USA nach der Wahl - welche Folgen sind für Europa zu erwarten?
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USA nach der Wahl – welche Folgen sind für Europa zu erwarten? 3 Sind die hohen Erwartungen der europäischen Länder, die mit der Wahl Barack Obamas zum neu- en US-Präsidenten verbunden werden, gerechtfertigt? No, He Can’t! Wachstum der USA der letzten Jahre war ein Wachstum auf Pump. Schulden wur- Obamas unlösbare Aufgaben den im Kontext der Illusion aufgenom- men, dass Aktienportfolios und Eigen- Barack Obama erbt mit seinem Amtsan- heime ausreichende Sicherheiten dar- tritt eine kaum zu bewältigende ökonomi- stellten. Mit 235% des US-BIP ist die sche Herausforderung. Die Wirtschafts- Volkswirtschaft derzeit verschuldet, al- politik wird zum fast alleinigen Leitmotiv lein die Privathaushalte bringen es auf der ersten Jahre werden. Obama weiß, 100% des BIP, das sind 14 Bill. US-Dol- dass der historische Moment seiner Wahl lar oder 50 000 US-Dollar pro Kopf der nur zwei Monate anhalten, die Krise aber Bevölkerung. Nur ein Drittel dieser Schul- sicherlich zwei Jahre dauern wird. Um als den fällt auf Immobilien. Als nächstes ste- »großer« US-Präsident in die Geschichte hen also Probleme bei den Kreditkarten- eingehen zu können, braucht Obama die schulden oder Konsumentenkrediten an. Henrik Enderlein* Wiederwahl 2012. Seine Chancen wer- Der Rückgang von Immobilien- und den vor allem von der wirtschaftlichen La- Wertpapierpreisen führt jetzt dazu, dass ge abhängen. Deshalb wird er alles tun, die Schulden größer sind als die dafür um die US-Ökonomie bis zum Frühjahr hinterlegten Sicherheiten. Letztlich blei- 2012 wieder zu einem soliden Auf- ben US-Verbrauchern nur zwei Wege, schwung geführt zu haben. um aus der Schuldenfalle zu kommen: die Privatinsolvenz oder massive Einspa- Für Europa heißt das, dass Obama nichts rungen bei den Konsumausgaben. Na- unternehmen wird, was diesem Ziel zuwi- türlich sind beide Effekte desaströs für das US-Wachstum. der laufen könnte. Wer auf den großen multilateralen Moment in der amerikani- Die Auswirkungen sind massiv. Denn die schen Wirtschaftspolitik hofft, wird ent- US-Sparquote liegt schon seit 2005 bei täuscht werden. Europa kann deshalb nur null. Sie in einen positiven Wert umzuwan- darauf setzen, dass Obama sein eigenes deln, um den Schuldenberg abzubauen, Haus in Ordnung bringt. Mehr können und ist die erste wichtige Herausforderung für sollten wir nicht erwarten. Doch die Auf- Obama. gabe ist schwer genug. Aber die Handlungsmöglichkeiten der Regierung sind stark eingeschränkt. Es Herausforderung 1: der wäre sicherlich falsch, Steuern zu sen- US-Konsum ken. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich Steuergeschenke in ein Abfedern Kein Wirtschaftsfaktor ist in den USA des Konsumrückgangs übertragen ist wichtiger als der Konsum. Mit über 70% hoch. Es wäre aber ein Danaergeschenk geht er ins BIP ein – in Deutschland sind für die US-Volkswirtschaft, die hohen es nur 60%. Dass diese Schlüsselkom- Konsumausgaben beizubehalten. Die ponente des US-Wachstums in den Regierung wäre besser beraten, über ge- kommenden Monaten massiv einbre- zielte Programme die Sparquote wieder chen wird, scheint unvermeidlich. Das zu erhöhen. Eine Möglichkeit wäre bei- liegt nicht nur daran, dass die Zahl der spielsweise die Erweiterung des steuer- Arbeitslosen steigen wird; das Hauptpro- lich unterstützten Altersvorsorgepro- blem ist die bereits bestehende Verschul- gramms 401(k). dung. Weil die Aktien- und Immobilien- preise in den vergangenen Jahren ste- tig stiegen, fühlten sich die Anleger rei- * Prof. Dr. Henrik Enderlein lehrt an der Hertie School cher und hörten auf zu sparen. Das of Governance, Berlin. 61. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2008
4 Zur Diskussion gestellt Herausforderung 2: das Deflationsrisiko verzinstem Kapital. Diese Strategie ging einher mit einer Un- terbewertung asiatischer Währungen und einer Anhäufung Zu oft wird die momentane Wirtschaftskrise der USA mit von Dollarreserven in den Schatzkammern asiatischer Zent- 1929 verglichen. Viel relevanter ist der Vergleich mit den ralbanken. Problemen Japans ab der Mitte der neunziger Jahre. Ja- pans Problem war eine lehrbuchartige Liquiditätsfalle vor Ohne diese massive Liquiditätsversorgung der US-Wirtschaft dem Hintergrund von Zentralbankzinsen auf 0% und fallen- zwischen 1998 und 2008, die durch die hohen Kapitalzu- den Preisen. flüsse aus erdölproduzierenden Ländern noch ergänzt wur- de, lässt sich die aktuelle Krise nicht verstehen. US-Haus- Einiges spricht dafür, dass die USA vor einer ähnlichen Her- halte und Firmen konnten fast grenzenlos Kredite aufneh- ausforderung steht. Das offizielle Zinsziel der US Federal Re- men. So wundert es kaum, dass US-Immobilienpreise plötz- serve liegt bei 1%. Durch massive Liquiditätsbereitstellun- lich in die Höhe schnellten und sich zwischen 1998 und 2006 gen liegt der tatsächliche Zins aber faktisch unter diesem verdreifachten. Was wir bis jetzt gesehen haben, war ein Wert. Der Zins für eine Drei-Monats-Staatsanleihe der USA recht geringer Rückgang des Preisniveaus (die Preise liegen notiert derzeit bei 0,01%. in einigen Bereichen immer noch 230% über dem Wert von 1998), mit den bekannten Auswirkungen auf den Finanz- Der Handlungsspielraum der Geldpolitik ist also bereits aus- sektor. geschöpft. Das große Risiko läge dann in der Preisentwick- lung. Derzeit sind die Realzinsen noch negativ, denn der In- Die wirkliche Trendwende könnte aber noch bevorstehen. flationswert liegt über 1%. Doch durch den fallenden Ölpreis Denn die Schlüsselfrage zur Zukunft der Weltwirtschaft ist könnte die gemessene Teuerungsrate schon bald negative die Frage, ob und wie China seine aktuelle Wirtschaftsstra- Werte erreichen, auch wenn die Kerninflation erst einmal po- tegie verändern wird. Das Gesamtvolumen der Dollarreser- sitiv bliebe. Sollte sich das »D-Wort« dann aber in den Köp- ven in China beträgt 1,9 Bill. US-Dollar – das sind fast zwei fen festsetzen, könnte dann eine echte Deflation bald er- Drittel des BIP Deutschlands. Und diese Reserven steigen reicht sein. nicht linear, sondern exponentiell: Seit 2001 hat sich der Schatz in jeweils zwei Jahren verdoppelt. Im ersten Halb- Für die Federal Reserve wäre dies ein »Worst-Case-Szena- jahr 2008 kaufte China jede Minute Dollar-denominierte rio«. Die Realzinsen würden wieder positiv: Konsum und Schulden in Höhe von 1,83 Mill. US-Dollar auf – Tag und Investitionen würden dementsprechend zurückgehen. Ein Nacht. Sollte die Unterbewertungsstrategie in diesem Tem- weiterer Rückgang der Nachfrage wäre die Folge – mit im- po weitergehen, dann hätten die Dollarreserven Chinas im mer stärker deflationären Konsequenzen. Um dieses Sze- Jahr 2011 den Wert von 6,4 Bill. US-Dollar erreicht – also nario zu