Zyklen der Gewalt durchbrechen - reportpsychologie
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G 3777 FACHZEITSCHRIFT DES BDP ZEITSCHRIFT DES BERUFSVERBANDES DEUTSCHER PSYCHOLOGINNEN UND PSYCHOLOGEN E.V. 45. JAHRGANG MAI 2020 5|2020 reportpsychologie Zyklen der Gewalt durchbrechen COVID-19 +++ Psychologie in Zeiten von Corona +++ BDP-Informationen Terminologie von Sprachentwicklungs störungen S. 22 Enttäuschende Gesetzesinitiative zum Tabakwerbeverbot S. 32
Unsere Buchtipps Marieta Koopmans Jeroen Hendriksen / Kritik äußern – Jantine Huizing Kritik annehmen Methoden für die Intervision Marieta Koopmans Ein Fächer mit Tipps Jeroen Hendriksen Ein Fächer mit 20 effektiven Tools Jantine Huizing Kritik äußern – zum Feedbackgeben Methoden für Kritik annehmen die Intervision 2020, 72 Seiten, Kleinformat, Ein Fächer mit Tipps zum Feedbackgeben 2020, 46 Seiten, Kleinformat, Ein Fächer mit 20 effektiven Tools € 16,95 / CHF 21.90 € 16,95 / CHF 21.90 ISBN 978-3-8017-3033-8 ISBN 978-3-8017-3054-3 In diesem Fächer finden Sie zahlreiche Tipps und Hin- Für die Arbeit in Intervisionsgruppen stellt dieser Fächer weise, wie Sie das Feedbackgeben gewinnbringend für zwanzig effektive Arbeitsmethoden vor. Unterschieden wer- sich und andere einsetzen können. Es wird u. a. darauf den dabei lösungsorientierte, kreative, aktivierende und re- eingegangen, was bei der Vorbereitung eines Feedback- flexive Arbeitsformen. Die vorgestellten Tools ermöglichen gesprächs mit einem Mitarbeiter beachtet werden sollte, Teilnehmern an Intervisionsgruppen und ihren Begleitern wie Sie andere Personen kritisieren können, ohne sie zu sowie auch Coaches, Supervisoren, Psychotherapeuten, Be- verletzen oder zu kränken, und wie mit Emotionen und Wi- ratern und Trainern neue Lernerfahrungen, die der Intervision derständen im Gespräch umgegangen werden kann. neue Impulse geben können. Jörg Felfe Rüdiger Hossiep / Jennifer Zens / Felfe Hossiep / Zens / Berndt Mitarbeiterbindung Wolfram Berndt Mitarbeitergespräche (Reihe: „Wirtschaftspsychologie“) Motivierend, wirksam, 2., überarb. und erw. Auflage nachhaltig 2020, 302 Seiten, geb., Mitarbeiter- € 39,95 / CHF 48.50 Mitarbeiter- (Reihe: „Praxis der Personal- Mitarbeiterbindung Mitarbeitergespräche Jörg Felfe Rüdiger Hossiep bindung gespräche Jennifer Esther Zens ISBN 978-3-8017-2505-1 psychologie“, Band 16) Wolfram Berndt 2., überarbeitete und erweiterte Auflage Motivierend, wirksam, nachhaltig Auch als eBook erhältlich 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2., vollst. überarb. und erw. Praxis der Auflage 2020, VII/170 Seiten, € 24,95 / CHF 32.50 Wirtschaftspsychologie Personalpsychologie (Im Reihenabonnement € 19,95 / CHF 26.90) ISBN 978-3-8017-3002-4 Auch als eBook erhältlich Mitarbeiterbindung ist ein wesentlicher Faktor für den Un- Dieser Band liefert Führungskräften und Mitarbeitern wert- ternehmenserfolg, der nicht dem Zufall überlassen werden volle Informationen zur Hinterfragung und Verbesserung ih- sollte, sondern besonderer Aufmerksamkeit und aktiver Ge- res Gesprächsverhaltens. Für Organisationen aller Art bietet staltung bedarf. Dieses Buch zeigt psychologische Dimen- das Buch eine tragfähige Basis, das Führungsinstrument sionen und Mechanismen der Mitarbeiterbindung auf und „Mitarbeitergespräch“ zu implementieren, zu relaunchen vermittelt notwendige Kenntnisse und Handlungsansätze, und zu optimieren. Die Autoren vermitteln gleichermaßen um sie zu erhalten bzw. zu fördern. Der Leser erhält einen anschaulich wie fundiert sämtliche Essentials zum Thema komprimierten Überblick über die einschlägigen Konzepte Mitarbeitergespräch und eine Fülle praktisch anwendbarer und die relevanten empirischen Befunde zu Bedingungen Hinweise, Checklisten und konkreter Herangehensweisen. und Konsequenzen von Commitment und Identifikation. www.hogrefe.com
r e p o r t psychologie Liebe Leserinnen und Leser, Mai 2020 INFORMATIONEN ZUR CORONA-KRISE 2 Psychologie in Zeiten von Corona es ist erschreckend und nachvollziehbar zugleich, wie schnell das Thema 2 Corona-Hotline des BDP extremistischer Gewalt aus der 3 #WirBleibenZuhause politischen Diskussion verdrängt 3 Informationen zur Corona-Krise wurde und von der medialen 4 Im Griff des Virus Foto: Janine Guldener Tagesordnung verschwunden ist. Anscheinend haben wir Aufregungs- FOKUS und Aufmerksamkeitskompetenz immer 6 Zyklen der Gewalt nur für ein dominantes Thema und für 10 Gesellschaftlicher Zusammenhalt eine begrenzte Zeit. Und dominant 12 »So etwas macht doch niemand!« Leaking vor ist nun einmal die Corona-Krise mit ihren Risiken für Gesundheit, terroristischen Taten und Anschlägen zwischenmenschliche und internationale Solidarität, Wirtschaft und 16 Sicherheitsrelevante Vorfälle und Bedrohungs- Lebensstandard – und ihren nur zaghaft zu erahnenden Chancen. management an deutschen Gerichten 20 Gewaltige Kosten – Über die ökonomischen Auch wenn uns Supermarktschlägereien um Toilettenpapier eher Konsequenzen von Gewalt amüsieren, bleibt Gewalt doch ein ernstes und brisantes Thema – Gewalt in ihren brutalen wie ihren verbal-menschenverachtenden FACHWISSENSCHAFTLICHER TEIL Formen gegen Migrantinnen und Migranten, jüdische 22 Zwischen Klärung und Verwirrung? Terminologie Mitbürgerinnen und Mitbürger, Staatsanwältinnen und von Sprachentwicklungsstörungen Staatsanwälte, Richterinnen und Richter, aber auch gegen 29 TBS-TK Rezension: Inventar verkehrsrelevanter Schulkinder und Lehrkräfte. Die meisten Beiträge der Tagung der Persönlichkeitseigenschaften – Revision (IVPE-R) Sektion »Politische Psychologie« zu aktuellen gesellschaftlichen 31 Empfehlungen für die Führung. Rezension zu Herausforderungen Anfang März dieses Jahres befassten »Führen von Jung und Alt« sich passenderweise mit Diskriminierung, Vorurteilen und Antisemitismus. PSYCHOTHERAPIE 32 Enttäuschende Gesetzesinitiative zum Angesichts hochaktueller Problemfelder ist es wichtig, deren Tabakwerbeverbot Vielzahl und Vielfalt nicht aus den Augen zu verlieren. Und es ist 34 Bestens informiert – Mit unseren Broschüren zur erfreulich, in welchem Maße sich Psychologinnen und Psychologen Psychotherapie drängender Herausforderungen annehmen: Die Beschäftigung mit Gewalt in ihren unterschiedlichsten Formen, die Gründung des SPEKTRUM Arbeitskreises »Gesellschaftlicher Zusammenhalt – Antworten der 35 Historisches und Digitales Archiv des BDP Psychologenschaft auf Extremismus, Rassismus, Antisemitismus«, 38 Parlamentarischer Abend – Qualitätssicherung von aber auch die Gesetzesinitiative zur indirekten Körperverletzung Gerichtsgutachten im Familien- und Strafrecht durch Tabakwerbung sowie der fachwissenschaftliche Beitrag zu Sprachentwicklungsstörungen – das alles sind Themen dieses 40 Gesellschaften im Wandel Heftes, welche die Bedeutung psychologischen Sachverstands und 41 32nd International Congress of Psychology ver- Engagements für die Gesellschaft unterstreichen. schoben INTERN Und natürlich finden sich auf den Internetseiten des BDP (www.bdp-verband.de) und der Psychologischen Hochschule 42 Aus den Sektionen und Landesgruppen (www.psychologische-hochschule.de) Informationen zur Corona- ANDERE RUBRIKEN Krise und den diesbezüglichen Aktivitäten des BDP sowie psychologische Hilfestellungen zum Umgang mit Ängsten, 45 Marktplatz/Stellenmarkt/Fort- und Isolierung und häuslicher Gewaltbereitschaft. Weiterbildungsangebote 46 BDP-Termine Ihr 48 Impressum reportpsychologie ‹45› 5|2020 Prof. Dr. Siegfried Preiser Kostenloses E-Paper für BDP-Mitglieder Psychologische Hochschule Berlin auf www.psychologenverlag.de Das E-Paper der Ausgabe können BDP-Mitglieder kostenlos auf www.psychologenverlag.de herun- terladen. Legen Sie dazu bitte ein Kundenkonto an und hinterlegen Sie Ihre Mitgliedsnummer. 1
