APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - BPB
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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 30–31/2010 · 26. Juli 2010 Deutsche Einheit Konrad Weiß Zwanzig Jahre danach Raj Kollmorgen Diskurse der deutschen Einheit Klaus Schroeder Deutschland nach der Wiedervereinigung Rolf Reißig Auf dem Weg zur zukunftsorientierten Transformation Michael C. Burda Wirtschaft in Ostdeutschland im 21. Jahrhundert Rüdiger Thomas Deutsche Kultur im Einigungsprozess Felix Ringel Hoytopia allerorten? Von der Freiheit zu bleiben
Editorial Seit dem Beitritt von fünf neuen Bundesländern zum Gel- tungsbereich des Grundgesetzes sind fast zwanzig Jahre vergan- gen. Jahrzehntelang blieb die Aufforderung in der Präambel, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, eine Utopie, fern wie ein Stück Mondgestein. Als die Macht der SED gebrochen war, wählten die Bürgerinnen und Bürger der DDR den möglichst raschen Beitritt. Der weit- gehend gewaltlose Untergang des SED-Staates und die Wieder- erlangung der deutschen Einheit im Einklang mit den Sieger- mächten und allen Nachbarn beendete die Nachkriegszeit. Die Ostdeutschen haben entschlossen in Angriff genommen, was ihnen die Transformation abverlangte. Und doch scheint die Einheit nicht „vollendet“. Den Mühen der Gebirge folgten jene der Ebenen. Die im Grundgesetz formulierte „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ bleibt ein Postulat. In der politischen Kultur und in den Mentalitätshaushalten vieler Bür- gerinnen und Bürger leben Ost-West-Unterschiede fort. Der Geschichte der deutschen Zweistaatlichkeit steht ihre Histori- sierung noch bevor, wie Debatten um die DDR-Vergangenheit immer wieder neu belegen. Mit der Generationenfolge scheinen die Ost-West-Gegensätze jedoch zu schwinden: Die Schablonen „Ossi“ und „Wessi“ mu- ten bereits an wie verhallende Echos aus grauer Vorzeit. Wer in diesem Sommer seine Abiturprüfungen ablegt, war im Herbst 1990 noch nicht geboren. In den jüngeren Generationen spielt es keine Rolle mehr, ob jemand im Erzgebirge oder in der Eifel zur Welt gekommen ist. Die Bewältigung der Ost wie West betref- fenden Krisen der westlichen Wachstumsgesellschaft und der Folgen des demographischen Wandels wird die gesellschaftliche und kulturelle Konvergenz der beiden Landesteile befördern. Hans-Georg Golz
Konrad Weiß gien, strahlen auf andere aus und ziehen viele in ihren Bann. Der Gipfel wird bezwungen, die Zwanzig Jahre danach Siege werden laut und glücklich gefeiert. Doch bald beginnt der mühsame Alltag, in dem die Essay Liebe, die Abenteuer, die Revolutionen erster- ben. Und je langsamer die Schritte werden, desto mehr klammern wir uns an die kostba- ren Erinnerungen, verkünden und verteidigen I n der Nacht zum 3. Oktober 1990, als die Wiedervereinigung vollzogen wurde, stand ich am Rande einer lauten Menschenmenge unsere gewonnene Weisheit, ohne dass wir mit derselben Kühnheit an sie glaubten. auf dem Pariser Platz Jetzt, zwanzig Jahre später, weiß ich: Ich habe Konrad Weiß in Berlin. Ich hatte am Recht behalten, und ich habe mich geirrt. Für Geb. 1942; bis 1990 Regisseur Abend in Leipzig einen mich ist das Jahr zwischen Friedlicher Revolu- im DEFA Studio für Dokumen- Vortrag gehalten und tion und Wiedervereinigung noch immer ganz tarfilme, Berlin; 1989 Mitbe- war dann, so schnell es nah und lebendig und etwas ganz und gar Ein- gründer und Sprecher der mein alter Dacia her- maliges. Aber ich bin auch demütiger geworden Bürgerbewegung „Demokratie gab, nach Berlin gefah- und weiß, dass Transformationen, auch wenn Jetzt“; Abgeordneter der frei ren: Ich wollte um Mit- das früher nicht so hieß, in der Geschichte eher gewählten Volkskammer und ternacht am Branden- die Regel denn die Ausnahme sind. Die Zeitge- des Deutschen Bundestags; burger Tor sein. Mehr nossen der Freiheitskriege oder der Märzrevo- seit 1995 freier Publizist, als ein Jahr lang hatte lution werden ihre Revolutionen mit der glei- Kreuzstraße 18b, 13187 Berlin. ich auf diesen Augen- chen Begeisterung, dem gleichen Gefühl der k.weiss@bln.de blick hingearbeitet: in Einmaligkeit erlebt haben wie wir die unse- der Bürgerbewegung re. Es gibt genug Zeugnisse dafür. Doch auch Demokratie Jetzt, am Runden Tisch, in der ihre Leidenschaft ist irgendwann erkaltet, auch Volkskammer. Auch wenn der Weg zur Einheit ihre Ideen und Ideale haben manchmal zu an- ein anderer war, als ich ihn mir gewünscht und derem geführt, als sie gewollt hatten. Das min- vorgestellt hatte, auch wenn der Einigungsver- dert unser Erleben nicht, es ordnet es ein. „Es trag in vielen Punkten so problematisch war, ist nicht wahr/daß Geschichte/gefälscht wird/ dass ich ihn zuletzt in der Volkskammer abge- Sie hat sich großenteils/wirklich/falsch/zu- lehnt hatte – das Ziel, die Wiedervereinigung, getragen/Ich kann das bezeugen:/Ich war da- war auch meines gewesen. Und nun stand ich bei“, heißt es in einem Gedicht von Erich Fried, Unter den Linden, während aus der Ferne vom das immer auf meinem Schreibtisch liegt. Und: Reichstag her Bruchstücke erst der Reden, „Doch leicht begreiflich/daß jetzt/die verschie- dann der Nationalhymne herüberklangen und denen Seiten/verbesserte Fassungen/nachlie- das Brandenburger Tor von einem Feuerwerk fern/die das Geschehene/nicht/so sehr berich- illuminiert wurde. ten/wie berichtigen wollen.“❙1 Ich betrachtete aufmerksam die Menschen Davor, die Geschichte nicht berichten, son- um mich herum, die auf ganz verschiedene Wei- dern berichtigen zu wollen, sind weder His- se an dem Ereignis teilhatten. Die einen still für toriker noch Politiker gefeit, erst recht nicht sich und mit Tränen in den Augen. Andere ver- Zeitzeugen. Aber dass in unserer rationalen suchten ungeübt die neue Nationalhymne mit- Welt die Legenden so lebhaft wuchern und zusingen – so mancher, wie mir schien, sang sich manche als schier unausrottbar erwei- mit den alten Worten. Andere waren fröhlich sen würden, das habe ich mir damals in der und ausgelassen. Nur wenige, die wohl dem Nacht vor dem Brandenburger Tor wirklich Bier schon zu reichlich zugesprochen hatten, nicht träumen lassen. störten den Augenblick mit Grölen. Und ich fragte mich also: Wie wird das wiedervereinig- Zu diesen hartnäckigen Legenden gehört, te Land, dieses Neuland, wohl sein? die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 hätten einen „Dritten Weg“ gewollt und sei- Es muss uns nicht verwundern, hatte ich am en allesamt Einheitsgegner gewesen. Nun hat Abend in Leipzig gesagt, was mit uns Deut- schen geschieht. So verlaufen doch alle Aben- ❙1 Erich Fried, Die Engel der Geschichte, in: Gesam- teuer: Sie beginnen mit der Eruption der Ener- melte Werke, Berlin 1993, Bd. 2, S. 491. APuZ 30–31/2010 3
