APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE
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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 29 – 30/2009 · 13. Juli 2009 Ungarn Sebastian Garthoff Szenen aus Budapest Jürgen Dieringer Ungarn in der Nachbeitrittskrise Attila Ágh Ungarn in der Europäischen Union András Inotai Die globale Krise und Ungarn Krisztián Ungváry Belastete Orte der Erinnerung Melani Barlai · Florian Hartleb Die Roma in Ungarn Zsolt K. Lengyel Ungarn und seine Nachbarn Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament
Editorial Im Sommer 1989 öffnete Ungarn die Grenze zu Österreich und ermöglichte tausenden fluchtwilligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern den Weg nach Westen. Diese mutige Entscheidung beschleunigte die Erosion der DDR. Am 23. Oktober 1989 – dem Jahrestag des blutig niedergeschlagenen Volksaufstandes von 1956 – wurde die Republik Ungarn ausgerufen. Lange Zeit galt das Land als Musterschüler der mittelosteuro- päischen Transformationsländer. Die Ablösung des alten Regi- mes war friedlich verlaufen, die Europäisierung schritt rasch und scheinbar ohne große soziale Verwerfungen voran. 1999 erfolgte der NATO-Beitritt, und 2004 wurde Ungarn Mitglied der Euro- päischen Union. Im Jahr 2011 wird Ungarn erstmalig die EU- Ratspräsidentschaft inne haben. Doch die globale Wirtschafts- krise hat das Land schwer getroffen. Die Regierung hatte bereits an Legitimität verloren, als Ungarn vom Sog des weltweiten Fi- nanzdebakels erfasst wurde. Rasche und umfassende Hilfspakete des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentral- bank und der EU bewahrten das Land im vergangenen Herbst wohl vor der Zahlungsunfähigkeit. In Krisenzeiten polarisiert sich das innenpolitische Klima. Heftige geschichtspolitische Debatten über den Stalinismus wie über die Waffenbrüderschaft an der Seite der Nationalsozialisten führen bis in die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als Ungarn, Teil der Donaumonarchie, zwei Drittel seines Territori- ums einbüßte. Zudem befindet sich das politische System in der Selbstblockade, der demokratische Grundkonsens ist in Gefahr. Davon profitiert eine rechtsradikale Bewegung, die mit ihren Pa- rolen nach Sündenböcken sucht. Es erscheint derzeit schwer vor- stellbar, dass Ungarn die tiefe politische und gesellschaftliche Spaltung in absehbarer Zeit überwindet. Hans-Georg Golz
Sebastian Garthoff Durch eine undichte Stelle gelangt jene „Lü- genrede“ an die Öffentlichkeit. Die Bilder Szenen aus vom brennenden Budapest flimmern anschlie- ßend auf den internationalen Bildschirmen. Budapest Auch in unserer Redaktion herrscht ge- spannte Erwartung. Frisch von der Uni oder noch studierend, sind unsere revolutionärsten Essay Erlebnisse die Studentenratswahlen der hei- mischen Alma mater gewesen. Nun knallt es auf der Straße. Es ist zum einen die journa- listische Pflicht, vielmehr noch das histori- B evor ich als Journalist nach Ungarn komme, geben mir die Titelseiten der Reiseführer, Stadt- sche Interesse, das mich auf die Straßen, in das Tränengas und zwischen die nervösen Po- lizeiknüppel treibt. Seit dem Volksaufstand Sebastian Garthoff pläne und Postkar- 1956 hat Ungarn derart schwere Ausschrei- Master of Arts (CEU Budapest), tenmotive mein Bild tungen nicht mehr gesehen. Auch ich will geb. 1984; von 2006 bis 2009 vom Land vor: ein einen Blick auf die Vertreter dieser auf Spar- Journalist bei der Wochen- Ziehbrunnen in der flamme gekochten Revolution werfen, bevor zeitung „Pester Lloyd“ in Hortobágy sowie die es zu spät ist. Jeder ist plötzlich auf der Straße Budapest. erleuchtete Ketten- – Journalisten, Hooligans, Schaulustige –, sebastian_garthoff@web.de brücke, unter der die nicht um zu demonstrieren, sondern um Donau träge dahin- dabei zu sein, wenn etwas los ist. fließt. Dahinter sorgt das neogotische Parla- ment für das gewisse Etwas. Die Menge skandiert Ria, ria, Hungaria (Auf, auf, Ungarn), und es scheint, sie sind Am Vortag meiner Ankunft im August mit dem, was sie tun, und dem, was sie wol- 2006 bläst ein gewaltiges Gewitter den St.