOEP arm. Folglich gilt dann: Je höher diese Zahl, desto die ausgewiesenen Werte stark beeinflusst (so Judith schiefer die soziale Lage des Landes. Niehues vom IW, Köln). Eine plausible Interpretation Aber diese Gleichsetzung führt zu gedanklichen Fall- des Anstiegs am aktuellen Rand in den SOEP-Daten stricken. Der indisch-amerikanische Ökonom und ist, dass die SOEP-Daten aufgrund der besseren Er- Philosoph Amartya Sen hatte bereits in den 1980er fassung der Migrationsbevölkerung nun repräsenta- Jahren vehement kritisiert, die Höhe der Grundsi- INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN 11
cherung als Armutsgrenze zu verwenden. Er sprach Um armen Menschen zielgenau zu helfen, sind exis- von der „Perversität“ dieses Armutsmaßes: Hebe die tenzsichernde Transfersysteme unverzichtbar. Von Regierung, um Armut zu bekämpfen, die Grundsi- zentraler Bedeutung ist die Höhe der Grundsiche- cherung an, so wachse zwangsläufig die Zahl ihrer rung. Das zur Berechnung angewandte Statistikver- Bezieher. Scheinbar wachse die Armut, obwohl sie fahren ist grundsätzlich geeignet, es muss aber um doch besser bekämpft werde. Umgekehrt würde eine Inkonsistenzen korrigiert werden. So gibt es in nicht Senkung der Grundsicherung die Zahl der Bezieher unerheblichem Maße verdeckt Arme in der Refe- verringern und damit zu dem Eindruck führen, die renzgruppe, die das Rechenergebnis nach unten zie- Armut sei gesunken, die Hilfe für Arme nehme also hen. Auch gibt es einige politisch motivierte Eingriffe in ihrer Bedeutung ab. Nun mag man das für spitz- in die Berechnung, so sind anstelle der Ausgaben für findig halten. Aber Fehlbewertungen, die aus frag- Bier, die in der Referenzgruppe ermittelt wurden, würdigen oder zumindest nicht ausreichend verstan- Ausgaben für Mineralwasser angesetzt worden. Zu- denen Indikatoren folgen, sind auch in der deutschen dem ist in der Berechnung, die nach dem Urteil des Sozialstaatsdebatte politisch wirkmächtig. Das zeigt Bundesverfassungsgerichts von 2010 erfolgte, die sich beispielhaft an der Grundsicherung im Alter, die Größe der Referenzgruppe von 20% auf 15% verklei- 2003 von der Rot-Grünen Koalition eingeführt wur- nert worden. Nach Abschätzungen des Deutschen de. Sie hat die Hilfe für arme alte Menschen deutlich Caritasverbandes würde bei der Korrektur dieser verbessert. Denn der Rückgriff auf das Einkommen Eingriffe der Regelbedarf eines Alleinstehenden um der Kinder, der bis dahin in der Sozialhilfe erfolgte, etwa 60 Euro steigen. Zudem hat der Deutsche Cari- wurde faktisch aufgehoben (dieser erfolgt nur bei tasverband die Einführung einer Flexibilitätsreserve Kindern mit einem Bruttoeinkommen über 100.000 von 5% und damit ca. 20 Euro pro Monat vorgeschla- Euro pro Jahr). Sehr viele arme Alte hatten bis da- gen, beispielsweise um die Ansparung von Anschaf- hin keine ergänzende Sozialhilfe beantragt, um ih- fungen zu erleichtern. Eine Erhöhung um 80 Euro ren Kindern nicht zur Last zu fallen. Es gab also in führte nicht zu einem völlig anderen Sicherungsni- weit höherem Maße als heute verdeckte Armut. Nach veau, würde aber Grundsicherungsempfängern et- 2003 stieg die Zahl der Grundsicherungsempfänger was mehr Flexibilität in ihrer Lebensführung geben. im Alter deutlich an, die verdeckte Armut ging zu- In der Konsequenz würden erheblich mehr Beschäf- rück. Doch genau dieser Anstieg wurde und wird tigte in