es sicher unter uns Einheitsskeptiker gegeben; wesentlichen Kritikpunkte war, dass keine die gab es auch in der CDU und erst recht bei umfassende und abschließende Regelung für den Sozialdemokraten. Die große Mehrheit die Rückgabe des in der Zeit des Nationalsozi- der Bürgerrechtler aber wollte die Einheit. alismus zwangsweise „arisierten“ Eigentums Doch wir wollten sie auf dem zweiten Weg, getroffen worden war. Und dass das Rehabili- den das Grundgesetz dafür vorgesehen hatte, tierungsgesetz der Volkskammer für die Opfer dem konstitutionellen Weg nach Artikel 146. des SED-Regimes im wiedervereinigten Land Die Mehrheit in beiden deutschen Parlamen- nur in Bruchstücken fortgelten sollte. Ein an- ten und die beiden Regierungen aber hatten derer lag darin, dass wesentliche Nachbesse- sich für die administrative Variante entschie- rungsaufträge der Volkskammer, insbesondere den, also den Beitritt nach Artikel 23. Beide zum Eigentumsrecht, zu sozialen Rechten und Wege waren denkbar, beide waren legitim. zur Neuordnung des Rundfunks, unberück- Wir hatten gehofft, dass der von uns präfe- sichtigt geblieben waren. „Ich will die Einheit rierte Weg den Ostdeutschen manche Ver- Deutschlands“, sagte ich damals im Plenum, werfung ersparen könnte. Und dass der de- „und ich habe engagiert dafür gearbeitet. Aber mokratische Prozess einer Verfassungsdebatte dieser Vertrag hat in seiner endgültigen Fas- zu mehr Mündigkeit und zur nachhaltigen sung so wesentliche Mängel, daß er in vielem Aneignung demokratischer Ideen und Wer- den Bürgerinnen und Bürgern, denen ich Re- te führen würde. Tatsache ist jedenfalls, dass chenschaft schuldig bin, schadet.“❙2 die Mehrheit der Deutschen im Osten wie im Westen es dann anders wollte als die Mütter Die dritte und hartnäckigste der seit zwan- und Väter der Friedlichen Revolution. zig Jahren wuchernden Legenden und zugleich die merkwürdigste aber lautet, die erst in PDS, Unser Ziel im Herbst 1989 war es gewe- dann in Linkspartei umbenannte SED sei die sen, die Macht der Kommunisten zu brechen legitime Vertreterin ostdeutscher Interessen und die DDR zu demokratisieren. Aus dem und die wahre Hüterin sozialer Gerechtigkeit. Unrechtsstaat eine Rechtsstaat zu machen, Das ist nun wirklich eine „verbesserte“ Fas- in dem Freiheit herrscht und die Menschen- sung der Geschichte, die schwer zu ertragen und Bürgerrechte respektiert werden: Dafür ist. Allerdings ist diese Legende kein Wild- die Voraussetzungen zu schaffen, war unse- wuchs, wie viele naiv meinen, sondern das Er- re Aufgabe in den Bürgerbewegungen und gebnis gezielter Agitation und Propaganda, am Runden Tisch. Daran haben wir bis zur jahrelang geschickt gestreut und unters Volk Volkskammerwahl am 18. März 1990 unbe- gebracht. Bereits in ihrem Programm aus dem irrt gearbeitet. Mit dem Tag der ersten freien Jahr 1993 behauptete die PDS unverfroren: Wahl in der DDR hatten wir unser Ziel er- „Die Ursprünge unserer Partei liegen im Auf- reicht. Danach, so geht eine zweite Legende, bruch des Herbstes 1989 in der DDR“❙3 – als hätten die Regierungen Kohl und de Maizière hätte es nie eine SED gegeben, als sei die PDS alles Weitere erledigt. Dass aber die Wieder- nicht die politische und juristische Nachfolge- vereinung von beiden Parlamenten, von der rin und Nutznießerin der DDR-Staatspartei. Volkskammer und vom Deutschen Bundes- Die Relativierung der eigenen totalitären Ver- tag, aktiv gestaltet wurde, ist zu wenig be- gangenheit setzt sich fort und ist auch noch im kannt und wird kaum gewürdigt. Es war jüngsten Programmentwurf der Linkspartei eben kein bloßer administrativer Vorgang, zu finden. Ich habe mich immer gefragt, wa- sondern ein demokratischer Prozess. Es hat rum so viele Ostdeutsche die Nachfolger ei- in beiden Parlamenten die Ausschüsse Deut- ner Partei, deren Terror sie jahrzehntelang sche Einheit gegeben, die federführend wa- zu ertragen hatten, trotz der offensichtlichen ren. Und beide Parlamente hatten ein gewal- Demagogie immer noch wählen. Und wie sie tiges Arbeitspensum zu leisten. den gewissenlosen Kadern von gestern heute ein soziales Gewissen zubilligen können. Parlamentarier waren überdies Mitglied in der Verhandlungskommission zum Eini- gungsvertrag; ich war es für das damals noch ❙2 Volkskammer der DDR, 10. Wahlperiode, 36. Ta- gung vom 20. 9. 1990, S. 1751; online: http://webar- nicht konstituierte Land Brandenburg. Das chiv.bundestag.de/volkskammer/dokumente/proto- Ergebnis allerdings war für mich so unbefrie- kolle/1036.pdf (15. 6. 2010). digend, dass ich den Einigungsvertrag in der ❙3 PDS (Hrsg.), Programm der Partei des Demokrati- Volkskammer abgelehnt habe. Einer meiner schen Sozialismus, Berlin 1993, S. 1. 4 APuZ 30–31/2010
Eine andere Facette dieser Geschichtsklit- Arbeitsplätze waren nur deshalb sicher, weil terung ist das schwindelerregende Tempo die Wirtschaft total reguliert war und sich bei der Transformation der Blockparteien, das Angebot nicht an der Nachfrage ori- also der kommunistischen CDU, der LDPD, entierte, sondern an Parteitagsbeschlüssen. der Bauernpartei, der NDPD, zu demokra- Die Mieten waren nur deshalb so billig, weil tischen Parteien. Ihre Exkulpation haben sie die Häuser niemandes Eigentum waren und nur deshalb so billig bekommen, weil sie als verfielen. Das Gesundheits- und Sozialwe- Mehrheitsbeschaffer gebraucht wurden. Die sen schien nur deshalb für alle gleich, weil Auseinandersetzung mit ihrer roten Vergan- die Parteifunktionäre und Regimegünstlin- genheit haben sie bis heute nicht geleistet. Das ge ihre zahlreichen großen und kleinen Privi- hat zum Niedergang und Ansehensverlust legien sorgfältig verbargen. Und wenn Men- der demokratischen Parteien im wiederver- schen in der DDR sich wohlgefühlt haben, einigten Deutschland beigetragen. Ich habe weil der Staat für sie dachte und handelte und Elektriker gelernt, und weiß, dass auf der ei- ihnen ein Auskommen gab, dann zeugt das nen Seite eines Transformators nur das her- nur davon, wie sehr sie in den Jahrzehnten auskommt, was auf der anderen, stärker oder der Diktaturen deformiert worden waren. schwächer, eingespeist worden ist. Und dass man die Transformation jederzeit umkehren Zum großen und unschätzbaren Gewinn kann. Auch wenn man technische Prozesse der Einheit zählt für mich, dass wir Stabili- nicht auf gesellschaftliche übertragen sollte, tät und Frieden haben und eingebunden sind richtig ist jedenfalls, dass das Heute immer in die Gemeinschaft der Europäer. Ich habe in auch vom Gestern abhängig ist. den Jahren nach dem Krieg schmerzlich genug erfahren müssen, was es heißt, Deutscher zu In den vergangenen zwanzig Jahren sind Bi- sein. Ich bin dankbar für die Solidarität, die bliotheken vollgeschrieben worden mit Ana- wir Ostdeutschen in der Friedlichen Revolu- lysen und Berichten, was beim Einigungs- tion aus den ehemaligen