Psychologie in Zeiten von Corona Während sich manch einer anfangs noch über etwas Es gibt intensive Gespräche über Maßnahmen zur Be- Entschleunigung freute, hat inzwischen der eine oder wältigung der Corona-Krisensituation zwischen BDP- die andere auch schon Zeiten der Erschöpfung, Entmu- Vorstand und Ministerien bzw. Fachbehörden, u. a. dem tigung und Sorgen hinter sich. Bundesministerium für Gesundheit (BMG), der BZgA und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie Viele stellen sich die Frage, wie es weitergehen kann (BMWi), die aufgrund von Schreiben, die der BDP-Vor- und wird. Während die Verantwortlichen in Politik und stand gezielt versendet hat, aufgenommen wurden. Gesundheitswesen mit Hochdruck alles in Bewegung setzen, um die Krise zu bewältigen, versuchen wir alle, Das BMG hat uns mit der Begründung »[…] denn mit unsere Alltagsstruktur aufrecht zu erhalten bzw. neue der Einrichtung der kostenfreien Beratungshotline ste- Strukturen zu installieren. Unser Leben geht weiter! hen Sie stellvertretend für die vielen, die bei der Bewäl- tigung der Krise helfen« darüber hinaus zur Teilnahme Direkt nach unserem Aufruf zur Mitwirkung an der an seiner bundesweiten Kampagne #WirBleibenZu- BDP-Corona-Hotline in einem Sondernewsletter und hause (siehe S. 3) eingeladen. auf der BDP-Website haben hunderte Kolleginnen und Kollegen, auch Nicht-Mitglieder, ihre Bereitschaft zur Besonders bemerkenswert ist der weltweite fachliche Mitarbeit erklärt. Diese große Welle ehrenamtlichen Austausch zur Corona-Krise und deren Bewältigung, Engagements, die uns außerordentlich stolz auf den nachdem durch eine Initiative der American Psycholo- Berufsverband und seine Mitglieder macht, ermöglichte gist Association (APA) alle Psychologinnen- und Psycho- den Start der Hotline am 23. März 2020, die täglich bis logen-Vereinigungen weltweit angemailt wurden. Wir zu 200 Anrufe verzeichnet und von 8 bis 20 Uhr ge- sind seither an einem internationalen fachlichen Aus- schaltet ist. Wir werden dieses wichtige Angebot bis auf tausch beteiligt, teilen Materialien und berichten über Weiteres aufrechterhalten. die Aktivitäten aus unseren Ländern, inzwischen auch über die psychologischen Voraussetzungen für die Be- Die BDP-Corona-Hotline ist ein wichtiges Signal in endigung des Lockdowns und wichtige psychologische die Öffentlichkeit und in die Politik und zeigt auch die Maßnahmen zur Umsetzung. Ich selbst nehme an den Professionalität unseres Berufsstands. Ganz besonders wöchentlichen Videokonferenzen teil und vertrete den können wir uns darüber freuen, dass wir mit der BDP- BDP in dieser wichtigen Runde. Corona-Hotline auf der Website der Bundesregierung als Anlaufstelle bei psychischen Belastungen genannt Neben körperlicher Gesundheit und wirtschaftlicher werden, und dass auch die Bundeszentrale für gesund- Absicherung ist eine gesunde Psyche ein wichtiger Be- heitliche Aufklärung (BZgA) auf unsere Website verlinkt. standteil für ein angstfreies und zufriedenes Leben. In einem Interview dieser Tage habe ich gesagt, dass ins- Darüber hinaus ist die Außenwirkung aller unserer Ak- besondere in Krisenzeiten die Bedeutung unserer Diszi- tivitäten enorm: Es gab und gibt viele Medienanfragen, plin, der Psychologie, für alle spürbar wird. auch zur Teilnahme an Radio- und TV-Sendungen, die sowohl vom Vorstand als auch von Funktionärinnen Dr. Meltem Avci-Werning und Funktionären und Mitgliedern umfangreich wahr- Präsidentin des BDP genommen werden. So können wir den Verband und seine Mitglieder ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Corona-Hotline des BDP Das Corona-Virus hat den Menschen weltweit in den Dank an alle Ehrenamtlichen vergangenen Wochen und Monaten viel abverlangt, teil- Realisiert wird das Beratungsangebot durch den ehren- weise hat es große Unsicherheiten und Ängste ausge- amtlichen Einsatz der Mitglieder des BDP. Auf den Auf- löst. Um die Bevölkerung bei der Bewältigung dieser für ruf zur Unterstützung gab es überwältigend viele sofor- reportpsychologie ‹45› 5|2020 uns alle ungewohnten Situation aktiv zu unterstützen, tige Rückmeldungen, sodass die Hotline binnen kürzes- hat der BDP bereits Ende März eine kostenlose Hotline ter Zeit erfolgreich anlaufen konnte. Der BDP bedankt (0800 777 22 44) ins Leben gerufen, unter der täglich sich daher sehr, sehr herzlich bei den mehreren hundert von 8 bis 20 Uhr Psychologinnen und Psychologen beim Freiwilligen für ihr herausragendes Engagement! Umgang mit der Krise unterstützen. Die anonymen Be- ratungsgespräche sind für alle Themen, die Anrufende im Umgang mit dem Corona-Virus beschäftigen, offen. 2
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat die bundesweite Kampagne #WirBleibenZuhause ins Leben gerufen, um ein Zeichen der Solidarität und des Zu- sammenhalts zu setzen. Ziel ist es, die Verbreitung des Corona-Virus zu verlangsamen und vor allem Ältere und gesundheitlich vorbelastete Mitmenschen zu schützen. Das BMG ließ Videos produzieren, in denen unter- schiedliche Akteure vorgestellt werden, die sich an der Aktion beteiligen. Der BDP, repräsentiert durch seine Präsidentin, Dr. Meltem Avci-Werning, ist Teil eines Video über in der Krise ehrenamtlich Aktive. Dr. Meltem Avci-Werning erklärt darin: »Wir bleiben zuhause ... und arbeiten mit hunderten Psychologinnen und Psycho- Foto: privat logen für eine Hotline, um Menschen in dieser Krise zu helfen. Ehrenamtlich!« Jede und jeder ist eingeladen, sich an der Kampagne zu Dr. Meltem Avci-Werning beteiligt sich als Präsidentin des BDP an der Kampagne #WirBleibenZuhause. beteiligen und selbst einen kurzen, motivierenden Clip zu drehen und zu erklären: »Ich bleibe zuhause. Weil ...