PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen

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PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen
AUF DEN
 PUNKT.
Das Servicemagazin für unsere Mitglieder Nr. 1 / Feb. 2021

Alles auf „gesund
bleiben“ setzen!
Seite 10

Mehr impfen gegen
Grippe und Masern
Seite 18

info.service
Offizielle Bekanntmachungen
Seite 26
PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen
INHALT

             STANDPUNKT
             Holprig                                                               3

             AKTUELLES
             Drive-ins für Frankfurt und Offenbach                                 4
             Weder Schutzschirm noch Schutzimpfung                                 6
             Nachruf: KVH trauert um Dr. Hans-Friedrich Spies                      9

             TITELTHEMA
             Alles auf „gesund bleiben“ setzen!                                   10
             Cholera, Pest und Innovation                                         12
             Infektionskrankheiten müssen nicht sein                              16
             Mehr impfen gegen Grippe und Masern                                  18
             „Die richtige Kommunikation mit dem Patienten ist der Schlüssel“     22
             Handbuch zur Corona-Impfung                                          25
             Schon gewusst?                                                       25
             Informationen zu Transport, Lagerung und Haltbarkeit von drei
             Impfstoffen gegen SARS-CoV-2                                         26
             Zi stellt Web-Portal für Gesundheitsapps online                      28

             GUT INFORMIERT
             Kurz notiert                                                         29
             PREMA: Niedrigschwellige Hilfe bei Depressionen und Panikstörungen   30
             „Auch für Hausärzte definitiv ein Thema“                             34
             Das Problem mit Hakuna Matata                                        38
             Simultaneingriffe richtig abrechnen                                  44
             Grünes Licht für kv.dox                                              46
             Rückblick: Doc’s Camp 2020 – online                                  47
             Prävention: Sicher durch den Praxisalltag                            48

             PRAXISTIPPS
             Wie war das? Fragen aus der Praxis                                   50

             SERVICE
             Ihr Kontakt zu uns/Impressum                                         51

2            AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021
PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen
STANDPUNKT

Holprig
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren,

sicher, vielleicht war es naiv zu glauben, der Start der
Impfungen gegen das Coronavirus in Deutschland
hätte glatt verlaufen können. Warum sollte auch et-
was, das in Ländern wie Großbritannien oder den
USA mit wesentlich mehr Wumms angelaufen ist, in
dem Land, in dem der erste zugelassene Impfstoff
gegen COVID-19 entwickelt wurde, direkt funktio-
nieren? Wohlgemerkt sprechen wir damit über zwei
Länder, deren Pandemiemanagement in den vergan-
genen Monaten mit den Attributen „katastrophal“
und „verheerend“ wohl noch zurückhaltend um-               Impfhonoraren für die Mitarbeit in den Impfzentren,
schrieben ist. Doch warum klappt dort das, woran           die dann aber von vielen Kreisen mit Dumpingprei-
wir zumindest in den ersten Wochen seit Start der          sen unterlaufen wurde? Warum haben weder das In-
Impfungen kläglich gescheitert sind? Und warum             nen- noch das Sozialministerium etwas dagegen un-
glänzt ein kleiner Staat wie Israel schon nach kurzer      ternommen, dass sich niedergelassene Ärzte, Ärzte in
Zeit beim Impfen mit Zahlen, die den deutschen Ge-         den Bereitschaftsdienstzentralen und unsere MFA in
sundheitspolitikern die Schamesröte ins Gesicht trei-      einer der hinteren Priorisierungsgruppen beim ­Impfen
ben müssten?                                               wiederfinden? Wo, bitteschön, soll es denn ein höhe-
                                                           res Expositionsrisiko geben als in der täglichen Ar-
Vielleicht liegt es ja daran, dass nicht jeder, der sich   beit mit und am Patienten? Wir liegen deshalb seit
hoher Zustimmungswerte erfreut, seine eigentlichen         Wochen den Verantwortlichen in Wiesbaden in den
Kernaufgaben wirklich gut erledigt. Vielleicht liegt es    Ohren, um diesen unhaltbaren und skandalösen Zu-
ja daran, dass es nicht ausreicht, sein Gesicht in jede    stand zu verändern und hoffen sehr, dass sich dies
Kamera zu halten oder in fast jeder Talkshow aufzu-        geändert hat, wenn Sie diese Zeilen lesen.
tauchen, während es an Grundlegendem fehlt. Das
waren in der ersten Welle vor allem die Schutzaus-         Wie Sie sehen, stellen sich auch elf Monate nach Be-
rüstungen und sind nun die Vakzine sowie die feh-          ginn der Pandemie in Deutschland mehr Fragen, als
lenden Konzepte, um beispielsweise die Heimbe-             dass es Antworten gibt. Sie können versichert sein,
wohner zu schützen. In unserer Mediengesellschaft          dass wir hartnäckig danach verlangen werden.
reichen die oben genannten Rezepte für höchste Re-
putation, für Spekulationen über Kanzlertauglichkeit       Mit besten kollegialen Grüßen, Ihre
und Ähnliches. Aber was bleibt wirklich, wenn man
hinter die Kulissen schaut? Dann bleiben vor allem
eklatante Versäumnisse.

Doch diese Versäumnisse gibt es nicht nur in Ber-
lin, sondern auch in Wiesbaden. Warum gab es eine
mit dem Innen- und Sozialministerium abgestimmte           Frank Dastych		               Dr. Eckhard Starke
Rahmenvereinbarung mit wirtschaftlich vernünftigen         Vorstandsvorsitzender stv. Vorstandsvorsitzender

                                                                                  AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021         3
PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen
AKTUELLES

                          Drive-ins für Frankfurt
                          und Offenbach
                          Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen (KVH) baut ihr Angebot an COVID-­
                          Koordinierungscentern (Testcentern) weiter aus. Bereits kurz vor Jahresende
                          2020 hat die KVH wieder ein zweites Testcenter in Frankfurt eröffnet, seit dem
                          13.  Januar 2021 gibt es zudem erstmals ein Center in Offenbach. Beide Stand­
                          orte werden als Drive-in betrieben, Termine können über ein digitales Termin­
                          management gebucht werden.

                          „Wir müssen davon ausgehen, dass der Bedarf an Tes-      den Bürgerinnen und
                          tungen auf das Coronavirus weiterhin hoch bleibt. Das    Bürgern höhere Test-
                          werden auch die endlich zur Verfügung stehenden          kapazitäten zu bieten
                          Impfstoffe zunächst einmal leider nicht ändern“, so      und dabei gleichzeitig
                          Frank Dastych, Vorstandsvorsitzender der KVH, wäh-       das Testcenter an der
                          rend eines Pressetermins zur Eröffnung des Testcen-      Uniklinik zu entlasten“,
                          ters in Frankfurt. Gemeinsam mit Dr. Eckhard Starke,     erläuterte der KVH-
                          stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KVH, und     Chef. „Daher haben wir
                          Kai Klose, Hessischer Minister für Soziales und Integ-   entschieden, wieder ein
                          ration, erklärte Dastych, warum Frankfurt ein weiteres   zweites Testcenter zu
                          Testcenter benötigt und weshalb sich das Messegelän-     eröffnen. Das Messege-
                                                                                                                 Klose sieht die Testcenter als wichtigen
                          de als Standort anbietet. Demnach war das COVID-­        lände ist dazu ideal ge-      Baustein zur Umsetzung der hessischen
         Eröffneten das
    zweite Frankfurter    Koordinierungscenter an der Uniklinik Frankfurt nach     eignet.“                      Teststrategie.
Testcenter: Kai Klose,    der Schließung der zweiten Frankfurter Teststelle im
  Hessischer Minister     Bürgerhospital die einzige Anlaufstelle für Testun-      Das Center befindet sich auf der Parkfläche neben
      für Soziales und
 Integration, und das     gen auf SARS-CoV-2 in der Mainmetropole. Zu wenig        dem westlichen Eingang der Messe und bietet ideale
   KVH-Vorstandsduo       für die rund 750.000 Einwohner. „Uns ist es wichtig,     Voraussetzungen für den Betrieb eines Drive-ins. Die
   Frank Dastych und                                                               Zu- und Abfahrt wurde mit Unterstützung der Mes-
   Dr.  Eckhard Starke.
                                                                                   se Frankfurt gut sichtbar ausgeschildert und erfolgt
                                                                                   über die ausreichend lange Straße der Nationen. Ver-
                                                                                   kehrsbehinderungen sind so auch bei einer großen In-
                                                                                   anspruchnahme nahezu ausgeschlossen.