Feindländern erfah- prozess und danach alles falsch gemacht ren haben, von Israelis, Polen und Russen, von worden ist. Natürlich gab und gibt es Defizi- Franzosen und Amerikanern. Die Nacht des te. Natürlich wurden Fehler, auch gravieren- Mauerfalls war für mich die erste Nacht des de, gemacht. Aber das, was wir gewonnen ha- Friedens. Und ich war und bin dankbar, dass ben, wiegt ungleich schwerer, allem voran die wir Ostdeutschen, anders als unsere ost- und Freiheit. Wer wie ich die längste Zeit seines mitteleuropäischen Freunde, die Mitglied- Lebens in einem Land gelebt hat, in dem der schaft in der Europäischen Union so bald be- Staat sich anmaßte, alles, aber auch wirklich kommen haben. Während Polen oder Ungarn alles für „seine“ Untertanen zu regeln und zu oder Litauer gewaltige Opfer bringen muss- entscheiden, ihnen willkürlich Vorschriften ten, um die Voraussetzungen für die Aufnah- zu machen und beliebig Grenzen zu setzen, me zu schaffen, wurde sie uns geschenkt: Mit sie zu gängeln, sie abhängig und unmündig zu dem Tag der Wiedervereinigung waren wir halten, der weiß, dass es kein höheres Gut für Mitglied. Auch das haben heute viele verges- den Menschen gibt als die Freiheit. Ich möch- sen oder wollen es nicht mehr wahrhaben. te schreien, wenn ich heute von Achtzehnjäh- rigen höre, wie großartig die DDR und ihr Als ich vor zwanzig Jahren vor dem Bran- Sozialismus gewesen seien, wie sicher, sozial denburger Tor stand, konnte ich mir nicht und gerecht es dort zugegangen sei. Dass wir vorstellen, dass so viele Ostdeutsche so bald es nach der Friedlichen Revolution nicht ge- die gewonnene Freiheit und Demokratie ge- schafft haben, das Feuer der Freiheit für alle ring schätzen würden. Dass sie sich diese lebendig zu halten, deprimiert mich zutiefst. kalte, graue, enge DDR schön reden und ihr nachtrauern würden. Aber auch das gehört Zu dem, was die Ostdeutschen gewonnen offenbar unausweichlich zu jedem Transfor- haben, gehören Demokratie, Rechtsstaatlich- mationsprozess. Ich hoffe zwar, dass der un- keit und die Respektierung der Menschen- sere, der Weg vom Totalitarismus zur De- rechte. Ich halte es für fatal, wenn dem der mokratie, unumkehrbar ist. Aber ich bin Verlust des Arbeitsplatzes oder soziale Un- mir längst nicht mehr sicher, dass Menschen sicherheit entgegengehalten wird. Denn die wirklich aus der Geschichte lernen können. „sozialen Errungenschaften“ der DDR hat- ten einen unverantwortlich hohen Preis: Die APuZ 30–31/2010 5
Raj Kollmorgen hat in den vergangenen zehn Jahren weiter an Bedeutung verloren. In den überregiona- Diskurse der len Massenmedien etwa haben sich – je nach Messmethode und Sample – die Anteile von Beiträgen zu Ostdeutschland und zum ost- deutschen Einheit deutschen Umbruch seit Anfang der 1990er Jahre halbiert oder sind, wie eine eigene Er- hebung für zwei überregionale Tageszeitun- gen zeigt (Abbildung), sogar bis auf ein Achtel D ie deutsche Einheit stellt heute für die alltägliche Lebenspraxis eine Selbstver- ständlichkeit dar. Zugleich lässt sich nicht nur des Ausgangswertes geschrumpft. Das Aus- maß der Berichterstattung zur deutschen Ein- heit hat sich im selben Zeitraum noch einmal an der Verteilung der leicht verringert und bewegt sich heute im Be- Raj Kollmorgen wirtschaftlichen Leis- reich von etwa einem Prozent aller Beiträge.❙3 Dr. phil., geb. 1963; Privatdo- tungskraft und der zent am Institut für Soziologie, Vermögen, der Binnen- Im sozialwissenschaftlichen Diskursfeld Otto-von-Guericke-Universität wanderungen oder an- folgte dem Boom der Ostdeutschland- und Magdeburg, Zschokkestraße 32, hand kollektiver Iden- Vereinigungsforschung eine Stabilisierung auf 39104 Magdeburg. titäten eine hartnäcki- hohem Niveau bis zum Ende der 1990er Jah- raj.kollmorgen@ovgu.de ge Ost-West-Differenz re. In den vergangenen zehn, vor allem aber erkennen. Auch das fünf Jahren ist ein deutlicher Rückgang ent- Kommunizieren über die ostdeutsche Trans- sprechender Forschungsanstrengungen fest- formation und die deutsche Einheit zeigt bis zustellen. Die Verminderung bewegt sich im heute deutliche Asymmetrien und Ungleich- Bereich von etwa 30 bis 50 Prozent gegenüber heiten. den Höchstwerten.❙4 Sich mit den Diskursen der Einheit zu be- ❙1 Diskurse sind spezifisch geregelte und thematisch schäftigen, ist kein Selbstzweck. Diskursana- eingegrenzte sprachliche Sozialverhältnisse, wie sie in Textproduktion und -rezeption sowie mündli- lytische Zugänge behaupten, dass sich in den cher, schriftlicher und bildlicher Kommunikation re- Ausmaßen, Inhalten und Formen der Dis- alisiert werden. In Diskursfeldern ringen „Diskurs- kurse nicht nur die sozialen Macht- und ma- gemeinschaften“ und ihre wichtigsten „Sprecher“ teriellen Verteilungsverhältnisse ausdrücken. („Diskurseliten“) mit jeweils dominanten Strategi- Vielmehr repräsentiert die Diskursgestaltung en um die Gewinnung und Veränderung diskursiver selbst ein wichtiges Formierungselement der Hegemonie (oder: legitimer Diskursbeherrschung) – als Selbstzweck und zur Beherrschung anderer For- politischen, ökonomischen und kulturellen men sozialer Praxis. Machtstrukturen. Diskurse bilden soziale ❙2 Die folgenden Befunde verdanken sich einem lang- Realitäten nicht ab, sondern konstruieren sie jährigen Forschungszusammenhang im Rahmen des In- in hegemonial umkämpfter Form, wodurch novationsverbundes und Netzwerkes Ostdeutschland- sie die Möglichkeiten der Veränderung sozia- forschung (www.ostdeutschlandforschung.net). Für die ler Praxis mitbestimmen.❙1 Bereitstellung von Daten und für kritische Hinweise habe ich vor allem Thomas Hanf, Torsten Hans, Frank Thomas Koch und Michael Thomas zu danken. Eine Wie haben sich vor diesem Hintergrund in ausführliche Analyse der Diskurse mit den entspre- drei soziopolitisch höchst relevanten Feldern chenden Quellen und Literaturen – auf deren detaillier- (parteipolitisch-programmatischer, sozialwis- ten Nachweis deshalb hier verzichtet wird – findet sich senschaftlicher und massenmedialer Diskurs) bei Raj Kollmorgen/Frank Thomas Koch/Hans-Liud die Diskurse über die deutsche Einheit und ger Dienel (Hrsg.), Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2010 (i. E.). Ostdeutschland in zwanzig Jahren entwickelt? ❙3 Siehe die detaillierten Befunde bei R. Kollmorgen Welche Differenzen und Interdiskurse sind et al. (Anm. 2); vgl. auch Thomas Ahbe/Rainer Gries/ beobachtbar?❙2 Wolfgang Schmale (Hrsg.), Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leip- zig 2009; Sven Kersten Roth/Markus Wienen (Hrsg.), Diskursiver Bedeutungsverlust, Diskursmauern. Aktuelle Aspekte der sprachlichen Event-Orientierung, Ritualisierung Verhältnisse zwischen Ost und West, Bremen 2008. ❙4 Vgl. insgesamt zu diesem Diskursfeld auch: Raj Kollmorgen, Ostdeutschlandforschung. Status quo Die diskursive Beschäftigung mit dem Thema und Entwicklungschancen, in: Soziologie, 38 (2008) „Ostdeutschland“ und „deutsche Einheit“ 2, S. 9–39. 6 APuZ 30–31/2010
