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Amtliches Schulblatt des Kantons Bern Bildungs- und Kulturdirektion (BKD) Feuille officielle scolaire du canton de Berne 1.21 Direction de l’instruction publique et de la culture (INC) März / Mars / www.bkd.be.ch Mitbestimmen | Faire entendre sa voix
Inhalt | Sommaire Politischer Kommentar | Volksschule | Regard politique Ecole obligatoire 4 Mitbestimmen: Der Weg zur gesell- schaftlichen Partizipation 30 Projekt «Deux im Schnee»: zwei Klassen + zwei Sprachen = ein Schneesportlager 5 Faire entendre sa voix est la clé de la participation à la société 32 Reportage: «Der Beruf hat doch nichts mit dem Geschlecht zu tun!» 35 Magazin | Magazine 6 Magazin | Magazine Mittelschule/Berufsbildung | Thema | Dossier: Ecoles moyennes/ Mitbestimmen Formation professionnelle Faire entendre sa voix 38 «Rent a Stift»: 9 Ich spreche, also bin ich: über Mitbestimmung und ihre Grenzen Ein Leitartikel zum Thema gesell- «Eine Perle im Berufswahlunterricht» schaftliche Teilhabe. 40 Berufsfachschulen: «Nachteilsausgleich ist keine Hexerei» 13 Mit der Stimme überzeugen Tipps und Tricks, wie sich die Wirkung der eigenen Stimme trainieren lässt. 42 Magazin | Magazine 16 «Ich bin die Lehrerin, und hier bin ich die Chefin!» Ein Interview über die Funktion und Grenzen von Autorität im Klassenzimmer. PHBern – aktuell 19 Warum es egoistisch ist, nicht in den Elternrat zu wollen Eine Glosse zum Thema Elternpartizipation. 44 Fachdidaktikmaster an der PHBern: Drei Masterstudiengänge, drei begeisterte 22 «Es hat mich schockiert, wie das in der Schweiz gelaufen ist» Eine Berner Schulklasse setzt sich mit Erfahrungsberichte der Schweizer Frauengeschichte auseinander. 46 Forschung zum Berufseinstieg: «Die Hochschule ist für den Berufseinstieg mitverantwortlich» 25 Elles et ils ne manquent pas d’idées pour leur école Une enquête auprès des élèves. 48 Reduzierte Ergänzungsprüfung ab Juni 2021 an der PHBern: Der Zugang mit Berufsmatur wird attraktiver Porträt | Portrait 50 Intensivweiterbildung Q2: «Ich als Mensch stand im Zentrum» 28 Nora Gautschy: «Manchmal muss man über seinen Schatten springen.» 53 Weiterbildung | Formation continue 55 Amtliches Schulblatt | Feuille officielle scolaire 2 EDUCATION 1.21
Editorial ÜBERZEUGEN UND ZURÜCKSTECKEN Der erste Arbeitstitel dieser EDUCATION-Ausgabe lautete «Stimme», danach folgten «Partizipation» und «Mitbestimmen!», schliesslich einigte sich die Redaktion auf «Mitbestimmen». Jeder dieser Titel wurde von jemandem verteidigt und von jemand anderem infrage gestellt, schliesslich fand das Team einen Kompromiss, der alle überzeugt hat. All diese Schritte sind zum «Mitbestimmen» eines Magazins nötig: zurückstecken, kritisieren, hinterfragen, überarbeiten, ändern, akzeptieren, 16 durchsetzen, überzeugen. Der Prozess ist abwechslungsreich und kreativ, zuweilen aber auch ärgerlich oder von Umwegen geprägt – und all dies ist absolut normal. Es ist ein Privileg, dass wir in der Arbeit und im Leben so viel mitreden oder eben «mitbestimmen» können. Wir freuen uns, dieses spannende Themenfeld auf den nachfolgenden Seiten für Sie aufzuarbeiten, und hoffen, dass wir einen kleinen Beitrag zu mehr Gehört werden und Zuhören in Klassenzimmern leisten können. CONVAINCRE, TOUT UN PROCESSUS Avant de s’accorder sur le titre de ce numéro d’EDUCATION « Faire entendre sa voix », l’équipe de traduction, comme celle de rédaction, en a envisagé plusieurs autres : « Avoir voix au chapitre », « Participer » notamment. Au sein des équipes, chacun des titres proposés a été défendu, remis en question, rejeté. Finalement, les équipes ont trouvé un titre qui a convaincu cha- cun de leurs membres. Ces étapes sont nécessaires dans la réalisation d’un magazine : céder, critiquer, remettre en question, réviser, modifier, accepter, imposer, convaincre. Ce processus est varié et créatif, parfois frustrant et marqué de détours – rien de plus normal. Avoir son mot à dire au travail et dans la vie est un privilège. Nous nous réjouissons de vous proposer une lecture sur ce sujet passionnant et espérons pouvoir ainsi contribuer aux discussions que vous avez en classe sur la thématique de faire entendre sa voix et de savoir écouter l’autre. 28 Stefanie Christ, stefanie.christ@be.ch Redaktorin EDUCATION | Rédactrice EDUCATION 32 EDUCATION 1.213
Politischer Kommentar | Regard politique MITBESTIMMEN: DER WEG ZUR GESELLSCHAFTLICHEN PARTIZIPATION Christine Häsler, Bildungs- und Kulturdirektorin christine.haesler@be.ch Mitbestimmung und Partizipation sind nicht einfache Themen in «Was kann ich als Einzelne und Einzelner schon verändern?» – dieser schwierigen Zeit. Täglich werden wir damit konfrontiert, eine Frage, die man sich rasch stellt, wenn es um diese Pandemie, dass uns die Pandemie und die entsprechenden Massnahmen aber auch um Themen wie die Klimakrise, Armut und Krieg geht. und Einschränkungen dirigieren. Man fühlt sich immer wieder Doch es ist wie beim Sprichwort: Viele kleine Menschen, die ausgeliefert und von der Krise eingeengt. Das Gefühl, selbst an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können das Gesicht kaum etwas mitbestimmen oder beitragen zu können, ist gegen- der Welt verändern. Wir vergessen dies oft. Vor allem dann, wenn wärtig stark. Das ist für Regierungsmitglieder nicht anders, auch wir allein sind. Aber in der Tat sind all die kleinen Dinge, die wir tun, ich fühle mich oft machtlos und in manch schlaflosen Nächten für das grosse Ganze unendlich wichtig. Dass wir auch in dieser auch ratlos. Krise die schwächeren Gesellschaftsmitglieder nicht vergessen, Die Krise hat viele drängende Fragen in unser Leben katapul- dass wir anderen Menschen eine Hilfe sind und uns für jemanden tiert: Wie können wir der Pandemie am besten trotzen? Welchen Zeit nehmen. Dass wir wieder Briefe schreiben oder jemanden Weg müssen wir einschlagen, um den Bedürfnissen möglichst anrufen. Dass wir versuchen, das Gegenüber zu verstehen, Streit vieler Menschen am besten gerecht zu werden und Ungleichheit zu schlichten und Lösungen zu finden. Dass wir verzeihen. All die- und Ungerechtigkeit nicht zusätzlich zu erhöhen? Wie schützen se vermeintlich kleinen Dinge haben eine grosse Wirkung. wir die gefährdeten Menschen vor einer Ansteckung? Wie schüt- Entsprechend ist auch politische Partizipation viel mehr, als zen wir die Lehrpersonen oder die vulnerablen Angehörigen von ein Amt in einer Exekutive oder Legislative innezuhaben. Auch wer Kindern? Aber auch: Wie halten wir die Kultur am Leben, wenn sich im Sozialen engagiert und Verantwortung übernimmt, macht sie nicht stattfinden darf? Wie erreichen wir, dass alle Schülerin- Politik. Wer die politische Berichterstattung mitverfolgt, mit ande- nen und Schüler mithalten können, wenn wieder Fernunterricht ren darüber diskutiert, abstimmt und wählt und sich offen äus- nötig wird? Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit alle, sert, nimmt am politischen Leben teil. Wer Vereine, Institutionen die in den Schulen arbeiten, ihre Aufgabe noch mit Freude ver- oder Gremien führt oder mitunterstützt, bestimmt in der Gesell- richten und tragen können. schaft mit und prägt sie. Mitbestimmen ist der Schlüssel zur ge- sellschaftlichen Partizipation. Foto: David Schweizer 4 EDUCATION 1.21
