APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - BPB

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APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
                            30–31/2010 · 26. Juli 2010

                       Deutsche Einheit
                                           Konrad Weiß
                                   Zwanzig Jahre danach

                                         Raj Kollmorgen
                          Diskurse der deutschen Einheit

                                      Klaus Schroeder
               Deutschland nach der Wiedervereinigung

                                            Rolf Reißig
   Auf dem Weg zur zukunftsorientierten Transformation

                                      Michael C. Burda
        Wirtschaft in Ostdeutschland im 21. Jahrhundert

                                       Rüdiger Thomas
                   Deutsche Kultur im Einigungsprozess

                                             Felix Ringel
         Hoytopia allerorten? Von der Freiheit zu bleiben
Editorial
  Seit dem Beitritt von fünf neuen Bundesländern zum Gel-
tungsbereich des Grundgesetzes sind fast zwanzig Jahre vergan-
gen. Jahrzehntelang blieb die Aufforderung in der Präambel, „in
freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands
zu vollenden“, eine Utopie, fern wie ein Stück Mondgestein. Als
die Macht der SED gebrochen war, wählten die Bürgerinnen
und Bürger der DDR den möglichst raschen Beitritt. Der weit-
gehend gewaltlose Untergang des SED-Staates und die Wieder-
erlangung der deutschen Einheit im Einklang mit den Sieger-
mächten und allen Nachbarn beendete die Nachkriegszeit.

  Die Ostdeutschen haben entschlossen in Angriff genommen,
was ihnen die Transformation abverlangte. Und doch scheint
die Einheit nicht „vollendet“. Den Mühen der Gebirge folgten
jene der Ebenen. Die im Grundgesetz formulierte „Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse“ bleibt ein Postulat. In der
politischen Kultur und in den Mentalitätshaushalten vieler Bür-
gerinnen und Bürger leben Ost-West-Unterschiede fort. Der
Geschichte der deutschen Zweistaatlichkeit steht ihre Histori-
sierung noch bevor, wie Debatten um die DDR-Vergangenheit
immer wieder neu belegen.

  Mit der Generationenfolge scheinen die Ost-West-Gegensätze
jedoch zu schwinden: Die Schablonen „Ossi“ und „Wessi“ mu-
ten bereits an wie verhallende Echos aus grauer Vorzeit. Wer in
diesem Sommer seine Abiturprüfungen ablegt, war im Herbst
1990 noch nicht geboren. In den jüngeren Generationen spielt es
keine Rolle mehr, ob jemand im Erzgebirge oder in der Eifel zur
Welt gekommen ist. Die Bewältigung der Ost wie West betref-
fenden Krisen der westlichen Wachstumsgesellschaft und der
Folgen des demographischen Wandels wird die gesellschaftliche
und kulturelle Konvergenz der beiden Landesteile befördern.

                                            Hans-Georg Golz
Konrad Weiß           gien, strahlen auf andere aus und ziehen viele
                                                              in ihren Bann. Der Gipfel wird bezwungen, die
Zwanzig Jahre danach                                          Siege werden laut und glücklich gefeiert. Doch
                                                              bald beginnt der mühsame Alltag, in dem die

               Essay                                          Liebe, die Abenteuer, die Revolutionen erster-
                                                              ben. Und je langsamer die Schritte werden,
                                                              desto mehr klammern wir uns an die kostba-
                                                              ren Erinnerungen, verkünden und verteidigen

        I     n der Nacht zum 3. Oktober 1990, als die
              Wiedervereinigung vollzogen wurde, stand
           ich am Rande einer lauten Menschenmenge
                                                              unsere gewonnene Weisheit, ohne dass wir mit
                                                              derselben Kühnheit an sie glaubten.

                                     auf dem Pariser Platz       Jetzt, zwanzig Jahre später, weiß ich: Ich habe
                     Konrad Weiß in Berlin. Ich hatte am      Recht behalten, und ich habe mich geirrt. Für
 Geb. 1942; bis 1990 Regisseur Abend in Leipzig einen         mich ist das Jahr zwischen Friedlicher Revolu-
  im DEFA Studio für Dokumen- Vortrag gehalten und            tion und Wiedervereinigung noch immer ganz
    tarfilme, Berlin; 1989 Mitbe- war dann, so schnell es     nah und lebendig und etwas ganz und gar Ein-
       gründer und Sprecher der mein alter Dacia her-         maliges. Aber ich bin auch demütiger geworden
 Bürgerbewegung „Demokratie gab, nach Berlin gefah-           und weiß, dass Transformationen, auch wenn
    Jetzt“; Abgeordneter der frei ren: Ich wollte um Mit-     das früher nicht so hieß, in der Geschichte eher
   gewählten Volkskammer und ternacht am Branden-             die Regel denn die Ausnahme sind. Die Zeitge-
    des Deutschen Bundestags; burger Tor sein. Mehr           nossen der Freiheitskriege oder der Märzrevo-
        seit 1995 freier Publizist, als ein Jahr lang hatte   lution werden ihre Revolutionen mit der glei-
­Kreuzstraße 18b, 13187 Berlin. ich auf diesen Augen-         chen Begeisterung, dem gleichen Gefühl der
                  k.weiss@bln.de blick hingearbeitet: in      Einmaligkeit erlebt haben wie wir die unse-
                                     der Bürgerbewegung       re. Es gibt genug Zeugnisse dafür. Doch auch
           Demokratie Jetzt, am Runden Tisch, in der          ihre Leidenschaft ist irgendwann erkaltet, auch
           Volkskammer. Auch wenn der Weg zur Einheit         ihre Ideen und Ideale haben manchmal zu an-
           ein anderer war, als ich ihn mir gewünscht und     derem geführt, als sie gewollt hatten. Das min-
           vorgestellt hatte, auch wenn der Einigungsver-     dert unser Erleben nicht, es ordnet es ein. „Es
           trag in vielen Punkten so problematisch war,       ist nicht wahr/daß Geschichte/gefälscht wird/
           dass ich ihn zuletzt in der Volkskammer abge-      Sie hat sich großenteils/wirklich/falsch/zu-
           lehnt hatte – das Ziel, die Wiedervereinigung,     getragen/Ich kann das bezeugen:/Ich war da-
           war auch meines gewesen. Und nun stand ich         bei“, heißt es in einem Gedicht von Erich Fried,
           Unter den Linden, während aus der Ferne vom        das immer auf meinem Schreibtisch liegt. Und:
           Reichstag her Bruchstücke erst der Reden,          „Doch leicht begreiflich/daß jetzt/die verschie-
           dann der Nationalhymne herüberklangen und          denen Seiten/verbesserte Fassungen/nachlie-
           das Brandenburger Tor von einem Feuerwerk          fern/die das Geschehene/nicht/so sehr berich-
           illuminiert wurde.                                 ten/wie berichtigen wollen.“❙1

           Ich betrachtete aufmerksam die Menschen              Davor, die Geschichte nicht berichten, son-
        um mich herum, die auf ganz verschiedene Wei-         dern berichtigen zu wollen, sind weder His-
        se an dem Ereignis teilhatten. Die einen still für    toriker noch Politiker gefeit, erst recht nicht
        sich und mit Tränen in den Augen. Andere ver-         Zeitzeugen. Aber dass in unserer rationalen
        suchten ungeübt die neue Nationalhymne mit-           Welt die Legenden so lebhaft wuchern und
        zusingen – so mancher, wie mir schien, sang           sich manche als schier unausrottbar erwei-
        mit den alten Worten. Andere waren fröhlich           sen würden, das habe ich mir damals in der
        und ausgelassen. Nur wenige, die wohl dem             Nacht vor dem Brandenburger Tor wirklich
        Bier schon zu reichlich zugesprochen hatten,          nicht träumen lassen.
        störten den Augenblick mit Grölen. Und ich
        fragte mich also: Wie wird das wiedervereinig-          Zu diesen hartnäckigen Legenden gehört,
        te Land, dieses Neuland, wohl sein?                   die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989
                                                              hätten einen „Dritten Weg“ gewollt und sei-
          Es muss uns nicht verwundern, hatte ich am          en allesamt Einheitsgegner gewesen. Nun hat
        Abend in Leipzig gesagt, was mit uns Deut-
        schen geschieht. So verlaufen doch alle Aben-         ❙1 Erich Fried, Die Engel der Geschichte, in: Gesam-
        teuer: Sie beginnen mit der Eruption der Ener-        melte Werke, Berlin 1993, Bd. 2, S. 491.