Abbildung: „Ostdeutschland“ in Artikelüberschriften der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) und der „tageszeitung“ (taz), 1993–2008 (jeweils im Monat Mai) 100 Anzahl der Erwähnungen 80 60 40 20 0 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 FAZ taz Quelle: eigene Erhebung auf Basis eines Forschungskonzepts von Sven Kersten Roth. Im parteipolitisch-programmatischen Dis- Parteipolitisch-programmatischer kurs, wie er sich exemplarisch in der Ent- Diskurs wicklung von Parteitagsthemen, Berichten und Leitbildern zeigt, wird eine Dynamik Der hegemoniale Diskurs im parteipolitisch- sichtbar, die nach einem Hoch (1989/90– programmatischen Feld hat seit 1990 eine Rei- 1993/94) zunächst ein deutliches Abschmel- he thematischer Wandlungen erfahren. Dabei zen der Auseinandersetzung zeigt. Zwischen lässt sich eine Verlaufskurve rekonstruieren, 1998, dem Regierungsantritt der rotgrünen die bei staatsrechtlichen und politischen As- Regierungskoalition, und 2005 erfolgte ein pekten („äußere Einheit“) ansetzte (1989– Wiedererstarken, das seitdem einer erneu- 1991), dann die wirtschaftlichen Umbaupro- ten Schrumpfung gewichen ist, sich aller- zesse in Ostdeutschland („wirtschaftliche dings bis 2008/09 über dem Niveau der Jahre Einheit“) sowie – zeitlich leicht versetzt – 1996/97 bewegt.❙5 die institutionellen und politisch-kulturellen Vereinigungsprobleme fokussierte („inne- Ein wichtiges Merkmal der quantitativen re Einheit“, 1992–1998). Daran anschließend Dynamik in allen drei Diskursfeldern ist kehrte der Diskurs mit neuen Akzentsetzun- die Event-Orientierung. Neben dem Hoch- gen zu Problemen der wirtschaftlichen, sozi- schnellen der massenmedialen Aufmerksam- alen und politischen Entwicklungen in Ost- keit gegenüber dem Osten im Zusammen- deutschland zurück und fragte nach dem hang mit Großereignissen und Skandalen Maß, den Zeithorizonten und Wegen einer (G7-Gipfel in Heiligendamm; Investitions- „sozialen Einheit“ (1999–2009). ruinen im Osten; Landtags- oder Bundes- tagswahlen) lösen diskursübergreifend Ge- Für die Gestaltung der Diskurse und ihre denk- und Feiertage, herausragend der Tag Wirkungen ist es von zentraler Bedeutung, der Deutschen Einheit am 3. Oktober, und wie Themen diskursiv kodiert werden. Ko- insbesondere deren Jubiläen (zuletzt 2004/05 dierungen umfassen einerseits die kognitive sowie 2009/10) Schübe an medialer Beschäf- Ordnung des kommunizierten Materials. tigung aus, wobei seit Ende der 1990er Jahre Dabei wird unter Bezug auf Weltbilder und vor allem in den Massenmedien und partiell Ideologien nicht nur eine Auswahl und Hier- im politischen Diskurs zugleich eine Rituali- archisierung von Themen sowie die Ein- und sierung erkennbar ist. Ausgrenzung zulässiger Probleme vorge- nommen, sondern ein Deutungs- und Erklä- ❙5 Detaillierte Analysen dieses Feldes bei Frank Tho- rungsrahmen generiert, der spezifische Se- mas Koch, „Für ein modernes und soziales Deutsch- mantiken und Bedeutungsketten einschließt. land“? Diskurse im politischen Raum, in: R. Koll- Zudem erfolgt eine Bewertung diskursiver morgen et al. (Anm. 2). Beiträge und der ihnen zugrunde liegenden APuZ 30–31/2010 7
sozialen Praxis. Diese normative Komponen- nes Umbaus – als auch die klare Ausrichtung te ist mit den realen Machtverhältnissen, also auf einen institutionellen „Nachbau West“ den Interessenlagen, Machtpositionen und sowie (politisch-)kulturelle Anpassungspro- Konfliktlinien im Handlungsfeld, unauflös- zesse des Ostens, die schließlich zur „inne- bar verwoben. ren Einheit“ führen sollten. Die Kodierungen durch die hegemonialen Der alternative Diskurs wurde von SPD Diskursgemeinschaften und ihre Eliten sind und Bündnis 90/Die Grünen geführt, wo- nicht alternativlos. Neben Auseinanderset- bei hier ostdeutsche Politikerinnen und Po- zungen und Entwicklungen innerhalb von litiker deutlich stärker profilbildend wirkten. Diskursgemeinschaften, hier etwa politische Dieser Diskurs setzte drei zentrale Kontra- Parteien oder Koalitionen, sind idealtypisch punkte: Erstens sollte die deutsche Einheit zwei weitere Formen zu unterscheiden. Zum keinen einseitigen Anpassungsprozess vor- einen ringen konkurrierende Gemeinschaf- sehen, sondern in Reflexion der DDR-Ge- ten im Rahmen des jeweils legitimen Diskur- schichte und der demokratischen Reformen ses, d. h. einer grundsätzlich geteilten Werte- 1989/90 als Vereinigung Gleicher vollzogen ordnung, Weltdeutung und Semantik sowie werden. Dafür standen symbolisch der Ver- wechselseitiger Anerkennung als legitime fassungsentwurf des Zentralen Runden Ti- Diskursteilnehmer, um angemessene und sches der DDR und die favorisierte Form der machtvolle Wirklichkeitsdeutungen. Exem- Vereinigung nach Artikel 146 GG. Zweitens plarisch kann hier auf die politisch-program- wurde in dieser links-libertären Diskursge- matischen Konflikte zwischen CDU/CSU meinschaft bestritten, dass es angesichts der und SPD verwiesen werden. Zum anderen Misserfolge im „Aufbau Ost“ (Deindustri- ist auf explizite Gegendiskurse aufmerksam alisierung, Massenarbeitslosigkeit) zu einer zu machen. Diese ruhen auf substanziell an- raschen Herstellung gleichwertiger Wirt- deren Weltbildern, Ideologien sowie Bewer- schafts- und Lebensverhältnisse wie sozi- tungsrahmen und üben damit „Fundamen- aler Identitäten und Wertordnungen nach talkritik“ an den hegemonialen Positionen, dem Muster der alten Bundesrepublik kom- was bis zur Infragestellung des Macht- und men werde. Demgegenüber wurde auf die Deutungsrahmens reichen kann. Damit sind produktive Funktion eigenständiger Insti- kommunikative Missverständnisse, Barrie- tutionalisierungen, soziokulturell differen- ren oder sogar Exklusionen des Gegendis- ter Erfahrungen und pluraler Identitäten auf- kurses verbunden. Der jahrelange Umgang merksam gemacht. Drittens wurde trotz der von CDU/CSU und FDP mit der PDS etwa unverkennbaren Erfolge die Notwendigkeit illustriert diese Praxis. einer längerfristigen staatlichen und gesell- schaftspolitischen Gestaltung einer „sozia- Für das politisch-programmatische Feld len Einheit“ hervorgehoben. Diese Kodie- wird für die Jahre 1990 bis etwa 1997/98 eine rungen gewannen ab 1994/95 an Einfluss und hegemoniale Position des liberal-konservati- begannen die liberal-konservative Hegemo- ven Diskurses erkennbar, wobei die einfluss- nie zu unterminieren.