Politischer Kommentar | Regard politique Einzelne Stimmen können eine ganze Generation mobilisieren – das ehemalige Jugoslawien vor dem Krieg lange Zeit als Viel dies hat uns die Klimajugend gezeigt. Dabei kann das Bewusst- völkerstaat funktionierte, hatte ich Jahre vorher im Geschichts- sein für die Politik und für die grossen Fragen der Gesellschaft auf unterricht gelernt. ganz unterschiedliche Weise geweckt und geschärft werden. Die Schule spielt eine wichtige Rolle darin, bei jungen Men- Durch die Familie, die Schule oder den Freundeskreis. Womöglich schen die Lust am Mitbestimmen zu wecken. Schritt für Schritt erfährt jemand eine Ungerechtigkeit am eigenen Leib oder wird erweitert Schulbildung den Horizont der Schülerinnen und Schü- Zeuge davon. Andere werden durch politische, gesellschaftliche ler und hilft ihnen, eigene Meinungen und Standpunkte zu finden oder kulturelle (Welt-)Ereignisse politisiert. und zu festigen. Gerade in der aktuellen Zeit, in der viel Verunsi- Als junge Frau half ich während und nach dem Balkankrieg cherung herrscht, ist diese Arbeit von Ihnen allen in den Schulen mit, Hilfsprojekte in Bosnien und im Kosovo aufzubauen. Dass wertvoller und unverzichtbarer denn je. FAIRE ENTENDRE SA VOIX EST LA CLÉ DE LA PAR- TICIPATION À LA SOCIÉTÉ Christine Häsler, Directrice de l’instruction publique et de la culture christine.haesler@be.ch Le droit de s’impliquer et de participer n’est pas évident dans la autres. Ecrivons des lettres et appelons nos proches. Essayons situation actuelle. Notre quotidien est dicté par la pandémie et par de comprendre l’autre, résolvons les conflits et trouvons des solu- les mesures et restrictions qui en découlent pour l’endiguer. Nous tions. Pardonnons. Toutes ces petites choses ont un grand effet. nous sentons à la merci de la crise sanitaire et limités dans nos De même, la participation politique ne se limite pas à assurer vies. Nous avons souvent l’impression de ne plus avoir notre mot un mandat au sein de l’exécutif ou du législatif. Quiconque s’en- à dire et de ne plus pouvoir participer. Les membres du gouver- gage socialement et assume des responsabilités fait aussi de la nement n’y échappent pas. Moi aussi, la situation m’empêche de politique. Quiconque suit la politique, en parle avec autrui, vote et dormir et me laisse parfois impuissante et perplexe. s’exprime librement prend part à la vie politique. Quiconque dirige La crise sanitaire a levé de nombreuses questions pressantes ou soutient des associations, des institutions ou des organes par- sur notre vie : comment affronter avec efficacité la pandémie ? ticipe à la société et y laisse son empreinte. Faire entendre sa voix Comment agir de façon à satisfaire aux besoins du plus grand est la clé de la participation à la société. nombre et à ne pas accentuer les inégalités ? Comment protéger Certaines voix peuvent mobiliser toute une génération, les personnes vulnérables d’une infection ? Comment protéger comme nous l’ont montré les jeunes engagés pour le climat. La les enseignants et enseignantes ou les proches vulnérables des prise de conscience pour la politique et les grandes questions élèves ? Mais aussi : comment maintenir la culture en vie si elle qui animent notre société peut avoir lieu de différentes façons. ne peut s’exprimer ? Comment garantir qu’aucun élève ne dé- Elle peut être déclenchée par une personne de la famille, de croche si l’enseignement à distance s’impose de nouveau ? l’école ou du cercle d’amis qui a été victime ou témoin d’un acte Quelles conditions sont nécessaires pour que toutes les per- d’injustice. Elle peut aussi l’être par des événements politiques, sonnes qui travaillent dans les écoles puissent assumer leurs sociétaux ou culturels. tâches avec plaisir ? Dans ma jeunesse, durant et après les guerres de Yougo « Comment, en tant qu’individu, mes actions peuvent-elles slavie, j’ai participé à des projets d’aide et de reconstruction en changer les choses ? » – une question que l’on se pose fré Bosnie et au Kosovo. Je savais que, avant le conflit, l’ex-Yougo quemment à propos de la pandémie mais aussi du climat, de la slavie avait longtemps fonctionné comme un Etat plurinational. pauvreté ou de la guerre. J’avais appris cela en cours d’histoire à l’école. Mais finalement, si de nombreuses petites personnes font de L’école joue un rôle important pour éveiller l’intérêt des nombreuses petites choses à de nombreux petits endroits, elles jeunes à prendre part activement à la société. Au fil des années, peuvent changer le monde. Nous avons tendance à l’oublier, la formation scolaire élargit l’horizon des élèves et les aide à se surtout lorsque nous sommes seuls. Mais en réalité, toutes les former leurs propres opinions et points de vue. Actuellement, petites choses que nous faisons sont infiniment importantes pour alors que beaucoup d’incertitudes bouleversent nos vies, ce tra- l’ensemble. N’oublions pas les plus faibles membres de la société vail que vous réalisez dans les écoles est plus précieux et indis- durant cette pandémie. Aidons autrui. Prenons du temps pour les pensable que jamais. EDUCATION 1.215