                                                                                                APuZ 30–31/2010      3
es ­sicher unter uns Einheitsskeptiker gegeben;   wesentlichen Kritikpunkte war, dass keine
    die gab es auch in der CDU und erst recht bei     umfassende und abschließende Regelung für
    den Sozialdemokraten. Die große Mehrheit          die Rückgabe des in der Zeit des Nationalsozi-
    der Bürgerrechtler aber wollte die Einheit.       alismus zwangsweise „arisierten“ Eigentums
    Doch wir wollten sie auf dem zweiten Weg,         getroffen worden war. Und dass das Rehabili-
    den das Grundgesetz dafür vorgesehen hatte,       tierungsgesetz der Volkskammer für die Opfer
    dem konstitutionellen Weg nach Artikel 146.       des SED-Regimes im wiedervereinigten Land
    Die Mehrheit in beiden deutschen Parlamen-        nur in Bruchstücken fortgelten sollte. Ein an-
    ten und die beiden Regierungen aber hatten        derer lag darin, dass wesentliche Nachbesse-
    sich für die administrative Variante entschie-    rungsaufträge der Volkskammer, insbesondere
    den, also den Beitritt nach Artikel 23. Beide     zum Eigentumsrecht, zu sozialen Rechten und
    Wege waren denkbar, beide waren legitim.          zur Neuordnung des Rundfunks, unberück-
    Wir hatten gehofft, dass der von uns präfe-       sichtigt geblieben waren. „Ich will die Einheit
    rierte Weg den Ostdeutschen manche Ver-           Deutschlands“, sagte ich damals im Plenum,
    werfung ersparen könnte. Und dass der de-         „und ich habe engagiert dafür gearbeitet. Aber
    mokratische Prozess einer Verfassungsdebatte      dieser Vertrag hat in seiner endgültigen Fas-
    zu mehr Mündigkeit und zur nachhaltigen           sung so wesentliche Mängel, daß er in vielem
    Aneignung demokratischer Ideen und Wer-           den Bürgerinnen und Bürgern, denen ich Re-
    te führen würde. Tatsache ist jedenfalls, dass    chenschaft schuldig bin, schadet.“❙2
    die Mehrheit der Deutschen im Osten wie im
    Westen es dann anders wollte als die Mütter          Die dritte und hartnäckigste der seit zwan-
    und Väter der Friedlichen Revolution.             zig Jahren wuchernden Legenden und zugleich
                                                      die merkwürdigste aber lautet, die erst in PDS,
      Unser Ziel im Herbst 1989 war es gewe-          dann in Linkspartei umbenannte SED sei die
    sen, die Macht der Kommunisten zu brechen         legitime Vertreterin ostdeutscher Interessen
    und die DDR zu demokratisieren. Aus dem           und die wahre Hüterin sozialer Gerechtigkeit.
    Unrechtsstaat eine Rechtsstaat zu machen,         Das ist nun wirklich eine „verbesserte“ Fas-
    in dem Freiheit herrscht und die Menschen-        sung der Geschichte, die schwer zu ertragen
    und Bürgerrechte respektiert werden: Dafür        ist. Allerdings ist diese Legende kein Wild-
    die Voraussetzungen zu schaffen, war unse-        wuchs, wie viele naiv meinen, sondern das Er-
    re Aufgabe in den Bürgerbewegungen und            gebnis gezielter Agitation und Propaganda,
    am Runden Tisch. Daran haben wir bis zur          jahrelang geschickt gestreut und unters Volk
    Volkskammerwahl am 18. März 1990 unbe-            gebracht. Bereits in ihrem Programm aus dem
    irrt gearbeitet. Mit dem Tag der ersten freien    Jahr 1993 behauptete die PDS unverfroren:
    Wahl in der DDR hatten wir unser Ziel er-         „Die Ursprünge unserer Partei liegen im Auf-
    reicht. Danach, so geht eine zweite Legende,      bruch des Herbstes 1989 in der DDR“❙3 – als
    hätten die Regierungen Kohl und de Mai­zière      hätte es nie eine SED gegeben, als sei die PDS
    alles Weitere erledigt. Dass aber die Wieder-     nicht die politische und juristische Nachfolge-
    vereinung von beiden Parlamenten, von der         rin und Nutznießerin der DDR-Staatspartei.
    Volkskammer und vom Deutschen Bundes-             Die Relativierung der eigenen totalitären Ver-
    tag, aktiv gestaltet wurde, ist zu wenig be-      gangenheit setzt sich fort und ist auch noch im
    kannt und wird kaum gewürdigt. Es war             jüngsten Programmentwurf der Linkspartei
    eben kein bloßer administrativer Vorgang,         zu finden. Ich habe mich immer gefragt, wa-
    sondern ein demokratischer Prozess. Es hat        rum so viele Ostdeutsche die Nachfolger ei-
    in beiden Parlamenten die Ausschüsse Deut-        ner Partei, deren Terror sie jahrzehntelang
    sche Einheit gegeben, die federführend wa-        zu ertragen hatten, trotz der offensichtlichen
    ren. Und beide Parlamente hatten ein gewal-       Dema­gogie immer noch wählen. Und wie sie
    tiges Arbeitspensum zu leisten.                   den gewissenlosen Kadern von gestern heute
                                                      ein soziales Gewissen zubilligen können.
      Parlamentarier waren überdies Mitglied
    in der Verhandlungskommission zum Eini-
    gungsvertrag; ich war es für das damals noch      ❙2 Volkskammer der DDR, 10. Wahlperiode, 36. Ta-
                                                      gung vom 20. 9. 1990, S. 1751; online: http://webar-
    nicht konstituierte Land Brandenburg. Das         chiv.bundestag.de/volkskammer/dokumente/proto-
    Ergebnis allerdings war für mich so unbefrie-     kolle/1036.pdf (15. 6. 2010).
    digend, dass ich den Einigungsvertrag in der      ❙3 PDS (Hrsg.), Programm der Partei des Demokrati-
    Volkskammer abgelehnt habe. Einer meiner          schen Sozialismus, Berlin 1993, S. 1.