                                                                                   PARALLELBETRIEB MEHRERER TESTSTRASSEN

                                                                                   Die eigentliche Testeinrichtung besteht aus mehreren
                                                                                   Containern und bietet zwei sogenannte Teststraßen,
                                                                                   die parallel betrieben werden. Die Abstrichentnahme
                                                                                   erfolgt direkt im Fahrzeug und dauert nur wenige Au-
                                                                                   genblicke. Wer nicht mit dem Auto, sondern zu Fuß,
                                                                                   mit dem Fahrrad oder dem Öffentlichen Personen-
                                                                                   nahverkehr (ÖPNV) in das Testcenter kommt, wird na-
                                                                                   türlich auch getestet.

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PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen
AKTUELLES

                                      „Das neue Test-      Das Testcenter befindet
                                      center hier an       sich auf dem Parkplatz
                                      der Messe in         Mainufer, die Zufahrt er-
                                      Frankfurt ist ein    folgt über die bekann-
                                      wichtiger Bau-       te Parkplatzzufahrt an
                                      stein zur Umset-     der Ecke Mainstraße und
zung unserer Teststrategie. Ich freue mich, dass ich       Speyerstraße. Die Öff-
die KV Hessen dabei unterstützen konnte, dieses neue       nungszeiten sind wie in
Testcenter in Hessens größter Stadt aufzubauen“,           Frankfurt Montag bis Frei-                                  Auch in Offen-
sagte Kai Klose. „Die Mitarbeitenden können in einem       tag von 9 bis 13 Uhr. Getestet wird wie in allen Test-      bach testet die
                                                                                                                       KVH seit Mitte
Drive-in voraussichtlich mehr Tests in kürzerer Zeit ab-   centern der KVH ausschließlich mittels PCR-Test.            Januar Men-
wickeln. Selbst wenn es in Stoßzeiten gegebenenfalls                                                                   schen auf das
zu einer Warteschlange kommt, lassen sich die Hygie-       DIGITALES TERMINMANAGEMENT                                  Coronavirus.

neregeln im Auto leichter einhalten“, ergänzte Klose.      ­VERKÜRZT WARTEZEITEN

TESTCENTER IN OFFENBACH ENTLASTET                          Neu ist, dass die Patienten sowohl in Frankfurt wie
ANDERE STANDORTE                                           auch in Offenbach vorab Termine für ihre Testung bu-
                                                           chen können. Dazu bietet die KVH ein digitales Ter-
                           Das gilt auch für das erste     minmanagement an. Dieses ermöglicht den Mit-
                           Testcenter in Offenbach,        arbeitenden der 116117, den Arztpraxen und den
                           das der stellvertretende        Gesundheitsämtern Terminslots von 30 Minuten für
                           KVH-Vorstand Dr.  Starke        zu testende Personen zu buchen. Diese Perso-
                           am 13. Januar 2021 ge-          nen erhalten dann einen Buchungscode, mit
                           meinsam mit dem Offen-          dem sie sich am jeweiligen Testcenter legiti-
                           bacher Oberbürgermeis-          mieren können. Personen ohne vorherige Ter-
                           ter Dr. Felix Schwenke und      minbuchung werden ebenfalls getestet, müs-
                           Gesundheitsdezernen­t in        sen aber eventuell mit einer Wartezeit rechnen.
                           Sabine Groß offiziell er-
                           öffnete. Durch die erste        „Wir sind zuversichtlich, dass wir mit den
KVH-Teststelle in Offenbach müssen die rund 130.000        neuen COVID-Koordinierungscentern dazu
Offenbacher sowie die Einwohner der umliegenden            beitragen können, das Infektionsgeschehen
Städte und Gemeinden, sollten sie einen Test auf           in und um Offenbach und Frankfurt positiv
SARS-CoV-2 benötigen, nicht mehr in die nächstgele-        zu beeinflussen“, so Dr. Starke. Erfreut zeigte
genen Testcenter nach Frankfurt oder Darmstadt fah-        sich Dr. Schwenke. „Über die Eröffnung des
ren. Das spart längere Anfahrtswege und entlastet die      Testzentrums in Offenbach bin ich sehr froh, weil
bestehenden Testcenter.                                    sich die Wege für die Bürgerinnen und Bürger da-
                                                                              mit deutlich verkürzen“, erklärte
                                                                              das Stadtoberhaupt. Die Offen-
                                                                              bacher Gesund­heitsdezernentin
                                                                              Groß ergänzte: „Ein Testcenter
                                                                              hier vor Ort in unserer dicht be-
                                                                              wohnten Stadt mitten im Rhein-
                                                                              Main-Gebiet wird dafür sorgen,
                                                                              dass Menschen mit Symptomen
                                                                              sich leichter testen lassen kön-
                                                                              nen. Es muss uns gelingen, die
                                                                              weitere Ausbreitung des Virus zu
                                                                              vermeiden.“ n
                                                                                            Alexander Kowalski
PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen
AKTUELLES

                           Weder Schutzschirm noch
                           Schutzimpfung
                           Das Coronavirus beschäftigt weiterhin auch die KVH-Vertreterversammlung. In ih-
                           rer letzten, erneut digitalen Sitzung vor dem Jahreswechsel sorgten vor allem die
                           niedrige Priorisierung der niedergelassenen Ärzte bei der Schutzimpfung und der
                           Wegfall des Corona-Schutzschirms für Verwunderung und Unverständnis bei den
                           Vertretern. Ebenso auf der Tagesordnung: Die Tätigkeit der Vertragsärzte in den
                           hessischen Impfzentren.

 Auch die letzte Vertre-
 terversammlung 2020
konnte „nur“ als Video-
 konferenz stattfinden.

                           Ungläubige Gesichter bei den niedergelassenen Ärz-     stufung keinesfalls akzeptieren. Wir, die niederge-
                           ten. Sie sind in der Corona-Impfverordnung des         lassenen Ärztinnen und Ärzte, versorgen nach wie
                           Bundesgesundheitsministeriums (BMG) weder in die       vor sieben von acht mit dem Coronavirus infizierte
                           Gruppe mit der höchsten noch in die Gruppe mit         Personen und halten den Krankenhäusern den Rü-
                           hoher Priorität eingestuft. Stattdessen genießen sie   cken frei. Dass wir uns nun bei der Impfung ganz
                           nur „erhöhte Priorität“ und stehen damit in der Rei-   hinten anstellen sollen, ist ein Affront gegen die am-
                           henfolge weit hinten. Das BMG folgte bei seiner Ein-   bulante Versorgung und lässt wieder einmal jegliche
                           stufung den Empfehlungen der Ständigen Impfkom-        Wertschätzung vermissen“, ärgerte sich Frank Das-
                           mission (STIKO) beim Robert-Koch-Institut (RKI). Für   tych, Vorstandsvorsitzender der KVH, über die Ver-
                           den Vorstand und die Vertreterversammlung eine         antwortlichen in Berlin. Er forderte: „Die ambulan-
                           vollkommen unverständliche und inakzeptable Ent-       te Versorgung gehört bei der Impfung ohne Wenn
                           scheidung. „Wir können das BMG und die STIKO an        und Aber in die Gruppe mit der höchsten Priorität.
                           dieser Stelle überhaupt nicht verstehen und die Ein-   Das werden wir gegenüber der hessischen Landes-

 6                         AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021
PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen
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                                                                                       Wird in 2021 nicht fortgesetzt:
                                                                                       der für viele Praxen überlebens-
                                                                                       wichtige Corona-Schutzschirm.