Teilzeit oder mit Niedriglöhnen und Bezieher wiederum als Indiz für sich verschlechternde soziale von Minirenten ergänzende Hilfe erhalten. Bei einer Verhältnisse skandalisiert. Da SPD und Bündnis 90/ unreflektierten Verwendung der Zahl der Transfer- Die Grünen – erstaunlicherweise – diese sozialpoliti- empfänger als Armutsindikator würden die sozialen sche Errungenschaft nicht selbstbewusst verteidigen, Probleme dann scheinbar zunehmen. Es wäre aber konnte sich auch hier ein Narrativ des Niedergangs falsch, dann wieder Skandal zu rufen. Für Politiker festsetzen. ist es extrem unattraktiv, Hilfen auszubauen, wenn UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG 12
sie dann das Risiko tragen, mit geringer zeitlicher verzichtbar diese sind). Wir brauchen eine Politik der Verzögerung verbalen Angriffen ausgesetzt zu sein, Armutsprävention. Dazu müssen wir den Diskurs die Armut habe in ihrer Regierungszeit zugenom- zur Gerechtigkeit um das Prinzip der Befähigungs- men. Denn natürlich wäre eine Erhöhung der Hilfe gerechtigkeit erweitern. Es geht wesentlich auf den ein sehr wichtiger Schritt dahin, dass die Grundsi- indisch-amerikanischen Ökonomen und Philoso- cherung Armut nicht nur bekämpft, sondern auch phen Amartya Sen zurück. Sen versteht Entwicklung überwinden kann. als einen Prozess der Erweiterung realer Freiheiten. Eine latente oder gar offene Diskreditierung der Armut bedeutet für ihn einen Mangel an Verwirk- Grundsicherung kann die Reformdebatte in die fal- lichungschancen. Der Befähigungsansatz fokussiert sche Richtung lenken. Das zeigte sich bei der Renten- auf die Erweiterung individueller Verwirklichungs- diskussion in den Monaten vor der Bundestagswahl chancen, auf die Erschließung von Freiheits- und 2017. Die Forderung, das sogenannte Rentenniveau Teilhabespielräumen. Verwirklichungschancen sind (eigentlich eine Rentenquote) zu erhöhen, wurde Ausdrucksformen der Freiheit, unterschiedliche Le- immer wieder mit dem Verweis auf steigende Alter- bensstile zu realisieren. Der Befähigungsansatz stellt sarmut begründet und damit der Eindruck erweckt, die Potentiale jedes Menschen in den Mittelpunkt die geforderte Rentenerhöhung diene vorrangig den und betont, dass jeder zur Entfaltung und Verwirk- Armen. lichung seiner Fähigkeiten auf bestimmte Grundbe- Was aber passiert, wenn man das Rentenniveau für dingungen angewiesen ist, die er nicht selbst sicher- alle anhebt? Als logische Folge des Äquivalenzprin- stellen kann. Sie zu entwickeln, obliegt nicht allein zips bekämen die Bezieher guter Renten spürbare, seiner Selbstsorge. Menschen mit Minirenten bekämen dagegen nur Unter den Bedingungen einer Marktökonomie ist die kleine Zuschläge. Einige wenige würden über die Inklusion in Märkte, für die meisten Menschen vor- Schwelle des soziokulturellen Existenzminimums ge- rangig durch den Zugang zum Arbeitsmarkt, Bedin- hoben. Aber die meisten der bisherigen Grundsiche- gung für die Generierung eigenständigen Einkom- rungsempfänger wären auch weiterhin auf ergänzen- mens. Die Politik der Armutsbekämpfung kann sich de Hilfe angewiesen. Sie erhielten genauso viel wie nicht in der materiellen Kompensation von unzurei- jetzt, weil ihnen bei der Berechnung der Grundsiche- chendem Erwerbseikommen erschöpfen. Es muss rung genau der Mehrbetrag wieder abgezogen wür- auch Teil der Armutsprävention sein, die Bürger, wo de, den ihnen