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Eine andere Facette dieser Geschichtsklit-      Arbeitsplätze waren nur deshalb sicher, weil
terung ist das schwindelerregende Tempo            die Wirtschaft total reguliert war und sich
bei der Transformation der Blockparteien,          das Angebot nicht an der Nachfrage ori-
also der kommunistischen CDU, der LDPD,            entierte, sondern an Parteitagsbeschlüssen.
der Bauernpartei, der NDPD, zu demokra-            Die Mieten waren nur deshalb so billig, weil
tischen Parteien. Ihre Exkulpation haben sie       die Häuser niemandes Eigentum waren und
nur deshalb so billig bekommen, weil sie als       verfielen. Das Gesundheits- und Sozialwe-
Mehrheitsbeschaffer gebraucht wurden. Die          sen schien nur deshalb für alle gleich, weil
Auseinandersetzung mit ihrer roten Vergan-         die Parteifunktionäre und Regimegünstlin-
genheit haben sie bis heute nicht geleistet. Das   ge ihre zahlreichen großen und kleinen Privi-
hat zum Niedergang und Ansehensverlust             legien sorgfältig verbargen. Und wenn Men-
der demokratischen Parteien im wiederver-          schen in der DDR sich wohlgefühlt haben,
einigten Deutschland beigetragen. Ich habe         weil der Staat für sie dachte und handelte und
Elektriker gelernt, und weiß, dass auf der ei-     ihnen ein Auskommen gab, dann zeugt das
nen Seite eines Transformators nur das her-        nur davon, wie sehr sie in den Jahrzehnten
auskommt, was auf der anderen, stärker oder        der Diktaturen deformiert worden waren.
schwächer, eingespeist worden ist. Und dass
man die Transformation jederzeit umkehren            Zum großen und unschätzbaren Gewinn
kann. Auch wenn man technische Prozesse            der Einheit zählt für mich, dass wir Stabili-
nicht auf gesellschaftliche übertragen sollte,     tät und Frieden haben und eingebunden sind
richtig ist jedenfalls, dass das Heute immer       in die Gemeinschaft der Europäer. Ich habe in
auch vom Gestern abhängig ist.                     den Jahren nach dem Krieg schmerzlich genug
                                                   erfahren müssen, was es heißt, Deutscher zu
  In den vergangenen zwanzig Jahren sind Bi-       sein. Ich bin dankbar für die Solidarität, die
bliotheken vollgeschrieben worden mit Ana-         wir Ostdeutschen in der Friedlichen Revolu-
lysen und Berichten, was beim Einigungs-           tion aus den ehemaligen Feindländern erfah-
prozess und danach alles falsch gemacht            ren haben, von Israelis, Polen und Russen, von
worden ist. Natürlich gab und gibt es Defizi-      Franzosen und Amerikanern. Die Nacht des
te. Natürlich wurden Fehler, auch gravieren-       Mauerfalls war für mich die erste Nacht des
de, gemacht. Aber das, was wir gewonnen ha-        Friedens. Und ich war und bin dankbar, dass
ben, wiegt ungleich schwerer, allem voran die      wir Ostdeutschen, anders als unsere ost- und
Freiheit. Wer wie ich die längste Zeit seines      mitteleuropäischen Freunde, die Mitglied-
Lebens in einem Land gelebt hat, in dem der        schaft in der Europäischen Union so bald be-
Staat sich anmaßte, alles, aber auch wirklich      kommen haben. Während Polen oder Ungarn
alles für „seine“ Untertanen zu regeln und zu      oder Litauer gewaltige Opfer bringen muss-
entscheiden, ihnen willkürlich Vorschriften        ten, um die Voraussetzungen für die Aufnah-
zu machen und beliebig Grenzen zu setzen,          me zu schaffen, wurde sie uns geschenkt: Mit
sie zu gängeln, sie abhängig und unmündig zu       dem Tag der Wiedervereinigung waren wir
halten, der weiß, dass es kein höheres Gut für     Mitglied. Auch das haben heute viele verges-
den Menschen gibt als die Freiheit. Ich möch-      sen oder wollen es nicht mehr wahrhaben.
te schreien, wenn ich heute von Achtzehnjäh-
rigen höre, wie großartig die DDR und ihr            Als ich vor zwanzig Jahren vor dem Bran-
Sozialismus gewesen seien, wie sicher, sozial      denburger Tor stand, konnte ich mir nicht
und gerecht es dort zugegangen sei. Dass wir       vorstellen, dass so viele Ostdeutsche so bald
es nach der Friedlichen Revolution nicht ge-       die gewonnene Freiheit und Demokratie ge-
schafft haben, das Feuer der Freiheit für alle     ring schätzen würden. Dass sie sich diese
lebendig zu halten, deprimiert mich zutiefst.      kalte, graue, enge DDR schön reden und ihr
                                                   nachtrauern würden. Aber auch das gehört
  Zu dem, was die Ostdeutschen gewonnen            offenbar unausweichlich zu jedem Transfor-
haben, gehören Demokratie, Rechtsstaatlich-        mationsprozess. Ich hoffe zwar, dass der un-
keit und die Respektierung der Menschen-           sere, der Weg vom Totalitarismus zur De-
rechte. Ich halte es für fatal, wenn dem der       mokratie, unumkehrbar ist. Aber ich bin
Verlust des Arbeitsplatzes oder soziale Un-        mir längst nicht mehr sicher, dass Menschen
sicherheit entgegengehalten wird. Denn die         wirklich aus der Geschichte lernen können.
„sozialen Errungenschaften“ der DDR hat-
ten einen unverantwortlich hohen Preis: Die

                                                                               APuZ 30–31/2010      5
Raj Kollmorgen           hat in den vergangenen zehn Jahren weiter
                                                             an Bedeutung verloren. In den überregiona-

     Diskurse der                                            len Massenmedien etwa haben sich – je nach
                                                             Messmethode und Sample – die Anteile von
                                                             Beiträgen zu Ostdeutschland und zum ost-

deutschen Einheit                                            deutschen Umbruch seit Anfang der 1990er
                                                             Jahre halbiert oder sind, wie eine eigene Er-
                                                             hebung für zwei überregionale Tageszeitun-
                                                             gen zeigt (Abbildung), sogar bis auf ein Achtel

         D     ie deutsche Einheit stellt heute für die
               alltägliche Lebenspraxis eine Selbstver-
          ständlichkeit dar. Zugleich lässt sich nicht nur
                                                             des Ausgangswertes geschrumpft. Das Aus-
                                                             maß der Berichterstattung zur deutschen Ein-
                                                             heit hat sich im selben Zeitraum noch einmal
                                  an der Verteilung der      leicht verringert und bewegt sich heute im Be-
                 Raj Kollmorgen wirtschaftlichen Leis-       reich von etwa einem Prozent aller Beiträge.❙3
  Dr. phil., geb. 1963; Privatdo- tungskraft und der
 zent am Institut für Soziologie, Vermögen, der Binnen-        Im sozialwissenschaftlichen Diskursfeld
  Otto-von-Guericke-Universität wanderungen oder an-         folgte dem Boom der Ostdeutschland- und
Magdeburg, ­Zschokkestraße 32, hand kollektiver Iden-        Vereinigungsforschung eine Stabilisierung auf
              39104 Magdeburg. titäten eine hartnäcki-       hohem Niveau bis zum Ende der 1990er Jah-
       raj.kollmorgen@ovgu.de ge Ost-West-Differenz          re. In den vergangenen zehn, vor allem aber
                                  erkennen. Auch das         fünf Jahren ist ein deutlicher Rückgang ent-
          Kommunizieren über die ostdeutsche Trans-          sprechender Forschungsanstrengungen fest-
          formation und die deutsche Einheit zeigt bis       zustellen. Die Verminderung bewegt sich im
          heute deutliche Asymmetrien und Ungleich-          Bereich von etwa 30 bis 50 Prozent gegenüber
          heiten.                                            den Höchstwerten.❙4

           Sich mit den Diskursen der Einheit zu be-         ❙1 Diskurse sind spezifisch geregelte und thematisch
         schäftigen, ist kein Selbstzweck. Diskursana-       eingegrenzte sprachliche Sozialverhältnisse, wie sie
                                                             in Textproduktion und -rezeption sowie mündli-
         lytische Zugänge behaupten, dass sich in den
                                                             cher, schriftlicher und bildlicher Kommunikation re-
         Ausmaßen, Inhalten und Formen der Dis-              alisiert werden. In Diskursfeldern ringen „Diskurs-
         kurse nicht nur die sozialen Macht- und ma-         gemeinschaften“ und ihre wichtigsten „Sprecher“
         teriellen Verteilungsverhältnisse ausdrücken.       („Diskurseliten“) mit jeweils dominanten Strategi-
         Vielmehr repräsentiert die Diskursgestaltung        en um die Gewinnung und Veränderung diskursiver
         selbst ein wichtiges Formierungselement der         Hegemonie (oder: legitimer Diskursbeherrschung) –
                                                             als Selbstzweck und zur Beherrschung anderer For-
         politischen, ökonomischen und kulturellen
                                                             men sozialer Praxis.
         Machtstrukturen. Diskurse bilden soziale            ❙2 Die folgenden Befunde verdanken sich einem lang-
         Realitäten nicht ab, sondern konstruieren sie       jährigen Forschungszusammenhang im Rahmen des In-
         in hegemonial umkämpfter Form, wodurch              novationsverbundes und Netzwerkes Ostdeutschland-
         sie die Möglichkeiten der Veränderung sozia-        forschung (www.ostdeutschlandforschung.net). Für die
         ler Praxis mitbestimmen.❙1                          Bereitstellung von Daten und für kritische Hinweise
                                                             habe ich vor allem Thomas Hanf, Torsten Hans, Frank
                                                             Thomas Koch und Michael Thomas zu danken. Eine
           Wie haben sich vor diesem Hintergrund in          ausführliche Analyse der Diskurse mit den entspre-
         drei soziopolitisch höchst relevanten Feldern       chenden Quellen und Literaturen – auf deren detaillier-
         (parteipolitisch-programmatischer, sozialwis-       ten Nachweis deshalb hier verzichtet wird – findet sich
         senschaftlicher und massenmedialer Diskurs)         bei Raj Kollmorgen/Frank Thomas Koch/Hans-Liud­
         die Diskurse über die deutsche Einheit und          ger Dienel (Hrsg.), Diskurse der deutschen Einheit.
                                                             Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2010 (i. E.).
         Ostdeutschland in zwanzig Jahren entwickelt?
                                                             ❙3 Siehe die detaillierten Befunde bei R. Kollmorgen
         Welche Differenzen und Interdiskurse sind           et al. (Anm. 2); vgl. auch Thomas Ahbe/Rainer Gries/
         beobachtbar?❙2                                      Wolfgang Schmale (Hrsg.), Die Ostdeutschen in den
                                                             Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leip-
                                                             zig 2009; Sven Kersten Roth/Markus Wienen (Hrsg.),
Diskursiver Bedeutungsverlust,                               Diskursmauern. Aktuelle Aspekte der sprachlichen
Event-Orientierung, Ritualisierung                           Verhältnisse zwischen Ost und West, Bremen 2008.
                                                             ❙4 Vgl. insgesamt zu diesem Diskursfeld auch: Raj
                                                             Kollmorgen, Ostdeutschlandforschung. Status quo
         Die diskursive Beschäftigung mit dem Thema          und Entwicklungschancen, in: Soziologie, 38 (2008)
         „Ostdeutschland“ und „deutsche Einheit“             2, S. 9–39.