«. Wer mag, kann gern am Ende des persönlichen von sich und dieser Geste aufnehmen und mit #Wir- Statements die gemeinsame Geste aller Kampagnen- BleibenZuhause auf Twitter, Facebook und Instagram botschafterinnen und -botschafter machen und Hände hochladen oder Ihr Profilbild damit aktualisieren. und Unterarme wie ein schützendes Dach über dem Kopf zusammenführen. Setzen Sie mit vielen anderen ein neues, gemeinsames Zeichen! Laden Sie den Clip in Ihren Kanälen mit dem Hashtag #WirBleibenZuhause hoch. Ebenso können Sie ein Foto Öffentliche Einrichtungen, Schulen und Kindergärten, Sportstätten und Kultureinrichtungen sind geschlossen, Einkaufsmöglichkeiten werden begrenzt und Vereine stel- len ihre Aktivitäten ein, Besuchszeiten in Krankenhäu- sern und Pflegeeinrichtungen werden stark eingeschränkt, Rückkehrende aus Risikogebieten müssen in Quarantäne: Keine dieser Maßnahmen ging an uns spurlos vorbei. Auf seiner Website www.bdp-verband.de hat der BDP aktuelle Informationen zum Corona-Virus SARS-CoV-2 für Psychologinnen und Psychologen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, aber auch für die Presse und reportpsychologie ‹45› 5|2020 Öffentlichkeit zusammengetragen, um dringende Fragen schnell beantworten zu können. Behandelt werden u. a. die nebenstehend aufgelisteten Themen (Stand: 14. April 2020). Die Seite wird fortlaufend ergänzt und aktualisiert. 3
im Griff des Virus Erste Zwischenbilanz der Corona-Pandemie und Gedanken über die Zeit danach In diesen Wochen spielen Zahlen eine große Rolle. Es Gezwungenermaßen arbeiten Zehntausende in Deutsch- gibt Nachhilfeunterricht in Mathematik für eine ganze land im Homeoffice. Manche haben sich das schon frü- Bevölkerung. Hinter den Zahlen stehen Menschen – her gewünscht – in der Hoffnung, Familie und Beruf Kranke, Genesene, Tote, Gesunde und vermeintlich Ge- dadurch besser vereinbaren zu können. Nicht wenige sunde. Täglich liefern das Robert-Koch-Institut und die machen jetzt die Erfahrung, dass das ihre Probleme Johns Hopkins Universität neue. Der Trend ist erfreulich, nicht löst. Andere würden diesen Zustand am liebs- wenngleich Virologinnen und Virologen ebenso wie ten auf Dauer beibehalten. Und Eltern, die ihre Kinder Politikerinnen und Politiker immer wieder betonen: Wir manchmal mit einem schlechten Gewissen viele Stun- stehen noch am Anfang der Pandemie. Der TV-Korres- den in der Kita ließen, haben nun erfahren, wie sehr die pondent Christof Leisinger erinnerte dieser Tage daran, Kleinen die Kita und ihre dortigen Spielgefährtinnen dass »Microsoft«-Gründer Bill Gates bereits vor fünf und -gefährten vermissen. Jahren vor einer solchen Pandemie gewarnt hat. »Wenn es etwas gibt, was in Zukunft Millionen von Menschen Wirtschafts- und Gesundheitspsychologinnen und -psy- tötet, dann ist das eher ein Virus als ein Krieg – und wir chologen sind gefragt und werden es nach der Pandemie sind überhaupt nicht darauf vorbereitet«, so Bill Gates. noch mehr sein, wenn entschieden werden wird, wie Er war damit nicht allein. Im März 2016 schrieb Nikolaus viel man aus Pandemiezeiten in den Alltag übernimmt. von Bomhard, damals Vorstandsvorsitzender des welt- Ist es wirklich so, wie in diesen Tagen oft behauptet, größten Rückversicherers »Munich Re«, einen Aufsatz in dass diverse Beratungen – auch mit internationalen Part- der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« über Risikoana- nern – doch problemlos ohne vieles Herumreisen durch lysen für komplexe moderne Gesellschaften, in dem er Internetverbindungen am Bildschirm stattfinden kön- auch die Wahrscheinlichkeit von Pandemien ansprach. nen? Zählt der persönliche Kontakt wirklich gar nicht? »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein entsprechend gefährliches Virus und die ›richtigen‹ Umstände zusam- Eine weitere Erfahrung: Der Begriff »wohnhaft« bekommt mentreffen.« Ob die Vorsorgemaßnahmen der Länder, gerade eine neue Bedeutung – in der eigenen Wohnung die in der Lage gewesen wären, sie zu treffen, im Lichte mehr oder weniger in Haft zu sein. Menschen kommen dieser frühen Einsicht ausreichend waren, wird man damit unterschiedlich gut klar, die Gesunden wie die nach der gegenwärtigen Krise kühl bilanzieren müssen. Kranken. Besonders für Menschen mit Depression sind weniger Sozialkontakte ein Problem, sagt der Psychiater Erfahrungen und Erkenntnisgewinne Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts International geschätzte Expertinnen und Experten sind für Seelische Gesundheit in Mannheim. »Auch Angster- gegenwärtig genötigt, fast täglich aktuelles Wissen zu krankungen können sich verschlechtern, wenn die Sorgen präsentieren – anders als Wissenschaftlerinnen und der Betroffenen z. B. primär um den Gesundheitsbereich Wissenschaftler es normalerweise tun. Sie müssen sich kreisen. Bei Patientinnen und Patienten mit Schizophrenie manchmal revidieren, lernen jeden Tag dazu. Das ist können wahnhafte Befürchtungen bezogen auf die Pan- normale wissenschaftliche Arbeit. Nur sind wir es nicht demie aufkommen, und aus Studien wissen wir, dass sich gewohnt, an ihr täglich teilzuhaben. posttraumatische Störungen verschlimmern, wenn neue Krisen hinzukommen.« Bei Patientinnen und Patienten Politisch Verantwortliche müssen ihre Entscheidungen mit Suchterkrankungen erhöhe sich die Rückfallgefahr. in Unsicherheit treffen. Das ist für sie, aber auch für die Bürgerinnen und Bürger ungewohnt. Psychologinnen Aber auch viele Menschen ohne psychische Erkrankung und Psychologen wissen spätestens seit Gerd Gigeren- entwickeln Ängste. »Das ist normal«, sagt der Harvard- zer: Bauchgefühl – vor allem, wenn es auf Fachwissen Psychologe Steven Pinker. »Gefahren, die uns bedrohen, beruht – ist eine grundlegende Kompetenz und darf die wir aber nicht gänzlich verstehen, führen zu anhal- durchaus Bestandteil eines professionellen Risikoma- tenden Angstzuständen. Wir sprechen im Englischen nagements sein. Dennoch verunsichert das viele Men- von dread risks – Risiken, die wir nicht genau kennen schen. Es müssen Entscheidungen zwischen Recht auf und die katastrophale Auswirkungen haben können. Leben und Recht auf Freiheit bzw. das, was die meisten Unser Gehirn ist dann im Ausnahmezustand.« darunter verstehen, getroffen werden. Ständig gilt es, reportpsychologie ‹45› 5|2020 die Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Im Internet rufen einige selbsternannte Spezialistinnen und Spezialisten dazu auf, mit dem Virus gelassener um- Die Polizei berichtet von diversen Anzeigen und Hinwei- zugehen. Steven Pinker widerspricht dieser Empfehlung sen von Bürgerinnen und Bürgern, die in der Krise die im Interview mit der »Neuen Zürcher Zeitung« (11. April Denunziantin bzw. den Denunzianten in sich entdeckt 2020) entschieden. »Das können wir nicht. Denn das haben und melden, wer die geltenden Bestimmungen Virus ist – evolutionsbiologisch betrachtet – unser Feind. und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit verletzt. Aus Sicht des Keims sind wir ein riesiger köstlicher Leb- 4