die Rentenerhöhung brächte. Natür- immer dies möglich ist, dabei zu unterstützen, die lich ist es legitim, sich für ein höheres Rentenniveau Voraussetzungen für eine ökonomisch eigenständige einzusetzen (wie groß die Spielräume hierfür sind, Lebensführung zu gewinnen oder zurückzugewin- kann hier nicht diskutiert werden). Aber man sollte nen. Damit gehört zur Armutsprävention auch die eine Maßnahme, die vorrangig alten Menschen mit Befähigung, einschließlich der Befähigung zur er- mittleren Einkommen nutzt, nicht mit dem Kampf folgreichen Teilnahme an Marktprozessen, insbeson- gegen Altersarmut begründen. dere am Arbeitsmarkt. Wer den Armen wirklich helfen will, muss sich für Dabei bedeutet der Befähigungsgerechtigkeit keine Regelungen einsetzen, die die Armen auch erreichen. Abkehr von anderen Gerechtigkeitskonzepten, etwa Rentnern, die lange erwerbstätig waren, sollte man dem der Verteilungsgerechtigkeit. Sie soll die her- nicht die gesamte gesetzliche Rente auf die Grundsi- kömmliche Politik der Einkommenssicherung für cherung anrechnen. Man könnte hier Anleihe neh- Bürger, deren eigenes Einkommen und Vermögen men an der vielgescholtenen Zuverdienstregelung nicht ausreicht, um ein menschenwürdiges Leben bei Hartz IV. Dann hätte jeder, der über lange Zeit zu gewährleisten, nicht ersetzen. Armutsprävention sozialversicherungspflichtig gearbeitet hat, im Alter und die Linderung von Armut und Einkommens- mehr als der, der dies nur wenige Jahre oder nie tat. unsicherheit gehören zu den Voraussetzungen für Dies würde gleichzeitig zur Sicherung der Akzeptanz eine gelingende Befähigung. Wer mit Befähigung der gesetzlichen Rente beitragen. Bezüglich der Er- argumentiert, um Grundsicherungsleistungen ein- träge aus Riesterrenten und Betriebsrenten ist 2017 zuschränken, missbraucht den Befähigungsansatz. eine Freibetragsregelung bereits eingeführt worden. Aber: Wenn wir bei der Befähigung scheitern, kön- Auch eine weitere Erhöhung der Vermögensfreigren- nen wir die Schieflagen, die dadurch entstehen, nicht zen (zum 1. April 2017 erhöht auf 5000 Euro) würde durch Verteilungspolitik ausgleichen. armen Alten helfen. Die unbewältigte Herausforderung für die Armuts- Aber Armutspolitik muss mehr sein als die faire und politik ist es, den Sozialstaat auf Befähigung auszu- kluge Ausgestaltung von Transfersystemen (so un- richten. Es gibt in Deutschland einen starken Sozi- INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN 13
alstaat, ein ausgebautes Bildungssystem, vielfältige Literatur Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, differenzier- te Beratungsdienste, ein gutes medizinisches Sys- Cremer, Georg (2016): Armut in Deutschland. Wer tem, eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Es gibt somit ist Arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? ein ausgebautes Netz, das Menschen dabei beisteht, München: C.H.Beck. wenn sie Unterstützung brauchen. Dieser Sozialstaat Cremer, Georg (2018): Wie Armut bekämpfen? In: kann sich weiterhin auf einen breiten gesellschaft- SGb Die Sozialgerichtsbarkeit, 02/2018, S. 76 – 70. lichen Konsens stützen. Aber dieser Sozialstaat ist Cremer, Georg (im Erscheinen): Faktenorientierter nicht wirksam genug, wenn es darum geht, Notlagen Blick auf Armut und Armutsrisiko in Deutschland. vorzubeugen. In: Dabrowski, Martin; Wolf, Judith (Hg./2018): Ar- Wir müssen uns nicht