❙6 Mit dem Antritt der reichsten Sprecherinnen und Sprecher West- rotgrünen Bundesregierung (1998) setzte sich deutsche waren. Diese Position kodierte den diese Position – sinnfällig erkennbar an der Vereinigungsprozess durch eine doppelte Einrichtung eines „Beauftragten der Bundes- Deutungs- und Bewertungsfigur: Einerseits regierung für die neuen Bundesländer“ – im sollten durch den „Beitritt“ nach Artikel 23 Diskurs durch. GG nicht nur die DDR-Eliten endgültig ent- machtet und weitere „soziale Experimente“ Marginalisiert und in den ersten Jahren so- ausgeschlossen werden, sondern rasch „blü- gar exkludiert blieb der politische Gegendis- hende Landschaften“ in den neuen Ländern kurs, wie er von der PDS unter großer Do- entstehen. Dieses „Aufblühen“ sollte ande- rerseits durch das Programm „Aufbau Ost“ ❙6 Das wird zum Beispiel an der Durchsetzung des unterstützt werden, das als kurzfristiger so- jährlichen „Berichts der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit“ erkennbar, der auf Antrag lidarischer Kraftakt aller Deutschen kom- von SPD und Bündnis 90/Die Grünen seit 1997 vor- muniziert wurde. „Beitritt“ und „Aufbau“ gelegt wird, wobei diese Berichtspflicht nach den suggerierten dabei sowohl die Notwendig- Vorstellungen von CDU und CSU zunächst auf drei keit eines wirklichen Neubeginns – also kei- Jahre befristet wurde. 8 APuZ 30–31/2010
minanz ostdeutscher Sprecherinnen und bedient sich modernisierungstheoretischer Sprecher geführt wurde. Hier kodierten das Modelle. Hier betonen alle Parteien die er- Verständnis des Beitritts als „Kolonialisie- heblichen sozioökonomischen Entwick- rung“, materielle und symbolische „Enteig- lungschancen Ostdeutschlands, wodurch nung“ sowie ein „zweitklassiger“ Status der die neuen Bundesländer zu Schrittmachern Ostdeutschen die Wirklichkeitsdeutung. Da- der Modernisierung Deutschlands und zu bei wurde der Gesamtprozess von Transfor- europäischen Modellregionen werden kön- mation und deutscher Einheit in den ersten nen. Diese Referenzfolie wird in die über- Jahren fast durchgängig als Misserfolg be- wölbenden Weltbilder und Ideologien der wertet. Parteien integriert, so dass für die CDU die „Chancengesellschaft“ unter Betonung in- Zusammenfassend lassen sich für die vestiver Potenziale im Mittelpunkt steht, 1990er Jahre deutliche Spaltungstendenzen wohingegen die SPD das Leitbild eines „mo- mit der Folge wechselseitiger Sterilisierun- dernen und sozialen“ Ost- und Gesamt- gen und Ritualisierungen feststellen, wobei deutschlands mit Blick auf eine moderne die Abschottungen zwischen den politischen Arbeitnehmerschaft entwirft. Bündnis 90/ „Blöcken“ die entscheidenden darstellten, Die Grünen wie Die Linke verorten dem- die von ost-westdeutschen Asymmetrien er- gegenüber die Chancen Ostdeutschlands im gänzt wurden. Diese Konstellation hat sich „doppelten Umbruch“❙7 als Vorreiter einer in den vergangenen zehn Jahren zum Teil „sozial-ökologischen Modernisierung“ un- deutlich verändert. Sowohl die Dynamiken ter Einbezug neuer zivilgesellschaftlicher des Transformations- und Vereinigungspro- Akteure und sozialer Teilhabemodelle. In- zesses mit seinen wechselnden komplexen teressanterweise spielt für die Grünen das Problemlagen und ambivalenten Zwischen- Ost-West-Verhältnis in der Diskussion ost- bilanzen wie die zwischen den Blöcken gebil- deutscher Chancen keine konstitutive Rolle deten Koalitionen auf Landes- und Bundes- mehr. ebene haben zu einer partiellen Verwischung diskursiver Lagergrenzen, ja zu wechselsei- tigen inhaltlichen Annäherungen gegenüber Sozialwissenschaftlicher Diskurs den (ost-)deutschen Entwicklungsperspekti- ven geführt. Der sozialwissenschaftliche Diskurs zeichnet sich zunächst thematisch durch eine dem po- Aus den jüngsten Leitbildern für Ost- litisch-programmatischen Diskurs vergleich- deutschland (2008/09) lassen sich lagerüber- bare Verlaufskurve aus. Dabei zeigte sich in greifend zwei zentrale Referenzpunkte des- den ersten beiden Jahren eine gewisse Sprach-, tillieren. Der erste besteht in der Vorstellung ja Konzeptlosigkeit in der Forschung, die von sozialer Gleichheit bzw. Gleichwertig- von der „friedlichen Revolution“ und der keit zwischen Ost- und Westdeutschland. Dynamik des deutschen Vereinigungspro- Diese erstreckt sich nicht allein auf materielle zesses überrascht worden war. Schnell kam Einkünfte, Anrechte und Leistungen sowie es dann aber zu einer Konturierung des Dis- Lebensbedingungen („Gleichwertigkeit der kurses, der konzeptuell ein polares Feld auf- Lebensverhältnisse“, Art. 72 GG). Sie enthält spannte: Auf der einen Seite wurde ein Erklä- auch demokratische Partizipation und die so- rungs- und Deutungsrahmen entwickelt, der ziale Wertschätzung von gelebten Leben, von die ostdeutsche Transformation als „nachho- Eigensinn und Identitäten. Allerdings diffe- lende Modernisierung“ (W. Zapf) und den rieren dabei die Ausdeutungen: Während die Vereinigungsprozess im Kern als instituti- CDU hinsichtlich des materiellen Gleich- onellen Implementationsprozess der bun- wertigkeitsaspekts am reserviertesten geblie- desdeutschen Ordnung von oben nach un- ben ist und zugleich auf wachsende Defizite ten sowie paralleler Enkulturationen der in westdeutschen Problemregionen verweist, beharrt Die Linke auf einer engen Interpre- tation unter gleichzeitiger Hervorhebung der ❙7 Der Begriff „doppelter Umbruch“ thematisiert die parallele Herausforderung einer postsozialisti- Überwindung sittlicher Missachtungen. schen und einer – plakativ formuliert – postfordisti- schen oder weiter: postmodernen Transformation in Eine zweite, stärker auf die ostdeutschen Ostdeutschland unter Bereinigungs- und Globalisie- Zukunftschancen zielende Referenzfolie rungsbedingungen. APuZ 30–31/2010 9
Ostdeutschen interpretierte. Schon 1995/96 Zwar wurden diese Diskurskonstellati- w urde in dieser wissenschaftlichen Diskurs- on und ihre Spaltungslinien auch von den gemeinschaft, die zwar in einzelnen Aspek- jeweils herangezogenen Theorien und For- ten Kritik am realen Vereinigungsprozess schungsprogrammen grundiert. Als ein- übte, sich aber insgesamt affirmativ zum po- flussreicher erwiesen sich aber politisch- litischen Beitrittsmodell und seiner Transfor- ideologische Verortungen, der soziale und mationslogik verhielt, von einem (weitgehen- akademische Status sowie die Herkunft. den) Erfolg des Umbaus und der Vereinigung Während die erste Position mit ihren hete- gesprochen, wodurch sich weitere, exzeptio- rogenen Spielarten im Kern von der akade- nelle Transformations- und Vereinigungsfor- misch-professionellen Soziologie und in ihr schung erübrige. durch westdeutsche Forscherinnen und For- scher mit eher liberal-konservativen politi- Auf der anderen Seite etablierte sich ein schen Einstellungen vertreten wurde, sam- Erklärungs- und Bewertungsrahmen, der melten sich im erstgenannten alternativen sich kritisch mit dem systemtheoretisch- Diskurs neben einer Minderheit westdeut- modernisierungstheoretischen Modell aus- scher SozialwissenschaftlerInnen des aka- einandersetzte. Dabei sind zwei Varianten demischen