regierung in Wies-                                                                      drücklich, keine Ver-
baden entsprechend                                                                      träge zu schlechteren
deutlich     machen.                                                                   Konditionen abzuschlie-
Schließlich, und da                                                                  ßen. Bestehen Sie auf
ist die ambulante Ver-                                                           den 120 beziehungsweise 50
sorgung dann offenbar                                                         Euro und regeln Sie Ihr Engage-
doch gut genug, sollen wir                                               ment in einem Impfzentrum mit der
Niedergelassene ja auch in den                               jeweiligen Gebietskörperschaft ausschließlich ho-
hessischen Impfzentren unterstützen. Ganz im Ge-          norarvertraglich“, appellierte Dastych an die Nie-
gensatz zu den im Krankenhaus tätigen Kolleginnen         dergelassenen. Mit einem Augenzwinkern nahm
und Kollegen übrigens. Auf diese, so unser Minister-      der KVH-Vorsitzende die aktuelle politische Lage in
präsident Volker Bouffier, könne das Land nämlich         Deutschland und den USA aufs Korn: „Orientiert man
nicht zurückgreifen, weil sie in den Kliniken gefor-      sich an dem, was gerade passiert, könnte man fast
dert seien. Es tut mir leid, aber da kann ich nur mit     glauben, dass zwei neue Straftatbestände eingeführt
dem Kopf schütteln. Sind wir, die Vertragsärztinnen       worden seien: Wahlbetrug in den USA, wo sich of-
und -ärzte, in unseren Praxen etwa nicht gefordert?“      fensichtliche Wahlverlierer als erdrutschartige Sieger
                                                          inszenieren, sowie die ,Drostenlästerung‘, die immer
KOSTENDECKENDE IMPFHONORARE                               dann passiert, wenn eine Meinung vertreten wird,
                                                          die sich nicht zu 100 Prozent mit der Ansicht von
In diesem Zusammenhang wies der KVH-Chef dar-             Deutschlands exponiertestem Virologen deckt.“
auf hin, dass die Tätigkeit in den hessischen Impfzen-
tren auf jeden Fall kostendeckend sein müsse. Aus         KEIN SCHUTZSCHIRM AB I/2021
diesem Grund habe die KVH anhand durchschnitt-
licher Honorare und Arbeitszeiten pro Quartal das         Verärgert zeigte sich die Vertreterversammlung dar-
durchschnittliche Stundenhonorar von Haus- und            über, dass der Corona-Schutzschirm von Seiten der
grundversorgenden Fachärzten berechnet und ihre           Bundespolitik bisher nicht verlängert wurde und
Berechnungen dem zuständigen hessischen Innen-            wohl auch nicht wird. Dieser hatte in Form von Aus-
ministerium vorgelegt. Mit Erfolg: Gemeinsam einig-       gleichszahlungen bis einschließlich IV/2020 sicher-
te man sich auf Stundensätze von 120 Euro für Ärzte       gestellt, dass das Honorar von Praxen, die pande-
und 50 Euro für Medizinische Fachangestellte (MFA).       miebedingt einen Honorarrückgang von mehr als
„Niemand möchte durch die Unterstützung der Co-           zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal hat-
rona-Impfung Gewinne machen, Verluste darf es im          ten, zumindest auf 90 Prozent des Honorars des Ver-
Vergleich zur Praxistätigkeit jedoch nicht geben. Mit     gleichsquartals des Vorjahrs aufgefüllt wurde. Für die
den vereinbarten Stundensätzen können wir gut le-         ersten beiden Quartale 2020 seien bereits mehr als
ben, denn sie orientieren sich an unseren Berech-         33 Millionen Euro an die betroffenen Praxen ausge-
nungen und sind kostendeckend“, so Dastych. Aller-        zahlt worden, berichtete Dastych. „Der Schutzschirm
dings, so berichtete der Vorstandsvorsitzende, gebe       muss zwingend und dringend fortgeführt werden.
es bereits einige Kreise und kreisfreie Städte, die die   Andernfalls drohen vielen Kolleginnen und Kollegen
vereinbarten Stundensätze als Höchstsätze interpre-       erhebliche wirtschaftliche Verluste und ein zusätz-
tieren und deutlich niedrigere Honorare anbieten          liches Praxissterben, das wir vor dem Hintergrund
würden. „Wir sehen das kritisch und empfehlen aus-        einer ohnehin angespannten ­Versorgungssituation

                                                                                  AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021                      7
PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen
AKTUELLES

                überhaupt nicht gebrauchen können“, warnte er.            1,4  Prozent auf rund 2,4 Milliarden Euro an. Dabei
                Dr.  Eckhard Starke, stellvertretender Vorstandsvorsit-   gab es bei der extrabudgetären Gesamtvergütung
                zender der KVH, pflichtete ihm bei: „Herr Spahn soll-     (eGV) eine Steigerung um 4,1 Prozent. Die morbidi-
                te in der größten Not seine besten Freunde nicht ver-     tätsbedingte Gesamtvergütung (mGV) sank dagegen
                gessen. Die Niedergelassenen übernehmen während           minimal. Die Gesamtvergütung je GKV-Versicherten
                der Pandemie einen Großteil der Arbeit und mussten        wuchs um vier Euro auf 537 Euro. Allerdings, so er-
                schon mit Schutzschirm auf zehn Prozent ihres Ho-         läuterte Dastych, sei der Honorarvertrag 2019 bei
                norars verzichten. Dass die Ausgleichszahlungen bis-      den Berechnungen lediglich für das vierte Quartal
                her nicht verlängert wurden, ist daher gelinde ge-        berücksichtigt worden. Für die Quartale eins bis drei
                sagt ein Unding, insbesondere vor dem Hintergrund         seien demnach noch Neuberechnungen notwendig.
                milliardenschwerer Geschenke an die Krankenhäu-           Offene Nachvergütungen für 2019 seien für die ers-
                ser und dank kostenloser FFP2-Masken für Risikopa-        te Jahreshälfte 2021 geplant.
                tientinnen und ­-patienten neuerdings auch an Apo-
                theken.“ Das sahen auch die Vertreter so. In einer        SCHLEPPENDE VERHANDLUNGEN ZU
                Presseerklärung forderten sie daher den Bundesge-         ­NEUER PRÜFVEREINBARUNG
                sundheitsminister öffentlich auf, Verantwortung zu
                übernehmen und den Schutzschirm zu verlängern,            Keinen Durchbruch, so berichtete Dr. Starke, gab es
                mindestens bis zur Jahreshälfte 2021. Andernfalls,        bisher in den Verhandlungen zu einer neuen Prüfver-
                so die Argumentation, seien zahlreiche Praxen, de-        einbarung in Hessen. „Wir schleppen uns mit den
                ren Systemrelevanz auch und gerade während der            Krankenkassen von Verhandlung zu Verhandlung.
                Pandemie mehr als deutlich geworden sei, in ihrer         Unsere Forderungen und die Vorstellungen der Kran-
                Existenz gefährdet.                                       kenkassen liegen dabei weit auseinander“, erklär-
                                                                          te der stellvertretende Vorstandsvorsitzende. Bereits
                MODERATER ANSTIEG BEI DER GESAMT-                         im Mai hatte die KVH die hessischen Kassen in ei-
                VERGÜTUNG                                                 nem Schreiben über ihre Überlegungen zu einer neu-
                                                                          en Prüfvereinbarung informiert und um zügige Ver-
                Keinen Einfluss hatte das Coronavirus auf die Ent-        handlungsgespräche gebeten. Im Fokus stehen dabei
                wicklung der Gesamtvergütung im Jahr 2019. Die-           für die KVH die Beratung vor Regress sowie die Eta-
                se stieg im Vergleich zum Vorjahr um moderate             blierung eines paritätisch besetzten, entscheidungs-

                    OHNE SCHUTZSCHIRM DROHEN PRAXIS-INSOLVENZEN:
                    HESSENS VERTRETERVERSAMMLUNG FORDERT VERLÄNGERUNG
                    „Die Mitglieder der Vertreterversammlung fordern Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auf, den
                    Corona-Schutzschirm für die Praxen der niedergelassenen Ärzt*innen mindestens bis zur Jahresmit-
                    te 2021 zu verlängern. Als Vergleichsquartale sollen dazu die Quartale 1 und 2/2019 herangezogen
                    werden. Nach wie vor werden sieben von acht COVID-Erkrankte in den Praxen der Niedergelassenen
                    versorgt – die Systemrelevanz der Praxen liegt damit auf der Hand. Wird der Schutzschirm nun  – wie
                    es aktuell droht – nicht über das Jahresende verlängert, drohen vielen Praxen eklatante wirtschaft-
                    liche Verluste, zahlreiche Praxen werden dadurch in ihrer Existenz gefährdet. Ein zusätzliches Pra-
                    xissterben kann sich Deutschland grundsätzlich und gerade in einer Pandemie nicht leisten. Was es
                    nun dringend braucht, sind Praxen, die sich voll auf die Versorgung der Patient*innen konzentrieren
                    können und zusätzlich die Hauptlast der Impfleistungen erbringen.