vermeiden, bliebe der Fed eigentlich nur der direk- ca. 10% des Weltbruttosozialprodukts oder knapp die Hälf- te Ankauf von US-Staatsanleihen. Dieser Schritt müsste aber te des US-BIPs. Das erscheint aus heutiger Perspektive bald erfolgen, um die amerikanische Volkswirtschaft noch undenkbar. vor dem Einsetzen der Liquiditätsfalle mit Liquidität zu über- schwemmen. Dass ein solches Vorgehen Risiken birgt, liegt Was aber wird passieren, wenn China die ökonomische auf der Hand. Der Wert des US-Dollar könnte einbrechen, Trendwende beginnt? Allein durch den Stopp des Ankaufs das ohnehin geschwächte Vertrauen der USA in die eigene von US-Schuldinstrumenten würden langfristige US-Zinsen Regierung und Volkswirtschaft wäre wohl dahin. deutlich steigen. Die Konsequenz wäre ein zusätzlicher Rückgang des US-Konsums und auch der US-Immobilien- preise, der die USA während der jetzt beginnenden Re- Herausforderung 3: China zession treffen würde. Gleichzeitig würde der Dollar an Wert verlieren und die so billigen chinesischen Produkte im US- Das monetäre Ungleichgewicht zwischen den USA und Chi- Markt deutlich teurer, mit negativen Folgen für die US-In- na ist ein zentraler Schlüssel zum Verständnis, wie sich die flation. Die Auswirkungen für die Realwirtschaft wären ver- Finanzkrise auf die Realwirtschaft der USA auswirken wird. heerend. Erst wenn diese Ungleichgewichte verschwunden sind, wird die Krise vorbeigehen. Doch sowohl die USA als auch Chi- Die große Frage ist, ob China die Risiken für die eigene Kon- na sind von einer Lösung dieses Problems noch sehr weit junktur aus dem Verkauf von US-Anleihen tatsächlich in Kauf entfernt. nehmen würde. Bei einem steigenden Yuan und einem fal- lenden Dollarkurs würde der Schatz aus US-Schatzbriefen Die Geschichte der Ungleichgewichte beginnt nach der deutlich an Wert verlieren. Auch die heute im Rest der Welt Asienkrise 1997/98. Aus den bis dahin kapitalimportieren- so billigen Exporte Chinas würden plötzlich deutlich teurer den Tigerstaaten wurden plötzlich Kapitalexporteure. Asia- werden. Andererseits muss China gerade im Kontext der tische Länder überschütteten die US-Wirtschaft mit niedrig beginnenden US-Rezession seine Wirtschaftspolitik ohne- ifo Schnelldienst 23/2008 – 61. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 5 hin überdenken, denn der jetzige Ansatz des auf Export ge- stützten Wachstums ist nicht mehr nachhaltig. China fehlt der Binnenkonsum: Der Anteil des Konsums am chinesi- schen BIP ist mit einem Drittel sehr gering, und Chinas Spar- quote liegt mit rund 40% des BIP auf einem phänomenal hohen Wert. Ein steigender Wechselkurs bei einem gleich- zeitigen Rückgang der Nachfrage aus den USA könnte ein probates Mittel sein, um die große wirtschaftspolitische Wende in China einzuleiten, den Binnenkonsums zu för- dern. Sollte der Yuan an Wert gewinnen, würden die zahl- reich in China vertretenen Unternehmen aus den USA und Europa einen Teil ihrer chinesischen Produktion auf den Bin- nenmarkt umleiten, um auf den Rückgang der Exportnach- frage zu reagieren. Das in China mittlerweile im Überfluss Detlef Junker* vorhandene Privatkapital würde nicht mehr nur in den Aus- bau des Exportsektors fließen, sondern könnte für Investi- tionen in Infrastrukturmaßnahmen und Binnenkonsum ge- nutzt werden. Eine Krise enttäuschter Erwartungen Die anstehende Trendwende Chinas ist für die Wirtschaft Berufshistoriker, die weltgeschichtliche Krisen und Revo- der USA eine mindestens ebenso große Bedrohung wie lutionen, d.h. gesamtgesellschaftliche, multikausale, ver- die Immobilienkrise. Denn die Kombination aus dem Weg- laufsbeschleunigte und zukunftsoffene Entscheidungssi- fall billigen chinesischen Geldes und dem Rückgang billiger tuationen und Prozesse zu verstehen und zu interpretie- chinesischer Importe, der die US-Inflation weiter in die Hö- ren suchen, wissen, dass es Voraussagen über die Zu- he treiben würde, könnte die aktuelle US-Konjunkturkrise kunft nur geben könnte, wenn es keine Zukunft mehr gä- in eine fundamentale Wirtschaftskrise ausweiten. Erst wenn be. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise ist so eine of- die weiterhin bestehenden Ungleichgewichte in den Weltfi- fene Krisensituation. Sie hat uns mit ungeahnter Wucht nanzmärkten wieder ausbalanciert sind, wird die Krise vor- und Globalität getroffen, ihre Eintrittswahrscheinlichkeit in über sein. dieser Größenordnung lag außerhalb unseres Erwartungs- horizontes. Diese Krise, die die Größenordnung der bisher schwers- ten Krise seit Beginn der Industriellen Revolution, der gro- ßen Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932, erreichen könnte (nicht muss), macht in ihrer Unberechenbarkeit auch die Beantwortung der Frage »USA nach der Wahl – welche Folgen sind für Europa zu erwarten?« zu einem ris- kanten Mix aus Erfahrungswissen, unsicheren Hypothe- sen und dem möglichen Zusammenspiel angenomme- ner Variablen. Schon meine erste Annahme ist nur eine begründete Ver- mutung, nämlich die Annahme, dass die Reaktion der ame- rikanischen Politik vor und nach dem Amtsantritt von Prä- sident Obama am 20. Januar 2009 auf diese Krise das transatlantische Verhältnis so lange dominieren wird, bis die Weltwirtschaft ein neues Gleichgewicht gefunden ha- ben wird. Vorstellbar ist nämlich auch, dass parallel zur Weltwirtschafts- krise andere Ereignisse die Sicherheitspolitik wieder in den Mittelpunkt des transatlantischen Verhältnisses rücken könn- * Prof. Dr. Dr. h.c. Detlef Junker ist Gründungsdirektor des Center for Ame- rican Studies an der Universität Heidelberg. 61. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2008
6 Zur Diskussion gestellt te, z.B. ein terroristische Angriff auf die USA oder eines ih- tritt des US-Präsidenten auf praktikable, d.h. durchsetzungs- rer Bündnispartner, ein eskalierender amerikanisch-russi- fähige Verfahren für ein transparentes und verantwortliches scher oder ein amerikanisch-iranischer Konflikt, die Desta- Risikomanagement auf den Finanzmärkten; Obama verkün- bilisierung Pakistans oder die nachhaltige Forderung der det sofort nach seiner Amtsübernahme einen gewaltigen USA an die Europäer, insbesondere die Deutschen, erheb- Wechsel in der Innen- und Außenpolitik der USA, besonders lich mehr Truppen für einen neuen Feldzug in Afghanistan in der Wirtschafts-, Energie-, Klima- und Gesundheitspoli- zur Verfügung zu stellen. tik; er überschwemmt, wie Franklin Delano Roosevelt 1933 in seinen berühmten ersten hundert Tagen, den zustim- Die USA und Europa sind weder auf die Weltwirtschaftskri- mungsbereiten Kongress mit Gesetzesvorschlägen. Die se noch die militärischen Konflikte der Zukunft konzeptio- G-20-Staaten treffen sich noch im Januar und tragen mit nell vorbereitet. Nach dem Scheitern des Versuchs der ers- amerikanischem und britischem