damit abfinden, dass in einer mut und soziale Gerechtigkeit in Deutschland, Pa- Reihe von Kreisen fast jedes zehnte Kind die Schule derborn: Schöningh, S. 9–32. ohne Abschluss verlässt. Oder damit, dass mehr als 40% der Jugendlichen, die die Hauptschule besucht haben, diese nur mit sehr geringer Lesekompetenz verlassen. Dies ist ein Treibsatz für Armut und sozi- alen Ausschluss. Entgegen dem lange verbreiteten und bei vielen nicht überwundenen Arbeitsmarktpessimismus war die Arbeitsmarktpolitik seit 2005 sehr erfolgreich. Aber sie erreicht nicht den harten Kern der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit. Hier bräuchte es mehr Mut zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die nicht in praxisfernen Parallelwelten verharrt, sondern durch sinnhafte Arbeit Teilhabe ermöglicht. Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt, der Menschen unter- stützt, die weder heute noch in naher Zukunft den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen können, aber dennoch ein Recht auf Teilhabe haben. Uns ste- cken noch die schlechten Erfahrungen mit großen Arbeitsbeschaffungsprogrammen nach der Wieder- vereinigung in den Knochen, als öffentlich geförder- te Beschäftigung reguläre Beschäftigung verdrängte. Bei richtiger Zielgruppenauswahl ist diese Gefahr je- doch beherrschbar. Handwerk und Gewerkschaften vor Ort können das Jobcenter dabei unterstützten. Auch das an sich gut ausgebaute Hilfenetz des Sozial- staats ist nur ungenügend auf die Prävention sozialer Notlagen und die Befähigung der Bürgerinnen und Bürger ausgerichtet. Der Sozialstaat steht sich häufig selbst im Weg. Gegenüber Menschen aus prekären Milieus verhindern aufgesplitterte Zuständigkeiten die Hilfe aus einer Hand. Unterschiedliche Fachlogi- ken erschweren die Kooperation. Hemmend wirken auch Konflikte um die Kostenver- teilung zwischen den politischen Ebenen. Sie können neue Ansätze der Hilfe auch dann verhindern, wenn alle von ihrer Wirksamkeit überzeugt und ihre direk- ten Mehrkosten gering sind (sie mittelfristig sogar zu Einsparungen führten könnten). Hier Hemmnisse abzubauen, sollte Teil der Agenda für die neue Legis- laturperiode des Bundestags werden. UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG 14
Impressionen INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN 15
Prof. Dr. Wilfried Hinsch Ökonomische Ungleichheit und Gerechtigkeit Universität zu Köln Internationale Statistiken über die Verteilung von Vermögensverteilung ihren Lebensunterhalt zuneh- Einkommen und Vermögen zeigen, dass die Ein- mend durch riskante Kredite finanzieren, die von kommensungleichheit zwischen den Staaten in den denjenigen am oberen Ende gerne und auch leicht- letzten Jahren erkennbar abnimmt, in nicht gerin- fertig vergeben werden, weil die Sorge um Geldver- gem Maße übrigens bedingt durch den wirtschaft- luste mit steigendem Einkommen und Vermögen lichen Aufstieg Chinas. Die Einkommensungleich- abnimmt. Ungleichheit ist aber nicht nur deshalb ein heit innerhalb von Staaten wächst dagegen zum Teil Problem, weil sie politische und wirtschaftliche Kri- dramatisch. Auch hier mag man wiederum an China sen nach sich zieht. Sie ist auch ein moralisches Pro- denken.1 Man muss kein Sozialist sein, um die Ab- blem, sofern wir sie für ungerechtfertigt und damit nahme der zwischenstaatlichen Ungleichheit posi- ungerecht halten. tiv zu bewerten, die