Magazin | Magazine Nach der Sanierung von 2018/2019 Foto: Jeroen Seyffer Fotografie, Bern Ehemaliges Schulhaus Bollodingen in Bettenhausen, Dorfplatz 2, im Jahr 2003 Foto: Denkmalpflege des Kantons Bern Schulhäuser im Kanton Bern DER «BOLLODINGER SCHULSTREIT» UND GOTTHELFS STRAFVERSETZUNG Eine Serie der kantonalen D enkmalpflege Der Riegbau am Dorfplatz ist ein hervorragender Vertreter der Die Schulstube, die fast das ganze Erdgeschoss des Gebäudes für diese Region typischen Stöckli mit «Ründi» und Mansarddach. in Anspruch nahm, wurde bis 1963 genutzt. Im Obergeschoss Er wurde 1829 als Schulhaus an zentraler Lage erbaut, dies be- befand sich die Lehrerwohnung. Die Sprüche auf den Motiv zeugt auch eine Inschrift an den Bügen. Vorher hatten die Kinder kacheln am Kachelofen von 1833 haben alle einen Bezug die Schule im benachbarten Oberönz besucht. Als dort die Schul- zu Schule und Bildung, namentlich erwähnt wird unter anderem klasse auf über 200 Schülerinnen und Schüler angewachsen war, Johann Heinrich Pestalozzi: «Herr Pestalluz, der edle Mann, hat wollte man aus dem Schulverband austreten. Über die Neuver- für die Schüler sehr viel gethan.» Ab 1963 diente das Gebäude teilung des Schulvermögens und die Besoldung des Lehrers als Gemeindehaus. Nach der Fusion Bollodingens mit Betten entbrannte jedoch ein Streit, vor allem mit Oberamtmann Rudolf hausen 2011 stand es leer. 2017 bewilligte die Gemeindever- Emanuel von Effinger. Albert Bitzius, besser bekannt als Jeremias sammlung einen Kredit für seine Sanierung. In enger Zusammen- Gotthelf und damals Vikar in Herzogenbuchsee, sorgte sich um arbeit zwischen Gemeinde, Denkmalpflege und dem Architek das Auskommen des alten Lehrers und sprach sich für einen Ver- turbüro Müller + Partner, Langenthal, erfolgte der Einbau von drei bleib von Bollodingen im Schulverband aus. Er schlug aber einen hellen, modernen Wohnungen. Der Kachelofen in der ehemaligen Schulhausneubau vor. Dieser «Bollodinger Schulstreit» ging in die Lehrerwohnung ist übrigens darin erhalten geblieben, kann aber Literaturgeschichte ein und führte zu Gotthelfs Strafversetzung heute nicht mehr eingeheizt werden. Der Umbau ist ein gutes nach Amsoldingen. Für das neue Schulhaus von 1829 stellte ein Beispiel für eine zeitgemässe Sanierung und Erweiterung, die Landwirt den Garten bei seinem Bauernhaus – mitten im Dorf gleichzeitig die historischen Gegebenheiten berücksichtigt. Von bei der alten Linde – zur Verfügung. Entstanden ist eines der Dorfplatz und Strasse her betrachtet, hat das Berner Stöckli seine kleinsten Schulhäuser in der Region, die meisten anderen Dörfer historische Aussenform vollständig behalten. Der südostseitige waren in Schulverbänden organisiert. Anbau wurde ersetzt, der neue Erschliessungsanbau dient als unabhängiger Zugang zur Wohnung im nun ausgebauten Dach- geschoss. 6 EDUCATION 1.21
Magazin | Magazine Unter der Lupe FÜNF FRAGEN AN PATRICIA KOPATCHINSKAJA 1. Wenn Sie an Ihre Schulzeit den- ken, was kommt Ihnen als Erstes PATRICIA in den Sinn? Die Spiele auf dem Pausenplatz und die lustige Atmo- KOPATCHINSKAJA sphäre in der Klasse. 2. Wel- ist eine weltbekannte Geigerin cher Lehrperson würden und Grammy-Preisträgerin. Sie rückblickend eine Sie wurde 1977 in der ehe- Sechs geben, und war- maligen Moldauischen um? Ich würde keinem Sozialistischen Sowjet Menschen eine Note ge- republik geboren und be- ben. Alle meine Lehrer wa- gann im Alter von sechs ren sehr engagiert. Aber Jahren, Geige zu spielen. wenn ich jemanden nen- 1989 emigrierte ihre Fa nen müsste, dann meine milie nach Wien, im Alter Primarlehrerin. Sie hatte ein von 21 Jahren wechselte Herz und Verständnis für Patricia Kopatchinskaja uns Kinder und hat es ge- als Stipendiatin an die schafft, dass sich niemand Hochschule für Musik und ausgeschlossen fühlte. 3. In- Theater in Bern, wo sie mit wiefern hat Ihnen die Schule Auszeichnung ihre Ausbildung geholfen, Musikerin zu wer- abschloss. International beachtet den? Die alte Sowjetunion hatte wird sie für ihr eigenständiges, fan- nicht nur Nachteile: Jede Republik ver- tasievolles, leidenschaftliches Spiel – fügte über ein spezielles Musikgymnasium, und dafür, gerne barfuss aufzutreten. wo täglich neben den anderen Fächern ein fundierter Musikunterricht stattfand. Ein solches be- Foto: zvg suchte ich, und nach meiner Emigration in den Westen fand ich die Musikausbildung hier viel zu wenig intensiv. 4. Was ist das Wichtigste, was Kinder und Jugendliche heute im Kin- dergarten oder in der Schule lernen sollten? Initiative und Lehrperson? Es käme wohl auf die Schule an: Solange es auf Selbstvertrauen. Und ich wundere mich endlos über den früh- Initiative, Ideen und Fragen ankommt, könnte ich einen Beitrag morgendlichen Schulbeginn, der nicht kindgerecht ist und auch leisten. Wo Wiederkäuen von Stoff, Befolgen von Regeln und Still- von den Schulärzten abgelehnt wird. 5. Wären Sie eine gute sitzen gefordert sind, wäre ich wohl unbrauchbar … SOUHAITEZ-VOUS QU’EDUCATION ABORDE UN THÈME EN PARTICULIER ? AVEZ-VOUS DES SUGGESTIONS OU DES CRITIQUES À NOUS FAIRE ? Ecrivez-nous à e-ducation.bkd@be.ch EDUCATION 1.217
Thema | Dossier Mitbestimmen ICH SPRECHE, ALSO BIN ICH: MITBESTIMMUNG IHRE GRENZEN Das Seilziehen um das richtige Mass an Mitbestimmung zieht sich durch die Menschheitsgeschichte. Reden alle mit, bricht Chaos aus, doch wer regelt eine geordnete Partizipation? Klar ist: Für ein konstruktives Mitein- ander müssen sich die Menschen diverse Fähigkeiten aneignen, die ihnen unter anderem in der Schule vermittelt werden. Stefanie Christ / Illustrationen: David Nydegger EDUCATION 1.219
Thema | Dossier Der Lockdown kam zu früh, nein, zu spät, er war zu schwach, er Selbstbestimmte Schülerinnen und Schüler traf die Falschen! Impfen für alle, nur für jene, die wollen, also ich Dies erfolgt zum einen auf der theoretischen Ebene durch den lasse mich nicht impfen! Alte und Kranke zuerst, warum? Denken Unterrichtsstoff, basierend auf dem Grundsatz der UN-Kinder- wir doch für einmal an die ganze Gesellschaft! Der Bundesrat rechtskonvention: «Das Kind hat das Recht auf freie Meinungs- kann nichts, also ich hätte … und überhaupt! äusserung; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, ungeachtet Die Pandemie hat in Zeiten, in denen die Stadien leer blei- der Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in ben, das kollektive Fussballerlebnis ersetzt. Die Spielerinnen und Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere vom Spieler tragen keine Trikots, sondern Anzüge oder weisse Kittel, Kind gewählte Mittel sich zu beschaffen, zu empfangen und und die Zuschauerinnen und Zuschauer kommentieren mit teils übersteigertem Selbstverständnis die komplexesten Wissenschaf ten. Statt der Schiedsrichter kriegen unsere Bundesräte ihr Fett weg, und jede Wutbürgerin beziehungsweise jeder Wutbürger wäre nach eigenem Ermessen geeigneter in der Landesregierung. Alle reden mit, alle wollen mitbestimmen – doch all diese Mitbestimmen heisst also nicht nur, Stimmen müssen irgendwie gebündelt werden, sonst gibt es ein endloses Hin und Her, einen chaotischen Stillstand. Was be für sich selbst zu entscheiden, deutet also «mitbestimmen», wenn doch nicht alle sogleich ent- sondern auch für andere mitzuhandeln. scheiden können? Was ist in einer Demokratie ein faires Mass an «Mitbestimmung», und welche Schlüssel sorgen dafür, dass doch jede Stimme Gewicht hat? Gibt es Stimmen, die man über- hören darf, sind manche gar