Einverständnis das Modell ten Administration von George W. Bush, durch die Begrün- der unregulierten, »freien« Finanzmärkte zu Grabe, die Staa- dung einer unilateralen Pax Americana das zu versuchen, ten der Welt einigen sich auf das ordoliberale Ordnungs- was den USA weder nach dem Ersten noch nach dem Zwei- modell der »sozialen Marktwirtschaft«. ten Weltkrieg gelungen war, gibt es keine allgemeine außen- politische Strategie der USA mehr, nur noch Ad-hoc-Ent- Diese alternative Vorwegnahme der Zukunft würde auch be- scheidungen und eine lange Liste von Wünschbarkeiten. deuten, dass sich eine tiefe strukturelle Differenz im ameri- Auch Europa hat, wie jeder weiß, noch keine einheitliche Au- kanisch-kontinentaleuropäischen Verhältnis abschleifen ßenpolitik für die Welt jenseits des Alten Kontinents gefun- müsste, die traditionelle Marktlücke (market gap). Denn bis- den. Solange wie die Alte Welt sich aus Sicht der Neuen Welt her gibt es in einer fundamentalen Frage, die alle westli- nicht an einer neuen Lastenteilung für die wirtschaftliche und chen Staaten auf beiden Seiten des Atlantiks tief bewegt, militärische Stabilisierung der Welt beteiligt, wird Europa auch eine strategische Differenz. Was soll vom Staat, was soll vom in der neuen Administration Obama und in den Denkfabri- Markt geleitet werden? ken Amerikas nur eine untergeordnete Rolle spielen – un- geachtet einer wohlfeilen, öffentlichen Rhetorik der Part- Diese Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat kann beson- nerschaft. ders gut an der Staatsquote abgelesen werden, an dem An- teil aller öffentlichen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt. Die Weltwirtschaft braucht nichts dringender als ihr knapps- Obwohl im Zuge von Industrialisierung und Demokratisie- tes Gut, nämlich Vertrauen, und sie braucht es jetzt. Weil rung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts diese Staats- das für das 21. Jahrhundert disfunktionale amerikanische quote in allen westlichen Staaten erheblich angestiegen ist, Wahlsystem dem neuen Präsidenten erst mit seiner Inaugu- bleibt bis heute eine erhebliche Differenz. Noch immer ist in ration am 20. Januar 2009 Macht und Legitimation verleiht, der amerikanischen Kultur der alte Merkspruch tief veran- könnte es für den Heilsbringer Obama, seinen globalen Ver- kert: »The best government is no government«. Es gibt bis trauensvorschuss, sein massives Investitionsprogramm in den USA und für seine mögliche Zustimmung zu einer glo- heute Amerikaner, die höhere Steuern mehr fürchten als den balen Regulierung der Finanzmärkte schon zu spät sein. Die Satan. Im Jahre 2005 lag die Staatsquote in den USA bei Entscheidung der G-20-Staaten, sich erst im April der nächs- 36,4%, in Deutschland bei 46,7% und in Schweden bei ten Jahres wieder zu treffen, ist ein Eingeständnis der Ohn- 56,6%. Die großen Unterschiede liegen nicht im sozial-in- macht und eine Abdankung der Politik. Sie zeigt, dass die vestiven Bereich, sondern in der Sozialpolitik. Die soziale politischen Klassen in den Nationalstaaten und internatio- Leistungsquote in den USA beläuft sich nur auf 50–60% der nalen Organisationen der dramatischen Entwicklung der Sozialleistungsquoten der führenden europäischen Wohl- Weltwirtschaft hinterher eilen. Das flüchtige Kapital scheint fahrtsstaaten. schneller zu sein als politische Entscheidungsprozesse. Das liegt einerseits am Zusammenwirken der politischen Ak- Die Krise könnte sich also weiter durchfressen, ein Verlauf teure und den politischen Institutionen der USA, anderer- wie während der Großen Depression könnte die Folge sein: seits an der uramerikanischen Vision, dass jeder für sein Kreditkrise, Preisverfall, dramatischer Produktionsrückgang, Glück allein verantwortlich ist, am wettbewerbsorientierten gesunkene Nationaleinkommen, Massenarbeitslosigkeit, Individualismus, der von dem einzelnen Mut und Risikobe- drastisch reduzierter Welthandel, ein neuer Protektionismus, reitschaft verlangt. Ein freier Mann auf eigenem Grund – und ein Wettlauf nationaler Schutzmaßnahmen nach dem Mot- einem Gewehr im Schrank – das ist der uralte amerikani- to »Rette sich, wer kann«, Radikalisierung an den linken sche Traum, der besonders im konservativen Lager noch und rechten Rändern der Gesellschaften. Prägekraft entfaltet. Eine alternative Vorwegnahme der Zukunft grenzte an ein Dass dieser Mut zum Risiko in eine Kreditorgie ausgeartet Wunder: Die Europäer einigen sich noch vor dem Amtsan- und ein Leben auf Pump zum Kern des neuen »American ifo Schnelldienst 23/2008 – 61. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 7 Way of Life« geworden ist, macht eine Umkehr in Richtung Weltgeschichte geworden zu sein. Für die strategische Si- auf das europäische Modell nicht wahrscheinlicher. cherheit der westlichen Welt, die Sicherung von offenen See- wegen und von Rohstoffen, insbesondere des Öls, täten Die Übernahme des europäischen Regulierungsmodells wür- die Europäer zu wenig. Deshalb könnte es, wie in den sieb- de auch das Ende der Hegemonie des New Yorker Finanz- ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, eine Debatte über platzes bedeuten. Schließlich hatte das, wie wir jetzt wissen, eine gerechte Lastenverteilung zur Aufrechterhaltung einer verhängnisvolle Gramm-Leach-Bliley-Gesetz aus dem Jah- möglichst stabilen, möglichst freien und möglichst markt- re 1999, das Wall Street und die Finanzmärkte de facto von wirtschaftlichen, auf Freihandel setzenden Welt geben. den letzten Kontrollen befreite, aus der Sicht von Exsenator Phil Gramm auch den Sinn, »die globale Dominanz der USA Vor allem werden die Amerikaner von den Europäern er- auf den Finanzmärkten zu erhalten.« warten, in Kriegsgebiete der Welt gut ausgebildete und gut ausgerüstete Soldaten zu senden, die tatsächlich bereit sind, Also wird das alternative Wunder vermutlich ausbleiben. Des- zu kämpfen und zu sterben. Genau darüber wird ja schon halb ist es wahrscheinlich, dass trotz der Euphorie über die zurzeit im Rahmen des NATO-Einsatzes in Afghanistan ei- Wahl Obamas das transatlantische Verhältnis mittelfristig ne harte Debatte geführt. durch eine Krise enttäuschter Erwartungen geprägt sein wird. Die Amerikaner werden besonders die Deutschen beim Wort Auch in der Sicherheitspolitik wird eine tiefsitzende strate- nehmen. Wenn Eure, so werden sie sagen, nationalen Inte- gische Differenz wahrscheinlich zu Enttäuschungen führen, ressen nicht in Hindelang, sondern am Hindukusch vertei- nämlich die transatlantische Kriegslücke (War Gap). Ein von digt werden, müssten die deutsche Bevölkerung, das deut- mir sehr geschätzter Kollege von der Standford University, sche Parlament – wir haben ja eine Parlamentsarmee – und der Europahistoriker James J. Sheehan, hat vor kurzem ein die deutsche politische Klasse von Illusionen Abschied neh- viel beachtetes Buch mit dem Titel geschrieben: »›Where men. Die von mir beschriebene Kriegslücke ist ein Spreng- have All the Soldiers Gone?