                    Deshalb fordern wir die politisch Verantwortlichen auf, diese dringend notwendige Entscheidung nun
                    endlich zu treffen und sich nicht darauf zurückzuziehen, dass man das ja gerne wolle, ein anderes
                    Ressort dies aber verhindere. Bitte übernehmen Sie Verantwortung für die Praxen, so wie wir Verant-
                    wortung für unsere Patient*innen übernehmen.“

8               AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021
PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen
AKTUELLES

befugten Gremiums, das die Prüfinhalte insbesonde-        Richtgrößenprüfung bestehen. Die Folge: Das Herab-
re aus politischen Gesichtspunkten steuern könnte.        setzen des Aufgreifwerts bedeutet für viele unauffäl-
Die Krankenkassen tragen die Beratung vor Regress         lige Ärzte ein Prüfverfahren sowie einen erheblichen
zwar in der Durchschnittswertprüfung mit, im Einzel-      bürokratischen Mehraufwand. Dazu Dr. Starke: „Die
fall lehnen sie eine individuelle Beratung vor Regress    Krankenkassen möchten de facto eine Verschärfung
jedoch ab. Darüber hinaus befürworten die Kassen          durchsetzen. Das bedeutet für uns, dass wir vielleicht
eine Beibehaltung der Durchschnittswertprüfung im         sogar über einen Strategiewechsel nachdenken und
Arznei- und Heilmittelbereich. Das Aufgreifkriteri-       den Status quo erhalten sollten, um die Ausweitung
um soll jedoch herabgesenkt werden, da im Ergeb-          von Regressen zu verhindern.“ n
nis weniger Prüfungen und Regresse im Vergleich zur                                        Alexander Kowalski

   Wir trauern um
   Dr. med. Hans-Friedrich Spies
   Unser langjähriger Vorstandsvorsitzender,
   Dr. med. Hans-Friedrich Spies, ist im Alter von
   76 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben.

   Wir trauern um unseren Vorstandsvorsitzenden,          für zweieinhalb Jahre Vorstandsvorsitzender die-
   Dr. med. Hans-Friedrich Spies, der am 15. Januar       ser KV. Wer mit ihm zu tun hatte, traf auf einen
   2021 im Alter von 76 Jahren nach kurzer, schwe-        Gentleman, der aber trotzdem die harte Ausein-
   rer Krankheit verstorben ist. Mit Dr. Hans-Friedrich   andersetzung nicht scheute und für seine Positi-
   Spies verlieren wir nicht nur einen überaus ge-        onen stritt. Sein Fach- und Detailwissen sowohl
   schätzten Kollegen, einen beschlagenen und bes-        im Bereich der Medizin als auch im deutschen
   tens vernetzten Berufspolitiker, der sich immer für    Gesundheitswesen ist legendär. Nach dem Aus-
   die Belange der ärztlichen Selbstverwaltung ein-       scheiden aus dem Vorstandsamt in Frankfurt hat-
   gesetzt hat, sondern in erster Linie einen leiden-     te Dr. Spies zahlreiche Ämter auch auf Bundes­
   schaftlichen und engagierten Arzt. Seine Art, sich     ebene inne, noch bis Mai 2019 war er Präsident
   um jeden Patienten zu kümmern und sich mit des-        des Berufsverbands Deutscher Internisten e. V.
   sen Lebensgeschichte zu befassen, hat ihn weit
   über seine kardiologische Praxis in Frankfurt-Born-
   heim äußerst beliebt gemacht.                          Wir werden Dr. Hans-Friedrich Spies ein ehrendes
                                                          Andenken bewahren.
   Darüber hinaus hat Dr. Spies die Geschicke der
   KV Hessen über viele Jahre maßgeblich bestimmt.        Frank Dastych
   Er war seit Januar 1985 Mitglied der Abgeord-          Vorstandsvorsitzender
   netenversammlung der KV Hessen und wurde
   zwölf Jahre später zum stv. Vorstandsvorsitzen-        Dr. Eckhard Starke
   den der KV gewählt. Ab Januar 2000 war er dann         Stv. Vorstandsvorsitzender

                                                                                  AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021               9
PUNKT - Alles auf "gesund bleiben" setzen! - AUF DEN - KV Hessen
TITELTHEMA

10        AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021
TITELTHEMA

Alles auf „gesund bleiben“
setzen!
Corona ist weiß Gott nicht die erste Pandemie, mit     scheiden. Diese Impflücken ließen sich leicht schlie-
der sich die Menschheit auseinandersetzen muss.        ßen, zumal Impfungen in Hessen vernünftig vergü-
Früher nannte man Pandemien Seuchen und wir            tet werden. Zum „Gesundbleiben“ gehört auch die
beleuchten, wie frühere Generationen mit selbi-        Prävention, über die sich Dr. Eckhard Starke, der
gen umgegangen sind und was sich nach der Seu-         stv. Vorstandsvorsitzende der KVH, so seine Gedan-
che dauerhaft verändert hat. Impfungen gegen           ken macht. Dabei im Mittelpunkt: die Kommuni-
diese Erkrankungen gehörten und gehören dabei          kation der diversen Vorsorgeuntersuchungen. Und
oft zum Wirksamsten, was man gegen durch Vi-           so ganz kommen wir natürlich am Thema Corona
ren ausgelöste Pandemien tun kann. Umso erstaun-       nicht vorbei: In einer Gegenüberstellung finden Sie
licher ist, dass es auch bei etablierten Impfungen     daher Informationen zum Transport, zur Lagerung
wie der Masern- und der Influenzaimpfung große         und zur Haltbarkeit von drei Corona-Impfstoffen. n
Lücken in Hessen gibt, die sich regional sehr unter-                                         Karl M. Roth

                                                                              AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021       11
TITELTHEMA

          Gastbeitrag von Jörg Vögele

          Cholera, Pest und Innovation
          Seit dem Mittelalter erlebt Europa regelmäßig Epidemien. Die damit verbundenen
          Wirtschaftskrisen beschleunigten Innovationen wie den Buchdruck oder die Trink-
          wasserversorgung.

          Epidemien begleiten die Menschheit seit Jahrhun-          mend, gelangte sie über die Hafenstadt Kaffa in das
          derten und üben einen nachhaltigen Einfluss auf           Handelsnetz der Genueser und verbreitete sich so
          Wirtschaft und Gesellschaft aus. Im kollektiven Ge-       über ganz Europa.
          dächtnis besonders verankert ist die Pest, die seit der
          Antike als verheerende Seuche tradiert ist. Seit ihrem    Die Auswirkungen zeigten sich nicht nur in Poli-
          Rückzug aus Europa ab dem späten 17. Jahrhundert          tik und Wirtschaft, sondern waren auch in Religi-
          traten Infektionen wie Ruhr, Syphilis, Typhus, Pocken     on, Kultur und Medizin spürbar. Kurzfristig kam es
          und Malaria vermehrt auf.                                 zu einem fast vollkommenen Zusammenbruch des
                                                                    öffentlichen Lebens, wie die Novellensammlung „Il
          Im 19. Jahrhundert suchte dann die Cholera die eu-        Decamerone“ des Schriftstellers Giovanni Boccaccio
          ropäischen Länder heim. Im 20. Jahrhundert verbrei-       für Florenz bezeugt.
          tete sich die Grippe in mehreren Wellen. Zusätzlich
          tauchten neue Bedrohungen wie HIV, Ehec und Sars          In längerfristiger Perspektive führten die massiven
          und aktuell das Coronavirus auf.                          Bevölkerungsverluste zur Aufgabe schlechter und
                                                                    unrentabel gewordener Ackerflächen, sodass gan-
          DER SCHWARZE TOD                                          ze Dörfer verlassen und Landstriche zu Wüstungen
                                                                    wurden. In den Städten dagegen stiegen die Löh-
          Alle diese Infektionskrankheiten beeinflussten die        ne sowie der allgemeine Lebensstandard. Gleichzei-
          Wirtschaftsentwicklung in Europa. Unter den Pestzü-       tig förderten die höheren Arbeitskosten technische
          gen kommt insbesondere der als Schwarzer Tod be-          Innovationen wie den Buchdruck, um die kostenin-
          zeichneten Epidemie der Jahre 1348–1353 eine be-          tensive Handarbeit zu mechanisieren. Auswirkungen
          sondere Bedeutung zu, da sie mit vermutlich über 20       auf Handel und Wirtschaft hatte auch die von den
          Millionen Todesopfern ein Viertel bis ein Drittel der     Städten Oberitaliens zum Schutz vor der Pest einge-
          damaligen Bevölkerung dahinraffte. Aus Asien kom-         führte Quarantäne von Schiffen, die für die folgen-

