UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG - SAMMELBAND ZUR RINGVORLESUNG im Wintersemester 2017/2018 an der Universität zu Köln - Institut für ...

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UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG - SAMMELBAND ZUR RINGVORLESUNG im Wintersemester 2017/2018 an der Universität zu Köln - Institut für ...
SAMMELBAND ZUR RINGVORLESUNG
im Wintersemester 2017/2018 an der Universität zu Köln

UNGLEICHHEIT
UND UMVERTEILUNG
Christoph Oslislo, Rebekka Rehm [Hrsg.]
UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG - SAMMELBAND ZUR RINGVORLESUNG im Wintersemester 2017/2018 an der Universität zu Köln - Institut für ...
Das Institut für Wirtschaftspolitik
  an der Universität zu Köln

Das Institut für Wirtschaftspolitik (iwp) wurde 1950      Wirtschaftspolitische Forschung erfolgt zuallererst
als un­ab­hängiges wirtschaftswissenschaftliches For-     im Dienste der Gesellschaft. Das iwp möchte mit der
schungsinstitut an der Universität zu Köln gegrün-        problemlösungsorientierten Forschung nicht nur
det. Gründer waren Prof. Dr. Alfred Müller-Armack,        einen Beitrag zur praktischen Beratung der Politik,
der geistige Vater der Sozialen Marktwirtschaft, und      sondern auch den Transfer der Erkenntnisse in die
Dr. h. c. Franz Greiß.                                    interessierte Öffentlichkeit leisten: Daher genießen
Die vorrangige Aufgabe des Instituts liegt in der Un-     der Austausch mit der Öffentlichkeit und die Betei-
tersuchung aktueller grundlegender Probleme im            ligung an der öffentlichen Diskussion einen hohen
Bereich der Wirtschafts­politik. Das besondere Au-        Stellenwert. Sie prägen neben Forschung und Politik-
genmerk gilt dabei den institutionellen Rahmenbe-         beratung das Selbstverständnis des iwp.
dingungen einer funktionsfähigen Sozialen Markt-          Die wissenschaftliche und organisatorische Leitung
wirtschaft. Das iwp schlägt die Brücke zwischen           des Instituts liegt zurzeit bei Prof. Dr. Felix Höffler,
universitärer ­Forschung und wirtschaftspolitischer       Prof. Michael Krause, PhD., und Dr. Steffen J. Roth.
Praxis. Es hat den Anspruch, den aktuellen Stand der
Wissenschaft für die Erarbeitung prakt­ischer Politik­    Weitere Informationen erhalten Sie unter:
empfehlungen zu nutzen. Ziel ist es, wissenschaft­liche
Erkenntnisse zu übersetzen, dabei konkrete Ant-           www.iwp.uni-koeln.de
worten auf gesellschaftliche Herausforderungen zu
erarbeiten und wirtschaftspolitisch gangbare Wege
aufzuzeigen, durch die diese Herausforderungen ge-
meistert werden können. Die praktische Umsetzung
der akademisch erarbeiteten Lösungsansätze genießt
bei der Arbeit des iwp höchste Priorität.

  Förderer der Ringvorlesung
Die Ringvorlesung wird gefördert im Rahmen der            „Wissenschaft und Praxis“ treten in einen Dialog; da-
Förderinitiative „Dialog Junge Wissenschaft und           bei stehen innovative Ideen und konkrete Lösungs­
Praxis“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung.               ansätze im Fokus.
In dieser Initiative treffen Studierende mit Experten     Die Herausgabe dieses Begleitbands zur Ringvorle-
aus Wirtschaft, Staat, Gesellschaft und Medien zu-        sung wird ermöglicht durch die großzügige Unter-
sammen, um praxisbezogene Themen zu diskutieren.          stützung der Otto Wolff Stiftung.

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Inhalt
Vorwort............................................................................................................................................................................. 4
Prof. Dr. Felix Höffler, Prof. Michael Krause, Ph.D., Dr. Steffen J. Roth

Einleitung......................................................................................................................................................................... 6
Christoph Oslislo, Rebekka Rehm

Was bedeutet es arm zu sein? Zum Armutsbegriff und der Armutssituation in Deutschland............................. 10
Prof. Dr. Georg Cremer

Ökonomische Ungleichheit und Gerechtigkeit............................................................................................................ 16
Prof. Dr. Wilfried Hinsch

Die Verteilung von Vermögen in Deutschland unter Berücksichtigung von Rentenanwartschaften................. 20
Prof. Dr. Carsten Schröder, Dr. Markus M. Grabka, Prof. Dr. Timm Bönke

Ungleichheitswahrnehmung und Umverteilungspräferenzen – ein internationaler Vergleich............................ 26
Dr. Judith Niehues

Wie durchlässig ist unsere Gesellschaft? Über soziale Mobilität in Deutschland................................................... 32
Prof. Dr. Marita Jacob

Vermessung des Glücks: Zum Verhältnis von Wohlstand und Lebenszufriedenheit............................................ 38
Prof. Dr. Ronnie Schöb

Steuern als Instrument der Umverteilung.................................................................................................................... 44
Prof. Dr. Thiess Büttner

Wie „sozial“ ist die Sozialversicherung? Paradoxe Verteilungswirkungen von gesetzlicher Renten-
und Krankenversicherung............................................................................................................................................. 50
Prof. Dr. Friedrich Breyer

Kostet weniger Ungleichheit Wachstum?..................................................................................................................... 54
Prof. Dr. Gert G. Wagner

Gefährdet Ungleichheit den gesellschaftlichen Frieden? Ungleichheit als Ursache und Wirkung
von Gewalt....................................................................................................................................................................... 60
Dr. Anke Höffler

Demokratie ohne Wähler? Über die Wechselwirkungen zwischen ökonomischer und politischer
Ungleichheit..................................................................................................................................................................... 66
Prof. Dr. Frank Decker

Welche Rolle spielen politische Maßnahmen bei der Gewährleistung gleicher (Bildungs-)Chancen?
– Aufstieg durch Bildung............................................................................................................................................... 72
Ministerin Yvonne Gebauer

INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN                                                                                                                               3
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Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

soziale Ungleichheit ist ein Thema von großer ge-        uns grundlegenden konzeptionellen Problemstel-
sellschaftlicher Relevanz, welches sich aktuell erneut   lungen gewidmet, wie zum Beispiel der Messbarkeit
eines großen Interesses in Politik und Öffentlichkeit    von Armut. Anschließend haben wir uns der Empirie
erfreut. Aus wissenschaftlicher Perspektive besteht      zugewandt – nicht nur einer Bestandsaufnahme der
jedoch keineswegs in allen Punkten Einigkeit: Nimmt      Ungleichheit, sondern auch einer Betrachtung der
die Ungleichheit zu? Wenn ja, aus welchen Gründen?       subjektiven Wahrnehmungen von Ungleichheit. Im
Welche Maßnahmen würden der Ungleichheit ent-            letzten Teil der Reihe haben wir uns mit den Aus-
gegenwirken? Nach welchem Kriterium lässt sich           wirkungen von Ungleichheit und möglichen politi-
bestimmen, welche dieser Maßnahmen umgesetzt             schen Maßnahmen beschäftigt. Hierzu zählten bei-
werden sollten?                                          spielsweise bildungspolitische und steuerpolitische
Diesen und weiteren Fragen war die Ringvorlesung         Fragen. Zu allen Themen referierten ausgewiesene
„Ungleichheit und Umverteilung“ des Instituts für        Expertinnen und Experten aus den Wirtschaftswis-
Wirtschaftspolitik im Wintersemester 2017/2018 ge-       senschaften, aber auch aus anderen Disziplinen, wie
widmet. Zu ihrer Beantwortung haben wir im Laufe         der Soziologie und Philosophie sowie aus der politi-
des Semesters verschiedene Blickwinkel eingenom-         schen Praxis.
men: Im ersten Teil der Vorlesungsreihe haben wir