- len, uneins. Sie wünschen sich eine Revoluti- Stephans-Tag weg, einen der drei Nationalfei- on und wissen doch nichts damit anzufangen. ertage Ungarns, und hinterlässt mehrere To- Die Polizeiaufgebote stoßen vor, stoßen zu- desopfer. Nach dem Hochwasser im Frühjahr rück, lassen keine Strategie erkennen. In letz- ist dies die zweite von drei Katastrophen in ter Konsequenz schießen sie Tränengas in die diesem ungarischen annus horribilis. Menge. Es hält die Radikalen unter den De- monstranten nicht davon ab, ein Polizeiauto Budapest, das ist die Stadt, die 1871 ent- zu kapern und es am Blaha Lujza tér, einem steht, als sich die Stadtteile Buda, Óbuda und der Hauptverkehrspunkte der Stadt, in Brand Pest zur neuen Metropolis der österreichisch- zu stecken. Als die Polizei mit Pferden auf- ungarischen Monarchie zusammenschließen. taucht, werden Steine aus der Straße gerissen Neben Berlin entwickelt sie sich zur am und nach ihnen geworfen. Doch auch die schnellsten wachsenden europäischen Stadt Knüppel der Polizisten zu Fuß sitzen locker. im fin de siècle, die berühmt wird für ihre Manchmal ist es besser, einfach zu rennen. Gründerzeitgebäude, für ihre Kaffeehäuser, für ihr europäisches Flair. Das Leben in Bu- Die Schlachtrufe auf den Straßen bleiben in dapest ist ein laissez faire, es treibt nicht diesen Tagen und Wochen dieselben. Ria, ria, voran. Budapest ist eine Stadt, die ent- Hungaria und Gyurcsány takarodj (Gyurcsá- krampft, doch die auf längere Sicht auch be- ny verschwinde) werden zu täglichen Begleit- drückend sein kann. Für einen Neuankömm- erscheinungen. Oft werden Parallelen zum ling ist sie wie ein großer Gemischtwarenla- Volksaufstand gezogen. „Der Vergleich mit den, der von allem etwas bereit hält. dem Aufstand 1956 ist abwegig und ge- schichtsvergessen“, meint András Heltai- Ich verstehe kein Wort Ungarisch. Meine Hopp. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere ersten Vokabeln soll ich bald lernen. Es sind ist er einer der bekanntesten Journalisten Un- die Schlagworte einer nicht zur Veröffentli- garns. 1956 sei für Freiheit und Demokratie chung gedachten Rede des ungarischen Minis- gekämpft worden, sagt er, der selbst als junger terpräsidenten Ferenc Gyurcsány, in der er Reporter Augenzeuge der Geschehnisse war. zugibt, die Wähler bewusst belogen zu haben. Beides habe Ungarn nun. „Wer 2006 von revo- APuZ 29–30/2009 3
lutionärem Umsturz redete, den musste man etwas wie der Königssohn, dem an der Un- fragen: Wohin? Zu Unfreiheit und Diktatur?“ garn statt (fast) alles gelang. Seine Beisetzung wird zum Staatsakt, und das Volk weint kol- Viel Zeit verbringe ich in diesen Tagen im lektiv. Im Nationalstadion, das offiziell seinen Café Kamara. Direkt gegenüber der Großen Namen trägt, versammeln sich neben der in- Synagoge gelegen, klein genug, um sich allein ternationalen Fußballprominenz um Franz nicht einsam zu fühlen, scheint es mir als ge- Beckenbauer und Michel Platini Tausende, eigneter Rückzugsort, als Fixpunkt. Die um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Wände sind mit vergilbten Zeitungsartikeln plakatiert, neben der Toilettentür ist Juri Ga- Ein Mittvierziger, der die „goldene Mann- garin gerade von seinem Flug aus dem All zu- schaft“ schon nicht mehr spielen gesehen hat, rückgekehrt. Draußen, auf dem Boden der weint um dieses Relikt der Vergangenheit, Tatsachen, findet um die Ecke die Großkund- weint aus tiefstem Herzen, blickt zurück auf gebung des Fidesz statt. Die meisten Gäste die Urahnen, auf die alte Zeit. Weiter abseits tragen eine Rosette mit den ungarischen Na- skandiert eine Gruppe Jugendlicher Puskás’ tionalfarben am Revers, ein Symbol der Re- Namen, dazwischen brüllen sie Ria, ria, volution von 1848, oder eine ungarische Hungaria, bevor das Stadion in Stille taucht. Fahne mit einem Loch in der Mitte, ein Sym- Als der Sarg unter den Klängen der 9. Sinfonie bol von 1956. „An diesen Feiertagen ist auf auf die letzte Ehrenrunde geht, brechen alle einmal jeder ein Ungar“, sagt die Café-Betrei- Dämme. Die Menschen strömen nach vorne berin Krisztina. „Ich nicht. Ich bin römisch- zur Bande, Kerzen in der Hand, Tränen in den katholisch.