wichtiger als andere? Und wer ent- scheidet über diese Gewichtung? weiterzugeben.»2 Zum anderen erfolgt dies auf der praktischen Mitbestimmung ist kein fester Wert Ebene: Eine Klasse ist ein soziales Gefüge mit unterschiedlichs- Wie ein roter Faden zieht sich das Seilziehen um Mitbestim- ten Charakteren, in dem jede und jeder Einzelne lernen muss, mung durch die Menschheitsgeschichte. Schon in der Früh seiner Stimme Gehör zu verschaffen – untereinander, aber auch geschichte des Menschen wurde um die Vormachtstellung der gegenüber Autoritätspersonen. Diese Entwicklung kann durch Geschlechter gerungen.1 Völker bestimmten fortan über andere Formen der Schülerinnen- und Schülerpartizipation zusätzlich Völker, Ethnien betrachteten sich als überlegen gegenüber an gefördert werden. Es gibt viele Modelle der Partizipation, einige deren Ethnien, und immer wieder versuchten die Menschen, die sehen vor, dass Schülerinnen und Schüler Räte bilden oder ihre Vielseitigkeit der Existenz auf wenige gemeinsame Nenner hin- eigenen Regeln und Bestrafungen definieren können.3 Doch ist unterzubrechen – zulasten der Andersdenkenden. dies das erstrebenswerte Mass an Mitbestimmung, oder entzieht Und auch in der Gegenwart, in der wir in unserem westli- sich in einem solchen Modell die Lehrperson einfach ihrer Auto chen, wohlstandsgenährten Alltag manchmal glauben, das richti- rität? Wie viel Autorität verträgt oder braucht es als Antipol zur ge Mass gefunden zu haben, fördert eine Krise wie die Corona- absoluten Mit- oder Selbstbestimmung? «Lehrpersonen sollten pandemie auf einmal Schwächen im System zutage. Um mit der sich mit der eigenen Führung auseinandersetzen, damit sie ihre Tatsache, dass «Mitbestimmung» kein fester Wert ist und stets persönlichen Grenzen kennen und die persönliche Integrität der neu ausgehandelt beziehungsweise erkämpft werden muss, um- Kinder und Jugendlichen wahren. Wer mit sich im Reinen ist, zugehen, braucht es ein Grundverständnis der Geschichte, der wirkt authentischer und kann die rollenbedingte Autorität durch Ethik, der politischen Systeme und der menschlichen Psycho eine neue persönliche Autorität ersetzen», so Sabine Lütolf, Do- logie, das u nter anderem im Unterricht vermittelt wird. zentin am Institut für Weiterbildung und Medienbildung IWM, PHBern, im Interview (mehr ab Seite 16). Hohe Stimmen im Nachteil Das Gehörtwerden ist aber nicht nur eine Frage der Partizi pation, sondern auch der Anatomie. Hohe, schwache Stimmen werden gemäss zahlreichen Studien schneller überhört und wir- ken gemeinhin weniger souverän als tiefer gelagerte Stimmen. 1 Lars Hennings «Den Himmel stützen! Prozess, Kognition, Macht, Geschlecht – soziologische Reflexionen zum Jung-Paläolithikum», Gesis Berlin, 2014. (Wo jene in der Hackordnung stehen, die über gar keine Stimme 2 Art. 13 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention, online auf: verfügen, können Sie sich ausmalen.) Noch bis vor wenigen Jah- https://www.unicef.ch/de/ueber-unicef/international/kinderrechtskonvention. ren wurden Frauenstimmen im Radio und im Fernsehen «ge- 3 Verschiedene Schulbeispiele von Partizipation finden Sie unter anderem auf: https://www.schulnetz21.ch/prinzipien/partizipation. drückt», doch Obacht: Auch eine zu tiefe Frauenstimme klingt 4 Cara C. Tigue, Diana J. Borak, Jillian J.M. O’Connor, Charles Schandl, naiv, zumindest, wenn sie zu Vibrieren beginnt (sogenannt Voice David R. Feinberg: «Voice pitch influences voting behavior», Fry).4 Trotzdem: In den vergangenen Jahrzehnten wurden Frauen- Evolution and Human Behavior 33, 2012. 5 Vgl. «Die psychologische Wirkung von Stimme und Sprechweise» stimmen gemäss zahlreichen Studien im Durchschnitt tiefer, was von Walter Sendlmeier aus dem Sammelband «Resonanzräume», sich weder evolutionsbedingt noch hormonell erklären lässt. Da http://www.kw.tu-berlin.de/fileadmin/a01311100/Studiengaenge/2012_ Frauen in emanzipierteren Gesellschaften kontinuierlich tiefer Resonanz-Raeume_W_Sendlmeier.pdf. 6 Mehr Informationen auf www.nb.admin.ch > Ausstellungen. sprechen als in anderen Regionen, liegt der Schluss nahe, dass 7 Mehr Informationen auf stattland.ch > Schulen > Berner Rathaus. es sich um ein soziologisches Phänomen handelt.5 Personen mit 10 EDUCATION 1.21
Thema | Dossier hohen Stimmen haben also bis heute eher einen Nachteil beim Sich-Gehör-Verschaffen. Was die Stimme sonst noch für Aus SYNTHÈSE : JE PARLE, DONC wirkungen auf unsere Wirkungen hat und wie sie sich bestmög- lich trainieren lässt, lesen Sie ab Seite 13. JE SUIS : LES LIMITES DE LA DÉMOCRATIE Mitbestimmen, mithandeln, zurückstecken Bestimmt hatte die Tonlage keinen Einfluss auf die Tatsache, Depuis la nuit des temps, on s’intéresse au droit à faire entendre dass die Schweizerinnen bis 1971 kein Stimm- und Wahlrecht sa voix. Mais où s’arrête ce droit ? Si tout le monde intervient, besassen und somit politische und gesellschaftliche Entschei- c’est le chaos garanti. Qui assure donc une participation ordon- dungen nur indirekt mitprägen konnten. Vor 50 Jahren, nach lan- née ? Une chose est sûre : pour que la cohabitation soit fruc- gen Jahrzehnten Vorarbeit, wurde schliesslich an der Urne dies- tueuse, chacun doit acquérir diverses aptitudes, qui sont notam- bezüglich Gleichberechtigung geschaffen. Zum Jubiläum setzen ment enseignées à l’école. sich auch zahlreiche Schulklassen mit der Schweizer Frauen Une classe est une entité sociale aux personnalités les plus geschichte auseinander. Eine Berner Klasse hat beispielsweise diverses. Chacun doit apprendre à se faire entendre – au sein mitgeholfen, Porträts von Pionierinnen für eine Ausstellung auszu- du groupe, mais aussi auprès des représentants de l’autorité. wählen – und dabei viel über dieses wichtige Geschichtskapitel Cet apprentissage peut être encouragé par la participation des gelernt (mehr dazu s. Seiten 22–23). élèves, sous différentes formes. Il existe en effet de nombreux Doch es ist nicht nur ein Blick in die Vergangenheit. Die Aus- modèles de participation. Certains prévoient que les élèves for- einandersetzung mit der Frauengeschichte fördert auch mehr ment un conseil ou définissent leurs propres règles et sanctions. Verständnis für aktuelle Missstände. Denn auch heute verfügt ein Ce type de modèle propose-t-il la dose souhaitée de participa- Teil der Gesellschaft an der Urne über keine Stimme: Migran tion active ou ôte-t-il simplement son autorité à l’enseignant ou tinnen und Migranten, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren enseignante ? Quel degré d’autorité est nécessaire pour contre- balancer le droit absolu à donner son avis et à