Betriebs vor allem Ostdeutsche zu unterscheiden. Ein alternativer Diskurs mit eher linksreformistischer Orientierung, kritisierte die Leerstellen im Bereich von wobei letztere bestenfalls am Rand der aka- Machtinteressen und Machtverhältnissen im demischen Forschung (als befristet Beschäf- Vereinigungsprozess, die Unterbelichtung tigte) oder im freien außeruniversitären soziokultureller Aspekte („Sozialintegrati- Raum agierten. Die Position des radikalen on“ gegenüber institutioneller „Systemin- und akademisch weitgehend ausgegrenz- tegration“), mithin den Mangel an Analy- ten Gegendiskurses wurde von wenigen lin- sen ostdeutscher Transformationsprozesse ken westdeutschen, aber auch von im Zuge von unten. Darüber hinaus wurde die ein- des Elitentransfers akademisch exkludier- engende Perspektive auf deutsch-deutsche ten ostdeutschen, oft älteren Sozialwissen- Verhältnisse, auf den Nachbau der (keines- schaftlerinnen und -wissenschaftlern einge- wegs umfänglich „modernen“) westdeut- nommen. Es kann nicht überraschen, dass schen Institutionenordnung sowie ein Man- der erstgenannte Diskurs eine hegemoniale gel an mittelosteuropäischen Vergleichen Stellung eroberte und sie in den ersten fünf beanstandet. Mit dieser erkenntniskriti- Jahren auch hielt. Danach schwand zwar sein schen Positionierung war im Regelfall eine Einfluss, und die Hegemonie ging schritt- Gesellschaftskritik am Modus der Vereini- weise an den zweiten Diskurs über. Das war gung und der ostdeutschen Transformation aber mit einem deutlichen Bedeutungsver- verbunden. Diese konzentrierte sich auf das lust dieses Forschungsfeldes für die aka- Modell einer neoliberal und neokonservativ demisch-professionelle Sozialwissenschaft geleiteten Beitrittslogik und des Institutio- verbunden. Seitdem wandert eine schrump- nentransfers unter Marginalisierung bzw. fende Ostdeutschland- und Vereinigungs- Missachtung ostdeutscher Subjekte, deren forschung immer stärker in den Osten und Erfahrungen, Interessenlagen und Partizi- an freie außeruniversitäre Institute jenseits pationschancen („Bürger zweiter Klasse“). des akademischen Mainstreams. Für diese Diskursgemeinschaft überwogen bis Mitte der 1990er Jahre die Misserfolge Inhaltlich war seit Mitte/Ende der 1990er des Vereinigungsprozesses in ökonomischer, Jahre eine Vermittlung der ersten beiden Po- sozialer und soziokultureller Hinsicht, ohne sitionen und die Entwicklung empirisch ge- den durch die gewaltigen finanziellen Trans- sättigter, komplexer und langzeitorientier- fers von West nach Ost möglich gewordenen ter Erklärungs- und Bewertungsmodelle Massenwohlstand gering zu schätzen. Ein beobachtbar. Die seit etwa 2001/02 erkenn- zweiter alternativer Diskurs radikalisierte bare Wiederaufwertung wirtschaftlich-so- diese Kritik und positionierte sich als prinzi- zialer Themen war nicht nur mit der end- pieller Gegendiskurs. Für diesen handelte es gültigen Überwindung aller Konzepte einer sich bei der Vereinigung um eine „Koloniali- westdeutschen „Blaupause“ und uniformen sierung der DDR“ (W. Dümcke/F. Vilmar), „Gleichheit“ verbunden, sondern zielte mit welche die Ostdeutschen zu reinen Objek- dem Forschungsprogramm des „doppelten ten degradierte. Umbruchs“ und der Integration neuer As- 10 APuZ 30–31/2010
pekte, wie sie die Schlagwörter Nachhaltig- schaftsregime, SED/Stasi-Seilschaften, Do- keit, Innovation, Region, Demographie und pingpraxis), Transferproblematik („Dauer Diskurs markieren, auf eine Freilegung genu- alimentier ung des Ostens“, „Milliardengrab in ostdeutscher Zukunftschancen und sogar Ost“, Rentenhöhen im Osten) sowie Poli- „Avantgardismen“ (W. Engler), die für den tik und Personal der PDS/Die Linke. Da- Gesamtstaat innovative Entwicklungskorri- bei wurde in der Häufigkeit, der jeweiligen dore öffnen. Ausrichtung und in der Bewertung einer- seits eine politisch-kulturelle Differenzie- Mit diesen neuen Orientierungen ist es rungslinie, andererseits eine deutliche Ost- dem sozialwissenschaftlichen Diskurs seit West-Scheide sichtbar. In den überregionalen Ende der 1990er Jahre gelungen, trotz sei- Print- wie elektronischen Medien (Sendefor- ner akademischen Marginalisierung wie- maten) mit Standort und/oder starken Ziel- der ein aktiver und innovativer Partner im gruppen in den neuen Ländern („SuperIllu“, Interdiskurs mit politischen Akteuren zu „Berliner Zeitung“ oder das politische TV- werden und an der Formierung neuer Leit- Magazin „Fakt“ des MDR) besaß das The- bilder für (Ost-)Deutschland entscheidend ma Ostdeutschland einen wesentlich höhe- m itzuwirken. ren Stellenwert als in Medien bzw. Formaten mit eindeutig west- und gesamtdeutscher, eher konservativer oder auf die Wirtschaft Massenmedialer Diskurs zielender Ausrichtung (z. B. FAZ, taz, „Ca- pital“, „Focus“ oder das TV-Magazin „Re- Die Sonderstellung des massenmedialen Dis- port“ des BR). Kodeseitig überwog im Wes- kurses wird bereits an der Entwicklung sei- ten in den meisten überregionalen Medien ner Themen erkennbar. Im deutlichen Un- wie FAZ oder „Focus“ ein exotisierender, terschied zu den beiden anderen Feldern hat skeptischer Blick und eine Negativbewertung im vergangenen Jahrzehnt, vor allem in den Ostdeutschlands und der Ostdeutschen, wo- Jahren 2004 bis 2008, die Beschäftigung mit bei sich die linksliberalen Blätter („Die Zeit“, wirtschaftlich-sozialen Themen und insbe- taz) um Neugier, Offenheit und einen Blick sondere mit Entwicklungen im Bereich der von unten auf die Vereinigungsprozesse be- Unternehmen sowie der Innovations- und mühten und sich insofern von Einseitigkeiten Bildungschancen im Osten erheblich nachge- bis zu einem gewissen Grade absetzten. Um- lassen – auf etwa 50 Prozent des Ausgangs- gekehrt dominierten im Osten („SuperIllu“, wertes. Dafür haben politische Themen et- „Neues Deutschland“) Heimatnähe, Ver- was gewonnen. Wichtiger aber erscheint der klärung, Ostalgie und die Skandalisierung gegenwärtige Trend einer „Verschiebung“ deutsch-deutscher „Ungerechtigkeiten“. des Themas Ostdeutschland in den Bereich Feuilleton und „Unterhaltung“: Der Anteil Zusammenfassend erschienen Ostdeutsch der Beiträge dieses Ressorts hat sich annä- land und Ostdeutsche in den hegemonia- hernd verdoppelt. len Massenmedien zwischen 1993 und 2007 vor allem als geschichtliche, insbesondere Dieser Befund konvergiert mit Inhaltsana- durch das negativ bewertete „Herrschafts- lysen des massenmedialen Diskurses in den regime der DDR“ (aus-)gezeichnete Bevöl- Jahren zwischen 1990 und 2005/07. Neben kerungsgruppe; als etwas Besonderes, als der bereits vermerkten Event-Orientierung exotische und abgeschlagene Peripherie; als zeichnete er sich einerseits durch die Exoti- Belastung der bundesrepublikanischen Ge- sierung der Ostdeutschen und Ostdeutsch- sellschaft, vor allem ihres Wohlstandes; als lands, also die Thematisierung ihrer ver- passive, abwartende, (er)leidende Bevölke- meintlichen Besonderheiten, Abweichungen rungsgruppe; insgesamt als Region, für die und Anomalien gegenüber Westdeutschland, negative Zukunftsaussichten bestehen. Die- aus. Anderseits wurden ostdeutsche „Idio- ser bis in die jüngste Zeit reichende hegemo- synkrasien“ und Transformationsprobleme niale Diskurs setzt sich mit seiner Kodie- häufig skandalisiert und der öffentlichen Er- rung deutlich von den seit Ende der 1990er regung, der Lächerlichkeit, aber auch distan- Jahre erfolgten Verschiebungen und inhalt- zierender Belehrung preisgegeben. Die wich- lichen Veränderungen in den beiden anderen tigsten skandalträchtigen Themen waren Diskursfeldern ab. Erst seit wenigen Jahren „Vergangenheitsbewältigung“ (DDR-Herr- gibt es signifikante Ansätze, die Eigenartig- APuZ 30–31/2010 11