“ Augen. Auf dem Platz vor der St.-Stephans- Basilika wohnen die Menschen anschließend Anstatt 1956 als Datum des nationalen Ge- dem über Leinwände übertragenen Gottes- denkens und Heroismus zu begehen, geht der dienst bei. Neben Königen findet der Fußbal- „Feiertag“ am 23. Oktober 2006 in Krawallen ler Puskás in der Basilika seine letzte Ruhe. unter. Auf dem zentralen Deák Ferenc tér ka- Jedem, der dies als anmaßend empfindet, ist pern Radikale einen ausgestellten sowjetischen zu entgegnen: Könige gab es viele, Puskás nur Panzer, der sich auch noch als betriebsfähig er- einen. Ungarn ist mit seinem Tod um eine weist. In der Nacht dasselbe Bild wie bereits Ikone, um eine goldene Erinnerung ärmer. Wochen zuvor. Die Bilanz am Ende der „Fei- erlichkeiten“: 167 Personen, darunter 17 Poli- Es zeigt einmal mehr, wie sehr die Ungarn zisten, werden bei den Straßenkämpfen ver- der Vergangenheit verhaftet sind. Es ist die letzt. 131 Personen werden wegen Randalie- Erinnerung an jene Zeit Mitte der 1950er rens, Gewalt gegen Polizisten und leichterer Jahre, als sich der Kommunismus mit „Stalins Vergehen in Haft genommen. Hinzu kommen bestem Schüler“ Mátyás Rákosi in Ungarn etliche Millionen Forint Sachschäden. Noch bereits durchgesetzt hat. Doch die „goldene Tage später ist das Tränengas in den Unterfüh- Mannschaft“ fegt jedes europäische Team aus rungen nicht ganz verflogen. dem Stadion und ist die erste Mannschaft, die England zu Hause im Wembley-Stadion Es sind die stillen Symbole, die den ungari- schlägt. Nach dem verlorenen WM-Endspiel schen Freiheitskampf angemessen würdigen: gegen Deutschland 1954 in Bern kehren sich etwa Beethovens Schicksalssymphonie, die die Vorzeichen um. Verlierer kann das Re- tagsüber durch die Straßen hallt. Es ist das gime nicht gebrauchen. Stattdessen steht es simple „1956“ in weißen Lettern auf schwar- selbst kurz vor dem Exitus. Nur zwei Jahre zem Grund. Es sind die vielen Menschen, die später wird der Volksaufstand den Ostblock dem Kampf ihres Landes in Stille gedenken erschüttern. Doch der Westen kann, will wollen. Doch Ungarn 2006 erlaubt kein still- nicht helfen, und das Land hat einmal mehr les Gedenken – zumindest nicht, wenn Poli- Grund zu trauern. tik im Spiel ist. Nicht zuletzt ist Ungarn das Land des Szo- Das Seuchenjahr 2006 hält noch eine weite- morú vasárnap (Trauriger Sonntag), der re Tragödie bereit: Im November stirbt Fe- „Hymne der Selbstmörder“, und in den renc Puskás, Kapitän der „goldenen Mann- Selbstmordstatistiken in Europa vorne dabei, schaft“, die in den 1950er Jahren den interna- derzeit überboten nur von Litauen, Belarus, tionalen Fußball dominierte. Puskás ist so Russland und Slowenien. Zu den Selbstmör- 4 APuZ 29–30/2009
dern gehört auch der Komponist des „Trauri- während der Revolution 1956 gegen die gen Sonntag“, Rezs} o Seress. Von einem Ge- Kommunisten. Dreizehn Jahre sitzt sie im mälde blickt er heute auf den Pianisten im Gefängnis, bevor sie begnadigt und erst 1970 Kispipa Vendegl}o herab. In diesem Restau- freigelassen wird. Viel später erzählt sie, wie rant, so die Legende, in den dunklen, engen man ihr bei der Vernehmung den Gummi- Straßen des Jüdischen Viertels, sei Anfang der knüppel in die Intimteile stieß. Ein halbes 1930er Jahre die „Hymne der Selbstmörder“ Jahrhundert später versammelt sie sich mit entstanden, und von dort hat