disposer librement de soi ? « Les enseignants et enseignantes doivent remettre en question leur style de conduite afin d’identifier leurs limites per- sonnelles et de protéger l’intégrité individuelle des élèves. Une fois ce travail réalisé, ils sont perçus de façon plus authentique Auch heute verfügt ein Teil et peuvent remplacer l’autorité liée à leur fonction par une nou- velle autorité personnelle », explique Sabine Lütolf, professeure à der Gesellschaft an der Urne l’Institut für Weiterbildung und Medienbildung de la Haute école über keine Stimme. pédagogique germanophone bernoise (PHBern), dans un entre- tien (lire aussi page 16). Savoir faire entendre sa voix n’est toutefois pas seulement une question de participation mais aussi une question d’anatomie. Selon de nombreuses études, les voix aiguës sont plus souvent ignorées et évoquent moins d’assurance que les voix plus graves. oder bevormundete Personen. Diese Problematik wird ab Sep- Il y a quelques années encore, les voix féminines à la radio et à tember 2021 im Fokus der Ausstellung «Jetzt wählen!» in der la télévision étaient modifiées pour qu’elles sonnent plus graves. Schweizer Nationalbibliothek stehen.6 Und der Verein StattLand Le timbre de voix n’était toutefois certainement pas la raison bietet für Schülerinnen und Schüler der 7. Klasse einen Stadt- pour laquelle les Suissesses ont dû attendre 1971 pour avoir le rundgang in Bern zum Thema «Politische Mitbestimmung im droit de vote. Il y a cinquante ans, après de longues décennies Wandel» an.7 de lutte, les femmes obtiennent enfin l’égalité devant les urnes. Mitbestimmen heisst also nicht nur, für sich selbst zu ent- A l’occasion de ce cinquantenaire, de nombreuses écoles ont scheiden, sondern auch für andere mitzuhandeln – was zuweilen abordé l’histoire des femmes en Suisse. Une classe bernoise bedeuten kann, seine eigenen Bedürfnisse zurückzustecken. So- a par exemple contribué à la sélection de portraits de pionnières lidarität und verantwortungsbewusstes Handeln: Noch immer pour une exposition, apprenant beaucoup sur ce chapitre impor- bereitet dies zu vielen Mühe, wie das Weltgeschehen mit ermü- tant de l’histoire (lire aussi page 13). dender Regelmässigkeit vor Augen führt. Umso inspirierender ist Se pencher sur la question de la place des femmes dans es, motivierten Kindern und Jugendlichen zuzuhören, die bereit l’histoire aide aussi à comprendre les inégalités actuelles. En sind, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen (s. Sei- effet, aujourd’hui encore, une partie de la société n’a pas le droit ten 25–26) – in der Schule und überall. de voter : les personnes immigrées, les enfants et jeunes de moins de 18 ans ou encore les personnes sous tutelle. Faire en- tendre sa voix ne signifie pas seulement décider pour soi-même mais aussi agir pour les autres. Pour beaucoup, cela est encore difficile à accepter, comme le montrent sans cesse les événe- ments qui se passent dans le monde. Il est alors d’autant plus inspirant d’écouter des enfants et des jeunes motivés qui sont prêts à prendre leurs responsabilités pour eux-mêmes et pour les autres (lire page 25) – à l’école comme en dehors. EDUCATION 1.2111
Thema | Dossier 12 EDUCATION 1.21
Thema | Dossier Mitbestimmen MIT DER STIMME ÜBERZEUGEN Iris Frey Frauen mögen tiefe Männerstimmen, Männer lieben hohe Frauen- stimmen. Klischee oder Fakt? So oder so: Entscheidender als die Stimmlage ist, dass die Stimme kompetent, souverän und sympathisch klingt. Obwohl jeder gesunde Mensch über sein eigenes Instrument verfügt, hat es im Gebrauch seine Tücken. Lehrerinnen und Lehrer können ein Lied davon singen … «Geschätzte Fluggäste, hier spricht Ihr Kapitän.» Diese Durch Oftmals haben wir eine klare Vorstellung davon, wenn auch häu- sage liess einen, als man noch ungeniert um die Welt gejettet fig eine falsche, wer sich hinter einer bestimmten Stimme ver- ist, aufhorchen – und beruhigt zurücklehnen, wenn das Stimm- birgt. Dies belegen unzählige Forschungsergebnisse. In einem organ des Kapitäns Kraft und Ruhe suggerierte. Trotz einer hoch von englischen Forschern durchgeführten Experiment etwa be- entwickelten Sprache ist die Sprechweise für uns Menschen im- kamen junge Männer ab Band verschiedene Frauenstimmen zu mer noch wichtiger als der Inhalt des Gesagten – eine Technik, hören, die in der Tonhöhe und im Sprechstil teilweise verändert die wir aus dem Tierreich entlehnt haben. «Im rechten Ton kann worden waren. Für besonders attraktiv hielten die testenden man alles sagen, im falschen nichts», wird der Schriftstellers Männer jene Frauen, die mit relativ hoher oder zart hingehauchter George Bernard Shaw zitiert,1 der um die grosse Wirkung der Stimme sprachen. Allzu hohe, piepsige oder kreischende Stim- menschlichen Stimme wusste. Mit der Stimme übertragen wir men kamen aber nicht gut an, schreibt Andrea Köhler im Feuille- neben verbalem Inhalt Stimmungen und emotionale Zustände auf ton der NZZ.4 das Gegenüber. Eine kräftige Stimme kann motivieren und be- Eine spätere Studie kam denn auch zum Ergebnis, dass tie geistern, während eine kraftlose langweilt und zum Weghören fere Frauenstimmen auf Männer ebenfalls ihren Reiz haben – und animiert, schreibt Ingrid Amon in «Die Macht der Stimme».2 vor allem von Kompetenz zeugen. Um diese Karte ausspielen zu können, soll Margaret Thatcher, die «Eiserne Lady», ihre Stimme Klingende Visitenkarte mit eisernem Training um mindestens eine halbe Oktave tiefer Damit die Stimme funktioniert, muss im Körper eine Vielzahl von gebracht haben.5 In den letzten Jahrzehnten sind indes Frauen Organen und Systemen zusammenspielen: Atmung, Stimmbän- stimmen generell tiefer geworden – ein Ergebnis, das Forschende der, Artikulationswerkzeuge, Körperhaltung, Gehör und Mental- der Emanzipation zuschreiben. präsenz ergänzen sich zum stimmlichen Ausdruck. Dazu kom- Männer mit einer tiefen Stimme wiederum machen auf beide men psychologische Faktoren und machen die Stimme und die Geschlechter Eindruck. Auf Frauen wirken sie anziehend, auf Sprechweise im besten Fall zu einer klingenden Visitenkarte.3 Männer einschüchternd. Zu diesem Ergebnis sind Forscher der Pennsylvania State University (USA) gelangt.6 In einem Experi- ment zeichneten sie die Stimmen von 175 Männern auf und lies- sen sie von heterosexuellen Versuchsteilnehmenden beurteilen. Der einschüchternde Effekt einer tiefen Männerstimme auf Ge- 1 www.zitate.eu/autor/george-bernard-shaw-zitate/167617 2 Die Macht der Stimme, Ingrid Amon (2000) Wien, Überreuter. schlechtsgenossen war dabei deutlicher als die Anziehungskraft 3 Ebenda auf Frauen. 4 Andrea Köhler, NZZ Feuilleton, 23.9.2019, www.nzz.ch/feuilleton/ unsere-stimme-ist-die-tonspur-unseres-innenlebens-ld.1509503 5 www.finews.ch/themen/finews-life/38951-frauen-maenner-studie-stimme- Souverän sollen Stimmen klingen tief-sprechen-thatcher-holmes-theranos Nicht die Tiefe einer (Männer-)Stimme machts aus, fand die 6 www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/stimmlage-tiefe-maennerstimmen- Phonetikerin Vivienne Zuta in ihrer Doktorarbeit an der Goethe- beeindrucken-beide-geschlechter-a-1089387.html 7 www.welt.de/wissenschaft/article2568758/Welche-Stimme-Maenner- Universität Frankfurt heraus.7 Die Sprachmelodie und -geschwin- sexuell-attraktiv-macht.html digkeit seien ausschlaggebend dafür, ob der Redner oder die EDUCATION 1.2113