12        AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021
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den Jahrhunderte eine der klassischen Maßnahmen         schließlich begann die Suche nach den Schuldigen,
zum Schutz vor Epidemien wurde – Kaufleute und          insbesondere bei Fremden und Randgruppen. Im Fall
Schiffsbesatzungen wurden für 30, später 40 Tage        Hamburgs waren dies damals jüdische Migranten.
meist in Lazaretten iso-
liert. Manche Forscher se-                                                      SANITÄRE REFORMEN
hen eine direkte kausale           „Wie bei allen großen Epidemien
Verbindung zwischen dem            lassen sich auch in Hamburg typi-            Die Cholera gilt als Motor
Schwarzen Tod, dem Ende            sche Reaktionsmuster erkennen:               für entscheidende sanitä-
der mittelalterlichen Gesell-      Zunächst wurde die Bedrohung                 re Reformen auf dem Ge-
schaft und dem Beginn der          bagatellisiert, indem man versi-             biet der Wasserversorgung
Renaissance.                       cherte, es handele sich lediglich            und der Kanalisation, die in
                                   um ein verstärktes Auftreten des             vielen europäischen Städ-
CHOLERAEPIDEMIE IN                 einheimischen Brechdurchfalls.“
                                                                                ten ab den 1870er-Jahren
HAMBURG                                                                        systematisch ergriffen wur-
                                                        Prof. Dr. Jörg Vögele  den. Die Kommunen voll-
Die Cholera gilt als die klas-                                                  brachten technische und fi-
sische Seuche des 19. Jahr-                                                     nanzielle Pionierleistungen,
hunderts. Eine kurze Inku-                                                      und die Cholera lieferte
bationszeit und ein schneller Verlauf begrenzten die    das Argument: Max von Pettenkofer, der erste Lehr-
Krankheit lange auf Asien. Dies änderte sich im Zeit-   stuhlinhaber für Hygiene in München, entwickelte
alter des Welthandels, als sie sich von Indien aus ent- seine „Experimentelle Hygiene“, die auf die Bedeu-
lang der Handelswege nach Westen hin ausbreitete        tung ökologischer Interventionen abhob. Miasmen,
und Europa seit den 1830er-Jahren in mehreren Zü-       durch Fäulnis und Zersetzung in feuchtem Grund
gen heimsuchte. Allein schon die Furcht vor einer       entstehend, seien die Ursache für die Epidemien;
drohenden Epidemie versetzte die Bevölkerung in         man könne daher die Cholera durch die Trockenle-
Angst und Schrecken. Die Unklarheit über die Anste-     gung des Bodens, also Sanierung, stoppen. Diese
ckungswege, die entsetzlichen Symptome und der          Sicht beziehungsweise Erklärung ­erlaubte den Städ-
Tod aus „heiterem Himmel“ verschärften die Reakti-
onen zusätzlich.

Besonders gut dokumentiert ist die Choleraepide-
mie der 1890er-Jahre, von der Hamburg als einzige
europäische Großstadt betroffen war. Binnen weni-
ger Wochen fielen rund 8.000 Menschen der Krank-
heit zum Opfer. Da in Hamburg das Trinkwasser
nicht gefiltert wurde, konnten sich die Krankheits-
erreger über die zentrale Wasserversorgung im gan-
zen Stadtgebiet ausbreiten. So hatte die vom Kauf-
mannsgeist geprägte Stadt an der falschen Stelle
gespart.

Wie bei allen großen Epidemien lassen sich auch
in Hamburg typische Reaktionsmuster erkennen:
Zunächst wurde die Bedrohung bagatellisiert, in-       ten zudem prophylaktische Maßnahmen, wodurch
dem man versicherte, es handele sich lediglich um      dieser Ansatz auch einen ökonomischen Nutzen ver-
ein verstärktes Auftreten des einheimischen Brech-     sprach. Eine sanitäre Infrastruktur galt nun als we-
durchfalls. Als sich die Epidemie nicht mehr länger    sentlich für das Funktionieren einer modernen Stadt,
leugnen ließ, erfolgte eine panikartige Fluchtreak-    während traditionelle Formen staatlicher Interven-
tion. Die Zahl der verkauften Bahntickets stieg um     tion wie die Quarantäne im Kontext einer moder-
ein Vielfaches, und wer die Stadt verlassen konnte,    nen, auf freiem Austausch von Waren und Dienst-
machte sich davon. Nach dem Abklingen der Seuche       leistungen basierten Wirtschaft als ­kontraproduktiv

                                                                               AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021      13
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          erschienen. Ein Abbrechen des Handelsverkehrs war      ZEITALTER DER GRIPPE
          daher – so Pettenkofer – ein größeres Übel als die
          Cholera selbst.                                      Das 20. beziehungsweise frühe 21. Jahrhundert ist
                                                               geprägt durch grippeartige Epidemien, beginnend
          Auf der Basis seiner „Human Capital“-Ökono-          mit der Spanischen Grippe 1918–1920, die häufig
          mie wies Pettenkofer darauf hin, dass durch sani-    in Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg dis-
          täre Maßnahmen geret-                                                           kutiert wird und mit einer
          tete Leben und ersparte                                                         geschätzten Zahl von 40
          Krankentage die nötigen          „So führt die Globalisierung von               Millionen Todesfällen die
          Investitionskosten in die        Wirtschaft und Gesellschaft auch               Anzahl der 17 Millionen
          Infrastruktur weit über-         zu einer Globalisierung der Infekti-           Kriegstoten weit übertraf.
          schritten. Auch wenn in          onskrankheiten. Sprich: Nach der               Abweichend von vielen
          der Folgezeit seine The-         Epidemie ist vor der Epidemie.“                anderen Epidemien suchte
          orie zunehmend durch                                                           die Grippe ihre Opfer nicht
          die Bakteriologie Robert                              Prof. Dr. Jörg Vögele    unter Kindern und Senio-
          Kochs abgelöst wurde, die                                                       ren, sondern betraf vor al-
          den Fokus auf den Erreger                                                       lem junge Männer im bes-
          im Trinkwasser legte, sollten Kosten-Nutzen-Berech-  ten Alter  – darunter viele Soldaten. Dies löste nach
          nungen künftig den Blick auf Epidemien prägen. Für   Kriegsende eine tiefgehende Sorge um die Entwick-
          Hamburg ergab sich folgende Rechnung: Einem Ge-      lung der Bevölkerung und der Wirtschaftskraft aus.
          samtverlust von 430 Millionen Mark standen die be-
          scheiden anmutenden Kosten von 22,6 Millionen        In vergleichbarer Weise wurde dieser ökonomi-
          Mark für das im folgenden Jahr mit einer Filteranla- sche Aspekt Jahrzehnte später auch bezüglich HIV
          ge ausgestattete Wasserwerk gegenüber. Zusätzlich    und Aids auf dem afrikanischen Kontinent disku-
          wurden Stadtviertel saniert und weitere hygienische  tiert. Denn mit den erkrankten Männern brach das
          Maßnahmen getroffen. Da die Stadt von weiteren       ökonomische Standbein der Familien weg. Eben-
          Choleraepidemien verschont blieb, lässt sich durch-  so spielt bei der Bekämpfung von Epidemien der
          aus folgern, dass die große Choleraepidemie den      finanzielle Aspekt eine zentrale Rolle; so wurde in
          Wandel Hamburgs zu einer modernen Handels­           den 1990er-Jahren immer wieder betont, dass,
          metropole beschleunigte.                             selbst wenn das Heilmittel für Aids ein Glas sauberes

                             Jede historische Epoche hat ihre charakteristische
              Infobox

                             Krankheit
                             Im Mittelalter starb bis zu ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung
                             an der Pest. Später versetzten die Cholera, die Spanische Grippe und Aids die
                             ­Bevölkerung in Schrecken. Jede Epidemie löste gesellschaftliche und wirtschaft­
                              liche Veränderungen aus. So begünstigte die Pest Innovationen wie den Buch­
                              druck und die Cholera führte zu einer sanitären Revolution in den Städten. Die
                              derzei­tige SARS-CoV-2-Pandemie zeigt deutlich, dass Epidemien die Menschheits­
                             geschichte nach wie vor begleiten und nicht nur, wie lange geglaubt, auf die
                             heutzutage weniger entwickelten Länder beschränkt sind.

14        AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021
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­ asser wäre, es sich die meisten Infizierten – man
W                                                      onen verkauft, verschenkt oder wegen begrenzter
dachte an Afrika – nicht leisten könnten.              Haltbarkeit vernichtet.