‹ The Transformation of Modern satz für die NATO und die transatlantische Allianz. Europe.« Ein Standardargument der Europäer macht in Washington Sheehan nimmt ein Leitmotiv wieder auf, mit dem ein an- nur wenig Eindruck, nämlich die Behauptung, dass die sich derer Amerikaner vor einigen Jahren Schlagzeilen gemacht erweiternde und vertiefende europäische Gemeinschaft hatte, Robert Kagan, der behauptete, dass kriegerische gleichsam als Friedensmodell für die ganze Welt dienen kön- Amerika sei vom Mars, das friedfertige Europa von der Ve- ne. Die Europäer würden, auf sich allein gestellt, nicht ein- nus. Das Leitmotiv beider Bücher ist die Entmilitarisierung mal mit den Problemen auf dem Balkan fertig werden. Es der europäischen, insbesondere der deutschen Gesellschaft. müsse auch gehandelt, nicht nur verhandelt werden. Sheehan erinnert uns daran, dass am 22. August 1914 an einem Tag 27 000 französische Soldaten, am 1. Juli 1916 Diese strukturellen Differenzen, die sich auch in der Erwar- 20 000 britische Soldaten und in den Kämpfen vor Verdun tung und Mentalität der Mehrheit der Europäer und Ameri- in wenigen Wochen hunderttausende französische und deut- kaner spiegeln, werden, so vermute ich, auch nach dem sche Soldaten gefallen sind. Heute haben die Europäer größ- 20. Januar 2009 den Handlungsspielraum der Regierun- te Mühe, einige Tausend Soldaten für einen Einsatz in Af- gen begrenzen. Trotz des außerordentlichen Vertrauensvor- ghanistan aufzubringen. Es geht also in einer zentralen Fra- schusses des charismatischen Präsidenten Obama und trotz ge der gesamten uns bekannten Geschichte, nämlich nach einer neuen Rhetorik der Kooperation und Multilateralität der Legitimität und Notwendigkeit von Kriegen, um mehr als wird es also in beiden Bereichen, der Weltwirtschaft und Kommunikationsstörungen über dem Atlantik, sondern um Weltpolitik, zu enttäuschten Erwartungen kommen. Schließ- eine strukturelle Differenz. lich ist nicht auszuschließen, dass die USA und Europa selbst dann, wenn sie zu gemeinsamen Handlungen fähig wären, Die Europäer sind deshalb, wie schon angedeutet, aus ame- einfach zu schwach sein werden, um Lösungen für die er- rikanischer Sicht keine Macht, die die Weltpolitik entschei- schreckend lange Liste struktureller Weltprobleme durch- dend mitgestalten kann, kein »Major Global Player«. Das aber setzen zu können, etwa Klimawandel, Energiesicherheit, wäre die erste Voraussetzung, um in Washington überhaupt Proliferation von Massenvernichtungswaffen, internationa- gehört zu werden; selbst in einer Situation, in der den Ame- ler Terrorismus, asymmetrische Kriege, die wachsende rikanern bewusst ist, dass sie Verbündete brauchen. Sonst Macht neuer Regionen und Mächte (China, Russland, In- gilt weiter das alte Bonmot Henry Kissingers: »Immer wenn dien, Brasilien), Krisenstaaten wie Afghanistan, Pakistan, Irak er in Europa anrufe, sei keiner am Telefon«. und Iran, Elend und Völkermord in Afrika und der Aufstand des Islamismus gegen die westliche Moderne. Die Amerikaner werden zumindest in internen Beratungen die Europäer weiter beschuldigen, ein Trittbrettfahrer der 61. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2008
8 Zur Diskussion gestellt nie Mae und Freddie Mac haben sich die Kreditbedingun- gen noch einmal deutlich verschlechtert. Zudem belaste- ten die stark gestiegenen Energie- und Nahrungsmittel- preise die privaten Haushalte. Gerade Geringverdiener wa- ren hiervon hart getroffen, da sie einen vergleichsweise ho- hen Anteil ihres Budgets für Lebensmittel, Heizung und Benzin ausgeben. Perspektivisch könnte sich über weite- re Rückgänge bei den Energiepreisen eine gewisse Ent- lastung einstellen. Aufgrund der Verschlechterung am Ar- beitsmarkt – die Arbeitslosenquote liegt mittlerweile bei 6,5% – ist dennoch nicht mit einer schnellen Erholung der Konsumausgaben zu rechnen. Stormy Mildner* Erstmals seit langer Zeit ist die Sparquote der Haushalte wie- der leicht gestiegen, insbesondere aufgrund Einsparungen bei den Benzinausgaben. Dies ist sicherlich wünschenswert, lebten die Amerikaner doch jahrelang über ihre Verhältnis- Hohe Erwartungen, enge Handlungs- se. Problematisch ist die Konsumschwäche aber insofern, spielräume: Barack Obama tritt ein als der private Verbrauch mit einem Beitrag von 70% am BIP schwieriges wirtschaftspolitisches die wichtigste Säule des Wirtschaftswachstums in den USA Erbe an darstellt. Auch während der Rezession 2000/2001 trug der positive Wachstumsbeitrag des privaten Konsums entschei- Präsident George W. Bush hat seinem Nachfolger Barack dend dazu bei, die negativen Wachstumsbeiträge des Un- Obama kein leichtes wirtschaftspolitisches Erbe hinterlas- ternehmenssektors wegen des Einbruchs der Investitionen sen. Nach Schätzungen des Bureau of Economic Analysis zu kompensieren. Damit ist in der jetzigen Krise nicht zu fiel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA im dritten Quar- rechnen. Wichtiges Gegengewicht zur heimischen Konsum- tal 2008 um 0,5%. Im zweiten Quartal war die amerikani- schwäche war bislang der Export, der rund einen Prozent- sche Wirtschaft, begünstigt durch die Steuerrückerstattun- punkt zum Wachstum beisteuerte. Wegen des steigenden gen nach dem Recovery Rebates and Economic Stimulus Dollar nahmen die Ausfuhren nach zweistelligen Zuwachs- for the American People Act, noch mit einer hochgerech- raten in den Vorquartalen im dritten Quartal allerdings nur neten Jahresrate von 2,8% gewachsen. Mit einer schnellen noch um knapp 6% zu. Zudem dämpft die schwache welt- Erholung ist nicht zu rechnen. Auch im vierten Quartal wird wirtschaftliche Entwicklung die amerikanischen Exporte. Das das BIP rückläufig sein. Wie schwer die Rezession sein wird, Bureau of Economic Analysis rechnet daher für 2008 mit ist noch unentschieden. Optimistische Prognosen gehen einem Anstieg des Defizits in der Güterhandelsbilanz der aufgrund der sinkenden Energiepreise, dem zu erwartenden USA auf über 900 Mrd. US-Dollar. zweiten Konjunkturpaket und der erneuten Leitzinssenkung durch die amerikanische Notenbank von einer leichten Re- zession aus. Gleichwohl dürften sich die niedrigen Immobi- Bisheriges Krisenmanagement lienpreise – verschiedenen Schätzungen zufolge werden die Häuserpreise bis zum zweiten Quartal 2009 weiter sinken – Bislang hat sich die amerikanische Regierung auf kurzfris- und die rückläufigen Konsumausgaben dämpfend auf die tiges Krisenmanagement konzentriert. Um größere Unru- Konjunktur auswirken. hen auf den Finanzmärkten zu vermeiden, übernahm die Regierung Anfang September die vorläufige Kontrolle über Amerikas Verbraucher sind pessimistisch geworden; der die angeschlagenen