Thema | Dossier Rednerin kompetent und anziehend wirkt. Zutas Buch zu den Forschungsergebnissen trägt denn auch den Titel «Warum tiefe TRAININGSTIPPS VON STIMM Männerstimmen doch nicht sexy sind» (Fischer Verlag). Das Fazit der Forscherin: Gut kommen bei beiden Geschlechtern souverän COACH BIRGIT ELLMERER klingende Stimmen an. Dazu gehört, dass in der individuellen Ton – Trinken Sie regelmässig und viel. Durch das Maskentragen lage in einem angemessenen Tempo geredet wird. Langsames in der Coronapandemie trocknen die Stimmbänder stärker Sprechen und viele Verzögerungslaute – «Werte Fluggäste, ähm, aus als üblich. wenn Sie aus dem Fenster links schauen, ehm, sehen Sie, ähm …» – – Gewöhnen Sie sich das Räuspern ab. Diese unschöne gehören nicht ins Konzept einer souveränen Stimme. Angewohnheit wirkt schädigend auf den Stimmapparat, Die Stimme prägen Eigenschaften wie Tonhöhe, Stimmklang behindert den Sprechfluss und stört beim Zuhören. und Satzmelodie; die Sprechweise kennzeichnen die Sprech Husten sie stattdessen ab, was stört. geschwindigkeit, Artikulationsgenauigkeit, Rhythmik und die Pau- – Summen wärmt die Stimmmuskulatur auf und bringt den sen. Viele dieser Eigenschaften lassen sich trainieren, schlechte Stimmsitz nach vorne. Wenn Sie zum Summen noch Angewohnheiten ändern. Das wussten schon die alten Griechen. Kaubewegungen machen, lockert das die Kiefermuskulatur. Laut Brockhaus8 war der Eifer des grossen griechischen Redners – Legen Sie die Zunge auf die Unterlippe und lassen Sie Demosthenes (geb. 381 vor Christi Geburt), die Kunst des Vor- den Unterkiefer hängen. Sieht blöd aus – bringt aber trags zu erwerben, so gross, dass er sich den Kopf kahl schor, den Speichelfluss in Gang, der den Mund beim Sprechen um zu Hause bleiben zu müssen und zu üben. Um sich zu per feucht halten soll. fektionieren, beobachtete er sich beim Sprechen in einem Spie- – Affensprache: Zunge zwischen unterer Zahnreihe und gel und schliff mit Kieselsteinen im Mund (!) im wortwörtlichsten Unterlippe platzieren und dann sprechen. Danach fällt das Sinn an seinen Reden. normale Sprechen plötzlich ganz leicht. Der Lehrberuf: Hochleistungssport für die Stimme www.ellmerer.ch; stimme.at Die heutige, kommunikationsgeprägte Gesellschaft stellt hohe Er- wartungen an die menschliche Stimme. Dies gilt ganz besonders für Schulpersonal: Als Lehrerin oder Lehrer, Tagesschulmitarbei- terin oder Schulsozialarbeiter, Heilpädagogin oder in der Schul- leitung navigieren sie die Klasse, die Schülerinnen und Schüler oder die gesamte Schule mit hohem stimmlichem Einsatz durch den Alltag. Das kann ganz schön anstrengend sein – Hochleis- tungssport für die Stimme. Laut einer deutschen Studie hat denn ASTUCES POUR TRAVAILLER auch jede vierte Lehrperson Probleme mit der Stimme.9 Eine, die weiss, wie man das Beste aus der eigenen Stimme SA VOIX PAR LA COACH VOCALE herausholt, ist Birgit Ellmerer, die unter anderem in der Weiter BIRGIT ELLMERER bildung für Lehrpersonen an der PHBern das Modul «Stimm training für Lehrpersonen» unterrichtet. «Kaum ein Training zeigt – Buvez régulièrement et en grande quantité. En raison du port schnellere Erfolge als die Arbeit an unserer Stimme», sagt die du masque en cette période de pandémie de coronavirus, Stimmexpertin. Bereits nach fünf Stunden könne man häufig les cordes vocales sont plus sèches que d’habitude. schon erkennbare Verbesserungen verzeichnen. Stimmtraining – Déshabituez-vous à vous racler la gorge. Cette mauvaise wirkt laut Ellmerer positiv auf die Persönlichkeit und die Präsenz habitude abîme l’appareil vocal, gêne le débit de parole des Sprechers. «Indem wir das Potenzial unserer Stimme ent et n’est pas agréable à entendre. Il vaut mieux tousser pour falten, wirkt unser gesamter Auftritt authentisch, glaubwürdig und évacuer ce qui vous dérange. schliesslich erfolgreich. Mit gezielten Übungen wird eine schwa- – Fredonner permet d’échauffer les muscles utilisés pour che, dünne Stimme voluminöser und tragfähiger, eine harte Stim- parler et de placer la voix vers l’avant. En fredonnant, me weicher, eine zittrige stabil und eine schrille Stimme wärmer», vous pouvez aussi faire des mouvements de mastication ergänzt die Stimmexpertin – und gibt ein paar Trainingstipps mit afin de détendre la mâchoire. auf den Weg (siehe Kasten). Denn das nächste Stimmtraining an – Posez la langue sur votre lèvre inférieure et laissez pendre la der PHBern findet erst wieder im Herbst statt. Sie können sich auf mâchoire. Cela a l’air bête, mais permet d’activer la salivation eine Interessiertenliste10 eintragen. Individuelles Stimmcoaching afin que votre bouche reste humide lorsque vous parlez. sei laut Birgit Ellmerer auch per Zoom möglich und werde zurzeit – Faites le singe : placez la langue entre les dents et la lèvre wegen Stimmproblemen im Zusammenhang mit der Masken inférieure et parlez. Vous verrez après que parler normale- tragepflicht im Unterricht rege genutzt. ment semble tout d’un coup très facile. Alternativ empfehlen wir, die Stimme wie Demosthenes, mit oder ohne Kieselsteine im Mund, vor einem Spiegel zu Hause zu www.ellmerer.ch ; stimme.at trainieren … 8 http://www.zeno.org/Brockhaus-1809/A/Demosthene 9 www.uni-marburg.de/de/zfl/aktuelles/nachrichten/20121103stimmelehrer 10 https://www.phbern.ch/weiterbildung/16018095-stimmtraining-fuer- lehrpersonen 14 EDUCATION 1.21