sie ihren Sieges- Tausend anderen, um der Premiere dieser zug um die Welt angetreten. „Ungarischen Garde“ beizuwohnen, einer rechtsradikalen Organisation, die ihre Mit- Mitten in Budapest, am Fuße der Ketten- glieder auch an der Waffe ausbilden will. brücke, steht eine Statue, die den Ausgleich Wittner erklärt, dass sich „Menschen, die um zwischen Österreich und Ungarn 1867 alle- ihre Heimat bangen, nun gegen den Satan gorisch darstellt. Nach dem schwierigen 20. – die gegenwärtige Regierung – und 50 Jahre Jahrhundert ist das kleine Land an der Donau Kommunismus verbünden“. Die Meute ju- seit 2004 Teil der Europäischen Union. Es belt, mehr noch, als gegen Juden, Homosexu- identifiziert sich mit dem europäischen Ge- elle und Roma gedonnert wird. danken und strebt keine Grenzrevisionen an. Im Innern aber würden Hände eher verdor- Schon die Nachricht über die Bildung der ren, ehe sie sich einander reichen. sonderbaren Garde erregt Unmut, tragen deren Mitglieder doch Uniformen und Insig- Bereits kurz nach den Ereignissen im nien, die jenen der ungarischen Faschisten der Herbst 2006 nehme ich es bewusst wahr: 1940er Jahre, den „Pfeilkreuzlern“, ähneln. Graffiti und Slogans, die nicht nur gegen die Dennoch wohnen Tausende Sympathisanten Regierung, sondern vor allem gegen Juden der Vereidigung der ersten 55 Gardisten auf wettern. Als Tolvaj zsídók (Judendiebe) wer- der Budaer Burg bei, welche die „Verteidi- den sie bezeichnet und als trágya (Dünger). gung der Nation“ zum Ziel haben. Man wolle In meinem Stadtteil Ferencváros, seit wenigen Aufgaben beim Katastrophen- und Zivil- Jahren Budapests Bezirk für Kultur und schutz übernehmen. Ebenso finden sich ein abendliche Unterhaltung, sind regelmäßig katholischer und ein reformierter Pfarrer Mülleimer mit dem Schriftzug „Juden unter sowie eine lutherische Pastorin zur Segnung alles“ in deutscher Sprache verziert. Gereinigt der Garde-Fahne bereit. Die Kirchen lassen werden sie selten. danach verlautbaren, dass dies ohne ihr Wis- sen geschehen sei. In den nächsten Jahren fin- Dem „heißen Herbst“ folgt ein heißer den Hunderte von weiteren Freiwilligen den Sommer. Doch nicht nur das Quecksilber im Weg in den „eingetragenen Verein“. Ein Ver- Thermometer klettert nach oben, auch die ge- botsverfahren bleibt in der Schwebe. 2009 sellschaftliche Stimmung kocht. Bei der Ver- finden bereits 19 Prozent der Ungarn die eidigung der von der rechtsradikalen Jobbik- „Garde“ „akzeptabel“. Partei gegründeten „Ungarischen Garde“ Ende August 2007 auf der Budaer Burg vor Ungarn ist noch nicht „angekommen“. Der dem Amtssitz des Staatspräsidenten ist mir Eindruck entsteht, dass sich noch etwas bewegt, Ungarn ein größeres Rätsel, als es bisher war. sich bewegen müsste. Doch dieser Eindruck Es sind Radikale da, doch sie verlieren sich in kommt zu selten vor. Mit den gewaltsamen der bunten Menge der tausend Spießbürger. Ausschreitungen auf den Straßen der Haupt- Als die „Ungarische Garde“ aufmarschiert, stadt geht die Vorstellung vom Musterland schwillt das Klatschen zum Orkan an, und unter den neuen EU-Mitgliedstaaten buchstäb- Jubel bricht aus. Ein junger Ordner, adrett in lich in Rauch auf. Danach produziert das Land Garde-Uniform und mit einem Scheitel wie mit der „Ungarischen Garde“ und dem drohen- mit dem Lineal gezogen, lässt mich in den den Staatsbankrott während der globalen Krise Pressebereich vor. Als er meinen Akzent weitere Negativschlagzeilen. Ungarn ist ein wahrnimmt, lächelt er. schönes Land. Doch es ist tief gespalten. Auch Mária Wittner ist anwesend. Ihr Name ist in Ungarn ein Begriff. Als junge Ar- beiterin kämpft sie mit der Waffe in der Hand APuZ 29–30/2009 5