     6     APuZ 30–31/2010
Abbildung: „Ostdeutschland“ in Artikelüberschriften der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ (FAZ) und der „tageszeitung“ (taz), 1993–2008 (jeweils im Monat Mai)

                          100
 Anzahl der Erwähnungen

                           80

                           60

                           40

                           20

                            0
                                1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

                                                                   FAZ       taz

Quelle: eigene Erhebung auf Basis eines Forschungskonzepts von Sven Kersten Roth.

  Im parteipolitisch-programmatischen Dis-                                   Parteipolitisch-programmatischer
kurs, wie er sich exemplarisch in der Ent-                                                           Diskurs
wicklung von Parteitagsthemen, Berichten
und Leitbildern zeigt, wird eine Dynamik                             Der hegemoniale Diskurs im parteipolitisch-
sichtbar, die nach einem Hoch (1989/90–                              programmatischen Feld hat seit 1990 eine Rei-
1993/94) zunächst ein deutliches Abschmel-                           he thematischer Wandlungen erfahren. Dabei
zen der Auseinandersetzung zeigt. Zwischen                           lässt sich eine Verlaufskurve rekonstruieren,
1998, dem Regierungsantritt der rotgrünen                            die bei staatsrechtlichen und politischen As-
Regierungskoalition, und 2005 erfolgte ein                           pekten („äußere Einheit“) ansetzte (1989–
Wiedererstarken, das seitdem einer erneu-                            1991), dann die wirtschaftlichen Umbaupro-
ten Schrumpfung gewichen ist, sich aller-                            zesse in Ostdeutschland („wirtschaftliche
dings bis 2008/09 über dem Niveau der Jahre                          Einheit“) sowie – zeitlich leicht versetzt –
1996/97 bewegt.❙5                                                    die institutionellen und politisch-kulturellen
                                                                     Vereinigungsprobleme fokussierte („inne-
   Ein wichtiges Merkmal der quantitativen                           re Einheit“, 1992–1998). Daran anschließend
Dynamik in allen drei Diskursfeldern ist                             kehrte der Diskurs mit neuen Akzentsetzun-
die Event-Orientierung. Neben dem Hoch-                              gen zu Problemen der wirtschaftlichen, sozi-
schnellen der massenmedialen Aufmerksam-                             alen und politischen Entwicklungen in Ost-
keit gegenüber dem Osten im Zusammen-                                deutschland zurück und fragte nach dem
hang mit Großereignissen und Skandalen                               Maß, den Zeithorizonten und Wegen einer
(G7-Gipfel in Heiligendamm; Investitions-                            „sozialen Einheit“ (1999–2009).
ruinen im Osten; Landtags- oder Bundes-
tagswahlen) lösen diskursübergreifend Ge-                              Für die Gestaltung der Diskurse und ihre
denk- und Feiertage, herausragend der Tag                            Wirkungen ist es von zentraler Bedeutung,
der Deutschen Einheit am 3. Oktober, und                             wie Themen diskursiv kodiert werden. Ko-
insbesondere deren Jubiläen (zuletzt 2004/05                         dierungen umfassen einerseits die kognitive
sowie 2009/10) Schübe an medialer Beschäf-                           Ordnung des kommunizierten Materials.
tigung aus, wobei seit Ende der 1990er Jahre                         Dabei wird unter Bezug auf Weltbilder und
vor allem in den Massenmedien und partiell                           Ideologien nicht nur eine Auswahl und Hier-
im politischen Diskurs zugleich eine Rituali-                        archisierung von Themen sowie die Ein- und
sierung erkennbar ist.                                               Ausgrenzung zulässiger Probleme vorge-
                                                                     nommen, sondern ein Deutungs- und Erklä-
❙5 Detaillierte Analysen dieses Feldes bei Frank Tho-
                                                                     rungsrahmen generiert, der spezifische Se-
mas Koch, „Für ein modernes und soziales Deutsch-                    mantiken und Bedeutungsketten einschließt.
land“? Diskurse im politischen Raum, in: R. Koll-                    Zudem erfolgt eine Bewertung diskursiver
morgen et al. (Anm. 2).                                              Beiträge und der ihnen zugrunde liegenden

                                                                                                 APuZ 30–31/2010      7
sozialen Praxis. Diese normative Komponen-        nes Umbaus – als auch die klare Ausrichtung
    te ist mit den realen Machtverhältnissen, also    auf einen institutionellen „Nachbau West“
    den Interessenlagen, Machtpositionen und          sowie (politisch-)kulturelle Anpassungspro-
    Konfliktlinien im Handlungsfeld, unauflös-        zesse des Ostens, die schließlich zur „inne-
    bar verwoben.                                     ren Einheit“ führen sollten.

       Die Kodierungen durch die hegemonialen            Der alternative Diskurs wurde von SPD
    Diskursgemeinschaften und ihre Eliten sind        und Bündnis 90/Die Grünen geführt, wo-
    nicht alternativlos. Neben Auseinanderset-        bei hier ostdeutsche Politikerinnen und Po-
    zungen und Entwicklungen innerhalb von            litiker deutlich stärker profilbildend wirkten.
    Diskursgemeinschaften, hier etwa politische       Dieser Diskurs setzte drei zentrale Kontra-
    Parteien oder Koalitionen, sind idealtypisch      punkte: Erstens sollte die deutsche Einheit
    zwei weitere Formen zu unterscheiden. Zum         keinen einseitigen Anpassungsprozess vor-
    einen ringen konkurrierende Gemeinschaf-          sehen, sondern in Reflexion der DDR-Ge-
    ten im Rahmen des jeweils legitimen Diskur-       schichte und der demokratischen Reformen
    ses, d. h. einer grundsätzlich geteilten Werte-   1989/90 als Vereinigung Gleicher vollzogen
    ordnung, Weltdeutung und Semantik sowie           werden. Dafür standen symbolisch der Ver-
    wechselseitiger Anerkennung als legitime          fassungsentwurf des Zentralen Runden Ti-
    Diskursteilnehmer, um angemessene und             sches der DDR und die favorisierte Form der
    machtvolle Wirklichkeitsdeutungen. Exem-          Vereinigung nach Artikel 146 GG. Zweitens
    plarisch kann hier auf die politisch-program-     wurde in dieser links-libertären Diskursge-
    matischen Konflikte zwischen CDU/CSU              meinschaft bestritten, dass es angesichts der
    und SPD verwiesen werden. Zum anderen             Misserfolge im „Aufbau Ost“ (Deindustri-
    ist auf explizite Gegendiskurse aufmerksam        alisierung, Massenarbeitslosigkeit) zu einer
    zu machen. Diese ruhen auf substanziell an-       raschen Herstellung gleichwertiger Wirt-
    deren Weltbildern, Ideologien sowie Bewer-        schafts- und Lebensverhältnisse wie sozi-
    tungsrahmen und üben damit „Fundamen-             aler Identitäten und Wertordnungen nach
    talkritik“ an den hegemonialen Positionen,        dem Muster der alten Bundesrepublik kom-
    was bis zur Infragestellung des Macht- und        men werde. Demgegenüber wurde auf die
    Deutungsrahmens reichen kann. Damit sind          produktive Funktion eigenständiger Insti-
    kommunikative Missverständnisse, Barrie-          tutionalisierungen, soziokulturell differen-
    ren oder sogar Exklusionen des Gegendis-          ter Erfahrungen und pluraler Identitäten auf-
    kurses verbunden. Der jahrelange Umgang           merksam gemacht. Drittens wurde trotz der
    von CDU/CSU und FDP mit der PDS etwa              unverkennbaren Erfolge die Notwendigkeit
    illustriert diese Praxis.                         einer längerfristigen staatlichen und gesell-
                                                      schaftspolitischen Gestaltung einer „sozia-
       Für das politisch-programmatische Feld         len Einheit“ hervorgehoben. Diese Kodie-
    wird für die Jahre 1990 bis etwa 1997/98 eine     rungen gewannen ab 1994/95 an Einfluss und
    hegemoniale Position des liberal-konservati-      begannen die liberal-konservative Hegemo-
    ven Diskurses erkennbar, wobei die einfluss-      nie zu unterminieren.❙6 Mit dem Antritt der
    reichsten Sprecherinnen und Sprecher West-        rotgrünen Bundesregierung (1998) setzte sich
    deutsche waren. Diese Position kodierte den       diese Position – sinnfällig erkennbar an der
    Vereinigungsprozess durch eine doppelte           Einrichtung eines „Beauftragten der Bundes-
    Deutungs- und Bewertungsfigur: Einerseits         regierung für die neuen Bundesländer“ – im
    sollten durch den „Beitritt“ nach Artikel 23      Diskurs durch.
    GG nicht nur die DDR-Eliten endgültig ent-
    machtet und weitere „soziale Experimente“           Marginalisiert und in den ersten Jahren so-
    ausgeschlossen werden, sondern rasch „blü-        gar exkludiert blieb der politische Gegendis-
    hende Landschaften“ in den neuen Ländern          kurs, wie er von der PDS unter großer Do-
    entstehen. Dieses „Aufblühen“ sollte ande-
    rerseits durch das Programm „Aufbau Ost“          ❙6 Das wird zum Beispiel an der Durchsetzung des
    unterstützt werden, das als kurzfristiger so-     jährlichen „Berichts der Bundesregierung zum Stand
                                                      der Deutschen Einheit“ erkennbar, der auf Antrag
    lidarischer Kraftakt aller Deutschen kom-
                                                      von SPD und Bündnis 90/Die Grünen seit 1997 vor-
    muniziert wurde. „Beitritt“ und „Aufbau“          gelegt wird, wobei diese Berichtspflicht nach den
    suggerierten dabei sowohl die Notwendig-          Vorstellungen von CDU und CSU zunächst auf drei
    keit eines wirklichen Neubeginns – also kei-      Jahre befristet wurde.