Hypothekenfinanzierer Fannie Mae Consumer Confidence Index ist bei einem Allzeit-Tief an- und Freddie Mac. Ebenfalls im September kam die ame- gelangt. Der Grund: Die Schwäche am Immobilienmarkt rikanische Notenbank Fed dem weltweit zweitgrößten Ver- hat ihre Vermögenslage und ihren Kreditspielraum ver- sicherer American International Group mit einem Notfall- schlechtert. Letzteres liegt vor allem auch daran, dass die kredit in Höhe von 85 Mrd. US-Dollar zur Hilfe, als infol- Banken infolge der Hypothekenkrise deutlich vorsichtiger ge eines Vertrauensverlusts dessen Kurse einbrachen. An- beim Abschluss von Kreditverträgen waren. Insbesonde- fang Oktober verabschiedete der Kongress den Emergen- re seit der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers cy Economic Stabilization Act, ein 700 Mrd. US-Dollar und den Schwierigkeiten der Hypothekenfinanzierer Fan- schweres Rettungspaket für angeschlagene Banken. Im Gegenzug für den Ankauf qualitativ minderwertiger Ver- * Dr. Stormy Mildner ist wissenschaftliche Referentin bei der Stiftung Wis- mögenswerte erhält der Staat Aktienoptionen, die er bei senschaft und Politik, Berlin. steigendem Kurs einlösen kann. Unter anderem ermäch- ifo Schnelldienst 23/2008 – 61. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 9 tigt das Gesetz das Finanzministerium, die Konditionen nicht allein; viele Demokraten fürchten eine steigende Ar- für die Bedienung der Schuldverschreibungen zu lockern beitslosigkeit. Seit Jahren fahren General Motors, Ford und oder die Vollstreckung von Hypotheken auszusetzen. Der Chrysler – die Big Three – hohe Verluste ein. Die drei Her- Einlagenschutz für Privatanleger wurde von 100 000 auf steller kämpfen mit extremen Finanzierungsproblemen, was 250 000 Dollar angehoben. Mittlerweile hat das Finanz- angesichts der gestiegenen Nachfrage nach verbrauchsär- ministerium die erste der beiden 350-Mrd.-Dollar-Tranchen meren Fahrzeugen und dringend notwendigen Investitionen fast ausgegeben – der größte Teil davon ist, anders als ur- in alternative Antriebstechnologien ein besonderes Problem sprünglich geplant, nicht in den Kauf von Wertpapieren darstellt. Die Republikaner sträuben sich jedoch gegen wei- geflossen, sondern in die Beteiligung der Regierung an tere Hilfen für die Automobilindustrie, da viele ihrer Proble- Banken. me hausgemacht sind: Die Absatzschwierigkeiten liegen nicht nur an der Wirtschaftskrise, sondern auch an falschen Die Fed reagierte auf die Abwärtsspirale an den Finanzmärk- Investitionsentscheidungen der letzten Jahre. Hersteller ha- ten mit mehreren Leitzinssenkungen. Zuletzt senkte sie die ben auf das falsche Segment gesetzt: große Modelle mit Federal Funds Rate Ende Oktober um 0,5 Punkte auf 1% – starkem Verbrauch, die in Zeiten hoher Bezinkosten aber den niedrigsten Stand seit Mitte 2004. Mit den Leitzinssen- schwer verkäuflich sind. Präsident Bush drohte bereits mit kungen hat die Fed für eine gewisse Entspannung am In- einem Veto – außer der Kongress zeige sich in der außer- terbankengeldmarkt gesorgt. Der geldpolitische Spielraum ordentlichen Sitzung (Lame-Duck Session) bereit, das von für Leitzinssenkungen ist allerdings nun weitgehend er- Präsident Bush unterzeichnete, vom Kongress jedoch noch schöpft. Ungewöhnlich deutlich für einen Notenbanker stell- nicht verabschiedete Handelsabkommen mit Kolumbien an- te sich Fed Chairman Ben Bernanke Ende Oktober daher zunehmen. hinter die Forderung der Demokraten im Kongress, ein wei- teres Konjunkturpaket aufzulegen: Geplant sind zwei Tranchen im Umfang von 60 bis 100 Mrd. US-Dollar noch Überwindung der Finanzkrise vor Jahreswechsel und weiteren 200 Mrd. US-Dollar nach Amtsübernahme des demokratischen Präsidenten Barack Um in Not geratene Hausbesitzer zu unterstützen, plant Obama. Ungewünschter Nebeneffekt der Konjunkturpro- Obama, Zinszahlungen durch Steuergutschriften zu er- gramme und Rettungsaktionen ist ein stetig wachsendes leichtern. Zudem will er mit einem neuen Gesetz gegen Hy- Haushaltsdefizit. Laut US-Finanzministerium lag der Fehlbe- pothekenbetrug vorgehen und das Insolvenzverfahren re- trag im Etat zum Ende des Haushaltsjahres 2007/2008 bei formieren. Ein neues Kreditkartengesetz (Credit Card Bill 455 Mrd. US-Dollar. Im laufenden Haushaltsjahr könnte das of Rights) soll die Transparenz von Verträgen erhöhen und Defizit sogar auf 1 Bill. US-Dollar anwachsen. Die Staatsver- Kreditkarteninhaber besser vor einseitigen Vertragsände- schuldung liegt mit über 10 Bill. US-Dollar mittlerweile bei rungen durch Kreditinstitute schützen; ein Ratingsystem rund 65% des BIP. soll Risiken offenlegen. Hier besteht Handlungsbedarf, da sich Verbraucher aufgrund der niedrigen Zinsen und dem deutlich erschwerten Zugang zu Bankkrediten zunehmend Wiederbelebung der Wirtschaft über ihre Kreditkarten verschulden, um laufende Ausga- ben zu bestreiten. Die wirtschaftliche Lage ist ernst. Obama unterstützt daher – trotz der angespannten Haushaltslage – das von den De- Neben diesen kurzfristigen Maßnahmen fordert Obama ei- mokraten vorgeschlagene Konjunkturpaket. Während er ne umfassende Neuregulierung des Finanzsektors, macht im Wahlkampf wiederholt die Notwendigkeit eines ausgegli- er doch ein veraltetes und mangelhaftes Regulierungs- chenen Haushalts unterstrichen hatte, sei es, laut seiner Ra- system für die Schwere der Finanzmarktkrise verantwort- dioansprache vom 15. November, zunächst wichtiger, die lich. Banken, Wertpapierhäuser und Versicherungen un- Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Mit dem neuen terliegen verschiedenen Aufsichtsstrukturen auf nationaler Konjunkturprogramm – Obama fordert einen Stimulus in der und einzelstaatlicher Ebene. Ein Großteil dieses Regulie- Höhe von 700 Mrd. US-Doller – will er eine Verlängerung der rungssystems wurde infolge der Weltwirtschaftskrise in den Arbeitslosenunterstützung finanzieren. Gemeinden und Bun- dreißiger Jahren entwickelt und später – stets als Reakti- desstaaten sollen unterstützt werden, damit sie ihre Aus- on auf Marktinnovationen oder Krisen – schrittweise erwei- gaben für Krankenversicherung, Bildung und Wohlfahrts- tert und modifiziert. Die Regulierungsstruktur ist stark frag- programme aufrechterhalten können, ohne Steuern oder mentiert und wird den gegenwärtigen Anforderungen der Beiträge erhöhen zu müssen. Zudem soll Geld in laufende, Finanzmärkte nicht mehr gerecht. Obama will daher ein dringend benötigte Infrastrukturprojekte fließen, die wegen transparenteres Aufsichtssystem schaffen. Investmentban- der Finanzkrise gefährdet sind. Darüber hinaus unterstützt ken, Hypothekenvermittler und Hedgefonds, die bislang Obama einen Notfallkredit für die Autoindustrie über mehr einer laxeren Aufsicht unterliegen als normale Banken, sol- als 30 Mrd. US-Dollar. Mit dieser Forderung steht Obama len stärker reguliert, Ratingagenturen darauf geprüft wer- 61. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2008