kuchen; den lässt sich das Virus nicht entgehen. Wir Rechtsstaat schrittweise abbauen und absolute Kon- hingegen haben Intelligenz und können Gedanken sehr trolle über die Bürgerinnen und Bürger gewinnen zu schnell reproduzieren. Das Virus hat angegriffen, wir können. Man ist versucht, Vertreterinnen und Vertreter schlagen zurück – mit Hygienemaßnahmen« und – wie dieser Theorie pauschal als Spinner abzutun. Doch sie er optimistisch hinzufügt – mit absehbar verfügbaren schaden dem Ansinnen all derer, die Grundrechte wie »Impfungen mit Medikamenten. Wir fahren Verluste z. B. das Versammlungsverbot vor unnötigen Einschrän- ein, aber wir werden siegen.« kungen schützen wollen, ohne deshalb in obskure Ver- schwörungstheorien zu verfallen, erheblich. Foto: privat Noch ist es nicht soweit. Eine derzeit viel diskutierte und vermutlich auch sinnvolle App zur raschen Identi- Gefahren auf dem Weg in die andere Welt nach fizierung von Kontakten und möglichen Ansteckungs- Corona Christa Schaffmann ketten gilt als Nagelprobe, wie ernst die Regierungen Der Ruf nach Rückkehr zum normalen Alltag, wie er ist Diplom-Journalistin. Sie war mehr als zehn Europas den Datenschutz nehmen. Mehrere Anbieter sich vor Ausbruch der Pandemie abspielte, wird lauter. Jahre als Chefredakteurin arbeiten an solchen Tracking-Apps. Es gilt zu verhin- Abgesehen davon, dass er aus der Sicht nicht nur von von »report psychologie« dern, dass sie ohne jede Notwendigkeit personenbe- Virologinnen und Virologen, Epidemiologinnen und und Pressesprecherin des BDP tätig und arbeitet als zogene Daten erfassen, wie z. B. Bewegungsprofile, Epidemiologen zu früh kommt, stellt sich die Frage, freischaffende Journalistin betont der Diplom-Psychologe Linus Neumann, BDP- ob das tatsächlich wünschenswert ist. Haben wir in und PR-Beraterin. Mitgliedern eventuell bekannt durch seinen Vortrag im Europa nicht gerade die Schwächen unseres kurzsich- Haus der Psychologie, bei dem er über die Tricks der tigen hyper-individualistischen Sozialsystems erfahren? Hacker sprach. Neumann ist Netzaktivist und einer der Haben wir nicht gerade gelernt, dass die Privatisierung Sprecher des »Chaos Computer Clubs«. Er trat mehrmals und Gewinnorientierung in Krankenhäusern zu erhebli- als Sachverständiger für IT-Sicherheit in Ausschüssen des chen Problemen mindestens in Krisensituationen führen Deutschen Bundestags in Erscheinung und ist derzeit kann? Mussten wir nicht feststellen, dass die vollstän- zusammen mit einem Team von rund 130 Mitarbeiterin- dige Auslagerung der Produktion mancher Produkte nen und Mitarbeitern aus 17 europäischen Instituten, (siehe Atemschutzmasken) in Länder mit niedrigeren Organisationen und Firmen an der Entwicklung einer Löhnen uns in Krisen wie der gegenwärtigen eine to- App beteiligt, die diese Anforderungen erfüllt. tale Abhängigkeit von unsicheren Märkten schmerzhaft spüren lässt? Fertig ist die Tracking-App – eine Bluetooth-Variante – noch nicht; bisher gibt es ein offenes technisches Kon- Die Politik betont, dass die als notwendig erachteten zept namens »PEPP-PT«. Der Digitalverband »Bitkom« Maßnahmen nur temporär sein sollen und folgt damit und der »Chaos Computer Club« haben bei Freiwillig- der Forderung vieler um die Demokratie besorgter Bür- keit und einer Speicherung von Daten, die »dezentral, gerinnen und Bürger, wonach Ausnahmeregelungen anonym und sparsam« ist, keine Einwände gegen diese nicht zum Dauerzustand werden dürfen. Die Geschichte App, ganz im Unterschied zu dem technisch zu unge- hat aber gezeigt, dass vorübergehende Aktionen nicht nauen und datenschutzrechtlich fragwürdigen Konzept selten die Eigenheit aufweisen, den Notstand zu über- von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Mit dessen dauern. Dies ist die eine Gefahr. Zudem können Politike- Konzept habe die Bundesregierung nur wertvolle Zeit rinnen und Politiker die Krise auch nutzen, um kurzfristig vergeudet, anstatt gleich auf die bessere Bluetooth-Va- ihren Machterhalt zu sichern und um längerfristig Wei- riante zu setzen, so Neumann. chen für eine dauerhafte Aushöhlung der Demokratie zu stellen. Es gibt solche Tendenzen bereits in Ungarn unter Noch eine »Epidemie« im Netz Ministerpräsident Viktor Orban und in Israel unter Re- Zu den Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie ge- gierungschef Benjamin Netanyahu. Besonders bedenk- hören neben Aberglauben auch Verschwörungstheorien lich wird die neue Machtfülle, wenn sie mit Formen der und Fake News, die man, wie der Psychologe Roland digitalen Überwachung verbunden wird. Imhoff auf »spektrum.de« schreibt, keinesfalls verwech- seln sollte. Fake News würden im Wissen darum ver- Was in vielen Debatten über die Zukunft oft verges- breitet, dass sie falsch sind und dienten der Täuschung sen oder auch gern bewusst ausgeblendet wird, ist die anderer Menschen. »Verschwörungstheoretikerinnen Tatsache, dass wir es gegenwärtig mit zwei Krisen zu und -theoretiker dagegen glauben oft an ihre eigenen tun haben: der schon länger existierenden des Finanz- Theorien. Sie suchen nach großen Erklärungen für große kapitalismus, also einer ökonomischen Krise, und der Ereignisse.« Dass ein Wildtier die weltweite Corona- durch Corona ausgelösten Krise, die erstere verschärfen Krise ausgelöst haben soll, erscheine ihnen zu wenig wird. »Die bis jetzt ergriffenen Rettungsmaßnahmen der ideologisch, zu wenig global gedacht. Oft neigten Ver- Zentralbanken etc. werden sich also nicht dazu eignen, schwörungstheoretikerinnen und -theoretiker auch zu das Finanzsystem zu retten«, ist der Politökonom Prof. reportpsychologie ‹45› 5|2020 Arroganz unter dem Motto: »Ihr glaubt naiv den of- Dr. Friedrich Voßkühler überzeugt. Es würden nach dem fiziellen Darstellungen, ich dagegen durchschaue das Ende der Pandemie zum Erhalt des Systems weitere Spiel der Mächtigen.« einschneidende Maßnahmen nötig sein, wie Geldent- wertungen, Währungsreformen u.a.m. Aus dieser Haltung ist z. B. die Vorstellung entstanden, die Pandemie sei in die Welt gesetzt worden, um den Christa Schaffmann 5