Jürgen Dieringer und damit eine geringe Mobilisierung sowie konzentrierte Machteliten. Im Folgenden soll Ungarn in der der Frage nachgegangen werden, welche in- stitutionellen und welche politisch-kulturel- len Problemlagen die Vollendung der Trans- Nachbeitrittskrise formation behindern. Vier Phasen der Entwicklung U ngarn erlebte einen vergleichsweise ru- higen Systemwechsel. Doch mittler- weile hat das Land einen eher konfliktgelade- Die ungarische Systemtransformation soll hier in vier Phasen der Entwicklung unter- nen Politikprozess. Den Akteuren des Sys- schieden werden: die Phase der Abwicklung temwechsels gelang des Ancien Régime (1988–1990); die Phase Jürgen Dieringer es zunächst gut, auf der Systemetablierung und Konsolidierung Dr. phil., geb. 1969; Leiter der der Basis eines gewis- (1990–1998), die erste etwas überlappend; die Professur für Politikwissen- sen Grundkonsenses Phase der forcierten Europäisierung (1998– schaft I an der Andrássy-Univer- zwischen alter Herr- 2002); schließlich die der Nachbeitrittskrise 2 sität Budapest, Pollack M. tér schaftselite und den seit 2004. 1 – 3, 1088 Budapest/Ungarn. mannigfaltigen, be- jurgen.dieringer@ reits differenzierten Die Ablösung des alten Regimes geschah andrassyuni.hu demokratischen Ge- als Elitenpakt. Das System kollabierte auf geneliten die neue Grund der umfassenden Wirtschaftskrise, die Demokratie zu institutionalisieren. Der Kon- den „ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag“ fliktaustrag wurde verregelt, die Transforma- zwischen sozialistischer Herrschaftselite und tion in geordnete Bahnen gelenkt. Um den Volk – kein erneutes „1956“, dafür Privilegien Bestand dieses Kompromisssystems zu si- wie Konsumgüter („Gulaschkommunismus“) chern, wurden im politischen System Schran- und Reisefreiheiten – beendete. Außerdem ken eingezogen, die eine einseitige Interessen- spielte der Wegfall der sowjetischen außenpo- durchsetzung verhindern sollten. litischen Klammer unter Michail Gorba- tschow eine große Rolle. Die Abwicklung Heute, fast zwanzig Jahre nach Ausrufung des nach dem langjährigen Parteivorsitzenden der Republik am 23. Oktober 1989, schaffen János Kádár auch als „Kádárismus“ bezeich- es diese Institutionen nicht mehr, die politi- neten Systems geschah im Zusammenspiel schen Lager zu einem Minimalkonsens zu zwischen dem pragmatisch-technokratischen zwingen. Es kommt zur Politikblockade, Teil der alten Staatspartei und der demokrati- weil die insgesamt 69 „Zweidrittelgesetze“, schen Opposition. Letztere bestand aus die der Verfassung als „Demokratieschutz“ einem liberal-kosmopolitischen und einem beigegeben wurden, heute nur noch destruk- national-populistischen Flügel. Als Transfor- tives Blockadepotential entwickeln. Das Sys- mationsarena diente ein Runder Tisch: Die tem scheint grundlegend reformbedürftig, Massen blieben weitgehend ausgeschlossen. weil Verfassungsintention und Verfassungs- Vorteil der Konsenssuche war die Stabilität, wirklichkeit stark auseinanderstreben. 1 Un- Nachteil die Überlagerung der Konflikte, die garn steckt in einer Adoleszenzkrise. eines Austrags bedurft hätten, etwa die Frage der strafrechtlichen und moralischen Verant- Die Reform des Systems war auf einen ge- wortung. So wurde dem Land ein Korsett sellschaftlichen Konsens ausgelegt, der heute verpasst, das es bis heute nicht sprengen nicht mehr besteht. Der Grundkonsens ist konnte. Die Verfassung stammt trotz Totalre- eine Funktion der politischen Kultur, welche vision aus dem Jahre 1949 und enthält noch sich in Ungarn zunehmend in Sphären ent- immer Überreste aus der sozialistischen wickelt, die eigentlich für einen Systemum- 1 Vgl. ausführlich Jürgen Dieringer, Das politische bruch typisch gewesen wären. Ein nachho- System der Republik Ungarn, Opladen 2009. lender Kulturkampf findet statt. So werden 2 Vgl. Attila Ágh, Bumpy road ahead in East Central Faktoren zum destabilisierenden Element, Europe: Post-accession crisis and social challenge in die in der Wendezeit Stabilisatoren des Über- ECE, in: ders./Alexandra Ferencz (eds.), Overcoming gangs waren: eine entpolitisierte Gesellschaft the EU Crisis, Budapest 2007, S. 7–35. 6 APuZ 29–30/2009