Zunahme der innerstaatlichen Fragen der volkswirtschaftlichen Einkommens- und Ungleichheit dagegen als problematisch anzusehen. Vermögensverteilung sind Fragen der distributiven Schon 2016 wählte die – sozialistischer Umtriebe Gerechtigkeit (Verteilungsgerechtigkeit). Natürlich eher unverdächtige – Zeitschrift Foreign Affairs für gibt es in jeder Gesellschaft unterschiedliche Vor- ihr Januarheft den Titel „Inequality. What causes stellungen darüber, unter welchen Bedingungen die it. Why it matters. What can be done“ und brachte Verteilung eines bestimmtes Gut (sei es Einkommen, Beiträge mit warnenden Worten unter anderem von Vermögen, Landbesitz, Nahrungsmittel oder Medi- so renommierten Wirtschaftswissenschaftlern wie kamente) als gerecht oder ungerecht zu beurteilen Francois Bourguinon und Anthony Atkinson. Es ist. Ich werde mich auf einige grundlegende Punk- ist auch nicht zu übersehen, dass große wirtschaft- te konzentrieren und zum Anschluss lediglich kurz liche Ungleichheit den sozialen Zusammenhalt in skizzieren, wie ich die Dinge sehe. Der Einfachheit einer Gesellschaft gefährdet und politische Unzu- halber werde ich nur über Einkommen sprechen. friedenheit nährt. Viele fühlen sich ungerechtfer- Ein grundlegender Unterschied zwischen Gerechtig- tigt benachteiligt, über den Tisch gezogen und so- keitskonzeptionen ist derjenige zwischen Konzepti- zial ausgeschlossen. Wirtschaftliche Ungleichheit onen, für die Ungleichheit an sich ein Problem dar- beeinflusst auch die Risikowahrnehmung und das stellt und solchen, für die Ungleichheit ein Problem wirtschaftliche Handeln von Menschen. Schon 2005 ist, weil sie mit moralisch unerwünschten Folgen hat der ehemalige Chefökonom des Internationa- und Begleiterscheinungen verbunden ist. len Währungsfonds (IWF), Raghuram Rajan, einen Wenn Ungleichheit als solche ungerecht wäre, also Zusammenhang zwischen Ungleichheit und dem völlig unabhängig davon, welche Folgen sich aus ihr Auftreten von Wirtschaftskrisen hergestellt. Ob ein für alle Beteiligten ergeben, dürfte niemand mehr be- solcher Zusammenhang tatsächlich besteht, lässt sich kommen als andere. Und zwar auch dann nicht wenn empirisch nicht leicht überprüfen. Es darf gewiss auch die schlechter Gestellten von ihnen profitieren nicht als bewiesen gelten. Es leuchtet aber ein, dass würden. Denen, die bereits mehr haben als andere, es zu volkswirtschaftlichen Problemen führt, wenn müsste es weggenommen werden, auch wenn dies diejenigen am unteren Ende der Einkommens- und mit keinerlei Vorteil für diejenigen verbunden wäre, die weniger haben. Im Ergebnis müssten wir eine für 1 Statistiken, die beide Einschätzungen belegen, finden sich an alle Beteiligten bessere, aber ungleiche Verteilung als vielen Orten. Umfassende, zuverlässige und leicht zugängliche ungerecht und damit moralisch schlechter beurteilen Angaben zu den einzelnen Ländern und den Beziehungen zwi- als eine Gleichverteilung, die für alle schlechter wäre: schen ihnen finden sich in der Pariser World Inequality Database Man ahnt, dass eine solche Gerechtigkeitsvorstellung (wid.org) und auf der Webseite der OECD (hpps://data.oecd.org/ inequality/income-inequality.html). auch bei denen, die weniger verdienen als andere in UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG 16