Foto: level17 design – pixabay.com Zyklen der Gewalt Seit vielen Jahren untersuchen Prof. Dr. Thomas Elbert und PD Dr. Maggie Schauer Menschen, die durch Gewalt, Krieg und Folter traumatisiert sind. Ihre Erkenntnisse tragen zu einem besseren Verständnis von Aggression und Gewalt bei, aber auch zur Entwicklung von wirksamen Interventionen für Betroffene sowie zu einer friedlicheren Gesellschaft. Aggression bezeichnet beobachtbares Verhalten, feind- geformt, dass eine selbstbelohnende Handlungskette selig und angreifend, Verhalten also, das die körperliche entsteht, d. h., dass die Verfolgung, die Hetze und das Unversehrtheit eines anderen Menschen oder eines Tie- Erlegen des Opfers unabhängig vom Erfolg (Tötung res bedroht. und Verzehr) lustvoll sein kann (Elbert, Weierstall, & Schauer, 2010). Beute motiviert zusätzlich, ist aber nicht Lustvolle Aggression erforderlich: Auch wenn es keinen Vorteil zu erringen Die Motive für Aggression lassen sich in drei Grup- gibt, jagt die Katze hinter dem Wollknäuel her oder pen einteilen: Reaktive Aggression mobilisiert wütende die Fußballmannschaft hinter einem Ball. Am Jagen Emotionen zur Verteidigung, um auf eine wahrgenom- in Gruppen erfreut sich der Mensch besonders gern, mene Bedrohung zu reagieren, oder als Gegenangriff so beim Gaming oder selbst dann, wenn er sich etwa oder Rache nach erlittenem Unrecht (etwa Ressourcen- als TV-Zuschauer in den Akteur einer sportlichen oder verlust, Statusverlust). Proaktive (auch instrumentelle, kriegerischen Veranstaltung hineinversetzt. Die resul- »Mittel zum Zweck« genannte) Aggression zielt darauf tierende intrinsische Belohnung kann bedingen, dass ab, einen Vorteil zu erreichen. Sie kann räuberisch sein, aggressives Verhalten regelrecht süchtig macht (Elbert ideologisch motiviert oder durch das Verlangen nach et al., 2017a, 2017b). einem sozialen Status getrieben sein. Schließlich be- zeichnet appetitive Aggression einen unterschätzten, Zyklen der Gewalt da oftmals tabuisierten Faktor, und zwar die intrinsisch Reaktive und appetitive Aggression treiben zwei Zyklen belohnende Erfahrung aggressiver Handlung. von Gewalt (siehe Abbildung 1). Der reaktive Zyklus mit negativem emotionalem Valenzkreislauf wird durch Ungern akzeptieren wir nämlich, dass Jagdlust – ein- Bedrohung und Viktimisierung, auch Erniedrigungser- reportpsychologie ‹45› 5|2020 schließlich des Nervenkitzels der Jagd auf Menschen leben, angetrieben, welche dann zu traumabedingten – Teil der menschlichen Natur ist (Elbert, Moran & Störungen, wie etwa Angst, Posttraumatischer Belas- Schauer, 2017a, 2017b). Das Erlangen einer Beute liegt tungsstörung (PTBS), Depression oder Dissoziation, aber oftmals zu fern, als dass es den Jäger zu stunden- führt und in der Folge Flucht und Kampf, also reaktiv- und tagelanger Anstrengung motivieren könnte. Des- impulsive Aggressionen, hervorruft. halb hat die Evolution Menschen wie tierische Jäger so 6
r e p o r t fokus Der appetitive Zyklus, die positive emotionale Valenz- schleife, wird durch ein Umfeld angeheizt, das über die Jagdlust unser Belohnungssystem kapert und so gewalt- - reak ve Aggression appe ve Aggression + tätiges und kriminelles Verhalten positiv verstärkt, bis hin zu Symptomen einer antisozialen Persönlichkeitsstö- Traumafolge- kriminell Angst störung rung und Psychopathie. Solch ein Appetit auf aggressives Symptome PTSD von Psychopathie Verhalten liegt prinzipiell im Wesen menschlicher Natur, Depression und an sozialer es könnte also in uns allen ausgelöst werden (Elbert, Dissozia on Vik mi- gewalä ge Persönlichkeitsstörung sierung Umwelt Schauer & Moran, 2018). Beide Seiten haben dann se- kundär auch ein instrumentelles Element, etwa die er- folgreiche Beseitigung von Bedrohung oder das Erlangen von sozialem Status. Dieses ist zwar förderlich, aber nicht erforderlich, um aggressives Verhalten zu motivieren. Drogen + Propaganda Gewalt bedingt Gewalt Wer wird also zur Täterin bzw. zum Täter? Die For- Abbildung 1a. Negativ valente (links) und positiv valente (rechts) Zyklen der Gewalt wer- den durch Propaganda angeheizt (nach Elbert, Schauer & Moran, 2018). schungslage ist eindeutig und überwältigend: Perso- nen, die gegen ihre Partnerin bzw. ihren Partner, ihre Anzahl verübter Gewalaten in der Gemeinde Kinder oder in der Gemeinschaft gewalttätig sind oder zu einer gewalttätigen Gruppe gehören, sind durchweg Appeve Aggression (AAS-Score) Überlebende von zwischenmenschlichen Traumata, die sie meist in sensiblen Phasen der psychologischen Ent- wicklung erleben mussten (Capaldi, Knoble, Shortt & Kim, 2012; Vagi et al., 2013). Die Erfahrung schwerer interpersoneller Gewalt in Kind- heit und Jugend wiederum ist eine wichtige Triebkraft für späteres kriminelles Verhalten. Beispielhaft beein- druckend zeigen Webb et al. (2017) in einer nationalen dänischen Kohortenstudie mit Daten von mehr als einer Million Personen, dass einer von vier Männern, die in- folge von Verletzungen durch interpersonelle Gewalt in Schwere der PTBS-Symptomak (PDS-Score) der Kindheit ins Krankenhaus eingeliefert wurden (etwa 10 % der Kohorte), im Laufe seines Lebens wegen eines Abbildung 1b. Bei ehemaligen Bürgerkriegskämpfern genügen Symptome von posttrauma- tischem Stress (PTBS, insbesondere Hyperarousal, Abszisse) oder auch erhöhte appetitive Gewaltverbrechens verurteilt wurde. Krankenhauseinwei- Aggression (Ordinate) um im Mittel etwa drei Straftaten in der Gemeinde hervorzurufen. sungen in der Kindheit aufgrund von Selbstverletzung Die Aktivierung beider Zyklen erhöht dann die Wahrscheinlichkeit von Gewalt dramatisch (nach Nandi, Crombach, Bambonyé, Elbert & Weierstall, 2015). oder zwischenmenschlicher Gewalt waren deutlich stärker mit späterer Gewalt oder Delinquenz verbunden als Ein- übung zu entwickeln. Unterschiede können bereits im weisungen durch Unfälle. Dabei sind wiederholte trauma- Alter von 17 Monaten beobachtet werden: Jungen ver- tische Erfahrungen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit halten sich körperlich aggressiver als Mädchen (Trem- späterer Selbstverletzung wie auch Gewaltausübung ver- blay et al., 1999). Dabei führen Misshandlungen in der bunden. Wir können aus solchen Daten schließen, dass Kindheit vor allem bei Jungen zu höherer impulsiv-an- Gewalt und eben nur Gewalt zu Gewalt anstiftet. griffsbereiter Aggression, während bei Frauen gehäuft impulsiv-selbstverletzendes Verhalten auftritt (Webb et Auch bei Kämpferinnen und Kämpfern in Kriegsre- al., 2017). Wenn aber Taten einmal begangen wurden, gionen können Misshandlungen in der Kindheit und dann scheinen diese bei Frauen stärker emotional aufge- ausgeübte Gewalt appetitive Aggression vorhersagen laden und mit Aggression assoziiert als bei männlichen (Nandi, Crombach, Bambonyé, Elbert & Weierstall, 2015; Kämpfern (Augsburger et al., 2015). Nandi et al., 2017). Der Zusammenhang zwischen Miss- handlung in der Kindheit und späterer Gewalt konnte Einfluss von Drogen und Alkohol in vielen Studien belegt werden, so etwa in friedlichen Während ihrer Entwicklung – insbesondere im Schul- Zivilgesellschaften (z. B. Hawkins et al., 2000), in Flücht- alter – lernen Kinder, moralische Barrieren zu setzen lingspopulationen (z. B. Müller-Bamouh, Ruf-Leuschner, und so aggressives Verhalten zu regulieren. Unter Ein- Dohrmann, Schauer & Elbert, 2016) oder in den afrika- fluss von Alkohol oder anderen Drogen brechen diese nischen Krisenregionen der Großen Seen (Augsburger, Barrieren zusammen, und aggressive Handlungen wer- reportpsychologie ‹45› 5|2020 Meyer-Parlapanis, Bambonyé, Elbert & Crombach, 2015; den wahrscheinlicher. Entsprechend kann Substanz- Hermenau et al., 2011; Nandi et al., 2017). missbrauch die Zyklen der Gewalt anheizen und den Einzelnen weiter – sowohl über den reaktiven Trauma- Geschlechtsspezifische Wege zyklus als auch über appetitive Aggression und Lust an Vielfach weisen Studien auf geschlechtsspezifische Gewalt – in psychische Erkrankungen treiben (siehe Wege hin, um appetitive Aggression und Gewaltaus- Abbildung 1). 7