10 Zur Diskussion gestellt den, ob es mögliche Interessenkonflikte mit den Unterneh- Obama will sein Ausgabenprogramm durch zusätzliche Steu- men gibt, für die sie Bewertungen erstellen. Sowohl der ereinnahmen gegenfinanzieren: Die Steuersenkungen der ehemalige Finanzminister Larry Summers, designierter Vor- Bush-Ära sollen 2010 auslaufen, Schlupflöcher in der Un- sitzender des National Economic Councils als auch der ternehmensbesteuerung geschlossen, die Einkommensteu- Chef der New Yorker Fed, künftiger Finanzminister, Timo- er für Topverdiener ebenso erhöht werden wie die Kapital- thy Geithner sprechen sich für umfassende Reformen der ertragsteuer. Ölkonzerne wie Exxon Mobil will Obama mit Finanzaufsicht in den USA aus. zusätzlichen Steuern belasten, seine Pläne zum Klimaschutz durch die Versteigerung von Emissionsrechten finanzieren. Gerade bei der Reform der internationalen Finanzmarktar- Zu einer raschen Anhebung der Steuern wird es während chitektur versprechen sich die Europäer mehr Kooperation. der Wirtschaftskrise aber eher nicht kommen. Das Tax Bislang haben sich die Amerikaner hartnäckig mehr Regu- Policy Center schätzt daher einen Anstieg der Staatsver- lierung widersetzt. Beim Weltfinanzgipfel der G-20 am 15. No- schuldung um 3,3 Bill. US-Dollar innerhalb der nächsten vember 2008 stimmte die Bush-Administration einem gan- zehn Jahre (Periode 2009–2018). Ohnehin wird sich die zen Katalog neuer Maßnahmen zu: Die Bilanzierungsregeln Haushaltslage erst dann entspannen, wenn die Konjunktur sollen überarbeitet und harmonisiert, bislang unregulierte Be- wieder anzieht. Auch der Clinton-Administration war es nicht reiche wie Verbriefungen und Derivate künftig Regeln unter- allein durch strikte Haushaltsdisziplin gelungen, ein Defizit worfen und mit Kapitalanforderungen belegt werden. Aller- in einen Überschuss zu verwandeln. Ausschlaggebend wa- dings nahm Obama an dem G-20-Gipfeltreffen nicht teil. Das ren vielmehr acht Jahre Wirtschaftswachstum und die da- nächste Treffen ist für Anfang April 2009 geplant. Ob Oba- mit verbundenen hohen Steuereinnahmen. ma, anders als Präsident Bush, bereit sein wird, einer inter- nationalen Regulierungsinstanz Eingriffsrechte in nationale Angelegenheiten zuzusprechen, bleibt abzuwarten. Energiepolitische Wende Für Obama sind Energie-, Umwelt- und Arbeitsmarktpolitik Steuerliche Entlastungen eng miteinander verknüpft. Aus der Umstellung der ameri- kanischen Wirtschaft auf alternative Energien erhofft er sich Im Zentrum von Obamas Steuerprogramm stehen Er- einen wichtigen Schub für die Konjunktur. Ohne Zweifel ist leichterungen für die Mittelschicht. Er glaubt nicht an die der Handlungsdruck groß. Die Abhängigkeit von schwin- Trickle-down-Theorie, der zufolge eine Entlastung reiche- denden ausländischen Energiequellen steigt, die Anzeichen ren Schichten letztlich auch den unteren Einkommens- der Klimaveränderung werden immer deutlicher. Rund 24% gruppen zugutekommt. Obama reagiert damit auf die Stim- des weltweiten Rohölverbrauchs gehen auf die USA zurück. mung vieler seiner Wähler, die das Gefühl haben, den wirt- Davon muss das Land etwa 64% importieren. Zudem sind schaftlichen Aufschwung der Ära Bush verpasst zu haben. die USA für rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen Seit Jahren stagnieren die Löhne der Mittelschicht, und verantwortlich. Obama setzt sich daher für eine Begrenzung die Einkommensungleichheit nimmt zu. Obama will daher des Kohlendioxid-Ausstoßes und ein nationales Emissions- unter dem Motto Making Work Pay für über 90% aller Be- handelssystem ein. Bis 2050 will er den CO2-Ausstoß der schäftigten in Amerika – schätzungsweise 150 Mill. Men- USA durch die Versteigerung von Emissionszertifikaten um schen – eine Steuererleichterung in Form von Steuergut- 80% des Niveaus von 1990 reduzieren. Der Anteil erneuer- schriften (Tax Credits) vornehmen. Bei Geringverdienern barer Energien an der Stromerzeugung soll bis 2025 auf 25% soll der staatliche Zuschuss zum Einkommen (Earned erhöht werden. Im Transportsektor möchte er durch stren- Income Tax Credit) ausgedehnt werden. Um Familien bei gere Grenzwerte für Schadstoffemissionen den Benzinver- der Finanzierung der College- oder Universitätsausbildung brauch in den nächsten 20 Jahren um die Hälfte senken; zu- ihrer Kinder zu unterstützen, will Obama über einen gleich soll die Abhängigkeit von Rohölimporten durch einen American Opportunity Tax Credit die Belastung durch stärkeren Einsatz von Biokraftstoffen, insbesondere der zwei- Studiengebühren verringern. Das Tax Policy Center in ten Generation, reduziert werden. In den nächsten zehn Jah- Washington schätzt, dass auf Basis der jetzigen Steuer- ren sollen rund 150 Mrd. US-Dollar für den Umwelt- und pläne die mittleren Einkommensschichten im Jahr 2012 Energiesektor bereitgestellt werden. Davon verspricht sich eine rund 5%ige Einkommenserhöhung (nach Steuern) Obama 5 Mill. neue Arbeitsplätze. realisieren können. Für kleinere und mittlere Unterneh- men plant Obama ebenfalls Steuererleichterungen. Um die Die Energie- und Klimapolitik ist der zweite Bereich, in dem Auswirkungen der Finanzkrise abzumildern, schlägt Oba- sich die Europäer mehr transatlantische Kooperation ver- ma außerdem einen American Jobs Tax Credit vor – eine sprechen. Auch wenn die Chancen für eine Wende in der zweijährige Steuergutschrift in Höhe von 3 000 Dollar für Energiepolitik gut sind – einfach wird es für Obama sicher- jeden zusätzlichen Beschäftigten, der von einem Unter- lich nicht, sich gegen die Interessen der energieintensiven nehmen eingestellt wird. Industrien durchzusetzen. Zudem könnte sich der momen- ifo Schnelldienst 23/2008 – 61. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 11 tan niedrige Ölpreis als Hindernis erweisen. Denn für die In- Auf die Unterstützung seiner Parteifreunde kann er bauen, dustrie verlieren Investitionen in erneuerbare Energien an At- wo es um weitere Konjunkturpakete, Steuersenkungen für traktivität, wenn der Ölpreis wieder sinkt. die Mittelschicht und vor allem auch die Reform des Ge- sundheitswesens geht. Konflikte könnten sich dagegen et- wa bei der Konsolidierung des Haushalts ergeben. In vielen Handelspolitische Hürden Bereichen zeichnet sich bereits eine Polarisierung zwischen den fiskalkonservativen Blue Dog Democrats und den Li- Noch ist die Richtung unklar, die Obama in der Handels- beralen traditioneller Prägung ab, die den Gewerkschaften politik einschlagen wird. Wie viele Demokraten gilt auch nahestehen und in erster Linie Arbeitnehmerinteressen ver- er als Fair-Trader: Freihandelslabkommen müssen aus sei- pflichtet sind. Erst wenn Obama Anfang 2009 seinen Haus- ner Sicht an Arbeits- und