der Regel auf wenig Verständnis stößt. darüber hinaus in zunehmenden Maße auf.2 Ein un- Ungleichheit nicht per se für ungerecht zu halten, be- ter dem Gesichtspunkt der politischen Gerechtigkeit deutet nicht zu bestreiten, dass sie ungerecht und aus besonders kritischer Aspekt großer ökonomischer moralischer Sicht ein inakzeptables Übel sein kann. Ungleichheit besteht darin, dass diese typischer Wei- Es bedeutet lediglich, dass Ungleichheit mit Blick auf se den einkommensstarken und vermögenden sozi- ihre Folgen für die Mitglieder einer Gesellschaft un- alen Gruppen einen sehr viel größeren Einfluss auf ter bestimmen Bedingungen ein Übel und ungerecht die politische Entscheidungsfindung ermöglichen als sein kann, unter anderen Bedingungen jedoch kein ihn andere Bürger haben. Dies widerspricht der Idee Übel sein mag, sondern etwas das gerechterweise zu- demokratischer Gleichheit und es führt dazu, dass gelassen werden kann. die ohnehin schon wirtschaftlich Begünstigten auch Die enormen Einkommensdifferenzen in vielen Län- in allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Le- dern stellen, wie zahlreiche Studien zeigen, in der bens ihre Interessen bevorzugt durchsetzen können. Tat ein großes Übel dar. Die problematischen Folgen Um eine Antwort auf die Frage zu finden, welcher wirtschaftlicher Ungleichheit beschränken sich nicht Grad an Ungleichheit mit Blick auf die mit ihr ver- darauf, dass schlechter gestellte Mitglieder einer Ge- bundenen unerwünschten Folgen gerechterweise zu- sellschaft sich ungerecht behandelt und von den An- lässig erscheint, ist es hilfreich, sich kurz die Grund- nehmlichkeiten des Lebens ausgeschlossen fühlen. struktur des Problem der distributiven Gerechtigkeit Dies ist zweifellos der Fall und jede Antwort auf die in arbeitsteiligen und auf wirtschaftlicher Koopera- Frage nach einer gerechten Einkommensverteilung tion beruhenden Gesellschaften zu vergegenwärti- muss dies an zentraler Stelle berücksichtigen. Un- gen. Zwei Annahmen sind hier grundlegend: Erstens ter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ist es aber verstehen wir unter wirtschaftlicher Kooperation ein nicht das einzige Problem und auch nicht das Haupt- gewinnträchtiges gemeinschaftliches Unternehmen, problem. Viele Anzeichen und Gründe sprechen das für alle Beteiligte vorteilhaft ist, auch wenn nicht dafür, dass große wirtschaftliche Ungleichheiten zu alle notwendiger Weise in gleichem Maße profitieren. Problemen führen, die darüber hinaus gehen, dass Zweitens nehmen wir an, dass der durch die Zusam- Menschen sich schlecht fühlen. Die Untersuchungen menarbeit insgesamt erwirtschaftete Gewinn auf un- von Angus Deaton, Kate Pikett und Richard Wilkins- terschiedliche Weise unter den Beteiligten aufgeteilt on etwa deuten darauf hin, dass mit wachsender Un- werden kann. Aus der ersten Annahme folgt, dass gleichheit nicht nur die gesundheitlichen Beeinträch- wir ein allen gemeinsames Interesse an der Zusam- tigungen (physisch und psychisch) der Mitglieder einer Gesellschaft zunehmen und die durchschnittli- 2 Deaton, The Great Escape. Health, Wealth, and the Origins of che Lebenserwartung sinkt. Auch die Kriminalitäts- Inequality, Princeton 2015 (dt. Übers. 2017). Pikett/Wilkinson, rate und die Anzahl der Gewaltverbrechen steigt und The Spirit Level. Why Equality is Better for Everyone, London zahlreiche andere gesellschaftliche Missstände treten 2010 (dt. Übers. 2016). INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN 17