Häufigkeit von kriminellen Gewalaten und von Selbstverletzung nach interpersoneller Gewalterfahrung in Kindheit und Jugend kriminelle kumulave Inzidenz 20 Gewalt Selbstverletzung Foto: Imka Reiter % 10 PD Dr. Maggie Schauer ist Leiterin des Kompetenzzentrums Psychotraumatologie der Universität Konstanz. Prof. Dr. Thomas 20 30 20 30 Elbert ist Professor für Alter (in Jahren) Alter (in Jahren) Klinische Psychologie und Klinische Neuropsychologie Abbildung 2. Männer, die in ihrer Kindheit so schwere interpersonelle Gewalt erfahren hatten, dass eine Klinikaufnahme notwendig an der Universität Kon- wurde, haben in einem Drittel der Fälle später kriminelle Gewalttaten ausgeübt (dunkelrote Kurve). Frauen zeigten in einem Fünftel der stanz. 2019 erhielt er für Fälle selbstverletzendes Verhalten (gelbe Kurve; Daten aus der nationalen Kohortenstudie von Webb et al., 2017). seine Forschung den Deut- schen Psychologie Preis. bleiben, da sie – biologisch unterlegt – belohnend E maggie.schauer@uni-konstanz. So berichten Hecker und Haer (2015) in ihrer Studie mit und verstärkend wirkt und somit Suchtpotenzial de ehemaligen Kombattanten im kongolesischen Kriegs- hat. E thomas.elbert@uni-konstanz.de gebiet, dass der Drogenkonsum die Zahl der Gewaltta- 4. Substanzmittel und Drogen wirken stimulierend ten in der bewaffneten Gruppe signifikant vorhersagen und belohnend und senken gleichzeitig die mora- kann. Die Ex-Kombattanten berichteten zudem, dass sie lische Hemmung der verschiedenen Triebbedürf- Drogen konsumiert hätten, um sich stärker und aggres- nisse. So kann der Appetit auf Aggression freige- siver zu fühlen. Auch bei südafrikanischen männlichen setzt werden. Die Kontrolle des Drogenkonsums jugendlichen Gangmitgliedern beobachteten wir, dass wird in der Jugend erlernt. schwerer Drogenmissbrauch mit einer höheren Häufig- 5. Die reaktive Aggression bildet den Einstieg in die keit von verübter Gewalt und appetitiver Aggression interpersonelle Gewalt, und selbst wenn die Be- verbunden war. Entsprechend dem Ineinandergreifen drohung vorüber ist, kann es sein, dass die dabei der Gewaltzyklen (siehe Abbildung 1) zeigte sich eine gleichzeitig erlebte Dominanz und Lust den appe- positive Beziehung zwischen Traumafolgestörungen und titiven Zyklus der Gewalt zündet. Bedrohungen, appetitiver Aggression (Sommer et al., 2017). und dazu zählen auch Kindheitsgewalt, Armut und die Unfähigkeit, einen sozialen Status zu erreichen, Gewaltzyklen durchbrechen treiben den reaktiven Zyklus. Nur wenn eine Ge- Schlussfolgernd ergeben sich auf dem heutigen Stand sellschaft diese Faktoren weitgehend ausschaltet, der Forschung folgende Hinweise auf die Kontrolle von wird friedliches Zusammenleben ermöglicht. aggressivem Verhalten: 1. Menschen, die erhöhte Lust an Gewalt und Grau- Zusammenfassung samkeiten empfinden, haben in der Regel selbst Interpersonelle traumatische Erfahrungen während der Erniedrigung, Gewalt und emotionale Vernachlässi- Kindheit und verübte Taten im Jugendalter führen un- gung erlebt. Erziehung soll daher möglichst gewalt- weigerlich in den zweifachen Strudel von Gewalt (Abbil- frei ablaufen; positive Verstärkung hat günstigere dung 1). Es kommt einerseits vermehrt zu Traumafolge- Wirkungen als Bestrafung. störungen und andererseits zu erhöhter Lust an Gewalt, 2. Appetitive Aggression, also Lust an Gewalt, ist zu erhöhter appetitiver Aggression. Erhöhte Gewalt auf ein eigenes, beim Menschen unterschätztes Trieb- Familien- wie Gemeinschaftsebene ist eine Folge davon, bedürfnis. Gemeinsam zu kämpfen, ist lustvoll erhöhte kriegerische Bereitschaft eine andere. Drogen- und bedarf prosozialer Fähigkeiten und Gruppen- konsum, erfahrene soziale Ablehnung, gewaltsame Un- kohärenz. Auch (gemeinsam) zu jagen und (die terwerfung oder Erniedrigung durch Bezugspersonen, Gegnerinnen und Gegner oder Verfolgten) zu töten, Vernachlässigung, Missbrauch und Täterschaft in der kann zu einem angenehmen, rauschhaften Zustand Kindheit und frühen Jugend treiben diese Gewaltzyklen führen. Diese Erfahrung ist nicht jedem Menschen an. Den zugrunde liegenden traumatischen Erinnerun- ohne Weiteres zugänglich, sie bedarf eines be- gen (einschließlich der Täterschaft) fehlt die Einord- reportpsychologie ‹45› 5|2020 stimmten Kontextes, um freigelegt zu werden nung in den autobiografischen Kontext, wodurch die (Kindheitserfahrungen, moralische Legitimierung, Wahrnehmung der Gegenwart bedrohlicher wird. Für Heranführen über soziale Belohnung etc.). den Betroffenen scheint dies gewalttätiges Verhalten Die Literaturliste zu diesem Arti- kel kann per E-Mail beim Deut- 3. Die Lust an Aggression kann im sportlichen Bereich zu legitimieren. schen Psychologen Verlag ange- gelebt werden oder auch im virtuellen Raum. Reale fordert werden. E s.koch@psychologenverlag.de Gewalt aber ist nicht legitim und muss ein Tabu Prof. Dr. Thomas Elbert & PD Dr. Maggie Schauer 8
Qualifizierte Kolleg*innen findet man nicht wie Sand am Meer … abe r sch 100204 · Foto: © kite_rin /AdobeStock n e ll u n d e in fa c h mi t e in e r A n z e ig e a u f unse r e r J obse i t e p s y l i f e . de /j o b s nu r * 2 4 9 € * Bei Buchung einer Stellenanzeige zum Preis eit : von 249,- Euro (zzgl. MwSt.) veröffentlichen L auf z n wir Ihre Ausschreibung in unserer Jobbörse he 8 Woc unter psylife.de/jobs sowie zusätzlich über unsere Social-Media-Kanäle. Kontakt: Inga Poste · sales@psylife.de · Telefon 030 / 209 166 412 Das Online-Magazin für alle, die in Psychotherapie, Beratung oder Coaching tätig sind. Aus dem Deutschen Psychologen Verlag. www.psylife.de facebook.com/psylife.de psylife_de @psylife_de