8    APuZ 30–31/2010
minanz ostdeutscher Sprecherinnen und              bedient sich modernisierungstheoretischer
Sprecher geführt wurde. Hier kodierten das         Modelle. Hier betonen alle Parteien die er-
Verständnis des Beitritts als „Kolonialisie-       heblichen sozioökonomischen Entwick-
rung“, materielle und symbolische „Enteig-         lungschancen Ostdeutschlands, wodurch
nung“ sowie ein „zweitklassiger“ Status der        die neuen Bundesländer zu Schrittmachern
Ostdeutschen die Wirklichkeitsdeutung. Da-         der Modernisierung Deutschlands und zu
bei wurde der Gesamtprozess von Transfor-          europäischen Modellregionen werden kön-
mation und deutscher Einheit in den ersten         nen. Diese Referenzfolie wird in die über-
Jahren fast durchgängig als Misserfolg be-         wölbenden Weltbilder und Ideologien der
wertet.                                            Parteien integriert, so dass für die CDU die
                                                   „Chancengesellschaft“ unter Betonung in-
  Zusammenfassend lassen sich für die              vestiver Potenziale im Mittelpunkt steht,
1990er Jahre deutliche Spaltungstendenzen          wohingegen die SPD das Leitbild eines „mo-
mit der Folge wechselseitiger Sterilisierun-       dernen und sozialen“ Ost- und Gesamt-
gen und Ritualisierungen feststellen, wobei        deutschlands mit Blick auf eine moderne
die Abschottungen zwischen den politischen         Arbeitnehmerschaft entwirft. Bündnis 90/
„Blöcken“ die entscheidenden darstellten,          Die Grünen wie Die Linke verorten dem-
die von ost-westdeutschen Asymmetrien er-          gegenüber die Chancen Ostdeutschlands im
gänzt wurden. Diese Konstellation hat sich         „doppelten Umbruch“❙7 als Vorreiter einer
in den vergangenen zehn Jahren zum Teil            „sozial-ökologischen Modernisierung“ un-
deutlich verändert. Sowohl die Dynamiken           ter Einbezug neuer zivilgesellschaftlicher
des Transformations- und Vereinigungspro-          Akteure und sozialer Teilhabemodelle. In-
zesses mit seinen wechselnden komplexen            teressanterweise spielt für die Grünen das
Problemlagen und ambivalenten Zwischen-            Ost-West-Verhältnis in der Diskussion ost-
bilanzen wie die zwischen den Blöcken gebil-       deutscher Chancen keine konstitutive ­Rolle
deten Koalitionen auf Landes- und Bundes-          mehr.
ebene haben zu einer partiellen Verwischung
diskursiver Lagergrenzen, ja zu wechselsei-
tigen inhaltlichen Annäherungen gegenüber                     Sozialwissenschaftlicher Diskurs
den (ost-)deutschen Entwicklungsperspekti-
ven geführt.                                       Der sozialwissenschaftliche Diskurs zeichnet
                                                   sich zunächst thematisch durch eine dem po-
   Aus den jüngsten Leitbildern für Ost-           litisch-programmatischen Diskurs vergleich-
deutschland (2008/09) lassen sich lagerüber-       bare Verlaufskurve aus. Dabei zeigte sich in
greifend zwei zentrale Referenzpunkte des-         den ersten beiden Jahren eine gewisse Sprach-,
tillieren. Der erste besteht in der Vorstellung    ja Konzeptlosigkeit in der Forschung, die
von sozialer Gleichheit bzw. Gleichwertig-         von der „friedlichen Revolution“ und der
keit zwischen Ost- und Westdeutschland.            Dynamik des deutschen Vereinigungspro-
Diese erstreckt sich nicht allein auf materielle   zesses überrascht worden war. Schnell kam
Einkünfte, Anrechte und Leistungen sowie           es dann aber zu einer Konturierung des Dis-
Lebensbedingungen („Gleichwertigkeit der           kurses, der konzeptuell ein polares Feld auf-
Lebensverhältnisse“, Art. 72 GG). Sie enthält      spannte: Auf der einen Seite wurde ein Erklä-
auch demokratische Partizipation und die so-       rungs- und Deutungsrahmen entwickelt, der
ziale Wertschätzung von gelebten Leben, von        die ostdeutsche Transformation als „nachho-
Eigensinn und Identitäten. Allerdings diffe-       lende Modernisierung“ (W. Zapf) und den
rieren dabei die Ausdeutungen: Während die         Vereinigungsprozess im Kern als instituti-
CDU hinsichtlich des materiellen Gleich-           onellen Implementationsprozess der bun-
wertigkeitsaspekts am reserviertesten geblie-      desdeutschen Ordnung von oben nach un-
ben ist und zugleich auf wachsende Defizite        ten sowie paralleler Enkulturationen der
in westdeutschen Problemregionen verweist,
beharrt Die Linke auf einer engen Interpre-
tation unter gleichzeitiger Hervorhebung der       ❙7 Der Begriff „doppelter Umbruch“ thematisiert
                                                   die parallele Herausforderung einer postsozialisti-
Überwindung sittlicher Missachtungen.
                                                   schen und einer – plakativ formuliert – postfordisti-
                                                   schen oder weiter: postmodernen Transformation in
 Eine zweite, stärker auf die ostdeutschen         Ostdeutschland unter Bereinigungs- und Globalisie-
Zukunftschancen zielende Referenzfolie             rungsbedingungen.