Umweltstandards gekoppelt wer- haltsplan vorstellt, wird sich zeigen, ob er seine Partei ge- den. Aufgrund unzureichender Standards stimmte er da- schlossen hinter sich versammeln kann. Auch beim Thema her gegen das Abkommen mit den zentralamerikanischen Handel wird es Konflikte geben. Zusammen mit den Ge- Ländern CAFTA und lehnt die derzeit im Kongress an- werkschaften werden die Demokraten Obama schnell an hängigen Abkommen mit Südkorea, Kolumbien und seine Wahlkampfversprechen erinnern, sollte er einen Kurs Panama ab. Aus eben diesen Gründen kündigte er auch einschlagen, der mehr auf Freihandel als auf Schutz der ame- an, das nordamerikanische Freihandelsabkommen rikanischen Arbeiter setzt. Zudem wird Obama nicht um- NAFTA nachzubessern. Wiederholt versprach er den ame- hinkommen, für grundlegende Reformen auch bei den Re- rikanischen Arbeitern Schutz vor ausländischer Konkur- publikanern um Unterstützung zu werben. Dies gilt für sei- renz. Überraschend war seine Position im Wahlkampf ne Energiepläne – vor allem die Einführung eines Emissions- nicht, wollte er doch die bevölkerungsreichen Bundes- handelssystems – ebenso wie für die Reform des Gesund- staaten des Rust Belt wie Ohio und Pennsylvania gewin- heitswesens. Denn die Demokraten verfügen im Senat nach nen, in denen die Sorge um Arbeitsplatzverluste durch wie vor nicht über die notwendige Mehrheit von 60 Stim- Handelsliberalisierung eine zentrale Rolle spielt und ein men, um Gesetze auch gegen ein »Filibuster«, das eine Ab- knapper Wahlausgang erwartet wurde. Dass seine Han- stimmung verschleppende Dauerreden, durchbringen zu delspolitik moderater zu werden verspricht als seine Wahl- können. kampfrhetorik, verrät jedoch ein Blick auf seine Berater: Chefberater in Wirtschaftsfragen ist Austan Goolsbee, Pro- fessor an der University of Chicago. Der Ökonom ver- Literatur traut in die Marktkräfte und macht auch nicht den Han- Allianz Dresdner Economic Research (2008), Wirtschaft & Märkte, verschie- del für die wachsende Einkommensungleichheit in den dene Ausgaben. USA verantwortlich, sondern den technologischen Wan- Bureau of Economic Analysis (2008), »National Economic Accounts«, http://www.bea.gov/national/index.htm. del in Verbindung mit mangelnder Ausbildung. Auch Oba- Council of Economic Advisors (2008), »Economic Report of the President mas Stabschef Rahm Emanuel, Berater des früheren Prä- 2008«, http://www.gpoaccess.gov/eop/tables08.html. DekaBank (2008), Volkwirtschaft Spezial. USA, verschiedene Ausgaben. sidenten Bill Clinton, gilt als Freihändler. Federal Reserve Board (2008), Releases and Historical Data, http://www.federalreserve.gov/releases/h15/data.htm.. Mildner, St. (2008), »Wirtschaftsmodell und seine Geschichte«, in: Bundes- zentrale für politische Bildung (Hrsg.), Online-Dossier USA, 10. Oktober 2008, Nichts geht ohne Kongress www.bpb.de. US Census Bureau (2008), Statistical Abstract of the United States 2008, http://www.census.gov/compendia/statab/. Will Obama auch nur einen Teil seiner Pläne umsetzen, ist er auf die Unterstützung des Kongresses angewiesen. Denn nicht der Präsident, sondern der Kongress hat die Kompe- tenz in der Haushalts- und Steuerpolitik ebenso wie in der Handelspolitik. Immerhin haben die Demokraten bei den pa- rallel zur Präsidentenwahl durchgeführten Kongresswahlen sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat Sitze hin- zugewonnen. Bislang stellten die Demokraten 51, die Re- publikaner 49 der 100 Senatoren. Bisherigen Ergebnissen zufolge (zwei Sitze sind noch unentschieden) konnten die Demokraten ihren Vorsprung auf 58 Mandate ausbauen. Nach derzeitigem Stand stellen sie mit 257 Sitzen auch ei- ne deutliche Mehrheit im Repräsentantenhaus. Doch die de- mokratische Mehrheit im Kongress garantiert Obama noch lange nicht die erfolgreiche Umsetzung seiner Wirtschafts- programme. 61. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2008
12 Zur Diskussion gestellt meinen Willensbekundungen in konkrete innovative Kom- promissangebote umzusetzen. Im Vergleich zu vorherigen Runden ist die Anzahl der ver- handelten Themen und der Mitgliedsländer der Welthan- delsorganisation (WTO) stark gewachsen, mittlerweile sind es 153 Nationen. Das sprengt fast schon den institutio- nellen Rahmen der WTO-Verhandlungen einschließlich sei- ner Einstimmigkeitsanforderung und dem Prinzip des ein- heitlichen Ansatzes (»Single Undertaking«). Der wirtschaftliche Aufschwung großer Schwellenländer hat darüber hinaus die Verhandlungsdynamik grundlegend Katharina Gnath* Josef Braml** verändert. Die regionalen Führungsmächte haben eine ge- wichtige Stimme innerhalb der WTO erlangt, indem sie die Interessen einer Reihe von Schwellen- und Entwick- lungsländern vertreten. Ohne Zustimmung von Ländern Schwere Zeiten für multilateralen wie Indien oder Brasilien kann kein Kompromiss mehr er- Freihandel reicht werden. Europa kann nach den US-Wahlen weder eine sofortige Wie- So wurde auch das WTO-Ministertreffen in Genf im Juli 2008 derbelebung der multilateralen Doha-Runde erwarten, noch ergebnislos abgebrochen. Im Kern des Scheiterns lag die sollte sie darauf drängen. Die Verhandlungen sind in einer anhaltende Pattsituation bei den WTO-Problemthemen Pattsituation; ihre Wiederbelebung würde einen klaren po- Landwirtschaft und Industriegüter. Hier hat man noch kei- litischen Willen der wichtigsten Handelsnationen – allen vor- nen erfolgreichen Interessensausgleich zwischen dem Ab- an den USA – erfordern. Doch der künftige US-Präsident bau von Landwirtschaftssubventionen seitens der Industrie- Barack Obama kann bis auf weiteres diese internationale länder und mehr Marktzugang zu den Entwicklungsländern Führungsrolle nicht übernehmen, weil er mit Blick auf die gefunden. akute Wirtschaftskrise andere, innenpolitische Wirtschafts- prioritäten setzen wird. Selbst wenn die Obama-Administra- tion sich für eine Freihandelsagenda einsetzen wollte, hät- USA nach der Wahl – wirtschaftliche Prioritäten te sie große Schwierigkeiten, die Unterstützung des Kon- gresses zu gewinnen, der in der amerikanischen Handels- Obamas erste Personalentscheidungen nähren durchaus politik die entscheidende Rolle spielt. Hoffnungen, dass die USA wieder an die Freihandelsagen- da der Clinton-Ära anknüpfen wollen: Timothy Geithner, der designierte Finanzminister, ebenso wie Lawrence Sum- Pattsituation in den Doha-Verhandlungen mers, der den Nationalen Wirtschaftsrat leiten soll, gelten als wirtschaftsliberal; beide wurden vom ehemaligen Finanz- Die Verhandlungen der aktuellen multilateralen Handels- minister Robert Rubin gefördert, der wie kein anderer das runde, die 2001 in Doha begonnen wurde, sind drei Jahre Mantra der Clinton-Administration personifizierte: »Freihan- nach ihrem geplanten Ende weit von einem erfolgreichen del und Haushaltsdisziplin«. Abschluss