keit des Ostens und der Ostdeutschen nicht Hegemonien überwunden wurde, hingegen nur abwertend oder nostalgisch zu gebrau- in den einflussreichen Massenmedien bis chen, sondern durch die Verknüpfung mit heute relevant ist. Drittens befördert die – „Hoffnung“, „Aktivität“ oder „Innovati- allerdings parteipolitisch und politisch-kul- on“ positiv zu besetzen und damit auch für turell gebrochene – diskursive Ost-West- Debatten um die Zukunft Gesamtdeutsch- Scheide in Ausmaß, Themenselektion und lands zu öffnen. Ob und inwieweit sich die- (bewertender) Kodierung die Existenz von ses neue Diskursmoment nachhaltig durch- Diskursmauern zwischen beiden Landes- setzen wird, kann gegenwärtig noch nicht teilen. Dabei scheinen die Massenmedien gesagt werden. nicht nur die „höchsten“ Mauern errichtet zu haben, sondern sich auch die längste Zeit Plausibilisiert wird die lang anhaltende He- mit ihrem Abtragen zu nehmen, womit sie gemonie des Ausblendungs-, Absonderungs- den anderen beiden Diskursfeldern um fünf und Negativdiskurses, wenn zum einen an bis zehn Jahre hinterherhinken. Viertens die nach wie vor bestehenden massenmedi- schließlich ist bemerkenswert, dass sich die alen Teilöffentlichkeiten in Ost- und West- Ostdeutschen in allen Feldern in der Positi- deutschland gedacht wird. Einerseits lesen on subalterner Sprecherinnen und Sprecher Ostdeutsche im Durchschnitt deutlich we- befinden, jedenfalls nur ausnahmsweise zu niger überregionale Tageszeitungen, Wirt- den einflussreichen „Diskurseliten“ gehö- schaftsmagazine und politisch orientierte ren, wobei das Maß der westdeutschen Do- Wochenzeitschriften, wohingegen spezielle minanz vom politisch-programmatischen „Ostzeitungen“ (herausragend: „SuperIllu“) über das sozialwissenschaftliche zum mas- und Regionalblätter sowie die privaten Fern- senmedialen Feld zunimmt. sehsender hohe Verbreitung besitzen. Ande- rerseits erweist sich der Mediensektor nicht Eine abschließende Bewertung muss zu- nur bezogen auf die Eigentümerstruktur als nächst konstatieren, dass weder die feld- westdeutsche Domäne. So befinden sich bis übergreifende Schrumpfung noch ein Mi- auf wenige ostdeutsche Ausnahmen mit un- noritätenstatus der Ostdeutschen für sich terdurchschnittlichen Auflagenhöhen (wie genommen problematisch sind. Ersteres lässt „Neues Deutschland“) alle Zeitungen und sich auch als „Ankunft im Alltag“ der deut- Zeitschriften mehrheitlich im Besitz west- schen Einheit interpretieren, der ein außer- deutscher oder internationaler Eigentümer. ordentliches Maß der Beschäftigung nicht Auch die Chefredaktionen – selbst der ost- mehr erfordert. Letzteres ist zunächst rein deutschen privaten wie öffentlich-rechtlichen faktisch der Fall: Den heute etwa 13 Millio- Medien – werden von westdeutschen Journa- nen Ostdeutschen stehen eben über 65 Mil- listen dominiert. lionen Westdeutsche gegenüber. Dass die Ostdeutschen damit nicht einen gleich gro- ßen diskursiven „Raum“ wie die Westdeut- Von Diskursmauern schen beanspruchen können, ist evident und zu Diskursbrücken? demokratisch. Vier Befunde der Analyse sind zu resü- Was aber aus wohlfahrtsdemokratischer mieren. Erstens springt die durchgehende Perspektive anhaltend problematisch ist und Schrumpfung der Beschäftigung mit Ost- der Veränderung bedarf, ist erstens die Über- deutschland und der deutschen Einheit in al- windung der nach wie vor verbreiteten De- len drei Feldern ins Auge, die im sozialwis- vianz- und mehr noch: Subalternitätspers- senschaftlichen und massenmedialen Feld pektive auf Ostdeutschland. Tatsächlich hat am ausgeprägtesten ist. Zweitens ist auffäl- der – demokratisch legitimierte – Beitritts- lig, dass in den hegemonialen Diskursen al- modus der Vereinigung in allen Diskursen ler drei Felder über lange Zeit eine Kodie- Westdeutschland (bzw. die alte Bundesre- rung Ostdeutschlands und Ostdeutscher publik) als „Normal Null“ (K. S. Roth) ge- als „besonders“, „zurückgeblieben“, „prob- setzt, an dem sich alles Ostdeutsche messen lematisch“ oder „belastend“ vorgenommen lassen muss, dem es untergeordnet ist. Es ist wurde, wobei diese zuerst im parteipoli- das Andere, welches sich in dem beitritts- tisch-programmatischen und sozialwissen- bedingten Deutungs- und Bewertungsrah- schaftlichen Feld relativiert bzw. durch neue men immer besonders zu rechtfertigen hat. 12 APuZ 30–31/2010
Zwar hat diese Logik im Zuge des Transfor- Klaus Schroeder mations- und Vereinigungsprozesses Risse bekommen. An ihrer Aufhebung muss aber in allen Diskursfeldern weiter „gearbeitet“ werden, soll eine prinzipielle materielle und Deutschland symbolische Gleichheit der Bürger in Ost und West erreicht werden. Dabei ist nach al- len aktuellen Umfragen und Analysen für die nach der Wieder- meisten Ostdeutschen die sittliche Anerken- nung oder soziale Wertschätzung als Gleiche weitaus wichtiger als ein schnelles oder voll- vereinigung ständiges Erreichen einer umstrittenen blei- benden „Gleichwertigkeit der materiellen Le- bensverhältnisse“. N ach dem Fall der Mauer nahm die Ge- schichte Fahrt auf: Die DDR brach nach vierzigjähriger Existenz gleichsam über Kaum weniger problematisch sind zweitens Nacht ein. Knapp ein nicht nur die vor allem in den Massenmedi- Jahr später veränder- Klaus Schroeder en fortbestehenden ost- und westdeutschen te die Wiedervereini- Dr. rer. pol. habil., geb. 1949; Teilöffentlichkeiten, die wechselseitiges An- gung das Leben der Professor und wissenschaft- erkennen, Lernen und Gestalten einer ge- ehemaligen DDR-Be- licher Leiter des Forschungs- meinsamen Zukunft erheblich erschweren. völkerung nahezu voll- verbunds SED-Staat und der Auch der bis heute defizitäre, demokra- ständig. Die westdeut- Arbeitsstelle Politik und Technik tietheoretisch aber so zentrale diskursive sche Bevölkerung, wel- an der Freien Universität Berlin, Austausch der Massenmedien mit dem po- che die friedliche Re- Koserstraße 21, 14195 Berlin. litisch-programmatischen und dem sozi- volution und den damit c.bronder@web.de alwissenschaftlichen Feld muss befördert verbundenen Sturz der werden. SED-Diktatur gleichsam als Zuschauer mit Sympathie betrachtet hatte, nahm dagegen an, Drittens schließlich brauchen wirklich de- für sie würde alles beim Alten bleiben. Doch mokratische Diskurse der Einheit eine an- zwanzig Jahre später wird deutlich, dass sich gemessene Vertretung der Ostdeutschen in mit der Wiedervereinigung nicht nur die neuen den hegemonialen Diskurseliten, mithin die Länder, sondern Deutschland insgesamt stär- Überwindung ihrer bis heute anhaltenden ker verändert hat, als es vielen bewusst ist: Auf Marginalisierung in den Eliterekrutierun- den Fundamenten der alten Bundesrepublik ist gen jenseits der legislativen Sphäre.