                                                                                    APuZ 30–31/2010        9
Ostdeutschen interpretierte. Schon 1995/96          Zwar wurden diese Diskurskonstellati-
     ­w urde in dieser wissenschaftlichen Diskurs-     on und ihre Spaltungslinien auch von den
      gemeinschaft, die zwar in einzelnen Aspek-       jeweils herangezogenen Theorien und For-
      ten Kritik am realen Vereinigungsprozess         schungsprogrammen grundiert. Als ein-
      übte, sich aber insgesamt affirmativ zum po-     flussreicher erwiesen sich aber politisch-
      litischen Beitrittsmodell und seiner Transfor-   ideologische Verortungen, der soziale und
      mationslogik verhielt, von einem (weitgehen-     akademische Status sowie die Herkunft.
      den) Erfolg des Umbaus und der Vereinigung       Während die erste Position mit ihren hete-
      gesprochen, wodurch sich weitere, exzeptio-      rogenen Spielarten im Kern von der akade-
      nelle Transformations- und Vereinigungsfor-      misch-professionellen Soziologie und in ihr
      schung ­erübrige.                                durch westdeutsche Forscherinnen und For-
                                                       scher mit eher liberal-konservativen politi-
       Auf der anderen Seite etablierte sich ein       schen Einstellungen vertreten wurde, sam-
     Erklärungs- und Bewertungsrahmen, der             melten sich im erstgenannten alternativen
     sich kritisch mit dem systemtheoretisch-          Diskurs neben einer Minderheit westdeut-
     modernisierungstheoretischen Modell aus-          scher SozialwissenschaftlerInnen des aka-
     einandersetzte. Dabei sind zwei Varianten         demischen Betriebs vor allem Ostdeutsche
     zu unterscheiden. Ein alternativer Diskurs        mit eher linksreformistischer Orientierung,
     kritisierte die Leerstellen im Bereich von        wobei letztere bestenfalls am Rand der aka-
     Machtinteressen und Machtverhältnissen im         demischen Forschung (als befristet Beschäf-
     Vereinigungsprozess, die Unterbelichtung          tigte) oder im freien außeruniversitären
     soziokultureller Aspekte („Sozialintegrati-       Raum agierten. Die Position des radikalen
     on“ gegenüber institutioneller „Systemin-         und akademisch weitgehend ausgegrenz-
     tegration“), mithin den Mangel an Analy-          ten Gegendiskurses wurde von wenigen lin-
     sen ostdeutscher Transformationsprozesse          ken westdeutschen, aber auch von im Zuge
     von unten. Darüber hinaus wurde die ein-          des Elitentransfers akademisch exkludier-
     engende Perspektive auf deutsch-deutsche          ten ostdeutschen, oft älteren Sozialwissen-
     Verhältnisse, auf den Nachbau der (keines-        schaftlerinnen und -wissenschaftlern einge-
     wegs umfänglich „modernen“) westdeut-             nommen. Es kann nicht überraschen, dass
     schen Institutionenordnung sowie ein Man-         der erstgenannte Diskurs eine hegemoniale
     gel an mittelosteuropäischen Vergleichen          Stellung eroberte und sie in den ersten fünf
     beanstandet. Mit dieser erkenntniskriti-          Jahren auch hielt. Danach schwand zwar sein
     schen Positionierung war im Regelfall eine        Einfluss, und die Hegemonie ging schritt-
     Gesellschaftskritik am Modus der Vereini-         weise an den zweiten Diskurs über. Das war
     gung und der ostdeutschen Transformation          aber mit einem deutlichen Bedeutungsver-
     verbunden. Diese konzentrierte sich auf das       lust dieses Forschungsfeldes für die aka-
     Modell einer neoliberal und neokonservativ        demisch-professionelle Sozialwissenschaft
     geleiteten Beitrittslogik und des Institutio-     verbunden. Seitdem wandert eine schrump-
     nentransfers unter Marginalisierung bzw.          fende Ostdeutschland- und Vereinigungs-
     Missachtung ostdeutscher Subjekte, deren          forschung immer stärker in den Osten und
     Erfahrungen, Interessenlagen und Partizi-         an freie außeruniversitäre Institute jenseits
     pationschancen („Bürger zweiter Klasse“).         des akademischen Mainstreams.
     Für diese Diskursgemeinschaft überwogen
     bis Mitte der 1990er Jahre die Misserfolge           Inhaltlich war seit Mitte/Ende der 1990er
     des Vereinigungsprozesses in ökonomischer,        Jahre eine Vermittlung der ersten beiden Po-
     sozialer und soziokultureller Hinsicht, ohne      sitionen und die Entwicklung empirisch ge-
     den durch die gewaltigen finanziellen Trans-      sättigter, komplexer und langzeitorientier-
     fers von West nach Ost möglich gewordenen         ter Erklärungs- und Bewertungsmodelle
     Massenwohlstand gering zu schätzen. Ein           beobachtbar. Die seit etwa 2001/02 erkenn-
     zweiter alternativer Diskurs radikalisierte       bare Wiederaufwertung wirtschaftlich-so-
     diese Kritik und positionierte sich als prinzi-   zialer Themen war nicht nur mit der end-
     pieller Gegendiskurs. Für diesen handelte es      gültigen Überwindung aller Konzepte einer
     sich bei der Vereinigung um eine „Koloniali-      westdeutschen „Blaupause“ und uniformen
     sierung der DDR“ (W. Dümcke/F. Vilmar),           „Gleichheit“ verbunden, sondern zielte mit
     welche die Ostdeutschen zu reinen Objek-          dem Forschungsprogramm des „doppelten
     ten degradierte.                                  Umbruchs“ und der Integration neuer As-

10    APuZ 30–31/2010
pekte, wie sie die Schlagwörter Nachhaltig-     schaftsregime, SED/Stasi-Seilschaften, Do-
     keit, Innovation, Region, Demographie und       pingpraxis), Transferproblematik („Dauer­
     Diskurs markieren, auf eine Freilegung genu-    ali­men­tie­r ung des Ostens“, „Milliardengrab
     in ostdeutscher Zukunftschancen und sogar       Ost“, Rentenhöhen im Osten) sowie Poli-
     „Avantgardismen“ (W. Engler), die für den       tik und Personal der PDS/Die Linke. Da-
     Gesamtstaat innovative Entwicklungskorri-       bei wurde in der Häufigkeit, der jeweiligen
     dore öffnen.                                    Ausrichtung und in der Bewertung einer-
                                                     seits eine politisch-kulturelle Differenzie-
        Mit diesen neuen Orientierungen ist es       rungslinie, andererseits eine deutliche Ost-
      dem sozialwissenschaftlichen Diskurs seit      West-Scheide sichtbar. In den überregionalen
      Ende der 1990er Jahre gelungen, trotz sei-     Print- wie elektronischen Medien (Sendefor-
      ner akademischen Marginalisierung wie-         maten) mit Standort und/oder starken Ziel-
      der ein aktiver und innovativer Partner im     gruppen in den neuen Ländern („SuperIllu“,
      Interdiskurs mit politischen Akteuren zu       „Berliner Zeitung“ oder das politische TV-
      werden und an der Formierung neuer Leit-       Magazin „Fakt“ des MDR) besaß das The-
      bilder für (Ost-)Deutschland entscheidend      ma Ostdeutschland einen wesentlich höhe-
     ­m itzuwirken.                                  ren Stellenwert als in Medien bzw. Formaten
                                                     mit eindeutig west- und gesamtdeutscher,
                                                     eher konservativer oder auf die Wirtschaft
Massenmedialer Diskurs                               zielender Ausrichtung (z. B. FAZ, taz, „Ca-
                                                     pital“, „Focus“ oder das TV-Magazin „Re-
     Die Sonderstellung des massenmedialen Dis-      port“ des BR). Kodeseitig überwog im Wes-
     kurses wird bereits an der Entwicklung sei-     ten in den meisten überregionalen Medien
     ner Themen erkennbar. Im deutlichen Un-         wie FAZ oder „Focus“ ein exotisierender,
     terschied zu den beiden anderen Feldern hat     skeptischer Blick und eine Negativbewertung
     im vergangenen Jahrzehnt, vor allem in den      Ostdeutschlands und der Ostdeutschen, wo-
     Jahren 2004 bis 2008, die Beschäftigung mit     bei sich die linksliberalen Blätter („Die Zeit“,
     wirtschaftlich-sozialen Themen und insbe-       taz) um Neugier, Offenheit und einen Blick
     sondere mit Entwicklungen im Bereich der        von unten auf die Vereinigungsprozesse be-
     Unternehmen sowie der Innovations- und          mühten und sich insofern von Einseitigkeiten
     Bildungschancen im Osten erheblich nachge-      bis zu einem gewissen Grade absetzten. Um-
     lassen – auf etwa 50 Prozent des Ausgangs-      gekehrt dominierten im Osten („Super­Illu“,
     wertes. Dafür haben politische Themen et-       „Neues Deutschland“) Heimatnähe, Ver-
     was gewonnen. Wichtiger aber erscheint der      klärung, Ostalgie und die Skandalisierung
     gegenwärtige Trend einer „Verschiebung“         deutsch-deutscher „Ungerechtigkeiten“.
     des Themas Ostdeutschland in den Bereich
     Feuilleton und „Unterhaltung“: Der Anteil          Zusammenfassend erschienen Ostdeutsch­
     der Beiträge dieses Ressorts hat sich annä-     land und Ostdeutsche in den hegemonia-
     hernd verdoppelt.                               len Massenmedien zwischen 1993 und 2007
                                                     vor allem als geschichtliche, insbesondere
       Dieser Befund konvergiert mit Inhaltsana-     durch das negativ bewertete „Herrschafts-
     lysen des massenmedialen Diskurses in den       regime der DDR“ (aus-)gezeichnete Bevöl-
     Jahren zwischen 1990 und 2005/07. Neben         kerungsgruppe; als etwas Besonderes, als
     der bereits vermerkten Event-Orientierung       exotische und abgeschlagene Peripherie; als
     zeichnete er sich einerseits durch die Exoti-   Belastung der bundesrepublikanischen Ge-
     sierung der Ostdeutschen und Ostdeutsch-        sellschaft, vor allem ihres Wohlstandes; als
     lands, also die Thematisierung ihrer ver-       passive, abwartende, (er)leidende Bevölke-
     meintlichen Besonderheiten, Abweichungen        rungsgruppe; insgesamt als Region, für die
     und Anomalien gegenüber Westdeutschland,        negative Zukunftsaussichten bestehen. Die-
     aus. Anderseits wurden ostdeutsche „Idio-       ser bis in die jüngste Zeit reichende hegemo-
     synkrasien“ und Transformationsprobleme         niale Diskurs setzt sich mit seiner Kodie-
     häufig skandalisiert und der öffentlichen Er-   rung deutlich von den seit Ende der 1990er
     regung, der Lächerlichkeit, aber auch distan-   Jahre erfolgten Verschiebungen und inhalt-
     zierender Belehrung preisgegeben. Die wich-     lichen Veränderungen in den beiden anderen
     tigsten skandalträchtigen Themen waren          Diskursfeldern ab. Erst seit wenigen Jahren
     „Vergangenheitsbewältigung“ (DDR-Herr-          gibt es signifikante Ansätze, die Eigenartig-