PANISCHE REAKTION                                      UNBESIEGTE INFEKTIONSKRANKHEITEN

Die Geschichte von Epidemien hat jedoch auch mit       Derzeit geht angesichts der Corona-Krise etwas ver-
Ängsten zu tun. In diesem Sinne lässt sich von ei-     gessen: In Westeuropa hat sich die Lebenserwartung
ner „emotionalen Epidemiologie“ sprechen, die ei-      im Verlauf der letzten 150 Jahre nahezu verdoppelt
nen eigenen, von der faktischen Infektionssituation    und der Tod hat sich in die höheren Altersgrup-
unabhängigen Verlauf hat – der jedoch gleichfalls      pen „zurückgezogen“. Entsprechend dominieren
auf Wirtschaft und Gesellschaft wirkt. Paradigma-      Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs das Panora-
tisch kann dies am Beispiel der sogenannten Schwei-    ma der Todesursachen.
negrippe verdeutlicht werden: Als sich im Frühling
2009 das auslösende H1N1-Virus rasch verbrei-          In globaler Perspektive ergibt sich dagegen ein an-
tete, verwiesen Medien und Politik in panikarti-       deres Bild: Neue und wiederkehrende, längst besiegt
ger Stimmung auf die Spanische Grippe und rie-         geglaubte Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuber-
fen nach einem Impfstoff. Die Angst nahm zu, als       kulose et cetera bedrohen die Gesundheit der Be-
die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Juni die      völkerung. Weltwirtschaft, internationale Migration
Übertragungen als Pandemie einstufte. Bis Oktober      und Massentourismus machen diese zu weltum-
waren weltweit mehr als 440.000 laborbestätigte In-    spannenden Risiken, die von internationalen Institu-
fektionen gemeldet, von denen 5.700 tödlich verlie-    tionen beobachtet werden. So führt die Globalisie-
fen, was allerdings weit unter den Todesfällen der     rung von Wirtschaft und Gesellschaft auch zu einer
saisonalen Grippe lag.                                 Globalisierung der Infektionskrankheiten. Sprich:
                                                       Nach der Epidemie ist vor der Epidemie.
Die Pharmaindustrie schließlich erkannte in der Ent-
wicklung eines Impfstoffs ein Milliardengeschäft.      Hinweis: Der Artikel wurde mit freundlicher Geneh-
Als im Herbst dann eine Impfung zur Verfügung          migung von Autor und Redaktion aus „Die Volks-
stand, blieb die Nachfrage gering: Der Impfstoff sei   wirtschaft 6/2020“, Seite 22-25, übernommen.
nicht getestet und schlecht verträglich. Mittlerwei-
le war es zudem offensichtlich, dass H1N1 als rela-    Literatur: Jörg Vögele et al. (2016). „Epidemien und
tiv harmlos einzustufen ist. So blieben bis Mai 2010   Pandemien in historischer Perspektive“, Berlin n
in Deutschland etwa 28,3 Millionen Impfdosen im                                        Prof. Dr. Jörg Vögele
Wert von 236 Millionen Euro unverbraucht. Auch
in der Schweiz war die Impfbereitschaft gering; von
den 13 Millionen Impfdosen wurden über 7 Milli-

 KONTAKT

 Jörg Vögele
 Professor für Neuere und Neueste Geschichte,
 Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf

 T.      0211 8106473
 H.      www.dievolkswirtschaft.ch/de/2020/05/cholera-pest-und-innovation

                                                                               AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021      15
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          Infektionskrankheiten müssen
          nicht sein
          MEDIZINISCHE FORTSCHRITTE AUF EINEN BLICK                    lassen wurden – als eine Art „Biowaffe“. Auch heu-
                                                                       te noch sterben weltweit jedes Jahr Hunderttausende
          Den Einzelnen und die Gesellschaft schützen                  Menschen, vor allem Kinder, an den Masern – obwohl
          Eine weltweite Impfpflicht führte zur Ausrottung des         es längst einen Impfstoff gibt. Masern sind eine hoch-
          Pockenvirus. Das ist eine absolute Erfolgsgeschich-          ansteckende Erkrankung, gegen die es keine geziel-
          te. Auch Poliomyelitis konnte sehr erfolgreich durch         te Behandlung gibt. Nach einer Masernerkrankung ist
          Impfungen zurückgedrängt werden. Dennoch gibt                man lebenslang immun. Etwa 100 von 100.000 Er-
          es latente Verläufe und die Impfungen von Kindern            krankten sterben an Masern, ca. 3.000 bekommen
          dürfen nicht nachlassen, sonst steigt die Zahl der           eine Lungenentzündung.
          jährlich Erkrankten innerhalb der nächsten zehn Jah-
          re auf 200.000. Sehr wirksam ist zudem die Masern­           AIDS
          impfung. Sie führt bei etwa 9 von 10 Geimpften zu ei-        1982 tauchen die ersten Aids-Fälle in Deutschland auf.
          nem wirksamen Masernschutz.                                  Es gab keine Therapie gegen diese Immunschwäche.
                                                                       Das sollte sich erst 1996 ändern mit der Einführung
          So kam es zur Entdeckung des Pocken­impfstoffs               der hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART).
          Es fiel schon vor 3.000 Jahren auf, dass genesene Men-       Sie gilt als Durchbruch in der Therapie von Aids.
          schen nicht erneut an dem Virus erkrankten. Angeblich
          bereits um 1.000 v. Chr. wurden daher Menschen ge-           Entdeckung des Insulins
          zielt mit Flüssigkeit aus Pusteln an Pocken Erkrankter in-   Ohne die Entdeckung des Insulins gäbe es keine The-
          fiziert. Dies geschah über die Haut, was in den meisten      rapie gegen Diabetes. Auch dies ist eine große Errun-
          Fällen einen leichteren Verlauf der Krankheit zur Folge      genschaft der Forschung. Die erste Erwähnung einer
          hatte als bei einer Infektion durch Einatmen. Trotzdem       dem Diabetes ähnlichen Erkrankung findet sich in ei-
          waren diese Infektionen nur schwer kontrollierbar. Eine      nem altägyptischen Manuskript (Ebers Papyrus) von
          Beobachtung Ende des 18. Jahrhunderts brachte den            1.530 v. Chr. Am 27. Juli 1921 gelang Frederick Ban-
          Durchbruch: Dem englischen Landarzt ­Edward Jenner           ting und Charles Best die Isolierung von Insulin aus
          fiel auf, dass Menschen, die die harmlosen Kuhpocken         den Bauchspeicheldrüsen von Hunden. Hiermit stand
          (Vaccinia-Virus) durchgemacht hatten, immun gegen            der Weg offen für die Etablierung der ersten wirklich
          Pocken waren. Damit erfand er die moderne Schut-             wirksamen Behandlung des Diabetes mellitus.
          zimpfung. Das heute noch verwendete Wort Vakzin
          (im Englischen: vaccination) erinnert daran, denn vac-       Medizin 2021: Was an neuen Medikamenten
          ca ist das lateinische Wort für Kuh. Wann und wie ge-        kommen kann
          nau das Vaccinia-Virus entstand, ist unklar. Allein im       2021 sind mehr als 30 neue Medikamente zu erwar-
          20. Jahrhundert starben ca. 300 Millionen Menschen           ten. Darunter sind Impfstoffe und therapeutische Me-
          an Pocken. Dass Pocken heute als ausgerottet gelten,         dikamente gegen COVID-19. Auch neue Gentherapien
          ist noch immer einer der größten medizinischen Erfol-        gegen Krebserkrankungen oder seltene Stoffwechsel-
          ge der Geschichte.                                           störungen dürften herauskommen. Wie die forschen-
                                                                       den Pharma-Unternehmen (vfa) mitteilen, haben sie
          Masern auszurotten bleibt eine Vision                        in 2019 ihre Forschungsaufwendungen für die Ent-
          Masernviren sind alt. Mit der Entdeckung Amerikas            wicklung neuer Arzneimittel in Deutschland um rund
          brachten die Eroberer aus Europa auch ihre Viren mit,        6 Prozent auf 7,8 Milliarden Euro gesteigert. Das ist die
          die das Immunsystem der Ureinwohner mit voller               höchste jemals erfasste Summe für Medikamentenfor-
          Wucht trafen. Millionen Indianer starben an den Ma-          schung innerhalb eines Jahres. Sie macht die Branche
          sern. Es gibt sogar Theorien, nach denen Viren auch          zur forschungsintensivsten Industrie in Deutschland. n
          bewusst von den Eroberern auf die Indianer losge-                                                     KBV, PEI, vfa

16        AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021
TITELTHEMA

                           2020      Polio              Masern        2020
                       Polio tritt noch in             Es gibt in Deutschland eine
           Pakistan und Afghanistan auf.               ­Impfpflicht unter anderem
                                                        für m
                                                            ­ edizinisches Personal.
                              2018      Polio
          Dank weltweiter Impfkampagnen                       Polio    2006
           sinkt die Zahl der Erkrankten auf
                                                          Die Zahl der jährlich Erkrankten
                        nur noch 30 im Jahr.
                                                          sinkt auf unter 2.000.

                                                      Polio     2000
                             1988      Polio
                                                      Bis 2000 sollte das Virus
                        Jährlich zählt man
                                                      ­aus­gerottet sein, dieses Ziel
                  rund 350.000 ­Erkrankte.
                                                     ­wurde verfehlt.

                      8. Mai 1980        Pocken
Das Virus wird offiziell für ausgerottet erklärt.       Pocken         Seit 1979
          Eine weltweite Impfpflicht führte zur         Die Erde ist pockenfrei.
                  Ausrottung des Pockenvirus.