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Prof. Dr. Felix
Im Wintersemester 2017/2018 fand bereits die ach-                                Höffler
te Vorlesungsreihe dieser Art des Instituts für Wirt-
schaftspolitik statt. Seit 2010 sind die Ringvorlesun-                           Direktor des
gen zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen ein
                                                                                 Instituts für
fester Bestandteil unseres Veranstaltungsangebots.
                                                                                 Wirtschaftspolitik
Sie adressieren nicht nur das universitäre Fachpub-
likum, sondern auch die interessierte Öffentlichkeit.
Die Bildung solcher Brücken zwischen Wissenschaft
und Öffentlichkeit verstehen wir als wichtige Aufga-         Foto: Lisa Beller

be unseres Instituts. Studierenden geben die Ring-
vorlesungen Anregungen für die Spezialisierung
innerhalb der eigenen Disziplin und ermöglichen
zugleich den Blick über den Horizont des eigenen
Faches hinaus. Wir freuen uns darüber, dass das In-
teresse an dem Format immer groß war und im Laufe                                Prof. Michael
der Jahre weiter zugenommen hat. Wir danken dem                                  Krause, Ph.D.
Fördererkreis und den institutionellen Förderern des
Instituts für Wirtschaftspolitik sehr herzlich für ihre
großzügige Unterstützung, mit der sie dieses Ange-
                                                                                 Direktor des
bot ermöglichen.                                                                 Instituts für
In diesem Jahr gibt das Institut für Wirtschaftspolitik                          Wirtschaftspolitik
zum vierten Mal einen Begleitband zur Ringvorle-
sung heraus, für den die Referentinnen und Referen-
ten ihre zentralen Thesen zusammengefasst und so             Foto: Lisa Beller

einer weiterführenden Auseinandersetzung zugäng-
lich gemacht haben. Ihnen allen möchten wir sehr
herzlich danken. Für die Herausgabe dieses lesens-
werten Überblicks und die Organisation der Ver-
anstaltungsreihe danken wir Christoph Oslislo und
Rebekka Rehm.                                                                    Dr. Steffen J. Roth
Wir wünschen Ihnen viel Spaß und Erkenntnisge-
winn bei der Lektüre. Die Mitarbeiterinnen und Mit-                              Direktor und
arbeiter des Instituts für Wirtschaftspolitik freuen                             Geschäftsführer des
sich darauf, Sie bei einer unserer nächsten Veranstal-                           Instituts für
tungen willkommen zu heißen.                                                     Wirtschaftspolitik

INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN                                             5
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Einleitung

                        Rebekka Rehm                             Christoph Oslislo

                        Institut für                             Institut für
                        Wirtschaftspolitik                       Wirtschaftspolitik
                        an der Universität                       an der Universität
                        zu Köln                                  zu Köln

Im Wintersemester 2017/2018 war die Ringvorle-            Eine erste Herausforderung ist es also, unterschiedli-
sung des Instituts für Wirtschaftspolitik dem The-        che Wertvorstellungen als solche zu erkennen.
ma „Ungleichheit und Umverteilung“ gewidmet.              Interessanterweise beschränkt sich jedoch die
Die Auswahl des Themas war nicht zuletzt dadurch          Schwierigkeit, eine gemeinsame Gesprächsgrundla-
motiviert, dass zwar häufig über die Verteilung der       ge zu schaffen, nicht auf eindeutig normative Fragen,
Einkommen, Vermögen und Chancen sowie vertei-             sondern betrifft teilweise auch Aspekte der beschrei-
lungspolitische Maßnahmen diskutiert wird, aller-         benden Analyse. So besteht beispielsweise keine Ei-
dings gewinnbringende Debatten zu diesen Themen           nigung darüber, welches das geeignetste Verteilungs-
selten sind. Häufig fehlt eine gemeinsame Gesprächs-      oder Armutsmaß ist. Die verschiedenen Konzepte,
grundlage, da Begriffe unterschiedlich verwendet          die in der Debatte eine Rolle spielen, unterscheiden
werden, verschiedene Annahmen über den Status             sich fundamental und führen dementsprechend zu
Quo zugrunde liegen und/oder persönliche Wertvor-         ganz unterschiedlichen Einschätzungen der Vertei-
stellungen nicht explizit, sondern implizit einfließen.   lung bzw. des Ausmaßes von Armut. Wie problema-
Unklarheiten können also auf vielen Ebenen beste-         tisch es sein kann, wenn kein geeigneter Maßstab
hen:                                                      gewählt wird, lässt sich an einem Beispiel verdeutli-
Mit der Frage, wie die Verteilungspolitik ausgestal-      chen, das der erste Referent der Ringvorlesung, Herr
tet sein sollte, ist untrennbar die Frage verbunden,      Georg Cremer, vorgetragen hat: Oft wird suggeriert,
wie eine gerechte Gesellschaft aussehen würde. Auf        dass die Anzahl der Bezieher staatlicher Transfer-
diese Frage gibt es offensichtlich keine eindeutige       leistungen als Maßstab für Armut dienen könnte.
und allgemein zustimmungsfähige Antwort. Schwie-          Das impliziert jedoch, dass Armut in Folge einer
rigkeiten entstehen vor allem dann, wenn wertende         Erhöhung der Transferleistungen zunimmt und da-
Begriffe in der Verteilungsdebatte auf unterschiedli-     mit gleichzeitig der Empfängerkreis der Leistungen
che Weisen verwendet werden. So scheinen sich zum         wächst. Politische Maßnahmen zur Verringerung der
Beispiel der Forderung nach Chancengerechtigkeit          Armut durch das Steuer-Transfer-System erscheinen
Vertreter fast aller politischen Lager anschließen        nach diesem Maßstab vergeblich oder sogar kontra-
zu können, obwohl davon auszugehen ist, dass sich         produktiv.
die zugrundeliegenden Gerechtigkeitsvorstellungen         Die gesellschaftliche Debatte über Ungleichheit und
stark unterscheiden: Manchen erscheint es bereits         Umverteilung wird auch davon geprägt, dass die
gerecht, wenn jeder ohne Diskriminierung am wirt-         subjektiven Vorstellungen vieler Menschen davon,
schaftlichen Geschehen teilnehmen kann, während           wie die Einkommen bzw. Vermögen verteilt sind,
andere erst einen sehr weitgehenden Ausgleich un-         nicht der tatsächlich objektiv messbaren Verteilung
terschiedlicher Möglichkeiten als gerecht empfinden.      entsprechen. Wie im Vortrag von Frau Judith Nie-

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Quelle: Diermeier, M. / Goecke, H. / Niehues, J. / Thomas, T. (2017): Verzerrte Wahrnehmung: Wie Berichte über Un-
gleichheit verunsichern, IW-Kurzberichte, Nr. 63.