                                                                                   APuZ 30–31/2010      11
keit des Ostens und der Ostdeutschen nicht        Hegemonien überwunden wurde, hingegen
       nur abwertend oder nostalgisch zu gebrau-         in den einflussreichen Massenmedien bis
       chen, sondern durch die Verknüpfung mit           heute relevant ist. Drittens befördert die –
       „Hoffnung“, „Aktivität“ oder „Innovati-           allerdings parteipolitisch und politisch-kul-
       on“ positiv zu besetzen und damit auch für        turell gebrochene – diskursive Ost-West-
       Debatten um die Zukunft Gesamtdeutsch-            Scheide in Ausmaß, Themenselektion und
       lands zu öffnen. Ob und inwieweit sich die-       (bewertender) Kodierung die Existenz von
       ses neue Diskursmoment nachhaltig durch-          Diskursmauern zwischen beiden Landes-
       setzen wird, kann gegenwärtig noch nicht          teilen. Dabei scheinen die Massenmedien
       gesagt werden.                                    nicht nur die „höchsten“ Mauern errichtet
                                                         zu haben, sondern sich auch die längste Zeit
          Plausibilisiert wird die lang anhaltende He-   mit ihrem Abtragen zu nehmen, womit sie
       gemonie des Ausblendungs-, Absonderungs-          den anderen beiden Diskursfeldern um fünf
       und Negativdiskurses, wenn zum einen an           bis zehn Jahre hinterherhinken. Viertens
       die nach wie vor bestehenden massenmedi-          schließlich ist bemerkenswert, dass sich die
       alen Teilöffentlichkeiten in Ost- und West-       Ostdeutschen in allen Feldern in der Positi-
       deutschland gedacht wird. Einerseits lesen        on subalterner Sprecherinnen und Sprecher
       Ostdeutsche im Durchschnitt deutlich we-          befinden, jedenfalls nur ausnahmsweise zu
       niger überregionale Tageszeitungen, Wirt-         den einflussreichen „Diskurseliten“ gehö-
       schaftsmagazine und politisch orientierte         ren, wobei das Maß der westdeutschen Do-
       Wochenzeitschriften, wohingegen spezielle         minanz vom politisch-programmatischen
       „Ostzeitungen“ (herausragend: „SuperIllu“)        über das sozialwissenschaftliche zum mas-
       und Regionalblätter sowie die privaten Fern-      senmedialen Feld zunimmt.
       sehsender hohe Verbreitung besitzen. Ande-
       rerseits erweist sich der Mediensektor nicht          Eine abschließende Bewertung muss zu-
       nur bezogen auf die Eigentümerstruktur als         nächst konstatieren, dass weder die feld-
       westdeutsche Domäne. So befinden sich bis          übergreifende Schrumpfung noch ein Mi-
       auf wenige ostdeutsche Ausnahmen mit un-           noritätenstatus der Ostdeutschen für sich
       terdurchschnittlichen Auflagenhöhen (wie           genommen problematisch sind. Ersteres lässt
       „Neues Deutschland“) alle Zeitungen und            sich auch als „Ankunft im Alltag“ der deut-
       Zeitschriften mehrheitlich im Besitz west-         schen Einheit interpretieren, der ein außer-
       deutscher oder internationaler Eigentümer.         ordentliches Maß der Beschäftigung nicht
       Auch die Chefredaktionen – selbst der ost-         mehr erfordert. Letzteres ist zunächst rein
       deutschen privaten wie öffentlich-rechtlichen     faktisch der Fall: Den heute etwa 13 Millio-
       Medien – werden von westdeutschen Journa-         nen Ostdeutschen stehen eben über 65 Mil-
       listen dominiert.                                  lionen Westdeutsche gegenüber. Dass die
                                                          Ostdeutschen damit nicht einen gleich gro-
                                                          ßen diskursiven „Raum“ wie die Westdeut-
Von Diskursmauern                                         schen beanspruchen können, ist evident und
zu Diskursbrücken?                                       ­demokratisch.

       Vier Befunde der Analyse sind zu resü-              Was aber aus wohlfahrtsdemokratischer
       mieren. Erstens springt die durchgehende          Perspektive anhaltend problematisch ist und
       Schrumpfung der Beschäftigung mit Ost-            der Veränderung bedarf, ist erstens die Über-
       deutschland und der deutschen Einheit in al-      windung der nach wie vor verbreiteten De-
       len drei Feldern ins Auge, die im sozialwis-      vianz- und mehr noch: Subalternitätspers-
       senschaftlichen und massenmedialen Feld           pektive auf Ostdeutschland. Tatsächlich hat
       am ausgeprägtesten ist. Zweitens ist auffäl-      der – demokratisch legitimierte – Beitritts-
       lig, dass in den hegemonialen Diskursen al-       modus der Vereinigung in allen Diskursen
       ler drei Felder über lange Zeit eine Kodie-       Westdeutschland (bzw. die alte Bundesre-
       rung Ostdeutschlands und Ostdeutscher             publik) als „Normal Null“ (K. S. Roth) ge-
       als „besonders“, „zurückgeblieben“, „prob-        setzt, an dem sich alles Ostdeutsche messen
       lematisch“ oder „belastend“ vorgenommen           lassen muss, dem es untergeordnet ist. Es ist
       wurde, wobei diese zuerst im parteipoli-          das Andere, welches sich in dem beitritts-
       tisch-programmatischen und sozialwissen-          bedingten Deutungs- und Bewertungsrah-
       schaftlichen Feld relativiert bzw. durch neue     men immer besonders zu rechtfertigen hat.