menarbeit unterstellen dürfen. Schließlich gewinnen differenzen müssen also zumindest im Prinzip für alle durch sie. Aus der zweiten Annahme folgt, dass alle Beteiligten – einschließlich derjenigen, die wirt- es bei der Verteilung des gemeinsam erwirtschafteten schaftlich am schlechtesten gestellt sind – akzeptabel Gewinns gegenläufige und konfliktträchtige Interes- sein. Im Ergebnis bedeutet dies, dass alle Einkom- sen gibt. Jeder möchte, so nehmen wir wiederum an, mensdifferenzen einen positiven Beitrag zur Erhö- einen möglichst großen Anteil für sich selbst, auch hung der Einkommen derjenigen leisten müssen, die wenn andere dann weniger bekommen. Wir haben in einer Gesellschaft zur Gruppe der am wenigsten es mit einer antagonistischen Kooperation zu tun: Es Verdienenden gehören. Und dies führt über uns di- gibt ein gemeinsames Interesse zu kooperieren, aber rekt zum Differenzprinzip, demzufolge wirtschaftli- gegensätzliche Interessen, wenn es um die Gewinn- che und soziale Ungleichheiten zum größtmöglichen verteilung geht. Vorteil der am wenigsten Begünstigten sein müssen. Wie lässt sich ein solcher, aus antagonistischer Ko- Wir dürfen annehmen, dass die in vielen Ländern operation resultierender, Verteilungskonflikt gerecht bestehenden Ungleichheiten diese Bedingung wirt- auflösen? Eine mögliche Antwort geht auf die fran- schaftlicher Gerechtigkeit nicht erfüllen. zösische Erklärung der Menschen und Bürgerrechte von 1789 zurück. Sie wurde in Form des Differenz- oder Unterschiedsprinzips John Rawls in seiner The- orie der Gerechtigkeit3 umfassend weiterentwickelt und ich habe dieses Prinzip in anderer Form in Ge- rechtfertigte Ungleichheiten4 ebenfalls vertreten. In der Deklaration von 1789 heißt es im ersten Arti- kel: „Die Menschen werden frei und gleich an Rech- ten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen be- gründet sein.“ Wirtschaftliche Ungleichheiten wären demnach nicht per se ungerecht, sondern nur dann, wenn sie nicht im „gemeinen Nutzen“ begründet lie- gen. Bei Rawls wird daraus in der Theorie der Gerech- tigkeit von 1971 die positiv gewendete Vorstellung, dass Ungleichheiten zulässig und gerecht sind, wenn sie für alle Mitglieder einer Gesellschaft vorteilhaft sind und wenn sich alle unter fairen Bedingungen auf ihre Zulassung einigen könnten. Einkommens- 3 Cambridge Mass. 1971 (dt. Übers. 1975). 4 Berlin/New York 2002. UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG 18
Publikationen des Instituts für Wirtschaftspolitik Zeitschrift für Wirtschaftspolitik Zusammen mit der Gründung des Instituts für Wirt- Fokus auf Artikel zu aktuellen Fragen der deutschen, schaftspolitik an der Universität zu Köln wurde die europäischen und internationalen Wirtschaftspolitik. „Wirtschaftspolitische Chronik“ ins Leben gerufen. Im Mittelpunkt jeder Ausgabe steht das wirtschafts- Seit 1984 wird sie unter dem Namen „Zeitschrift für politische Forum. Es behandelt Themen, die in der Wirtschaftspolitik“ vom iwp herausgegeben. Öffentlichkeit zum Teil sehr kontrovers diskutiert Die referierte Zeitschrift ist offen für wirtschaftswis- werden. Die Zeitschrift erscheint drei Mal im Jahr senschaftliche Beiträge aller Richtungen, mit einem beim Verlag De Gruyter Oldenbourg (seit 2016). INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN 19
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