Foto: Bob_Dmyt – pixabay.com Gesellschaftlicher Zusammenhalt Antworten der Psychologenschaft auf Extremismus, Rassismus, Antisemitismus Mit einem neu gegründeten Arbeitskreis »Gesellschaftlicher Zusammenhalt – Antworten der Psychologenschaft auf Extremismus, Rassismus, Antisemitismus« engagiert sich der BDP gegen Gewalt in unserer Gesellschaft. Dies steht ganz im Einklang mit dem Arbeitsschwerpunkt des BDP-Vorstands für das Jahr 2020: »Heterogenität verbindet« Spätestens die jüngste Welle rechtsterroristischer An- tendenzen begreifen. Aus psychologischer Perspektive schläge in Deutschland – von Kassel über Hanau bis sind dabei die Ergebnisse von Repräsentativbefragungen Halle – verdeutlicht die massive Bedrohung, die von zu antidemokratischen Einstellungen zentral: In den rassistischem und antisemitischem Hass ausgeht. Ziel- »Mitte«-Studien der Universität Leipzig zeigte sich im gerichtet wurden von den Tätern, ihrer rechtsextremen Zeitraum von 2006 bis 2016 eine starke Radikalisierung Ideologie folgend, muslimische und jüdische Personen und Enthemmung in autoritär-antidemokratisch ein- als Opfer markiert und kaltblütig ermordet. Diese Ereig- gestellten Bevölkerungsteilen, die mit einer zunehmen- nisse stellen die Spitze einer umfassenderen Ereignis- den Gewaltbereitschaft und einem Vertrauensverlust in serie dar. Nachforschungen der »Amadeu Antonio Stif- staatliche Institutionen einherging. Parteipolitisch ging tung« zufolge sind seit der friedlichen Revolution und diese Entwicklung in die Gründung der AfD über. Wiedervereinigung 1989/1990 über 200 Menschen von Rechtsextremen getötet worden. Allein diese Zahlen Dieser Rechtsruck erfolgte auf Grundlage einer wei- verdeutlichen die Bedrohung für den gesellschaftlichen ten Verbreitung gruppenbezogen menschenfeindlicher Zusammenhalt, der von Antisemitismus und Rassismus Einstellungen in der Gesamtbevölkerung. Insbesondere reportpsychologie ‹45› 5|2020 aktuell ausgeht. antisemitische, muslimfeindliche und antiziganistische Vorurteile haben sich in diesem Zeitraum konsolidiert, Gruppenbezogen menschenfeindliche Einstellungen was sich statistisch u. a. auf eine weit verbreitete Ver- Diese rechtsterroristischen Anschläge sind nicht im luft- schwörungsmentalität zurückführen lässt. Um aus den leeren Raum entstanden, sondern lassen sich nur vor jüngsten Erhebungen nur drei konkrete Beispiele zu dem Hintergrund gesellschaftlicher Radikalisierungs- nennen: Im Jahr 2018 äußerte über ein Drittel der Be- 10
r e p o r t fokus völkerung (36 %) die Überzeugung, dass »Reparations- gen. Unser Verband ist durch die Vielfalt der Mitglieder forderungen nur einer Holocaust-Industrie nützen« wür- geprägt, welche ihre psychologische Expertise in ver- den, knapp die Hälfte (44 %) stimmte der Aussage zu, schiedensten Bereichen des gesellschaftlichen Miteinan- dass »Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland ders einbringen und diese Entwicklungen unterstützend untersagt werden« sollte, und eine Bevölkerungsmehr- begleiten. Der BDP wird sich in den kommenden Jahren heit (56 %) »hätte Probleme damit, wenn sich Sinti hier noch deutlicher positionieren, auf Missstände auf- und Roma in meiner Gegend aufhalten«. Der aktuelle merksam machen und Ideen und Modelle vorstellen, Rechtsterrorismus steht somit im direkten Zusammen- um auf diese einzuwirken.« Als einen zentralen the- hang mit einem zunehmenden Rechtsextremismus im matischen Schwerpunkt ihrer Amtsperiode benannte politischen System und einem weitverbreiteten Rechts- Dr. Avci-Werning deshalb »den zukunftsweisenden Um- populismus in der Gesamtbevölkerung. gang mit Heterogenität und den Abbau von Diskrimi- nierung von Minderheiten«. Widerstand stärken Zugleich zeigen die Repräsentativbefragungen jedoch Ziele des Arbeitskreises auch, dass in der Mehrheitsgesellschaft die Identifika- Im Zuge dieser Fokussierung haben wir aktuell den Ar- tion mit freiheitlich-demokratischen Grundwerten in beitskreis »Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Antworten den vergangenen Jahren zugenommen hat. Eine über- der Psychologenschaft zu Rassismus, Extremismus, Anti- wältigende Mehrheit der Deutschen bekennt sich offen- semitismus« gegründet. Mit dessen Arbeit werden drei siv zur Staatsform einer pluralistischen Demokratie auf übergreifende Ziele verfolgt: Basis der Würde und Gleichheit aller und spricht sich für 1. Es sollen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einen zivilcouragierten Einsatz für eine vielfältige und psychologischen Entstehungsbedingungen von offene Gesellschaft und gegen die Diskriminierung von Rassismus, Extremismus und Antisemitismus unter Minderheiten aus. Aus Sicht der sozialpsychologischen Berücksichtigung ihres gesellschaftlichen und histo- Repräsentativstudien gilt es also, den Widerstand gegen rischen Hintergrunds zusammengetragen werden, rassistische, extremistische und antisemitische Überzeu- um geeignete Präventions- und Interventionsan- gungen zu stärken und gleichzeitig das schlummernde sätze zu entwickeln. Potenzial demokratischer Grundüberzeugungen aktiv 2. Auf dieser Grundlage werden zentrale Inhalte in zu mobilisieren. Entscheidend ist hierfür, in welchem einfach verständlichen Zusammenfassungen über Ausmaß es gelingt, die verfassungspatriotische Grund- verschiedene Kanäle, wie beispielsweise die BDP- haltung der großen Mehrheit in zivilgesellschaftliches Homepage oder andere digitale Medien, zur Verfü- Handeln im Alltag zu überführen. gung gestellt. Sie sollen nach »innen« als Leitfaden für das Erkennen von und den Umgang mit antide- Verantwortung als Psychologinnen und mokratischen Tendenzen in der alltäglichen Arbeit Psychologen von Psychologinnen und Psychologen dienen. Nach Hierbei haben wir als Psychologinnen und Psycholo- »außen« soll einer Vielzahl von gesellschaftlichen gen eine entscheidende Mitverantwortung zu tragen. Akteuren ein niedrigschwelliger Zugang zu zentra- Nicht nur sind wir in unserer täglichen Arbeit mit unter- len psychologischen Erkenntnissen zu antidemokra- schiedlichen Patientinnen und Patienten, Klientinnen tischen Vorurteilen ermöglicht werden. und Klienten damit konfrontiert, einen angemessenen 3. Darüber hinaus wird die Vertiefung und ge- Umgang mit subtilen bis aggressiven Äußerungen anti- gebenenfalls Neuschaffung aktiver Kommuni- demokratischer Vorurteile finden zu müssen. Darüber kationswege zwischen Psychologenschaft und hinaus braucht es für einen Schutz des demokratischen zivilgesellschaftlichen Organisationen angestrebt. Zusammenhalts insgesamt den umfassenden Einbezug Insbesondere sollen Wege der Unterstützung von psychologischer Erkenntnisse, um die Entstehungsbe- Personengruppen, die von der aktuellen Radikali- dingungen der aktuellen Radikalisierung zu verstehen sierung besonders betroffen sind, ausgebaut wer- und darauf aufbauend gesamtgesellschaftliche Präven- den, beispielsweise zu islamischen Verbänden und tions- und Interventionsansätze entwickeln zu können. der jüdischen Gemeinde. Zukunftsweisender Umgang mit Heterogenität Aktuell entwickelt der Arbeitskreis erste Ansätze, um Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und die übergeordneten Ziele in konkrete Handlungsschritte Psychologen (BDP) hat sich deshalb in den zurücklie- zu übersetzen. Für ihre Umsetzung werden wir auf die genden Jahren mehrfach mit der Notwendigkeit zum aktive Mitarbeit von einer Vielzahl von Psychologinnen Widerstand gegen rechtsextremistische, rassistische und und Psychologen angewiesen sein. Wir hoffen, in der antisemitische Ideologien mittels Veranstaltungen und gemeinsamen Zusammenarbeit den Widerstand gegen- Positionspapieren hör- und sichtbar befasst. über den antidemokratischen Tendenzen fördern zu reportpsychologie ‹45› 5|2020 können und damit der gesellschaftlichen Verantwortung Die neue BDP-Präsidentin Dr. Meltem Avci-Werning der Psychologenschaft Rechnung zu tragen. wies zum Antritt ihrer Amtsperiode im Januar 2020 ex- plizit auf diese Mitverantwortung hin: »Neue gesell- Für den Arbeitskreis Kontakt: schaftliche und politische Entwicklungen stellen uns als Felix Brauner, Carola Brücher-Albers Kontakt zum Arbeitskreis kann über die Bundesgeschäftsstelle Berufsgruppe immer wieder vor große Herausforderun- des BDP aufgenommen werden. 11