entfernt. Gleichwohl bekunden alle Verhandlungs- partner, zuletzt Mitte November 2008 beim G-20-Gipfel in Kurz- bis mittelfristig wird indes die Haushaltsdisziplin wei- Washington, selbst in der aktuellen Finanz- und Wirtschafts- terhin gelockert. Obama und seine Chef-Ökonomen se- krise nicht auf protektionistische Maßnahmen zurückzugrei- hen sich angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage ge- fen und die Verhandlungen mit Nachdruck fortzuführen (vgl. zwungen, auf keynesianische Instrumente zurückzugreifen: Declaration of the Summit on Financial Markets and the Der Binnenkonsum soll mit Konjunkturprogrammen stimu- World Economy 2008). Es wären jedoch immense Kraftan- liert werden, um 2,5 Mill. Arbeitsplätze zu schaffen bzw. zu strengungen seitens der großen Handelsnationen und vor erhalten. Damit dürften die für die beiden ersten Amtsjah- allem die politische Führung der USA nötig, um die allge- re geplanten Sozial- und Infrastrukturprogramme den Staatshaushalt um weitere 700 Mrd. Dollar belasten. Hin- * Katharina Gnath ist Leiterin des Programms Globalisierung und Weltwirt- zu kämen die im Wahlkampf versprochenen Steuererleich- schaft der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin. terungen für die Mittelschicht – die nicht unmittelbar mit ** Dr. Josef Braml ist Leiter der Redaktion »Jahrbuch Internationale Politik« und Mitarbeiter des Programms USA/Transatlantische Beziehungen der Steuererhöhungen von Großverdienern gegenfinanziert wer- Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin. den können. ifo Schnelldienst 23/2008 – 61. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 13 Präsident Obama macht aber auch deutlich, dass Amerika stellen, dass die Lebensgrundlage amerikanischer Arbeit- das langfristige Ziel der Haushaltskonsolidierung nicht aus nehmer nicht durch die Niedriglohnkonkurrenz anderer den Augen verlieren dürfe. Angesichts steigender Defizite Länder bedroht werden. Indem sie sich gegen die »Aus- und nachlassender Wirtschaftskraft sei die Reform des beutung« in anderen Ländern und für internationale Ar- Staatshaushalts nicht nur eine Option, sondern eine Pflicht beitnehmerrechte als »Menschenrechte« einsetzen, sind (vgl. Eggen und Fletcher 2008). Obama denkt dabei in ers- sie auch politisch teilkompatibel mit der Menschenrechts- ter Linie an Einsparungen. Ausgabenprogramme werden auf lobby. den Prüfstand gehoben und gegebenenfalls gekürzt oder gestrichen. Angesichts der verbesserten Einkommenssitua- Ebenso kritisieren Umweltverbände Schädigungen der Um- tion der Landwirte im Zuge des Biokraftstoffbooms ist es welt in anderen Ländern und fordern internationale Stan- selbst für Abgeordnete und Senatoren aus ländlichen Re- dards in Handelsvereinbarungen. gionen schwieriger geworden, die »Sozialhilfe für Landwir- te« zu rechtfertigen. Die Agrarlobby ist zwar der natürliche politische Gegner der Ökobewegung, wenn es um wirtschaftliche Interessen auf In der künftigen Auseinandersetzung um die nationale Agrar- Kosten des amerikanischen Umweltschutzes geht. Anders gesetzgebung in den USA liegt demnach auch eine Chan- als die exportorientierte Agrarindustrie sieht der importbe- ce für die multilateralen Verhandlungen der Doha-Runde – drohte Teil der US-Landwirte jedoch im Freihandel eine bildeten doch bislang die Subventionen für amerikanische Herausforderung anderer Natur: die Konkurrenz der Ent- Landwirte ein unüberwindbares Hindernis bei den interna- wicklungsländer, die vor allem über die Doha-Runde etwa tionalen Verhandlungen. Das wird jedoch nicht von heute mit Baumwolle, Zucker oder Textilien auf den Weltmarkt auf morgen möglich sein. Die durch die Wirtschaftsproble- drängen. me verunsicherte Öffentlichkeit und ihre Repräsentanten im Kongress sowie etablierte Interessengruppen werden Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, so verfolgt die- es auch dem neuen US-Präsidenten erschweren, agrar- und se häufig auch als »sonderbare Bettgenossen« (»strange handelspolitische Kursänderungen unmittelbar zu Beginn bedfellows«) bezeichnete Tendenzkoalition verschiedens- seiner Amtszeit einzuleiten. ter Interessengruppen ein gemeinsames Ziel: die Vereitelung der Freihandelspolitik. Protektionistische öffentliche Meinung Amerikanische Volksvertreter Insgesamt ist die Mehrzahl der US-Bevölkerung gegenüber Freihandel kritisch eingestellt: Laut einer Umfrage des Pew Die Kritiker des Freihandels überwiegen bei den Wählern der Research Center sehen immer weniger Amerikaner die posi- Demokraten; doch sie sind in den Wählerschaften beider tiven Auswirkungen des Handels auf die US-Wirtschaft. Wa- Parteien und unter ihren Repräsentanten im Abgeordne- ren es 2002 noch 78%, so verminderte sich 2007 der Anteil tenhaus und Senat zu finden. In handelspolitischen Fragen der Befürworter auf 58% (vgl. Kohut 2008). In einer Umfrage sind die Unterschiede zwischen den Parteien sogar gerin- von CNN/Opinion Research vom Juni 2008 äußerte gar die ger ausgeprägt als zwischen den einzelnen Gruppierungen Hälfte der registrierten Wähler die Meinung, dass Handel der in beiden Parteilagern. So herrschen bei den Demokraten US-Wirtschaft schade; sie machten insbesondere Präsident heftige Auseinandersetzungen zwischen Liberalen traditio- Bushs Freihandelspolitik für das Handelsdefizit, die sinken- neller Prägung (»Old Liberals«), die den Gewerkschaften na- den Löhne, die Arbeitslosigkeit und steigende Einkommens- he stehen, und auch »Blue Dogs« genannten progressiven ungleichheiten verantwortlich (vgl. Mooney 2008). Diese Zah- »New Liberals«. Mit Blick auf den Freihandel haben progres- len erklären Barack Obamas populistische Wahlkampfrheto- sive Demokraten ähnliche Einstellungen wie moderate und rik, als er sich gegen das Nordamerikanische Freihandelsab- konservative Republikaner. kommen (NAFTA) aussprach; sie verdeutlichen aber auch die Probleme, die der künftige Präsident in der Auseinander- Doch viele der auf dem Capitol Hill tonangebenden Demo- setzung mit etablierten Interessengruppen und dem zuse- kraten, nicht zuletzt auch einige Vorsitzende federführen- hends protektionistisch gesinnten Kongress haben wird. der Ausschüsse, sind protektionistisch eingestellt. Um ih- re Wiederwahl nicht zu gefährden, nehmen sie insbeson- dere Rücksicht auf die spezifischen Interessen der Wäh- Gut organisierte Interessen ler bzw. Wahlkampffinanciers in ihren Wahlkreisen und Bun- desstaaten. Die Freihandelskritiker verschaffen sich über verschie- dene Interessengruppen politisches Gehör. An vorders- Da US-Abgeordnete und Senatoren keiner Parteidisziplin ter Front kämpfen die Gewerkschaften: Sie wollen sicher- unterworfen sind, können sie sich auch nicht hinter ihr ver- 61. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2008
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