hues deutlich wurde, stellen sich viele Menschen                 noch verändert (siehe Abbildung 1). Die Autoren
die Einkommensverteilung in Deutschland deutlich                 zeigen außerdem, dass das Ausmaß der Berichter-
ungleicher vor, als sie tatsächlich ist. Gleichzeitig un-        stattung über Ungleichheit die Einschätzungen der
terscheiden sich die einzelnen subjektiven Wahrneh-              Bevölkerung zum Thema beeinflusst. Sie untersu-
mungen deutlich voneinander. Unterschiedliche Po-                chen diesen Zusammenhang anhand von Haushalts-
sitionen in der gesellschaftlichen Verteilungsdebatte            befragungsdaten des sozio-ökonomischen Panels aus
liegen also möglicherweise auch darin begründet,                 den Jahren 2001 bis 2015. Eine besonders intensive
dass unterschiedliche Annahmen über den Status                   Berichterstattung über Ungleichheit in der Woche
Quo der Verteilung getroffen werden.                             vor einer Befragung erhöhte erstens signifikant die
Der Diskurs über Ungleichheit wird maßgeblich von                Wahrscheinlichkeit, dass die Befragten Sorgen um
der medialen Berichterstattung geprägt. Zunächst                 die wirtschaftliche Situation äußerten. Zweitens
einmal ist beobachtbar, dass die mediale Berichter-              führte sie dazu, dass weniger Befragte zufrieden mit
stattung über Ungleichheit nicht immer tatsächliche              der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit wa-
Entwicklungen widerspiegelt. Verdeutlichen lässt                 ren. Auch diese Befunde legen nahe, dass die Debatte
sich das zum Beispiel an einem Befund von Dier-                  über Ungleichheit und Verteilungspolitik nicht aus-
meier et al. (2017)1 verdeutlichen. Die Autoren do-              schließlich von objektiven Befunden determiniert
kumentieren unter anderem, dass sich der Anteil der              wird.
Berichte in deutschen Leitmedien, der dem Thema                  Die skizzierten Phänomene unterstreichen die Rele-
Ungleichheit gewidmet ist, in den vergangenen zehn               vanz einer differenzierten Auseinandersetzung mit
Jahren verdoppelt hat. Im gleichen Zeitraum hat sich             dem Thema „Ungleichheit und Umverteilung“, über
die Verteilung der Einkommen de facto jedoch kaum                das wir deshalb ein ganzes Semester lang diskutiert
                                                                 haben. Ziel war es, zunächst die Gesprächsgrundlage
                                                                 zu verbessern, um darauf aufbauend lösungsorien-
1 Diermeier, M. / Goecke, H. / Niehues, J / Thomas, T. (2017):
Verzerrte Wahrnehmung: Wie Berichte über Ungleichheit ver-       tiert debattieren zu können. Dank der Expertinnen
unsichern, IW-Kurzberichte, Nr. 63.                              und Experten aus vielen verschiedenen Disziplinen

INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN                                                              7
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haben wir von sehr unterschiedlichen Perspektiven       „Wie durchlässig ist unsere Gesellschaft? Über soziale
auf den Themenbereich profitiert. Die bisher ange-      Mobilität in Deutschland“ gewidmet. Der Fokus des
deuteten Fragestellungen geben also nur einen klei-     Beitrags liegt auf der intergenerationalen beruflichen
nen Vorgeschmack auf die Inhalte dieses Sammel-         Klassenmobilität. Frau Jacob geht der Frage nach, ob
bandes, für den die Referentinnen und Referenten        sich Kinder in den gleichen oder anderen beruflichen
ihre Thesen noch einmal zusammengefasst haben. In       Klassenpositionen befinden wie/als ihre Eltern.
folgender Reihenfolge finden Sie in diesem Band ihre    Im Beitrag „Die Vermessung des Glücks – Zum Ver-
Ausführungen zu den folgenden Themen:                   hältnis von Wohlstand und Lebenszufriedenheit“
Der Beitrag „Was bedeutet es arm zu sein? Zum Ar-       thematisiert Herr Ronnie Schöb zentrale Erkennt-
mutsbegriff und der Armutssituation in Deutsch-         nisse der ökonomischen Glücksforschung. Den Aus-
land“ ist der Bedeutung der Armut in einem wohl-        gangspunkt seiner Analyse bildet die Beobachtung,
habenden Land wie Deutschland gewidmet. Herr            dass einerseits Menschen mit einem höheren Ein-
Georg Cremer thematisiert zunächst den Begriff des      kommen in Befragungen eine größere Lebenszufrie-
Armutsrisikos. Anschließend beschreibt er, wie sich     denheit angeben als solche mit einem niedrigeren
der Anteil der Menschen, die einem solchen Risiko       Einkommen, andererseits aber festgestellt wurde,
ausgesetzt sind, verändert hat und erläutert, welche    dass die durchschnittliche Lebenszufriedenheit ei-
Faktoren diese Entwicklung bedingt haben. An-           ner Bevölkerung im internationalen Vergleich mit
schließend geht er auf die Ausgestaltung der Trans-     steigendem Wohlstand nicht zunimmt. Er führt ver-
fersysteme ein und formuliert Korrekturbedarf sowie     schiedene Erklärungen für dieses Phänomen an und
weitere Anforderungen an die Arbeitsmarkt- und          formuliert auf dieser Grundlage Implikationen für
Sozialpolitik.                                          die wirtschaftspolitische Praxis.
Herr Wilfried Hinsch leitet in seinem Beitrag „Öko-     Herr Thiess Büttner widmet sich in seinem Beitrag
nomische Ungleichheit und Gerechtigkeit“ her, wel-      „Steuern als Instrument der Umverteilung“ den allo-
cher Grad an Ungleichheit mit bestimmten Gerech-        kativen und distributiven Wirkungen des deutschen
tigkeitsvorstellungen vereinbar ist. Im Mittelpunkt     Steuersystems. Dazu stellt er zunächst die Ausge-
seiner Ausführungen steht das Differenzprinzip,         staltung und Entwicklung des Einkommensteuerta-
demzufolge Ungleichheiten zum größtmöglichen            rifs dar. Anschließend erläutert er, warum die Ver-
Vorteil der am wenigsten Begünstigten sein müssen.      teilungswirkung der Einkommensteuer durch den
Herr Hinsch argumentiert auch, warum es negati-         Steuerwettbewerb beschränkt wird und thematisiert
ve Auswirkungen auf die Gesellschaft haben kann,        die besondere Problematik der kalten Progression.
wenn von diesem Prinzip abgewichen wird.                Im Beitrag „Wie ‚sozial‘ ist die Sozialversicherung?
Herr Carsten Schröder und seine Kollegen Timm           Paradoxe Verteilungswirkungen von gesetzlicher
Bönke und Markus Grabka widmen sich in ih-              Renten- und Krankenversicherung“ beschäftigt sich
rem Beitrag der „Verteilung von Vermögen in             Herr Friedrich Breyer mit der Frage, ob das beste-
Deutschland unter Berücksichtigung von Ren-             hende deutsche Renten- und Krankversicherungs-
tenanwartschaften“. Sie erläutern zunächst, wa-         system zur Verschärfung von Ungleichheit beiträgt.
rum es überraschend ist, dass die Ansprüche an          Er erläutert dazu wesentliche Grundprinzipien der
die Rentenversicherer üblicherweise nicht in Ver-       Sozialversicherung und argumentiert, dass diese im
teilungsanalysen einbezogen werden und zeigen           bestehenden System verletzt werden. Außerdem dis-
anschließend, inwiefern sich die Vermögensvertei-       kutiert er, ob die Reformvorschläge, die in der po-
lung anders darstellt, wenn sie um diesen Faktor        litischen Debatte kursieren, diesen Prinzipien eher
korrigiert wird.                                        gerecht werden.
Im Beitrag „Ungleichheitswahrnehmung und Um-            Der Beitrag von Herrn Gert G. Wagner mit dem Titel
verteilungspräferenzen – ein internationaler Ver-       „Kostet weniger Ungleichheit Wachstum?“ ist sowohl
gleich“ stellt Frau Judith Niehues dar, dass die sub-   den positiven als auch den negativen Wirkungen von
jektive Wahrnehmung der Ungleichheit und die            Ungleichheit auf das wirtschaftliche Wachstum ge-
tatsächlich messbare Ungleichheit auseinanderfallen     widmet. Zunächst plausibilisiert Herr Wagner theo-
und wie sich die Abweichungen zwischen verschie-        retisch verschiedene mögliche Wirkungskanäle. An-
denen Ländern unterscheiden. Anschließend disku-        schließend fasst er empirische Erkenntnisse zu der
tiert sie, welche Implikationen solche Abweichungen     Frage zusammen, wie sich Ungleichheit insgesamt
für Umverteilungspräferenzen bzw. die gesellschaftli-   auf das wirtschaftliche Wachstum auswirkt.
che Verteilungsdebatte haben könnten.                   Frau Anke Höffler thematisiert „Ungleichheit als
Der Beitrag von Frau Marita Jacob ist dem Thema         Ursache und Wirkung von Gewalt“. Sie geht insbe-

UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG                                                                                    8
UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG - SAMMELBAND ZUR RINGVORLESUNG im Wintersemester 2017/2018 an der Universität zu Köln - Institut für ...
sondere der Frage nach, ob Ungleichheit den gesell-
schaftlichen Frieden gefährdet. Nach der Erläuterung
konzeptioneller Grundlagen stellt sie zunächst ver-
schiedene theoretische Ansätze dar, die erklären, wa-
rum Ungleichheit eine Bedrohung für das friedliche
Zusammenleben darstellen könnte. Anschließend
präsentiert sie empirische Erkenntnisse, die bei der
Beantwortung der Frage eine Rolle spielen.
Im Beitrag „Demokratie ohne Wähler? Über die
Wechselwirkungen zwischen ökonomischer und po-
litischer Ungleichheit“ erläutert Herr Frank Decker
zunächst, wie sich Ungleichheit auf die Wahlbeteili-
gung und das Wahlverhalten auswirkt. Dabei arbeitet
er einen sich selbst potentiell verstärkenden Prozess
heraus, der darin besteht, dass vor allem die Wahl-
beteiligung von denjenigen Bevölkerungsgruppen
zurückgeht, deren Interessen im politischen Pro-
zess ohnehin schon wenig Berücksichtigung finden.
Schließlich diskutiert er Mechanismen und Maßnah-
men, die diesem Phänomen entgegenwirken könn-
ten.
Der Beitrag „Welche Rolle spielen politische Maß-
nahmen bei der Gewährleistung gleicher (Bildungs-)
Chancen? – Aufstieg durch Bildung“ stellt eine
Schriftfassung des Vortrags von Frau Ministerin
Yvonne Gebauer dar, die sich dem Thema „Bildungs-
gerechtigkeit“ aus der Perspektive der politischen
Praxis nähert. Sie stellt zunächst einige grundlegende
Prinzipien vor, an denen sich ihre Schulpolitik orien-
tiert und diskutiert anschließend vor diesem Hinter-
grund verschiedene bildungspolitische Instrumente.

Viel Spaß beim Lesen!

INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN   9
UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG - SAMMELBAND ZUR RINGVORLESUNG im Wintersemester 2017/2018 an der Universität zu Köln - Institut für ...
Prof. Dr. Georg
Was bedeutet es arm zu sein?                                                             Cremer
Zum Armutsbegriff und der
                                                                                         Ehem. General-
Armutssituation in                                                                       sekretär des
Deutschland                                                                              Deutschen Caritas-
                                                                                         verbandes

In einem reichen Land wie Deutschland ist es er-         es zwischen 2010 und 2016 um 37% ab und lag 2016
forderlich, Armut und Armutsrisiko in Relation zu        deutlich unter dem Wert von 2004. Auf die griechi-
dem Lebensniveau der breiten Mitte zu erfassen.          sche Armutsrisikoquote hatte dies jedoch kaum Aus-
Grundlegend für die Armutsmessung in Europa ist          wirkungen. Sie lag im gesamten Zeitraum bei oder
die Definition des Rates der Europäischen Gemein-        etwas über 20%, 2016 betrug sie 21,2%. Die Erklä-
schaften von 1985: „Verarmte Personen [sind] Einzel-     rung hierfür ist einfach. Sowohl in der Phase der Ex-
personen, Familien und Personengruppen, die über         pansion als auch des Niedergangs blieb die relative
so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel   Einkommensverteilung in Griechenland – genauer
verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlos-      gesagt die relative Verteilung der statistisch erfassten
sen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben,   Einkommen – annähernd konstant (zumindest be-
als Minimum annehmbar ist.“                              zogen auf die unteren Einkommensgruppen). Im Fall
Dies ist eindeutig ein relatives Verständnis von Ar-     Griechenland spiegelte die Armutsrisikoquote weder
mut, denn die Vorstellungen darüber, was als Mini-       den Anstieg des Wohlstands, noch den Absturz wi-
mum annehmbar ist, verändern sich mit der Auswei-        der. In gleicher Weise kann die Armutsrisikoquote
tung des Wohlstands in einer Gesellschaft. Aber wie      auch eine deutliche Verbesserung der sozialen Lage
operationalisiert man dieses Minimum? Die heute          im Zeitverlauf ignorieren.
dominierende statistische Konvention erfasst dieje-      Wie hat sich das Armutsrisiko entwickelt? Im langen
nigen als im Armutsrisiko lebend, die über weniger       Zeitvergleich ist der Trend eindeutig. Die Einkom-
als 60% des mittleren Einkommens (Median der Ver-        mensungleichheit und mit ihr die Armutsrisikoquo-
teilung der Nettoäquivalenzeinkommen) verfügen.          te haben deutlich zugenommen. Aber es lohnt ein
Die Schwelle für einen Allleinstehenden liegt, je nach   differenzierter Blick auf den zeitlichen Verlauf der
Einkommenserhebung, bei Werten zwischen 942              Entwicklung seit der Wiedervereinigung. Bis 1998
und 1.050 Euro.                                          war die Armutsrisikoquote mit Schwankungen ten-
Der Begriff des Armutsrisikos verweist darauf, dass      denziell leicht rückläufig. Gründe hierfür sind der
eine Person mit einem Einkommen unterhalb der so         Abbau der zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung
definierten Armutsrisikoschwelle noch nicht zwin-        bestehenden krassen Einkommensunterschiede zwi-
gend als arm zu bezeichnen ist. Diese Differenzie-       schen Ost und West und die deutliche Anhebung der
rung spielt im öffentlichen Diskurs in Deutschland       Renten in Ostdeutschland. Zwischen 1998 und 2005
jedoch keine Rolle. Armut und Armutsrisiko werden        stieg die Armutsrisikoquote sehr stark an, von unter
ganz überwiegend synonym verwendet.                      11 auf über 14 Prozent. Wichtigster Grund hierfür
Die Armutsrisikomessung mit Hilfe der 60%-Schwel-        ist ein deutlicher Anstieg der Spreizung der Einkom-
le abstrahiert vom Wohlstandsniveau. Dies ist ein        men aus Arbeit. Die Wiedervereinigung war Teil ei-
zentraler Punkt der Auseinandersetzung. Der Anteil       ner historischen Zäsur; durch die plötzliche Öffnung
der Armen verändert sich – unabhängig vom Wohl-          der Volkswirtschaften Osteuropas wurden die Be-
stand einer Gesellschaft – nicht, solange die relative   schäftigungsverhältnisse in Deutschland unter einen
Verteilung der Einkommen unverändert bleibt.             starken Wettbewerbsdruck gesetzt. Verstärkt wurde
Wie relevant das Wohlstandsniveau für die Inter-         dies durch die zusätzliche Steuer- und Abgabenbelas-
pretation der Armutsrisikoquote ist, zeigt das Bei-      tung in Folge der Wiedervereinigung. In dieser Zäsur
spiel Griechenland. Dieses Land macht nach einer         sind die Lohnverhandlungen im Zusammenwirken
verschuldungsgetriebenen Expansion seit 2010 eine        zwischen Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften
schwere Krise durch. Während das Medianeinkom-           und Betriebsräten stark dezentralisiert worden. Ge-
men zwischen 2004 und 2010 um 35% stieg, stürzte         werkschaften und Betriebsräte akzeptierten Zuge-

UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG                                                                                       10
ständnisse, um Arbeitsplätze in den Unternehmen         tiver werden und sich so die Werte dem Mikrozensus
zu sichern. Die Dezentralisierung der Lohnfindung       annähern.
verbesserte die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Un-      So sehr sich die einzelnen Erhebungen zu den Haus-
ternehmen deutlich und schaffte damit die Grund-        haltseinkommen, die der Berechnung der Armuts-
lage für die beschäftigungspolitischen Erfolge der      risikoquote zugrunde liegen, unterscheiden, sie zei-
Hartz-Reformen. Erkauft wurde dies allerdings durch     gen einheitlich die gleichen Risikogruppen. Es sind
sinkende Löhne insbesondere am unteren Ende der         Gruppen, die keinen (ausreichenden) Zugang zum
Lohnverteilung. Zudem hat die Steuerentlastung für      Arbeitsmarkt haben, langzeitarbeitslose Menschen,
mittlere und obere Einkommen durch die rot-grüne        Alleinerziehende, gering Qualifizierte. Dies weist auf
Koalition zum Anstieg der Ungleichheit beigetragen.     die Bedeutung der Zugangssicherung zu produktiver
Der Grund, mit dem in der öffentlichen Debatte in       Beschäftigung als Teil jeder Politik der Armutsprä-
Deutschland üblicherweise die zunehmende Un-            vention hin. Es gibt einen engen Zusammenhang
gleichheit in Verbindung gebracht wird, fehlt hier:     zwischen geringer Qualifikation, hohem Arbeitslo-
Hartz IV. Da der massive Anstieg der Armutsrisi-        sigkeitsrisiko bzw. einer nicht kontinuierlichen Be-
koquote vor 2005 stattfand, kann allein vom zeitli-     rufsbiografie in schlechter Bezahlung und hohem
chen Ablauf her Hartz IV diese Entwicklung nicht        Armutsrisiko. Da Menschen mit Migrationshinter-
erklären. Die treibende Entwicklung hinter der zu-      grund oft schlechter in das Bildungssystem und den
nehmenden Ungleichheit der Einkommen, die wach-         Arbeitsmarkt integriert sind, haben auch sie ein er-
sende Lohnungleichheit, setzte bereits Ende der 1980    höhtes Armutsrisiko. Es ergibt sich auch daraus, dass
Jahre ein, also lange vor der Agenda 2010.              der Prozess der Integration Zeit braucht. Damit dürf-
Im Vergleich zu dem Zeitraum bis 2005 ist die Zeit      te in den nächsten Jahren, wenn die Integration einer
danach, also die Zeit nach Hartz IV, eher von Kons-     hohen Zahl von Flüchtlingen zu bewältigen ist, die
tanz oder einem nur moderaten Anstieg der Armuts-       Armutsrisikoquote leicht zunehmen.
risikoquote von etwa einem Prozentpunkt gekenn-         Neben der Armutsrisikoquote gilt in der öffentlichen
zeichnet. Am äußersten Rand zeigen die SOEP-Werte       Debatte die Zahl der Empfänger von Hartz IV und
erneut ein Anstieg. Allerdings muss berücksichtigt      der Grundsicherung im Alter als wichtiger Armut-
werden, dass eine deutlich bessere Erfassung der        sindikator. Wer Transferleistungen bezieht, ist damit
Bevölkerung mit Migrationshintergrund im SOEP           arm. Folglich gilt dann: Je höher diese Zahl, desto
die ausgewiesenen Werte stark beeinflusst (so Judith    schiefer die soziale Lage des Landes.
Niehues vom IW, Köln). Eine plausible Interpretation    Aber diese Gleichsetzung führt zu gedanklichen Fall-
des Anstiegs am aktuellen Rand in den SOEP-Daten        stricken. Der indisch-amerikanische Ökonom und
ist, dass die SOEP-Daten aufgrund der besseren Er-      Philosoph Amartya Sen hatte bereits in den 1980er
fassung der Migrationsbevölkerung nun repräsenta-       Jahren vehement kritisiert, die Höhe der Grundsi-

INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN                                                       11
cherung als Armutsgrenze zu verwenden. Er sprach         Um armen Menschen zielgenau zu helfen, sind exis-
von der „Perversität“ dieses Armutsmaßes: Hebe die       tenzsichernde Transfersysteme unverzichtbar. Von
Regierung, um Armut zu bekämpfen, die Grundsi-           zentraler Bedeutung ist die Höhe der Grundsiche-
cherung an, so wachse zwangsläufig die Zahl ihrer        rung. Das zur Berechnung angewandte Statistikver-
Bezieher. Scheinbar wachse die Armut, obwohl sie         fahren ist grundsätzlich geeignet, es muss aber um
doch besser bekämpft werde. Umgekehrt würde eine         Inkonsistenzen korrigiert werden. So gibt es in nicht
Senkung der Grundsicherung die Zahl der Bezieher         unerheblichem Maße verdeckt Arme in der Refe-
verringern und damit zu dem Eindruck führen, die         renzgruppe, die das Rechenergebnis nach unten zie-
Armut sei gesunken, die Hilfe für Arme nehme also        hen. Auch gibt es einige politisch motivierte Eingriffe
in ihrer Bedeutung ab. Nun mag man das für spitz-        in die Berechnung, so sind anstelle der Ausgaben für
findig halten. Aber Fehlbewertungen, die aus frag-       Bier, die in der Referenzgruppe ermittelt wurden,
würdigen oder zumindest nicht ausreichend verstan-       Ausgaben für Mineralwasser angesetzt worden. Zu-
denen Indikatoren folgen, sind auch in der deutschen     dem ist in der Berechnung, die nach dem Urteil des
Sozialstaatsdebatte politisch wirkmächtig. Das zeigt     Bundesverfassungsgerichts von 2010 erfolgte, die
sich beispielhaft an der Grundsicherung im Alter, die    Größe der Referenzgruppe von 20% auf 15% verklei-
2003 von der Rot-Grünen Koalition eingeführt wur-        nert worden. Nach Abschätzungen des Deutschen
de. Sie hat die Hilfe für arme alte Menschen deutlich    Caritasverbandes würde bei der Korrektur dieser
verbessert. Denn der Rückgriff auf das Einkommen         Eingriffe der Regelbedarf eines Alleinstehenden um
der Kinder, der bis dahin in der Sozialhilfe erfolgte,   etwa 60 Euro steigen. Zudem hat der Deutsche Cari-
wurde faktisch aufgehoben (dieser erfolgt nur bei        tasverband die Einführung einer Flexibilitätsreserve
Kindern mit einem Bruttoeinkommen über 100.000           von 5% und damit ca. 20 Euro pro Monat vorgeschla-
Euro pro Jahr). Sehr viele arme Alte hatten bis da-      gen, beispielsweise um die Ansparung von Anschaf-
hin keine ergänzende Sozialhilfe beantragt, um ih-       fungen zu erleichtern. Eine Erhöhung um 80 Euro
ren Kindern nicht zur Last zu fallen. Es gab also in     führte nicht zu einem völlig anderen Sicherungsni-
weit höherem Maße als heute verdeckte Armut. Nach        veau, würde aber Grundsicherungsempfängern et-
2003 stieg die Zahl der Grundsicherungsempfänger         was mehr Flexibilität in ihrer Lebensführung geben.
im Alter deutlich an, die verdeckte Armut ging zu-       In der Konsequenz würden erheblich mehr Beschäf-
rück. Doch genau dieser Anstieg wurde und wird           tigte in Teilzeit oder mit Niedriglöhnen und Bezieher
wiederum als Indiz für sich verschlechternde soziale     von Minirenten ergänzende Hilfe erhalten. Bei einer
Verhältnisse skandalisiert. Da SPD und Bündnis 90/       unreflektierten Verwendung der Zahl der Transfer-
Die Grünen – erstaunlicherweise – diese sozialpoliti-    empfänger als Armutsindikator würden die sozialen
sche Errungenschaft nicht selbstbewusst verteidigen,     Probleme dann scheinbar zunehmen. Es wäre aber
konnte sich auch hier ein Narrativ des Niedergangs       falsch, dann wieder Skandal zu rufen. Für Politiker
festsetzen.                                              ist es extrem unattraktiv, Hilfen auszubauen, wenn

UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG                                                                                      12
sie dann das Risiko tragen, mit geringer zeitlicher      verzichtbar diese sind). Wir brauchen eine Politik der
Verzögerung verbalen Angriffen ausgesetzt zu sein,       Armutsprävention. Dazu müssen wir den Diskurs
die Armut habe in ihrer Regierungszeit zugenom-          zur Gerechtigkeit um das Prinzip der Befähigungs-
men. Denn natürlich wäre eine Erhöhung der Hilfe         gerechtigkeit erweitern. Es geht wesentlich auf den
ein sehr wichtiger Schritt dahin, dass die Grundsi-      indisch-amerikanischen Ökonomen und Philoso-
cherung Armut nicht nur bekämpft, sondern auch           phen Amartya Sen zurück. Sen versteht Entwicklung
überwinden kann.                                         als einen Prozess der Erweiterung realer Freiheiten.
Eine latente oder gar offene Diskreditierung der         Armut bedeutet für ihn einen Mangel an Verwirk-
Grundsicherung kann die Reformdebatte in die fal-        lichungschancen. Der Befähigungsansatz fokussiert
sche Richtung lenken. Das zeigte sich bei der Renten-    auf die Erweiterung individueller Verwirklichungs-
diskussion in den Monaten vor der Bundestagswahl         chancen, auf die Erschließung von Freiheits- und
2017. Die Forderung, das sogenannte Rentenniveau         Teilhabespielräumen. Verwirklichungschancen sind
(eigentlich eine Rentenquote) zu erhöhen, wurde          Ausdrucksformen der Freiheit, unterschiedliche Le-
immer wieder mit dem Verweis auf steigende Alter-        bensstile zu realisieren. Der Befähigungsansatz stellt
sarmut begründet und damit der Eindruck erweckt,         die Potentiale jedes Menschen in den Mittelpunkt
die geforderte Rentenerhöhung diene vorrangig den        und betont, dass jeder zur Entfaltung und Verwirk-
Armen.                                                   lichung seiner Fähigkeiten auf bestimmte Grundbe-
Was aber passiert, wenn man das Rentenniveau für         dingungen angewiesen ist, die er nicht selbst sicher-
alle anhebt? Als logische Folge des Äquivalenzprin-      stellen kann. Sie zu entwickeln, obliegt nicht allein
zips bekämen die Bezieher guter Renten spürbare,         seiner Selbstsorge.
Menschen mit Minirenten bekämen dagegen nur              Unter den Bedingungen einer Marktökonomie ist die
kleine Zuschläge. Einige wenige würden über die          Inklusion in Märkte, für die meisten Menschen vor-
Schwelle des soziokulturellen Existenzminimums ge-       rangig durch den Zugang zum Arbeitsmarkt, Bedin-
hoben. Aber die meisten der bisherigen Grundsiche-       gung für die Generierung eigenständigen Einkom-
rungsempfänger wären auch weiterhin auf ergänzen-        mens. Die Politik der Armutsbekämpfung kann sich
de Hilfe angewiesen. Sie erhielten genauso viel wie      nicht in der materiellen Kompensation von unzurei-
jetzt, weil ihnen bei der Berechnung der Grundsiche-     chendem Erwerbseikommen erschöpfen. Es muss
rung genau der Mehrbetrag wieder abgezogen wür-          auch Teil der Armutsprävention sein, die Bürger, wo
de, den ihnen die Rentenerhöhung brächte. Natür-         immer dies möglich ist, dabei zu unterstützen, die
lich ist es legitim, sich für ein höheres Rentenniveau   Voraussetzungen für eine ökonomisch eigenständige
einzusetzen (wie groß die Spielräume hierfür sind,       Lebensführung zu gewinnen oder zurückzugewin-
kann hier nicht diskutiert werden). Aber man sollte      nen. Damit gehört zur Armutsprävention auch die
eine Maßnahme, die vorrangig alten Menschen mit          Befähigung, einschließlich der Befähigung zur er-
mittleren Einkommen nutzt, nicht mit dem Kampf           folgreichen Teilnahme an Marktprozessen, insbeson-
gegen Altersarmut begründen.                             dere am Arbeitsmarkt.
Wer den Armen wirklich helfen will, muss sich für        Dabei bedeutet der Befähigungsgerechtigkeit keine
Regelungen einsetzen, die die Armen auch erreichen.      Abkehr von anderen Gerechtigkeitskonzepten, etwa
Rentnern, die lange erwerbstätig waren, sollte man       dem der Verteilungsgerechtigkeit. Sie soll die her-
nicht die gesamte gesetzliche Rente auf die Grundsi-     kömmliche Politik der Einkommenssicherung für
cherung anrechnen. Man könnte hier Anleihe neh-          Bürger, deren eigenes Einkommen und Vermögen
men an der vielgescholtenen Zuverdienstregelung          nicht ausreicht, um ein menschenwürdiges Leben
bei Hartz IV. Dann hätte jeder, der über lange Zeit      zu gewährleisten, nicht ersetzen. Armutsprävention
sozialversicherungspflichtig gearbeitet hat, im Alter    und die Linderung von Armut und Einkommens-
mehr als der, der dies nur wenige Jahre oder nie tat.    unsicherheit gehören zu den Voraussetzungen für
Dies würde gleichzeitig zur Sicherung der Akzeptanz      eine gelingende Befähigung. Wer mit Befähigung
der gesetzlichen Rente beitragen. Bezüglich der Er-      argumentiert, um Grundsicherungsleistungen ein-
träge aus Riesterrenten und Betriebsrenten ist 2017      zuschränken, missbraucht den Befähigungsansatz.
eine Freibetragsregelung bereits eingeführt worden.      Aber: Wenn wir bei der Befähigung scheitern, kön-
Auch eine weitere Erhöhung der Vermögensfreigren-        nen wir die Schieflagen, die dadurch entstehen, nicht
zen (zum 1. April 2017 erhöht auf 5000 Euro) würde       durch Verteilungspolitik ausgleichen.
armen Alten helfen.                                      Die unbewältigte Herausforderung für die Armuts-
Aber Armutspolitik muss mehr sein als die faire und      politik ist es, den Sozialstaat auf Befähigung auszu-
kluge Ausgestaltung von Transfersystemen (so un-         richten. Es gibt in Deutschland einen starken Sozi-