Foto: Fred Moon – unsplash.com »So etwas macht doch niemand!« Leaking vor terroristischen Taten und Anschlägen Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekts »LATERAN« unter- sucht Prof. Dr. Rebecca Bondü »Leaking als Warnsignal für terroristische Taten und Anschläge«. 12
r e p o r t fokus Wie ist das Projekt »LATERAN« aufgebaut? Formen annehmen – von Äußerungen im persönlichen Das Team an der Psychologischen Hochschule Berlin ar- Umfeld bis hin zu öffentlichen Facebook-Posts. Zum beitet in diesem Projekt mit der Deutschen Hochschule anderen erfassen wir aber auch indirektes Leaking, bei- der Polizei und dem Bayerischen Landeskriminalamt spielsweise Veränderungen im Verhalten oder Interesse bzw. dessen Kompetenzzentrum für Deradikalisierung an früheren ähnlichen Taten oder Waffen usw. zusammen. Dabei betrachten wir religiös motivierte Taten, während das Team der Deutschen Hochschule Auf welchen Daten basiert Ihr Projekt? der Polizei unter Leitung von Prof. Dr. Thomas Görgen Wir untersuchen das auf Grundlage von staatsanwalt- Taten mit rechts- und linksextremistischem Hintergrund schaftlichen Ermittlungsakten, die wir bei den zustän- untersucht. Das Landeskriminalamt wiederum versteht digen Staatsanwaltschaften beantragen – zu Fällen, die sich als Anwender unserer Erkenntnisse und unterstützt wir über Medienberichte selbst recherchieren konn- uns bei der Fallrecherche. ten oder die unser Kooperationspartner bei der Polizei für uns recherchiert hat. Wenn wir die Akten einsehen Ziel des Projekts ist es, Warnsignale im Vorfeld können – was nicht immer klappt –, suchen wir z. B. in von terroristischen Taten und – wenn möglich – Aussagen von Zeuginnen und Zeugen, ob sich Hinweise deren Ernsthaftigkeit zu bewerten. Was ist der darauf finden lassen, dass die Tat angekündigt wurde. Es Hintergrund? ist wichtig, unsere Befunde auf eine breite Datenbasis Aus der Forschung zu Amokläufen an Schulen wissen zu stellen. Daher sind wir auf die Unterstützung der wir, dass solche Taten eigentlich immer – und wieder- Justizbehörden angewiesen, um die so wichtigen Infor- holt – angekündigt werden. Die Frage ist nun: Findet mationen zum Verhalten im Vorfeld der Tat zuverlässig man diese Ankündigungen auch im Vorfeld von ter- recherchieren zu können. roristischen Taten? Es gibt einige Studien, die genau das zeigen, aber bisher gibt es wenig Greifbares. Des Das heißt, Sie betrachten nur Fälle, bei denen es Weiteren fällt auf, dass es – bei Amokläufen an Schulen, zu einer Tat kam, nicht aber solche, bei denen das aber auch bei terroristischen Taten – kein einheitliches Leaking-Verhalten nicht zu einer Tat führte? Täterprofil gibt. Es gibt Täterinnen und Täter mit hohem Doch, das machen wir auch. Gerade das ist neu an unse- und mit niedrigem Bildungsstand, Personen, die vor- rem Projekt, dass wir zumindest versuchen, Vergleichs- her aggressiv auffällig waren, und andere, die waren es gruppen zu definieren, um zu schauen: Lassen sich mit nicht, manche haben Familien, andere aber nicht usw. Blick auf vermeintliche Warnsignale Unterschiede aus- Darauf kann man keine Präventionsarbeit aufbauen. machen zwischen Fällen, in denen es später tatsächlich Denn man weiß nicht, wonach man suchen soll, und zu einer Tat kam bzw. diese geplant, aber verhindert auch wenn man sich nicht nur auf einzelne dieser Krite- wurde, und Fällen, in denen es nie eine wirkliche Ab- rien stützen würde, wäre die Menge an Menschen, die sicht gab, eine Tat folgen zu lassen? eine Kombination dieser Risikofaktoren aufweisen, viel zu groß. Das führte zu der Idee, zusätzlich Leaking, also Einfach ist das nicht, denn wir sind darauf angewiesen, Warnsignale im Vorfeld von Taten, und dessen Vorher- dass wir das irgendwie recherchieren können. Vergleichs- sagekraft zu betrachten. gruppe sind also vor allem Personen, die – ohne eine Tat zu begehen – polizeibekannt geworden sind, weil Sie sagten, dazu gebe es bisher wenig Greifbares Menschen in ihrem Umfeld gemeldet haben, dass sie – eigentlich verwunderlich, denn das scheint ein sich Sorgen machen. Alles, was nicht offiziell vermerkt naheliegender Ansatz zu sein. wurde, wenn also etwa entsprechende Äußerungen nur Mich hat das auch verwundert. Die Forschung findet im Bekanntenkreis gemacht wurden, ohne dass es zur zwar Leaking bei relativ vielen terroristischen Taten, Anzeige kam, ist für uns leider nicht recherchierbar. aber im Grunde ist die Aussage der Studien – überspitzt – immer nur: gab es oder gab es nicht. Wir wollen da Gibt es schon erste Ergebnisse, welche Kriterien für genauer hinschauen. Denn ein Problem bleibt: Obwohl eine Ernsthaftigkeit von Leaking sprechen? Leaking seltener ist als andere Risikofaktoren, sehen wir Im Moment sind wir noch nicht so weit. Bisher lässt es natürlich häufiger als spätere Taten, die ja sehr selten sich sagen, dass wir – mit unserer breiten Definition auftreten. Beispielsweise gibt es in religiösen Kontexten von Leaking – vor allen Taten irgendeine Form des Lea- viele Menschen, die ihr Aussehen, ihre Kleidung oder kings finden konnten. In fast allen Fällen ist das zudem ihr Verhalten verändern, aber keinesfalls eine Gewalttat wiederholt passiert, was den Erkenntnissen aus der For- begehen möchten. Die Frage ist: Was spricht für eine schung zu School Shootings entspricht. Ernsthaftigkeit, was sind wirkliche Warnsignale? Wie lässt es sich erklären, dass jemand mehrfach Noch einmal zum besseren Verständnis: In welcher sagt oder postet, dass er eine Gewalttat plant, reportpsychologie ‹45› 5|2020 Form findet sich Leaking im Vorfeld terroristischer aber niemand etwas unternimmt? Taten? Mit Blick auf die School Shootings, die ich im Rahmen Wir arbeiten mit einer relativ breiten Definition. Diese meiner Dissertation untersucht habe, kann man sagen, umfasst zum einen das direkte Leaking, dass also je- dass solche Taten zu dieser Zeit in Deutschland noch mand mehr oder weniger direkt zu verstehen gibt, praktisch unbekannt waren. Also haben die Leute das dass eine Tat geplant wird. Das kann unterschiedliche eher als Gerede abgetan, nach dem Motto: So etwas 13
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