❙8 Hier ein neues Deutschland entstanden. handelt es sich um ein Dilemma: Nur eine angemessene Vertretung der Ostdeutschen in allen Elitesektoren, heute vor allem im Schlussbilanz der DDR Bereich der privaten und öffentlich-rechtli- chen Massenmedien, kann die noch beste- Wer den Weg, den Deutschland und spezi- henden Diskursmauern abtragen. Zugleich ell die Ostdeutschen nach der Wiederverei- ist dieser Rückbau ein zentrales Mittel, um nigung in den beiden nachfolgenden Jahr- die Chancen Ostdeutscher in den Elitere zehnten zurückgelegt haben, ermessen und krut ier ungen in Wirtschaft, Exekutive, Wis- das Erreichte würdigen will, sollte mit ei- senschaft und Massenkultur nachhaltig zu ner Betrachtung der Schlussbilanz der DDR verbessern. Mit diesem Dilemma beim Bau beginnen. Der erst nach dem Fall der Mau- deutscher Diskursbrücken muss unsere De- er und der Öffnung der Archive mögliche, mokratie leben. nüchterne Blick auf die Hinterlassenschaf- ten der SED offenbart, was viele seinerzeit ahnten, aber aufgrund fehlender Öffentlich- keit und der rigiden Geheimhaltungspolitik der Machthaber nicht konkretisieren konn- ❙8 Vgl. Raj Kollmorgen, Subalternisierung. Formen ten: Die DDR hat aus politisch-ideologischen und Mechanismen der Missachtung Ostdeutscher nach der Vereinigung, in: ders. et al. (Anm. 2). Motiven weit über ihre Verhältnisse gelebt, die Umwelt flächendeckend zerstört, Innen- städte verfallen lassen und die Menschen in APuZ 30–31/2010 13
ein zentralistisch gelenktes Korsett von Vor- Tatsächlich erreichte der Staat nur etwa das gaben gespannt. Die sozialistische Diktatur, Niveau der schwächsten EU-Länder. die letztlich nur wegen des Schutzes durch die Rote Armee und der Gewaltandrohung Wie zahlreiche Eingaben von DDR-Bürgern der „Sicherheitsorgane“ vier Jahrzehnte lang an die Partei- und Staatsführung offenbarten, überleben konnte, hinterließ in der Natur und bestimmten von Anfang bis Ende der DDR in der Psyche vieler Menschen einen Scher- Versorgungsmängel den Alltag. Selbst in Ost- benhaufen. Der Preis der sozialen Sicherheit Berlin, wo die SED-Führung viele Ressourcen auf niedrigem Niveau bestand in einer von des privaten Verbrauchs konzentrierte, kam es einem linkstotalitären Anspruch der Herr- immer wieder zu Engpässen bei bestimmten schenden geprägten Gesellschaft in der weit- Produkten. Dabei ging es nicht nur um Bana- gehenden Entmündigung des Individuums. nen und andere Südfrüchte, sondern um Din- ge des Alltags wie Straßenschuhe, Bettwäsche Wie marode die Wirtschaft tatsächlich war, oder Puddingpulver. Die Neu- oder Ersatz- erfuhr eine breite Öffentlichkeit erst im Ok- beschaffung von technischen Konsumgütern tober 1989, nach dem Sturz Erich Honeckers. zog sich bei vielen Produkten, nicht nur bei Nun diagnostizierten Planer, Ökonomen und Autos, zum Teil über Jahre hin. Selbst über- für die Volkswirtschaft zuständige Offiziere höhte Preise für diese Güter schreckten die der Staatssicherheit den weitgehenden Zerfall potenziellen Käufer nicht ab, denn es gab ei- der zentralistischen Planwirtschaft und ih- nen Geldüberhang. Viele technische Konsum- rer industriellen Basis. Es wurde öffentlich, güter waren nicht nur überteuert, sondern im wie veraltet und verschlissen die industriel- Vergleich zu westlichen Produkten auch hoff- le Maschinerie, wie rückständig nahezu alle nungslos veraltet. Wirtschaftsbereiche und wie hoch der Auf- wand für Reparaturen, Subventionen und Die Subventionierung von Grundnah- die Aufrechterhaltung der „inneren Sicher- rungsmitteln, Energie und ähnlichen Gütern heit“ gewesen waren. Aus eigener Kraft hätte führte im Resultat nicht nur zu Verschwen- die DDR nur mittels massiver sozialer Ein- dung, sondern auch zu Verwahrlosung, so- schnitte überleben können. Der Sozialismus zialer Nivellierung und Unterhöhlung der hatte in vielerlei Hinsicht von der 1945 über- Leistungsbereitschaft. Kurz vor dem Ende nommenen Substanz gelebt, sie aufgebraucht der DDR wurden von Experten Vorschläge und nur unzureichend ersetzt. vorgebracht, die Subventionierung aufzuhe- ben und durch individuelle Förderung zu er- Wer meint, weil er in der DDR gelebt hat, setzen, mithin den Weg einer sozialen oder kenne er sie hinreichend, sollte sein Bild nach sozialistischen Marktwirtschaft zu gehen. Kenntnisnahme der seinerzeit nicht bekann- An die Stelle vorgeschriebener billiger Mie- ten Daten und Fakten kritisch hinterfragen.❙1 ten wurde die Einführung von Wohngeld er- Nach der marxistisch-leninistischen Logik wogen; die Reduktion oder Aufhebung der der SED-Führung war alles erlaubt, was dem Subventionierung der Grundnahrungsmittel Sozialismus und der eigenen Partei diente. Bri- sollte durch die Senkung der Preise von so ge- sante Daten über den Zustand der Wirtschaft, nannten Luxusgütern kompensiert werden. die Außenhandelsbeziehungen mit der west- lichen Welt, die Ungleichheit bei Einkommen Die mangelnde Leistungsbereitschaft vie- und Vermögen, den Zustand der Umwelt und ler Werktätiger, hohe Ausfallzeiten und Kran- das Gesundheitswesen wurden auf Weisung kenstände wurden ebenfalls erst kurz vor dem von oben oder durch Selbstzensur eifriger Ende des SED-Staates ausführlich auf der Untergebener geheim gehalten oder gefälscht. Führungsebene thematisiert. Angesichts der So entstand das Bild einer ökonomisch star- verdeckten Arbeitslosigkeit wäre auch ohne ken DDR, die angeblich unter den zehn füh- Wiedervereinigung eine Arbeitslosenrate von renden Industrienationen der Welt rangierte. mindestens zehn Prozent rasch Realität ge- worden.❙2 Betriebsleiter und Wirtschaftslen- ❙1 Vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft, München 1998; ders., Das neue ❙2 Vgl. Joachim Gürtler/Wolfgang Ruppert/Kurt Deutschland, Berlin 2010 (i. E.); Susanne Müller, Von Vogler-Ludwig, Verdeckte Arbeitslosigkeit in der der Mangelwirtschaft zur Marktwirtschaft, Berlin DDR. Ifo-Studien zur Arbeitsmarktforschung 5, 2000. München 1990. 14 APuZ 30–31/2010
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