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Thema | Dossier Mitbestimmen «ICH BIN DIE LEHRERIN, UND HIER BIN ICH DIE CHEFIN!» Interview: Martin Werder Fotos: Pia Neuenschwander Ein Interview zum Thema Autorität mit Patrick Figlioli, Bereichsleiter Berufsbiografie, Beratung und Unterstützung, Institut für Weiterbildung und Medienbildung (IWM), PHBern, und Sabine Lütolf, Dozentin, am gleichen Institut. Welche Beziehung haben Sie Stärke ausstrahlt und auf gegenseitigem Machtposition subtil auszunutzen, um die persönlich zum Thema Autorität? Respekt beruht. eigene Stellung zu festigen. Patrick Figlioli Autorität wird jemandem Sabine Lütolf Der Begriff Autorität ist für Anerkannte Autoritäten können zugesprochen oder im andern Fall von mich persönlich positiv besetzt. Ich erin grösstenteils auf autoritäres Verhal- einem Teil der Schülerinnen, Schüler oder nere mich an Führungskräfte, die aus sich ten verzichten, schrieb die Philoso- Mitarbeitenden verweigert. Gleichzeitig be selbst heraus eine Autorität ausstrahlten phin Hannah Arendt einmal. Können inhaltet sie eine Beziehungsfähigkeit. Wich und mich in Bann zogen. Es handelte sich Lehrerpersonen vollständig auf tig ist dabei, wie die zwischenmenschliche dabei um besonnene Persönlichkeiten, die Befehl und Gehorsam verzichten? Interaktion geprägt ist: Denn Autorität er- mir auf Augenhöhe begegneten. Autorität Figlioli Anerkennung erhalten wir dann, zielt dann eine positive Wirkung, wenn sie kann aber auch dazu verleiten, die eigene wenn wir in unserem Denken und Handeln 16 EDUCATION 1.21
Thema | Dossier Sabine Lütolf und Patrick Figlioli im Gespräch mit EDUCATION über das richtige Mass an Autorität im Klassenzimmer. authentisch sind. Ein authentisches Auf- che die Beziehung zu den Schülerinnen treten ist eine Voraussetzung, um Bezie- und Schülern tragfähig macht. Eine päda- SABINE LÜTOLF hungen zu gestalten. Es gibt Menschen, gogische Autorität respektiert das Gegen- ist Dozentin und Beraterin im Bereich die mit ihren Erzählungen faszinieren kön- über in seiner Eigenheit und fordert den- Unterrichtscoaching an der Pädagogi- nen. Dies gelingt ihnen, weil sie das Er- selben Respekt auch ein. schen Hochschule Bern (PHBern). zählte selbst leben, praktizieren und pfle- Figlioli Die pädagogische Autorität be- Sie ist Primarlehrerin und bildete sich gen. Sie senden eine ungetrübte positive zieht sich auf einen klaren Rahmen mit ge- anschliessend in Sozial- und Erziehungs- Energie aus, die ausgesprochen lustorien- meinsam vereinbarten Regeln. Für die Um- wissenschaften weiter. Sie ist 46-jährig tiert ist. Energie, Lust und Freude schöp- setzung ist die Lehrperson verantwortlich, und wohnt in Thun. fen wir, wenn wir uns selbst gut kennen. was sie überzeugend und selbst sicher Selbstkenntnis ist ein wichtiger Grund- machen darf. Innerhalb der ge meinsam stein dazu. Wenn wir diesen Weg wählen, festgelegten Leitplanken sind Freiheiten können wir auf autoritäres Verhalten als wichtig – da wir davon ausgehen, dass PATRICK FIGLIOLI Machtmittel verzichten. das Kind intrinsisch motiviert ist, sich zu ist promovierter Psychologe und Psycho- Lütolf Für Lehrpersonen ist es hinder- entwickeln. Ein hohes Mass an Selbst therapeut FSP. Er liess sich ursprünglich lich, eine Machtposition einzunehmen, in bestimmung und Selbstwirksamkeit wirkt zum Primarlehrer ausbilden. Heute arbeitet der es Zwang und autoritäres Verhalten sich positiv auf die ganze Lebensgestal- er als Dozent und Berater an der Pädago- braucht. Charakteristisch für dieses Füh- tung aus. gischen Hochschule Bern (PHBern) und rungsverständnis ist das Pochen auf die Wie ist es möglich, eine eigene ist Bereichsleiter für Berufsbiografie, eigenen Vorrechte: «Ich bin die Lehrerin, Autorität aufzubauen? Beratung und Unterstützung. Patrick und hier bin ich die Chefin!» Es ist wichtig, Lütolf Diese Frage hängt sehr stark da- Figlioli ist 41-jährig und wohnt in Spiegel dass Lehrpersonen sich mit der eigenen von ab, wie weit jemand bereit ist, sich bei Bern. Führung auseinandersetzen, damit sie ihre mit sich selbst auseinanderzusetzen. Eine persönlichen Grenzen kennen und die per- eigene Autorität aufbauen hat mit Per sönliche Integrität der Kinder und Jugend- sönlichkeitsentwicklung zu tun und lässt lichen wahren. Wer mit sich im Reinen ist, sich daran festmachen, wie wir in einzel- wirkt authentischer und kann die rollen nen Situationen reagieren und dies auch Grundhaltung und der Mut, sich zu öffnen, bedingte Autorität durch eine persönliche transparent zeigen können. Die eigene Au- sind erste Schritte, die zu einer Bezie- Autorität ersetzen. torität muss authentisch durch den per- hung führen können. «Hier komme ich an Wie würden Sie pädagogische sönlichen Stil der Lehrperson gefüllt sein. meine Grenzen» oder «Dies stört mich» Autorität umschreiben? Wer authentisch sein will, muss in sich hi bietet Orientierung und legt offen, was ich Lütolf Unter pädagogischer Autorität ver- neinhorchen und erkennen, welches die denke und fühle. Gefühle bieten einen stehe ich die Fähigkeit von Lehrpersonen, eigenen Bedürfnisse sind, und diese äus- wichtigen Wegweiser, was gut oder was sich auf Augenhöhe mit den Schülerinnen sern lernen, in klaren, echten Botschaften. schlecht für mich ist. Ich beobachte, dass und Schülern zu begeben. Die Lehrperson Figlioli Beziehung entsteht durch Ver viele Menschen überreguliert sind, d. h., stellt damit eine Gleichwertigkeit her, wel- trauen und nicht umgekehrt. Eine positive dass sie ihre eigenen Gefühle nicht mehr EDUCATION 1.2117
Thema | Dossier wahrnehmen und entsprechend nicht mit- einungsbildung anleiten. Wie viel M autonom etwas zu gestalten. Damit erlebt teilen, was zu Unklarheit führt. Ein adä Selbstbestimmung ist für Kinder es seine Selbstwirksamkeit. Es lernt da- quater Ausdruck der eigenen Gefühle ist gut? bei, für sein Verhalten, sein Lernen und für eine natürliche, authentische Autorität Figlioli Selbstbestimmung bedeutet nicht, schliesslich auch für sein Leben persönli- grundlegend. dass wir Raum zu einem Laisser-faire che Verantwortung zu übernehmen. Wenn Wie lassen sich zum Beispiel Klas- im Unterricht geben sollten. Laissez faire wir Kinder zum Gehorsam erziehen, errei- senregeln durchsetzen, ohne in heisst für mich Desinteresse, Abwesenheit chen wir wahrscheinlich das Gegenteil. einen autoritären Ton zu verfallen? und Egoismus. Kinder kommen auf die Positiv ist, dass Autoritäten Sicher- Lütolf Sinnvoll ist, Klassenregeln im Dia- Welt mit der intrinsischen Motivation zu heit bieten und Orientierung geben. log festzulegen, indem wir die Betroffenen zu Beteiligten machen. Es geht darum, die Schülerinnen und Schüler einzubeziehen, damit die Verantwortung geteilt wird. Ein Strich oder ein Minuspunkt hilft nicht wei- ter, wenn Regeln nicht eingehalten werden. «Wichtig ist, dass wir nicht eigene oder Wichtig ist, nach dem Grund zu fragen, ungelebte Bedürfnisse auf andere Menschen warum es der betreffenden Schülerin, dem betreffenden Schüler nicht gelingt, diese projizieren, sondern Spielraum zu befolgen. Das Nichteinhalten soll eine für die eigene Entwicklung lassen.» Konsequenz haben, sie muss