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alstaat, ein ausgebautes Bildungssystem, vielfältige     Literatur
Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, differenzier-
te Beratungsdienste, ein gutes medizinisches Sys-        Cremer, Georg (2016): Armut in Deutschland. Wer
tem, eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Es gibt somit      ist Arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?
ein ausgebautes Netz, das Menschen dabei beisteht,       München: C.H.Beck.
wenn sie Unterstützung brauchen. Dieser Sozialstaat      Cremer, Georg (2018): Wie Armut bekämpfen? In:
kann sich weiterhin auf einen breiten gesellschaft-      SGb Die Sozialgerichtsbarkeit, 02/2018, S. 76 – 70.
lichen Konsens stützen. Aber dieser Sozialstaat ist      Cremer, Georg (im Erscheinen): Faktenorientierter
nicht wirksam genug, wenn es darum geht, Notlagen        Blick auf Armut und Armutsrisiko in Deutschland.
vorzubeugen.                                             In: Dabrowski, Martin; Wolf, Judith (Hg./2018): Ar-
Wir müssen uns nicht damit abfinden, dass in einer       mut und soziale Gerechtigkeit in Deutschland, Pa-
Reihe von Kreisen fast jedes zehnte Kind die Schule      derborn: Schöningh, S. 9–32.
ohne Abschluss verlässt. Oder damit, dass mehr als
40% der Jugendlichen, die die Hauptschule besucht
haben, diese nur mit sehr geringer Lesekompetenz
verlassen. Dies ist ein Treibsatz für Armut und sozi-
alen Ausschluss.
Entgegen dem lange verbreiteten und bei vielen nicht
überwundenen Arbeitsmarktpessimismus war die
Arbeitsmarktpolitik seit 2005 sehr erfolgreich. Aber
sie erreicht nicht den harten Kern der verfestigten
Langzeitarbeitslosigkeit. Hier bräuchte es mehr Mut
zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die nicht in
praxisfernen Parallelwelten verharrt, sondern durch
sinnhafte Arbeit Teilhabe ermöglicht. Wir brauchen
einen sozialen Arbeitsmarkt, der Menschen unter-
stützt, die weder heute noch in naher Zukunft den
Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen können,
aber dennoch ein Recht auf Teilhabe haben. Uns ste-
cken noch die schlechten Erfahrungen mit großen
Arbeitsbeschaffungsprogrammen nach der Wieder-
vereinigung in den Knochen, als öffentlich geförder-
te Beschäftigung reguläre Beschäftigung verdrängte.
Bei richtiger Zielgruppenauswahl ist diese Gefahr je-
doch beherrschbar. Handwerk und Gewerkschaften
vor Ort können das Jobcenter dabei unterstützten.
Auch das an sich gut ausgebaute Hilfenetz des Sozial-
staats ist nur ungenügend auf die Prävention sozialer
Notlagen und die Befähigung der Bürgerinnen und
Bürger ausgerichtet. Der Sozialstaat steht sich häufig
selbst im Weg. Gegenüber Menschen aus prekären
Milieus verhindern aufgesplitterte Zuständigkeiten
die Hilfe aus einer Hand. Unterschiedliche Fachlogi-
ken erschweren die Kooperation.
Hemmend wirken auch Konflikte um die Kostenver-
teilung zwischen den politischen Ebenen. Sie können
neue Ansätze der Hilfe auch dann verhindern, wenn
alle von ihrer Wirksamkeit überzeugt und ihre direk-
ten Mehrkosten gering sind (sie mittelfristig sogar zu
Einsparungen führten könnten). Hier Hemmnisse
abzubauen, sollte Teil der Agenda für die neue Legis-
laturperiode des Bundestags werden.

UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG                                                                                  14
Impressionen

INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN   15
Prof. Dr. Wilfried
                                                                                                   Hinsch
Ökonomische Ungleichheit
und Gerechtigkeit                                                                                  Universität
                                                                                                   zu Köln

Internationale Statistiken über die Verteilung von                 Vermögensverteilung ihren Lebensunterhalt zuneh-
Einkommen und Vermögen zeigen, dass die Ein-                       mend durch riskante Kredite finanzieren, die von
kommensungleichheit zwischen den Staaten in den                    denjenigen am oberen Ende gerne und auch leicht-
letzten Jahren erkennbar abnimmt, in nicht gerin-                  fertig vergeben werden, weil die Sorge um Geldver-
gem Maße übrigens bedingt durch den wirtschaft-                    luste mit steigendem Einkommen und Vermögen
lichen Aufstieg Chinas. Die Einkommensungleich-                    abnimmt. Ungleichheit ist aber nicht nur deshalb ein
heit innerhalb von Staaten wächst dagegen zum Teil                 Problem, weil sie politische und wirtschaftliche Kri-
dramatisch. Auch hier mag man wiederum an China                    sen nach sich zieht. Sie ist auch ein moralisches Pro-
denken.1 Man muss kein Sozialist sein, um die Ab-                  blem, sofern wir sie für ungerechtfertigt und damit
nahme der zwischenstaatlichen Ungleichheit posi-                   ungerecht halten.
tiv zu bewerten, die Zunahme der innerstaatlichen                  Fragen der volkswirtschaftlichen Einkommens- und
Ungleichheit dagegen als problematisch anzusehen.                  Vermögensverteilung sind Fragen der distributiven
Schon 2016 wählte die – sozialistischer Umtriebe                   Gerechtigkeit (Verteilungsgerechtigkeit). Natürlich
eher unverdächtige – Zeitschrift Foreign Affairs für               gibt es in jeder Gesellschaft unterschiedliche Vor-
ihr Januarheft den Titel „Inequality. What causes                  stellungen darüber, unter welchen Bedingungen die
it. Why it matters. What can be done“ und brachte                  Verteilung eines bestimmtes Gut (sei es Einkommen,
Beiträge mit warnenden Worten unter anderem von                    Vermögen, Landbesitz, Nahrungsmittel oder Medi-
so renommierten Wirtschaftswissenschaftlern wie                    kamente) als gerecht oder ungerecht zu beurteilen
Francois Bourguinon und Anthony Atkinson. Es                       ist. Ich werde mich auf einige grundlegende Punk-
ist auch nicht zu übersehen, dass große wirtschaft-                te konzentrieren und zum Anschluss lediglich kurz
liche Ungleichheit den sozialen Zusammenhalt in                    skizzieren, wie ich die Dinge sehe. Der Einfachheit
einer Gesellschaft gefährdet und politische Unzu-                  halber werde ich nur über Einkommen sprechen.
friedenheit nährt. Viele fühlen sich ungerechtfer-                 Ein grundlegender Unterschied zwischen Gerechtig-
tigt benachteiligt, über den Tisch gezogen und so-                 keitskonzeptionen ist derjenige zwischen Konzepti-
zial ausgeschlossen. Wirtschaftliche Ungleichheit                  onen, für die Ungleichheit an sich ein Problem dar-
beeinflusst auch die Risikowahrnehmung und das                     stellt und solchen, für die Ungleichheit ein Problem
wirtschaftliche Handeln von Menschen. Schon 2005                   ist, weil sie mit moralisch unerwünschten Folgen
hat der ehemalige Chefökonom des Internationa-                     und Begleiterscheinungen verbunden ist.
len Währungsfonds (IWF), Raghuram Rajan, einen                     Wenn Ungleichheit als solche ungerecht wäre, also
Zusammenhang zwischen Ungleichheit und dem                         völlig unabhängig davon, welche Folgen sich aus ihr
Auftreten von Wirtschaftskrisen hergestellt. Ob ein                für alle Beteiligten ergeben, dürfte niemand mehr be-
solcher Zusammenhang tatsächlich besteht, lässt sich               kommen als andere. Und zwar auch dann nicht wenn
empirisch nicht leicht überprüfen. Es darf gewiss                  auch die schlechter Gestellten von ihnen profitieren
nicht als bewiesen gelten. Es leuchtet aber ein, dass              würden. Denen, die bereits mehr haben als andere,
es zu volkswirtschaftlichen Problemen führt, wenn                  müsste es weggenommen werden, auch wenn dies
diejenigen am unteren Ende der Einkommens- und                     mit keinerlei Vorteil für diejenigen verbunden wäre,
                                                                   die weniger haben. Im Ergebnis müssten wir eine für
1 Statistiken, die beide Einschätzungen belegen, finden sich an    alle Beteiligten bessere, aber ungleiche Verteilung als
vielen Orten. Umfassende, zuverlässige und leicht zugängliche      ungerecht und damit moralisch schlechter beurteilen
Angaben zu den einzelnen Ländern und den Beziehungen zwi-          als eine Gleichverteilung, die für alle schlechter wäre:
schen ihnen finden sich in der Pariser World Inequality Database
                                                                   Man ahnt, dass eine solche Gerechtigkeitsvorstellung
(wid.org) und auf der Webseite der OECD (hpps://data.oecd.org/
inequality/income-inequality.html).                                auch bei denen, die weniger verdienen als andere in

UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG                                                                                                 16
der Regel auf wenig Verständnis stößt.                   darüber hinaus in zunehmenden Maße auf.2 Ein un-
Ungleichheit nicht per se für ungerecht zu halten, be-   ter dem Gesichtspunkt der politischen Gerechtigkeit
deutet nicht zu bestreiten, dass sie ungerecht und aus   besonders kritischer Aspekt großer ökonomischer
moralischer Sicht ein inakzeptables Übel sein kann.      Ungleichheit besteht darin, dass diese typischer Wei-
Es bedeutet lediglich, dass Ungleichheit mit Blick auf   se den einkommensstarken und vermögenden sozi-
ihre Folgen für die Mitglieder einer Gesellschaft un-    alen Gruppen einen sehr viel größeren Einfluss auf
ter bestimmen Bedingungen ein Übel und ungerecht         die politische Entscheidungsfindung ermöglichen als
sein kann, unter anderen Bedingungen jedoch kein         ihn andere Bürger haben. Dies widerspricht der Idee
Übel sein mag, sondern etwas das gerechterweise zu-      demokratischer Gleichheit und es führt dazu, dass
gelassen werden kann.                                    die ohnehin schon wirtschaftlich Begünstigten auch
Die enormen Einkommensdifferenzen in vielen Län-         in allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Le-
dern stellen, wie zahlreiche Studien zeigen, in der      bens ihre Interessen bevorzugt durchsetzen können.
Tat ein großes Übel dar. Die problematischen Folgen      Um eine Antwort auf die Frage zu finden, welcher
wirtschaftlicher Ungleichheit beschränken sich nicht     Grad an Ungleichheit mit Blick auf die mit ihr ver-
darauf, dass schlechter gestellte Mitglieder einer Ge-   bundenen unerwünschten Folgen gerechterweise zu-
sellschaft sich ungerecht behandelt und von den An-      lässig erscheint, ist es hilfreich, sich kurz die Grund-
nehmlichkeiten des Lebens ausgeschlossen fühlen.         struktur des Problem der distributiven Gerechtigkeit
Dies ist zweifellos der Fall und jede Antwort auf die    in arbeitsteiligen und auf wirtschaftlicher Koopera-
Frage nach einer gerechten Einkommensverteilung          tion beruhenden Gesellschaften zu vergegenwärti-
muss dies an zentraler Stelle berücksichtigen. Un-       gen. Zwei Annahmen sind hier grundlegend: Erstens
ter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ist es aber      verstehen wir unter wirtschaftlicher Kooperation ein
nicht das einzige Problem und auch nicht das Haupt-      gewinnträchtiges gemeinschaftliches Unternehmen,
problem. Viele Anzeichen und Gründe sprechen             das für alle Beteiligte vorteilhaft ist, auch wenn nicht
dafür, dass große wirtschaftliche Ungleichheiten zu      alle notwendiger Weise in gleichem Maße profitieren.
Problemen führen, die darüber hinaus gehen, dass         Zweitens nehmen wir an, dass der durch die Zusam-
Menschen sich schlecht fühlen. Die Untersuchungen        menarbeit insgesamt erwirtschaftete Gewinn auf un-
von Angus Deaton, Kate Pikett und Richard Wilkins-       terschiedliche Weise unter den Beteiligten aufgeteilt
on etwa deuten darauf hin, dass mit wachsender Un-       werden kann. Aus der ersten Annahme folgt, dass
gleichheit nicht nur die gesundheitlichen Beeinträch-    wir ein allen gemeinsames Interesse an der Zusam-
tigungen (physisch und psychisch) der Mitglieder
einer Gesellschaft zunehmen und die durchschnittli-
                                                         2 Deaton, The Great Escape. Health, Wealth, and the Origins of
che Lebenserwartung sinkt. Auch die Kriminalitäts-       Inequality, Princeton 2015 (dt. Übers. 2017). Pikett/Wilkinson,
rate und die Anzahl der Gewaltverbrechen steigt und      The Spirit Level. Why Equality is Better for Everyone, London
zahlreiche andere gesellschaftliche Missstände treten    2010 (dt. Übers. 2016).

INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN                                                                 17
menarbeit unterstellen dürfen. Schließlich gewinnen      differenzen müssen also zumindest im Prinzip für
alle durch sie. Aus der zweiten Annahme folgt, dass      alle Beteiligten – einschließlich derjenigen, die wirt-
es bei der Verteilung des gemeinsam erwirtschafteten     schaftlich am schlechtesten gestellt sind – akzeptabel
Gewinns gegenläufige und konfliktträchtige Interes-      sein. Im Ergebnis bedeutet dies, dass alle Einkom-
sen gibt. Jeder möchte, so nehmen wir wiederum an,       mensdifferenzen einen positiven Beitrag zur Erhö-
einen möglichst großen Anteil für sich selbst, auch      hung der Einkommen derjenigen leisten müssen, die
wenn andere dann weniger bekommen. Wir haben             in einer Gesellschaft zur Gruppe der am wenigsten
es mit einer antagonistischen Kooperation zu tun: Es     Verdienenden gehören. Und dies führt über uns di-
gibt ein gemeinsames Interesse zu kooperieren, aber      rekt zum Differenzprinzip, demzufolge wirtschaftli-
gegensätzliche Interessen, wenn es um die Gewinn-        che und soziale Ungleichheiten zum größtmöglichen
verteilung geht.                                         Vorteil der am wenigsten Begünstigten sein müssen.
Wie lässt sich ein solcher, aus antagonistischer Ko-     Wir dürfen annehmen, dass die in vielen Ländern
operation resultierender, Verteilungskonflikt gerecht    bestehenden Ungleichheiten diese Bedingung wirt-
auflösen? Eine mögliche Antwort geht auf die fran-       schaftlicher Gerechtigkeit nicht erfüllen.
zösische Erklärung der Menschen und Bürgerrechte
von 1789 zurück. Sie wurde in Form des Differenz-
oder Unterschiedsprinzips John Rawls in seiner The-
orie der Gerechtigkeit3 umfassend weiterentwickelt
und ich habe dieses Prinzip in anderer Form in Ge-
rechtfertigte Ungleichheiten4 ebenfalls vertreten.
In der Deklaration von 1789 heißt es im ersten Arti-
kel: „Die Menschen werden frei und gleich an Rech-
ten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen
Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen be-
gründet sein.“ Wirtschaftliche Ungleichheiten wären
demnach nicht per se ungerecht, sondern nur dann,
wenn sie nicht im „gemeinen Nutzen“ begründet lie-
gen. Bei Rawls wird daraus in der Theorie der Gerech-
tigkeit von 1971 die positiv gewendete Vorstellung,
dass Ungleichheiten zulässig und gerecht sind, wenn
sie für alle Mitglieder einer Gesellschaft vorteilhaft
sind und wenn sich alle unter fairen Bedingungen
auf ihre Zulassung einigen könnten. Einkommens-

3 Cambridge Mass. 1971 (dt. Übers. 1975).
4 Berlin/New York 2002.

UNGLEICHHEIT UND UMVERTEILUNG                                                                                      18
Publikationen des Instituts für
   Wirtschaftspolitik

Zeitschrift für Wirtschaftspolitik

Zusammen mit der Gründung des Instituts für Wirt-          Fokus auf Artikel zu aktuellen Fragen der deutschen,
schaftspolitik an der Universität zu Köln wurde die        europäischen und interna­tionalen ­Wirtschaftspolitik.
„Wirtschaftspolitische Chronik“ ins Leben gerufen.         Im Mittelpunkt jeder Ausgabe steht das wirtschafts-
Seit 1984 wird sie unter dem Namen „Zeitschrift für        politische Forum. Es behandelt Themen, die in der
Wirtschaftspolitik“ vom iwp herausgegeben.                 Öffentlichkeit zum Teil sehr kontrovers diskutiert
Die referierte Zeitschrift ist offen für wirtschaftswis-   werden. Die Zeitschrift erscheint drei Mal im Jahr
senschaftliche Beiträge aller Richtungen, mit einem        beim Verlag De Gruyter ­Oldenbourg (seit 2016).

INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN                                                          19
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