Zeit. 3 Der Versuch einer Totalrevision schei- tritt stand an, der EU-Beitritt verlangte von terte 1997. Der erste Ministerpräsident des Ungarn die Erfüllung der Kopenhagener Kri- modernen demokratischen Ungarn, József terien. Die Stabilität des politischen Prozesses Antall, entgegnete Kritikern der Kooperati- ist bei Beitrittsverhandlungen essenziell. Es onsstrategie einst lakonisch: „Hättet ihr halt entwickelte sich in der Folge ein außenpoliti- eine Revolution gemacht!“ scher Minimalkonsens, der immerhin zur Einführung eines Europaartikels in die Ver- Die zweite Phase der Transformation eta- fassung führte und die Verbesserung parla- blierte die demokratischen und marktwirt- mentarischer Kontrollrechte mit sich brach- schaftlichen Grundlagen des politischen Sys- te. 4 Diese Phase des westintegrationsbeding- tems. Dies ist die Phase der Regierungen An- ten Burgfriedens endete mit dem Beitritt tall/Boross (1990–1994, bürgerlich) und Ungarns zur EU. Horn (1994–1998, sozialliberal). Die Regie- rung Antall verfeinerte und präzisierte die in- Seither, nunmehr in der vierten Phase der stitutionelle Ordnung durch einen Pakt mit Transformation, sind die latenten Konflikte der stärksten Oppositionspartei, den Libera- offen ausgebrochen. Der politische Diskurs len (der sog. Antall-Tölgyessy-Pakt), also radikalisierte sich in der Wortwahl, in der konsensorientiert. Die Regierung Horn er- Heftigkeit, letztlich auch in der Methodik. wies sich Verdienste – nicht immer freiwillig Ein Teil des oppositionellen Protestes wurde – durch die Vollendung der wirtschaftspoliti- vom Parlament auf die Straße verlagert. Die schen Transformation. Nach anfänglichen institutionellen Schranken – die Zweidrittel- Rückschritten wurden mit dem Bokros-Paket gesetze – verhindern die adäquate Bearbei- die makroökonomische Stabilisierung einge- tung des hausgemachten finanzpolitischen leitet, die Privatisierung vorangebracht und Desasters, zudem eine adäquate Befassung der Dialog der Sozialpartner stärker institu- mit der Weltwirtschaftskrise. Auch politisch- tionalisiert. 1998 befand sich Ungarn in einer kulturell zeigen sich die Risse deutlich: Die Phase der Stabilität. Der Systemwechsel war Aussage, dass in einem demokratischen Sys- institutionell vollzogen. Es wäre nun an der tem alle demokratischen Parteien miteinander Zeit gewesen, in eine neue Phase einzutreten, koalitionsfähig sein müssen, gilt für Ungarn eine der institutionellen Feinjustierung und offenbar nicht. Partikularinteressen überstei- der Schwerpunktsetzung auf die Entwicklung gen das gesamtungarische Interesse deutlich. und Einbeziehung der Zivilgesellschaft, der Das institutionelle Gerüst der ungarischen Entwicklung einer kohärenten Außen- und Demokratie wird erheblich belastet. Nachbarschaftspolitik, der Reform des Ge- sundheits- und des Bildungswesens, einer Re- form der Selbstverwaltungssysteme, einer Kartellparteien Parlamentsreform und letztlich einer großen Verfassungsrevision. Nichts von dem ist ge- Ungarn ist das mittelosteuropäische Land mit schehen. Das System blockierte sich selbst, dem stabilsten Parteiensystem. Die Parteien und die politische Kultur wurde zunehmend konnten sich aufgrund des Paktes der demo- konfrontativer. kratischen Opposition mit der Staatspartei bereits während des Systemwechsels pro- Ministerpräsident Viktor Orbán legte bei grammatisch differenzieren. Das ursprünglich seinem Amtsantritt 1998 den Finger in die tripolare Parteiensystem mit den Lagern Wunden, als er sagte, er wolle weniger als „konservativ“, „liberal“ und „sozialdemokra- einen Systemwechsel, aber mehr als einen Re- tisch“, wandelte sich in ein bipolares (konser- gierungswechsel. Doch letztlich hat das insti- vativ-bürgerlich und sozialdemokratisch) mit tutionelle Korsett auch ihm enge Grenzen