aufgrund Patrick Figlioli einer Auseinandersetzung mit dem Fehl- verhalten und einer daraus entstehenden gemeinsamen Abmachung erfolgen. Figlioli Ein Beispiel aus einer Beratungs- situation: Im Klassenrat stellte ein Schüler zu den Klassenregeln die Frage, warum lernen. Es ist wichtig, dass wir ihnen einen Welche Gefahren sehen Sie im Lehrerinnen und Lehrer eigentlich keine Spiegel ihres Verhaltens und ihrer Gefühle Umgang mit Macht und Autorität? Striche erhalten. Die Antwort der Lehrper- zur Entwicklung einer Identität geben und Figlioli Das grösste Machtgefälle besteht son war: «Weil ich Lehrerin bin!» Die Schü- sie eine Resonanz erhalten. Entsprechend zwischen Erwachsenen und Kindern. Am lerfrage ist berechtigt, die Antwort weist ist es sinnvoll, wenn Lehrpersonen den stärksten ausgeprägt ist dies im Eltern- auf eine möglicherweise geringe Selbst Kindern spiegeln, wie ihre Erfahrungen haus und dann in der Schule. Lehrper reflektion der Lehrperson hin. Die Durch- und Beobachtungen einzuordnen sind. sonen sind zum Glück mehrheitlich eine setzung von Klassenregeln muss im Dia- Eine wichtige Voraussetzung dazu ist, grosse Ressource fürs Leben, was mir in der eigenen Praxis als Therapeut häufig entgegenkommt. Das ist schön! Sie kön- nen aber – im schlimmsten Fall – einer Schülerin, einem Schüler eine grosse Last sein. Studien am Institut für Menschen- «Unter pädagogischer Autorität verstehe rechte in Berlin zeigen, dass fünf Prozent ich die Fähigkeit von Lehrpersonen, von allen pädagogischen Interaktionen von Lehrpersonen sehr verletzend sind sich auf Augenhöhe mit den Schülerinnen und 20 Prozent als leicht verletzend ein und Schülern zu begeben.» gestuft werden. Das Machtgefälle wird oft missbraucht, um die eigene Unsicher- Sabine Lütolf heit oder die Angst vor dem Scheitern zu überspielen. Lütolf Zu verletzenden Aussagen kommt es oft dann, wenn wir die nötige Gelassen- heit verlieren. Dann spitzt sich ein Streit- log geschehen und eine Sinnhaftigkeit dass wir nicht eigene oder ungelebte Be- gespräch zu einem eigentlichen Macht- haben. Wenn die Lehrperson die Schüler dürfnisse auf andere Menschen projizie- kampf zu, in der eine Person gewinnt und ernst nehmen will, dann braucht es eine ren, sondern Spielraum für die eigene Ent- die andere verliert – wie auf einer Bühne, gegenseitige Annäherung und möglicher- wicklung lassen. und alle schauen zu. Dabei schwingt auch weise die Einführung einer Regel für die Lütolf Wenn ein Kind innerhalb eines vor- die Angst mit, die eigene Autorität zu ver- Lehrperson. gegebenen Rahmens selbstbestimmt et- lieren. Am besten ist, deeskalierend zu wir- Wir möchten Kinder zum eigenen was tun kann, ist es meist motivierter. Oft ken, ein Unentschieden zu erreichen und unabhängigen Denken und zur wird dann beim Kind ein Wille spürbar, von der Bühne wieder herunterzusteigen. 18 EDUCATION 1.21
Thema | Dossier Mitbestimmen – eine Glosse WARUM ES EGOISTISCH IST, NICHT IN DEN ELTERNRAT ZU WOLLEN Maria Künzli Dass sich Eltern über einen Elternrat in der Schule einbringen können, ist eine gute Sache. Doch es ist für Lehrpersonen nicht immer leicht, Freiwillige dafür zu finden. Was geht im Kopf eines Elternteils vor, das sich enthält? Eine Glosse von einer Verweigerin. Ich bekenne mich schuldig: Ich will nicht in den Elternrat. Und Vertreters im E lternrat» an der Reihe ist, eine von denen, die sich ein bisschen schäme ich mich dafür. Denn natürlich finde ich es hinter dem sowieso schon kleinen Kinderpult noch kleiner ma- gut, dass es diese Form der Elternmitwirkung gibt. «Es ist nur von chen und beschämt auf ihre am Pultdeckel oder am Bauch fest- Vorteil, wenn Eltern nicht nur heimlich über die Schule und die klebenden Hände blicken. Gute Gründe, warum ich mich im El- Lehrpersonen schimpfen, sondern aktiv in die Pflicht genommen ternrat engagieren sollte, gäbe es einige. Zum Beispiel bin ich werden.» Viele Eltern wissen ganz genau, wie es die Lehrerin oder zwar auch beruflich eingespannt, aber ich könnte mir zwei bis drei der Lehrer handhaben sollte, wie ihre Sprösslinge gefördert wer- Sitzungen pro Jahr einrichten, rein organisatorisch wäre das den müssten, was man wo im Schulhaus erneuern und anschaf- durchaus machbar. Ausserdem habe ich nur ein Kind und keine fen sollte. Für solche Eltern ist es gut, wenn sie selbst erleben, Ausrede, dass ich schon die Klassen meiner anderen vier Spröss- dass nicht immer alles so einfach und klar ist, wie sie denken. linge im Elternrat vertrete. Ich bin keine von ihnen. Ich verfüge über genug Selbstkritik Trotzdem. Wenn die Lehrperson dann sagt: «Wer meldet sich und Realitätssinn, um zu wissen, dass ich nie und nimmer eine freiwillig?», krame ich manchmal ein Taschentuch hervor und gute Lehrerin wäre. Ich hätte keine Geduld, zu wenig Disziplin, schnäuze, oder ich täusche einen Hustenanfall vor. Weil niemand eine zu leise Stimme und ja, manche Kinder würden mir einfach jemanden anspricht oder aufruft, der gerade am Husten oder grauenhaft auf die Nerven gehen. Deshalb haben alle Lehrper Schnäuzen ist. Das hat auch schon früher in der Schule funk sonen dieser Welt meine grösste Bewunderung dafür, dass sie tioniert. Natürlich ist das erbärmlich. Und die Gründe, weshalb tun, was sie tun. Natürlich ist auch mein Kind* das beste, klügste ich nicht in den Elternrat will, sind es ebenso, weil es vor allem und tollste von allen, aber ich weiss, dass auch es nicht immer egoistische sind. ein Lämmchen ist. Das Verständnis ist also vorhanden, wenn es mal von der Lehrperson «Schimpfis» bekommt. Verkehrssicherheit versus Netflix Erstens: Ich habe keine Lust, mich an einem freien Abend mit Das gleichschenklige Dreieck anderen Eltern zu treffen und über Verkehrssicherheit auf dem Natürlich ist das keine gute Ausrede, um sich der Elternmit Schulweg, Handynutzung auf dem Pausenplatz und den Lehr- wirkung zu entziehen. Eltern können auf diese Weise wichtige plan 21 zu diskutieren. Ich will an freien Abenden Wein trinken Inputs von aussen in die Schule bringen und umgekehrt. Lehr- und Netflix schauen. personen, Schülerinnen/Schüler und Eltern bilden ein dynami- sches gleichschenkliges Dreieck, in dem jede und jeder seine Rolle, Aufgabe und Berechtigung hat. Austausch ist gut. Diskus- sionen sind wichtig. Gegenseitige Motivation. Allseitiges Ver- ständnis. Horizonterweiterung. Selbstloses Engagement. Mit bestimmung. Demokratie. Und so weiter. Dennoch bin ich an * Name des Kindes ist der Redaktion bekannt. Elternabenden, wenn das Traktandum «Wahl der Vertreterin/des Es möchte lieber anonym bleiben. EDUCATION 1.2119
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