                               1974      Masern
               Die Masernimpfung wird in der
                   ­Bundesrepublik eingeführt.                Masern     1970
                                                          In der DDR gibt
                        1966/67       Masern              es eine Impfpflicht
              Erst werden ­Totimpfstoffe zu­              gegen Masern
                  gelassen, dann ­erfolgt die
          ­Zulassung des Lebendimpfstoffs.

                                                    Pocken      1874
   Zwischen 1871 und 1874              Pocken       Im Deutschen Reich gibt es
            In Deutschland findet die letzte­       eine I­mpfpflicht gegen Pocken.
             schwere Pockenepidemie statt;
          etwa 170.000 Menschen sterben.

                                                       Pocken         4. Jh. n. Chr.
                 1.000 v. Chr.      Pocken            In China wird eine Pocken­epidemie
               Pocken dürfte es schon im­             dokumentiert.
          Alten Ägypten gegeben haben.

                                       Poliomyelitis
                                  (Polio, Kinderlähmung)

                           Erfolgsgeschichte
                                                              Masern
                                ­Pocken

                                                                  AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021      17
TITELTHEMA

          Mehr impfen gegen Grippe
          und Masern
          Hessen ist bei der Durchführung von Schutzimpfungen im bundesweiten Vergleich
          nur Mittelmaß, bei der HPV-Impfung liegen wir weit unter dem Bundesdurch-
          schnitt. Dies ist verbesserungsbedürftig.

          Vakzine in Deutschland sind sicher und schützen vor      land. Betrachtet man die hessische Landkarte und
          Krankheiten. Daher ist es umso unverständ­licher, dass   die Impfquoten des unter sechs Jahre alten Bevölke-
          in Hessen aufgrund einer unzureichenden Durchimp-        rungsteils, der ja komplett mit dieser 4-fachen Imp-
          fung das medizinische Ziel des Schutzes vor diversen     fung geimpft werden sollte, zeigt sich folgendes Bild:
          Krankheiten zu erreichen verfehlt wird und zudem da-     Im größten Teil von Hessen liegt die Impfquote zwi-
          mit erhebliche Honorarsummen verschenkt werden.          schen 50 bis unter 60 beziehungsweise bei 2/3 von
          Beispielhaft werfen wir einen Blick auf die Masern-      Hessen oberhalb von 60 %. Eine Herdenimmunität
          und Influenzaimpfung des Jahres 2019 in Hessen.          gibt es aber erst bei einer Durchimpfungsquote von
                                                                   mindestens 60 bis 70 %. Für das angestrebte Ziel der
          Die Masernimpfung wird überwiegend als 4-fach            Ausrottung der Masern ist eine Impfquote der unter
          Impfung gegen Masern, Mumps, Röteln und Varizel-         Sechsjährigen von 95 % erforderlich. Auffallend und
          len angeboten und durchgeführt. Dass die Impfung         nicht erklärbar ist, dass es aber über Hessen verteilt
          insgesamt nicht ausreichend durchgeführt wird  –         eine Reihe von Bereichen gibt, bei denen die Impf-
          dies gilt nicht nur für Hessen –, zeigen die immer       quoten unter 30 beziehungsweise zwischen 30 und
          wieder auftretenden Maserninfektionen in Deutsch-        40 % liegen.

18        AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021
TITELTHEMA

Bei der jährlich durchzuführenden Influenza-Imp-         Eine Rolle spielt sicherlich das jährlich erforderliche
fung mit dem jeweils aktuellen Impfstoff kann das        Bestellwesen für die Influenzaimpfstoffe und die da-
Impfergebnis der Saison 2019/2020 nur als desolat        mit in Zusammenhang stehende Angst vor Regres-
angesehen werden. Der übergroße Anteil der Hes-          sen. Bis zum 15.  Januar eines Jahres muss die vor­
sen wird schlichtweg nicht gegen Influenza geimpft.      aussichtliche Impfstoffmenge in den Apotheken
Die Hessenkarte zeigt, dass nur in vier kleinen Berei-   bestellt werden. Die Zahl ergibt sich aus den in der
chen die Impfquote 25 % und mehr beträgt. In mehr        Vorsaison durchgeführten abgerechneten Impfun-
als zwei Dritteln von Hessen liegt die Impfquote un-     gen zuzüglich eines Aufschlags von 30 %. Dies wur-
ter 10 % beziehungsweise zwischen 10 und 15 %.           de eingeführt, um im Zusammenhang mit der Co-
Die Ursachen für die viel zu niedrige Impfquote und      rona-Pandemie möglichst viele, also mehr Patienten
vor allem die Ungleichverteilung in Hessen sind nicht    als in der Vergangenheit, gegen Influenza zu impfen.
ohne Weiteres erklärbar.                                 Erstmalig konnte in der Impfsaison 2020/2021 für

                                                                                                     In Hessen darf jeder
                                                                                                     Arzt impfen. Es ist keine
                                                                                                     zertifizierte Fortbildung
                                                                                                     nötig. Insofern wäre
                                                                                                     es gut, wenn mehr
                                                                                                     gegen Influenza geimpft
                                                                                                     würde. Hessen liegt auf
                                                                                                     Platz 15 im Vergleich
                                                                                                     aller KV-Regionen. Auch
                                                                                                     Schwangere sind meist
                                                                                                     unzureichend gegen
                                                                                                     Influenza geschützt.

                                                                                 AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021                  19
TITELTHEMA

      Die KV Hessen hat
      sich in der Vergan-
     genheit sehr für die
       Impfpflicht gegen
     Masern eingesetzt.

               die über 65-Jährigen der neue quadrivalente Influ-     Vorsaison sind laut Bundesgesundheitsminister aus-
                         enzahochdosisimpfstoff Efluelda® einge-      geschlossen.
                         setzt werden, der vierfach wirksamer sein
                         soll als die bisher eingesetzten Impfstof-   Unter Berücksichtigung des Gesagten ist festzustel-
                         fe. Die hierzu erforderliche Bestellmenge    len, dass unsere Impfaktivitäten zum Schutz der Ge-
                         kann ebenfalls den individuellen Abrech-     sundheit von uns allen massiv weiter gesteigert wer-
                         nungsunterlagen entnommen werden.            den müssen. Dies wird auch dann gelten, wenn die
                         Dieses Prozedere wird auch für die Impf-     COVID-19-Impfungen gegebenenfalls im Laufe des
               saison 2021/2022 gelten. Regresse wegen des Be-        Jahres in den Praxen durchgeführt werden sollen. n
               zugs von bis zu 30% mehr Impfstoff gegenüber der                               Dr. Wolfgang LangHeinrich

20             AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021
TITELTHEMA

       Impfpflicht gegen Masern:
       Welche Regelungen gibt es für berufsbedingte Impfungen für ­Praxen als ­Arbeitgeber?
       Aufgrund der Impfpflicht gegen Masern müssen Beschäftigte von Arztpraxen bis zum 31. Juli 2021 nachwei-
       sen, dass sie geimpft worden sind. Die Masern-Mumps-Röteln-Impfung (MMR-Impfung) ist für nach 1970 ge-
       borene Personen (einschließlich Auszubildende, Praktikantinnen und Praktikanten, Studierende und ehrenamt-
       lich Tätige) in allen Praxiseinrichtungen indiziert und Kassenleistung.
       Die zum 31. Juli 2021 auslaufende Übergangsregelung gilt auch für andere ausgewählte Berufsgruppen.

       Impfleistungen für „Japanische Enzephalitis“ und „Typhus oral“
       Bei berufsbedingten Impfungen wurden in Hessen nun auch die Impfleistungen für die „Japanische Enzepha-
       litis“ und „Typhus oral“ in die Hessische Impfvereinbarung aufgenommen. Es ist daher ab sofort ein Bezug der
       Impfstoffe über den Sprechstundenbedarf zulasten der AOK Hessen möglich. Dies gilt für alle Patienten der
       gesetzlichen Krankenversicherung.
       Hinweis: Eine Änderung im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) hat dazu geführt, dass Impfungen
       mit beruflicher Begründung seit 2020 Kassenleistung sind. Sie können bei Impfungen mit beruflicher Begrün-
       dung Ihre ärztliche Leistung auf dem Abrechnungsformular im Praxisverwaltungssystem der Krankenkasse des
       Patienten ansetzen und gegenüber der KV Hessen abrechnen.