  12    APuZ 30–31/2010
Zwar hat diese Logik im Zuge des Transfor-          Klaus Schroeder
mations- und Vereinigungsprozesses Risse
bekommen. An ihrer Aufhebung muss aber
in allen Diskursfeldern weiter „gearbeitet“
werden, soll eine prinzipielle materielle und
                                                    Deutschland
symbolische Gleichheit der Bürger in Ost
und West erreicht werden. Dabei ist nach al-
len aktuellen Umfragen und Analysen für die
                                                    nach der Wieder-
meisten Ostdeutschen die sittliche Anerken-
nung oder soziale Wertschätzung als Gleiche
weitaus wichtiger als ein schnelles oder voll-
                                                    vereinigung
ständiges Erreichen einer umstrittenen blei-
benden „Gleichwertigkeit der materiellen Le-
bensverhältnisse“.                                  N     ach dem Fall der Mauer nahm die Ge-
                                                          schichte Fahrt auf: Die DDR brach
                                                    nach vierzigjähriger Existenz gleichsam über
   Kaum weniger problematisch sind zweitens         Nacht ein. Knapp ein
 nicht nur die vor allem in den Massenmedi-         Jahr später veränder- Klaus Schroeder
 en fortbestehenden ost- und westdeutschen          te die Wiedervereini- Dr. rer. pol. habil., geb. 1949;
Teil­öffent­lich­keiten, die wechselseitiges An-    gung das Leben der ­Professor und wissenschaft-
erkennen, Lernen und Gestalten einer ge-            ehemaligen DDR-Be- licher Leiter des Forschungs-
meinsamen Zukunft erheblich erschweren.             völkerung nahezu voll- verbunds SED-Staat und der
Auch der bis heute defizitäre, demokra-             ständig. Die westdeut- Arbeitsstelle Politik und Technik
tietheoretisch aber so zentrale diskursive          sche Bevölkerung, wel- an der Freien Universität Berlin,
Austausch der Massenmedien mit dem po-              che die friedliche Re- Koserstraße 21, 14195 Berlin.
litisch-programmatischen und dem sozi-              volution und den damit c.bronder@web.de
alwissenschaftlichen Feld muss befördert            verbundenen Sturz der
­werden.                                            SED-Diktatur gleichsam als Zuschauer mit
                                                    Sympathie betrachtet hatte, nahm dagegen an,
   Drittens schließlich brauchen wirklich de-       für sie würde alles beim Alten bleiben. Doch
mokratische Diskurse der Einheit eine an-           zwanzig Jahre später wird deutlich, dass sich
gemessene Vertretung der Ostdeutschen in            mit der Wiedervereinigung nicht nur die neuen
den hegemonialen Diskurseliten, mithin die          Länder, sondern Deutschland insgesamt stär-
Überwindung ihrer bis heute anhaltenden             ker verändert hat, als es vielen bewusst ist: Auf
Marginalisierung in den Eliterekrutierun-           den Fundamenten der alten Bundesrepublik ist
gen jenseits der legislativen Sphäre.❙8 Hier        ein neues Deutschland entstanden.
handelt es sich um ein Dilemma: Nur eine
angemessene Vertretung der Ostdeutschen
in allen Elitesektoren, heute vor allem im                                 Schlussbilanz der DDR
Bereich der privaten und öffentlich-rechtli-
chen Massenmedien, kann die noch beste-             Wer den Weg, den Deutschland und spezi-
henden Diskursmauern abtragen. Zugleich             ell die Ostdeutschen nach der Wiederverei-
ist dieser Rückbau ein zentrales Mittel, um         nigung in den beiden nachfolgenden Jahr-
die Chancen Ostdeutscher in den Elite­re­           zehnten zurückgelegt haben, ermessen und
kru­t ie­r un­gen in Wirtschaft, Exekutive, Wis-    das Erreichte würdigen will, sollte mit ei-
senschaft und Massenkultur nachhaltig zu            ner Betrachtung der Schlussbilanz der DDR
verbessern. Mit diesem Dilemma beim Bau             beginnen. Der erst nach dem Fall der Mau-
deutscher Diskursbrücken muss unsere De-            er und der Öffnung der Archive mögliche,
mokratie ­leben.                                    nüchterne Blick auf die Hinterlassenschaf-
                                                    ten der SED offenbart, was viele seinerzeit
                                                    ahnten, aber aufgrund fehlender Öffentlich-
                                                    keit und der rigiden Geheimhaltungspolitik
                                                    der Machthaber nicht konkretisieren konn-
❙8 Vgl. Raj Kollmorgen, Subalternisierung. Formen
                                                    ten: Die DDR hat aus politisch-ideologischen
und Mechanismen der Missachtung Ostdeutscher
nach der Vereinigung, in: ders. et al. (Anm. 2).    Motiven weit über ihre Verhältnisse gelebt,
                                                    die Umwelt flächendeckend zerstört, Innen-
                                                    städte verfallen lassen und die Menschen in

                                                                                 APuZ 30–31/2010     13
ein zentralistisch gelenktes Korsett von Vor-           Tatsächlich erreichte der Staat nur etwa das
     gaben gespannt. Die sozialistische Diktatur,            Niveau der schwächsten EU-Länder.
     die letztlich nur wegen des Schutzes durch
     die Rote Armee und der Gewaltandrohung                    Wie zahlreiche Eingaben von DDR-Bürgern
     der „Sicherheitsorgane“ vier Jahrzehnte lang            an die Partei- und Staatsführung offenbarten,
     überleben konnte, hinterließ in der Natur und           bestimmten von Anfang bis Ende der DDR
     in der Psyche vieler Menschen einen Scher-              Versorgungsmängel den Alltag. Selbst in Ost-
     benhaufen. Der Preis der sozialen Sicherheit            Berlin, wo die SED-Führung viele Ressourcen
     auf niedrigem Niveau bestand in einer von               des privaten Verbrauchs konzentrierte, kam es
     einem linkstotalitären Anspruch der Herr-               immer wieder zu Engpässen bei bestimmten
     schenden geprägten Gesellschaft in der weit-            Produkten. Dabei ging es nicht nur um Bana-
     gehenden Entmündigung des Individuums.                  nen und andere Südfrüchte, sondern um Din-
                                                             ge des Alltags wie Straßenschuhe, Bettwäsche
       Wie marode die Wirtschaft tatsächlich war,            oder Puddingpulver. Die Neu- oder Ersatz-
     erfuhr eine breite Öffentlichkeit erst im Ok-           beschaffung von technischen Konsumgütern
     tober 1989, nach dem Sturz Erich Honeckers.             zog sich bei vielen Produkten, nicht nur bei
     Nun diagnostizierten Planer, Ökonomen und               Autos, zum Teil über Jahre hin. Selbst über-
     für die Volkswirtschaft zuständige Offiziere            höhte Preise für diese Güter schreckten die
     der Staatssicherheit den weitgehenden Zerfall           potenziellen Käufer nicht ab, denn es gab ei-
     der zentralistischen Planwirtschaft und ih-             nen Geldüberhang. Viele technische Konsum-
     rer industriellen Basis. Es wurde öffentlich,           güter waren nicht nur überteuert, sondern im
     wie veraltet und verschlissen die industriel-           Vergleich zu westlichen Produkten auch hoff-
     le Maschinerie, wie rückständig nahezu alle             nungslos veraltet.
     Wirtschaftsbereiche und wie hoch der Auf-
     wand für Reparaturen, Subventionen und                    Die Subventionierung von Grundnah-
     die Aufrechterhaltung der „inneren Sicher-              rungsmitteln, Energie und ähnlichen Gütern
     heit“ gewesen waren. Aus eigener Kraft hätte            führte im Resultat nicht nur zu Verschwen-
     die DDR nur mittels massiver sozialer Ein-              dung, sondern auch zu Verwahrlosung, so-
     schnitte überleben können. Der Sozialismus              zialer Nivellierung und Unterhöhlung der
     hatte in vielerlei Hinsicht von der 1945 über-          Leistungsbereitschaft. Kurz vor dem Ende
     nommenen Substanz gelebt, sie aufgebraucht              der DDR wurden von Experten Vorschläge
     und nur unzureichend ersetzt.                           vorgebracht, die Subventionierung aufzuhe-
                                                             ben und durch individuelle Förderung zu er-
        Wer meint, weil er in der DDR gelebt hat,            setzen, mithin den Weg einer sozialen oder
     kenne er sie hinreichend, sollte sein Bild nach         sozialistischen Marktwirtschaft zu gehen.
     Kenntnisnahme der seinerzeit nicht bekann-              An die Stelle vorgeschriebener billiger Mie-
     ten Daten und Fakten kritisch hinterfragen.❙1           ten wurde die Einführung von Wohngeld er-
     Nach der marxistisch-leninistischen Logik               wogen; die Reduktion oder Aufhebung der
     der SED-Führung war alles erlaubt, was dem              Subventionierung der Grundnahrungsmittel
     Sozialismus und der eigenen Partei diente. Bri-         sollte durch die Senkung der Preise von so ge-
     sante Daten über den Zustand der Wirtschaft,            nannten Luxusgütern kompensiert werden.
     die Außenhandelsbeziehungen mit der west-
     lichen Welt, die Ungleichheit bei Einkommen               Die mangelnde Leistungsbereitschaft vie-
     und Vermögen, den Zustand der Umwelt und                ler Werktätiger, hohe Ausfallzeiten und Kran-
     das Gesundheitswesen wurden auf Weisung                 kenstände wurden ebenfalls erst kurz vor dem
     von oben oder durch Selbstzensur eifriger               Ende des SED-Staates ausführlich auf der
     Untergebener geheim gehalten oder gefälscht.            Führungsebene thematisiert. Angesichts der
     So entstand das Bild einer ökonomisch star-             verdeckten Arbeitslosigkeit wäre auch ohne
     ken DDR, die angeblich unter den zehn füh-              Wiedervereinigung eine Arbeitslosenrate von
     renden Industrienationen der Welt rangierte.            mindestens zehn Prozent rasch Realität ge-
                                                             worden.❙2 Betriebsleiter und Wirtschaftslen-
     ❙1 Vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat
     und Gesellschaft, München 1998; ders., Das neue         ❙2 Vgl. Joachim Gürtler/Wolfgang Ruppert/Kurt
     Deutschland, Berlin 2010 (i. E.); Susanne Müller, Von   Vogler-Ludwig, Verdeckte Arbeitslosigkeit in der
     der Mangelwirtschaft zur Marktwirtschaft, Berlin        DDR. Ifo-Studien zur Arbeitsmarktforschung 5,
     2000.                                                   München 1990.

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