      Verbraucher sollten dem PEI Impfstoff-Lieferengpässe melden
      Patienten, die in ihrer Apotheke einen Impfstoff nicht erhalten, der an sich verfügbar sein müsste, sollten das
      unbedingt online über eine Eingabemaske dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) melden. Das PEI informiert auf sei-
      nen Internetseiten über Lieferengpässe von Human-Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten, die auf Infor-
      mationen der Zulassungsinhaber beruhen. Ein Lieferengpass wird durch ein pharmazeutisches Unternehmen
      gemeldet, sobald die Lieferkette für die Auslieferung eines Impfstoffs von Seiten des Herstellers für einen Zeit-
      raum von mindestens zwei Wochen unterbrochen ist. Die Crux: Wie groß der Bestand an dennoch verfügba-
      ren Impfstoffdosen in den Filialen des Apothekengroßhandels beziehungsweise in einzelnen Apotheken oder
      Arztpraxen ist, wird zu keinem Zeitpunkt zentral erfasst.
      Kontakt: www.pei.de

      Meldung des Verdachts einer Impfnebenwirkung
      Moderne Impfstoffe haben eine ausgezeichnete Sicherheitsbilanz. In sehr seltenen Fällen kommt es jedoch
      bei einigen Personen zu schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen im zeitlichen Zusammenhang mit Imp-
      fungen. Die Untersuchung der Ursachen solcher Ereignisse ist von entscheidender Bedeutung und kann dazu
      beitragen, die Impfstoffsicherheit zu verbessern. Daher sollte jeder Verdacht auf eine Impfnebenwirkung dem
      PEI gemeldet werden.
      Kontakt: www.pei.de oder www.nebenwirkungen.bund.de

                                                                                                            n
FRAGEN?
                                                                                               Petra Bendrich
Das Team Arznei-, Heil- und Hilfsmittel steht Ihnen
gerne zur Verfügung:                                        Weitere Informationen unter:
T.     069 24741-7333                                       www.kvhessen.de/abrechnung-ebm/
E.     verordnungsanfragen@kvhessen.de                      www.kvhaktuell.de

                                                                                 AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021           21
TITELTHEMA

          „Die richtige Kommunikation mit
          dem Patienten ist der Schlüssel“
          Wenn Patienten aus Angst vor Diagnosen sinnvolle Vorsorgeuntersuchungen
          nicht wahrnehmen, liegt dies oft an der Kommunikation. Dr. Eckhard Starke, stv.
          Vorstand der KV Hessen, treiben die Themen Impfen und Prävention um. „Wie
          könnte es gelingen, Patienten zu erreichen, die sich Vorsorgeuntersuchungen und
          Präventionsangeboten entziehen?“ ist dabei eine der Kernfragen. Im Gespräch
          mit Auf den PUNKT. stellt er mögliche Lösungsansätze vor.

          Prävention und Früherkennung sind in den Pra-            gen lassen, dass er gesund ist, und nun sah er sich
          xen ja wichtige Themen. Wo knirscht es denn              mit einem Arzt konfrontiert, der – und nur diese Bot-
          da aus Ihrer Sicht?                                      schaft hörte der Patient – so lange suchen wollte, bis
          Dr. Eckhard Starke: Mein Schlüsselerlebnis war, als      er den Krebs entdeckt hatte. Mein Patient hörte eben
          mir ein Patient, den ich zu einer Krebsfrüherkennungs-   nur diese eine Botschaft und bekam große Angst und
          untersuchung an einen Kollegen überwiesen hatte,         reagierte mit Flucht. Das hat mich sehr beschäftigt.
          bei seinem nächsten Besuch in meiner Sprechstunde
          berichtete, er sei meinem Kollegen im wahrsten Sinne     Solche Missverständnisse sollten natürlich ver-
          des Wortes von der Untersuchungsliege gesprungen.        mieden werden, aber was haben Sie darüber
          Was war passiert? Der Kollege hatte meinen Patienten     gedacht?
          begrüßt mit den launigen Worten: „Na, dann wollen        Dr. Eckhard Starke: Es hat mir die Augen geöff-
          wir mal schauen, wo wir den Krebs finden.“ Das war       net, warum eine bestimmte Patientengruppe ein-
          für meinen Patienten zu viel. Er wollte sich bestäti-    fach nicht von uns erreicht wird. Häufig genau die

22        AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021
TITELTHEMA

­ ruppe, die es besonders nötig hätte. Die fällt durch
G
                                                                                                                 Dr. Starke plädiert dafür,
das Raster, denn ihre Angst vor einer Krebserkran-                                                               Vorsorgeuntersuchungen
kung schreckt sie ab, sinnvolle Vorsorgeuntersu-                                                                 umzubenennen in U20,
chungen wahrzunehmen. Es sind oft die gleichen Pa-                                                               U30 und so weiter.

tienten, die wir auch nicht motivieren können, sich
mehr zu bewegen, gesünder zu essen oder mit dem
Rauchen aufzuhören. Diese Patienten sind stattdes-
sen gewillt, Tabletten einzunehmen, weil alles ande-
re für sie zu mühevoll ist. Von der Tablette verspre-
chen sie sich eine positive Veränderung, ohne selbst
weiter aktiv werden zu müssen. Sie reden sich das
schön: Ohne Untersuchung gibt es keine Diagnose,
also sind sie gesund. Sie sagen: Was ich nicht finden
will, brauche ich auch nicht zu suchen.

Was bedeutet das für Ärzte?
Dr. Eckhard Starke: Wir Ärzte müssen uns fra-
gen, was wir von unserem Gegenüber überhaupt er-
warten können und das wird meiner Meinung nach
beim Thema Prävention zu oft ausgeklammert. Rund        rum wir die Terminologie für die U-Untersuchun-
um die Prävention müssen wir uns um eben diese          gen bei Kindern nicht auch bei Erwachsenen fort-
Patienten sehr bemühen und aufwendige Gespräche         setzen als U20, U30, U35, U45, U50, U55, U65 oder
führen. Das ist natürlich unangenehm, weil wir dann     U90. Dann würden wir schon in der Kommunikati-
gegen den Strom schwimmen. Das fällt allen schwer,      on nicht das Hauptaugenmerk auf Krebs legen wie
die das tun, auch in anderen Gesellschaftsbereichen.    beispielsweise bei Früherkennung von Darmkrebs
                                                        bzw. Darmkrebsscreening. Hier gibt es ein Durchein-
Viele Ärzte greifen diese Themen bei den Patienten      ander: Wir sprechen von Check-up, Früherkennung,
schon auf. Aber wir als Ärzte können da nicht al-       Screening, und das bei Haut-, Darm- oder Brust-
lein gegensteuern. Da brauchen wir Unterstützung,       krebs. Zudem muss sich der Patient entscheiden,
denn wir sind keine Gesundheits-                                               welche Krebsvorsorgeuntersu-
aufseher. Da brauchen wir auch                                                 chung er überhaupt machen
die Medien und alle, die in der Pa-      „Meine Vision ist, ein 48-jäh-        will. Auch da kommt mancher
tientenkommunikation aktiv sind,         riger Patient ruft bei der            schon ins Schleudern. Das ver-
denn wir haben in der Praxis nicht       116117 an und die Mitarbei-           wirrt stark. Warum schreibt
die Zeit, dieses Thema lang und          ter der Hotline helfen ihm, in-       man die U-Untersuchungen
ausführlich mit vielen einzelnen Pa-     nerhalb von ein bis zwei Ta-          nicht einfach fort? Wir würden
tienten zu besprechen. In der Pra-       gen alle U50-Untersuchungen           trotzdem bei den U-Untersu-
xis ist es – und da will ich mal ganz    wahrzunehmen.“                        chungen das Augenmerk auf
ehrlich sein – manchmal einfacher,                                             eine breite Auswahl von Symp­
„Gesunde“ mit leichten Befindlich-                                             tomen legen und so diejeni-
keitsstörungen zu behandeln als eben Patienten, die     gen Patienten mitnehmen, die aus Angst vor einer
schnell den Kopf in den Sand stecken und keine Ver-     Krebsdiagnose die heutigen Krebsfrüherkennungs-
antwortung für sich übernehmen. Wir leben in ei-        programme nicht nachfragen. Ich bin überzeugt,
ner Gesellschaft von Individualisten und viele sind     dass wir mit einer klareren Kommunikation viel mehr
für uns unerreichbar. Die tun nur, was sie für rich-    Patienten erreichen würden.
tig halten.
                                                        Meine Vision ist, ein 48-jähriger Patient ruft bei der
Was könnte denn besser laufen?                          116117 an und die Mitarbeiter der Hotline helfen
Dr. Eckhard Starke: Die diversen Präventionspro-        ihm, innerhalb von ein bis zwei Tagen alle U50-Unter-
gramme unterstütze ich prinzipiell alle. Kritisch sehe  suchungen wahrzunehmen. Der Patient würde dann
ich aber die Kommunikation. Ich wundere mich, wa-       gar nicht merken, dass der Arzt nach Krebs schaut.

                                                                                AUF DEN PUNKT NR. 1 / FEB 2021                  23
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