ge- einer Scharnierpartei (Liberale). Die Existenz setzt. Das mag auch daran liegen, dass seit anderer Parteien ist historisch, weniger funk- 1997/98, dem Beginn der dritten Transforma- tional begründet, und ihre parlamentarische tionsphase, der Prozess der Europäisierung Anbindung scheint sich dem Ende zu nähern. stark an Dynamik gewann. Der NATO-Bei- 4 Vgl. Jürgen Dieringer, Zwischen Parlamentsvorbe- halt und Regierungsdominanz: die wachsende Bedeu- 3 Vgl. Herbert Küpper, Die „unvollendete Revolu- tung des ungarischen Parlaments im europäischen In- tion“: Sozialistische Überreste in der ungarischen Ver- tegrationsprozess, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, fassung, in: Südosteuropa, 56 (2008) 2, S. 183 –199. (2007) 4, S. 764–775. APuZ 29–30/2009 7
Sie werden aufgesogen oder marginalisiert. dem auf ungarische Mittelständler kaprizier- Dass es neuen Parteien nicht gelingt, eine par- ten Ansatz der Rechten. Diese Trennlinie ist lamentarische Repräsentation zu erzielen, dem Konflikt Nation versus Kosmopolitis- scheint zunächst daran zu liegen, dass die Par- mus geschuldet. lamentsparteien in einer Art Kartell die Ein- trittsschranken hoch legen. Dies gilt insbeson- dere für den Zugang zu den Medien und für Institutionelle Totenstarre die Parteienfinanzierung. Weiterhin hat das Wahlsystem, ein Grabenwahlsystem mit kom- Seit dem Scheitern der Verfassungsreform im pensatorischen Elementen, dafür gesorgt, dass Jahre 1997 ist der politische Prozess systemim- nur ex ante gebildete Bündnisse Siegeschancen manent organisiert. Die Zweidrittelklauseln haben. Dies erhöht die Magnetfunktion der je- wirken präventiv auf die Ausgestaltung der weils größten Partei im Lager und reduziert politischen Programmatik. Es gelangen nur ge- die Chancen neuer Parteien. ringe Modifikationen, vor allem im Zuge des Beitritts zur EU. Hier kommt es zu einer Er- Die soziokulturellen Parameter der Wahl- weiterung des Souveränitätsbegriffs, indem entscheidungen laufen entlang einer Stadt/ eine monistische Rechtskonzeption angelegt Zentrum- versus Land/Peripherie-Line, einer wird. Eine Öffnungsklausel in der Verfassung Trennlinie zwischen „Nation“ und Kosmo- etabliert den Vorrang des europäischen Rechts. politismus, schließlich entlang des Gegensat- Europäisches und nationales Recht wird als zes von Postkommunisten und Antikommu- Teil eines gemeinsamen Rechtskörpers ver- nisten. Weder die Gegensätze von Arbeit und standen. Konflikte wie im dualistisch gepräg- Kapital noch von religiös und säkular schei- ten deutschen System bleiben aus. nen eine große Rolle zu spielen. Der „typi- sche“ bürgerliche Wähler kommt, stark ver- Das Parlament hatte indes eine relativ einfacht dargestellt, eher aus Westungarn, aus schwierige Entwicklung genommen. Eigent- kleineren Städten und nicht aus Budapest, lich steht es nach Artikel 19 der Verfassung war nicht Mitglied der Staatspartei und ist im Zentrum des politischen Systems. Gewis- eher jünger. Auch die Kirchgänger wählen sermaßen ist das eine mehr oder weniger un- rechts. Der Wähler der Sozialisten kommt intendierte Fortschreibung der Regelung des eher aus Ostungarn, aus einer Stadt, ist älter sozialistischen Systems. Allerdings galt im und war eventuell in der Partei und den nach- Kádárismus für keine Institution mehr als für geschalteten gesellschaftlichen Organisatio- das Parlament, dass Anspruch und Wirklich- nen der sozialistischen Zeit aktiv. Der liberale keit weit auseinanderklafften. Die formalen Wähler ist idealtypisch hoch gebildet und Rechte des Parlaments sind enorm. Es ist ein- kommt aus Budapest. ziger Gesetzgeber, das Parlament ist Wahlor- gan für fast alle anderen Staatsorgane: für den Die klassische Links-Rechts-Gliederung ist Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten, in Ungarn also mit Vorsicht zu genießen. für die Ombudsleute und Verfassungsrichter. Zwar sind die Begriffe einschlägig und wer- Es ist zentraler Ort der Interessenaggregie- den in Befragungen „richtig“ angegeben, also rung und wichtiger Kontrolleur der Regie- entsprechend zur Wahlpräferenz. Allerdings rung. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten ergibt sich Kongruenz mit westeuropäischen mit vielen Fraktionswechslern (von den ins- Parteiensystemen nur auf der gesellschaftli- gesamt 2022 Abgeordneten zwischen 1990 chen Achse zwischen kosmopolitischer und und 2006 wechselten 186 die Fraktion) und nationaler Orientierung. Die wirtschaftliche kaum parlamentarisch sozialisierten Abge- Achse zeigt eine „Rechte“, die staatsallokativ, ordneten, mit schwach ausgeprägter Fachex- sowie eine „Linke“, die marktallokativ orien- pertise und unterkomplex formulierter Ge- tiert ist. Die Gründe hierfür liegen erstens im schäftsordnung zeigt sich mittlerweile eine stärkeren Zugriff der postkommunistischen deutliche Professionalisierung der Abgeord- Netzwerke auf die Produktionsfaktoren; neten 5. Neue Regelungen zur Fraktionsbil- zweitens in der Fixierung der demokratischen dung und zum Fraktionswechsel haben ihre Wendeeliten auf die Staatsorgane; drittens im 5 Vgl. zu den folgenden Zahlen Gabriella Ilonszki, A Gegensatz zwischen dem auf die internatio- képvisel} ok arculatváltása – a csoport-meghatáro- nale Arbeitsteilung ausgerichteten Ansatz der zottságok ereje, in: dies. (Hrsg.), Amat} or és hivatásos Linken (Privatisierung, Liberalisierung) und politikusok, Budapest 2008, S. 153 –181. 8 APuZ 29–30/2009
Arbeit stabilisiert, wie auch ein Ausbau der Die Reform der Exekutive nach dem Mas- parlamentarischen Dienste. In der ersten Le- terplan von Gyurcsány stärkte zudem das gislaturperiode (1990–1994) waren über 90 Kanzler- und das Kabinetts- gegenüber dem Prozent der Abgeordneten neu, 1998 gelang- Ressortprinzip. Die zentrale Politikformulie- ten 50 Prozent neue Abgeordnete ins Parla- rung in wichtigen Politikbereichen wurde ment, 2006 nur noch knapp 30 Prozent. den Ministerien entzogen und externen Re- formausschüssen mit externen Beratern zuge- Trotz aller Fortschritte: Eine Entparlamen- wiesen. Die Minister hatten im Kabinett eine tarisierung des politischen Systems ist deutlich allgemeine Reformstrategie zu verabschieden, sichtbar. Parlamentarische Rechte werden teil- die von den Ministerien nur noch zu imple- weise karikiert. Zu nennen wären die Unter- mentieren war. Der Minister vertritt nicht suchungsausschüsse, die eigentlich nie zu Er- mehr die Interessen des Ministeriums im Ka- gebnissen führen, weil die Mehrheit mit Ver- binett, sondern jene des Kabinetts im Mini- fahrenstricks die Arbeit behindert. Bestenfalls sterium – und damit die des Ministerpräsi- entstehen parallele Meinungen der beiden denten, in dessen Händen alle Fäden zusam- Blöcke. Der krasseste Fall der Missachtung ist menlaufen. Es waren vor allem die das konstruktive Misstrauensvotum gegen Ministerpräsidenten Viktor Orbán (1998– Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány im 2002) und Ferenc Gyurcsány (2004–2009), Frühjahr 2009, das dieser gegen sich selbst die den Politikprozess als starke Persönlich- initiierte, um einen Wechsel im Amt durch- keiten dominierten und den Machtapparat führen zu können, ohne den Staatspräsidenten auf sich zuschnitten. Man spricht bereits von in den Prozess involvieren zu müssen. einer Art „Präsidentialisierung“ 7 des ungari- schen politischen Systems, die aus der Person Ungarn wurde im Laufe der Zeit immer des Ministerpräsidenten erwachse (wohlge- stärker zu einer „Kanzlerdemokratie“. Die merkt: nicht aus der des Staatspräsidenten). Ministerpräsidenten setzten sich auch ohne Dies führt wohl zu weit, aber die Stärkung formale Richtlinienkompetenz gegenüber des Ministerpräsidenten ist signifikant. dem Staatspräsidenten und dem Parlament durch. Die Macht des Staatspräsidenten, der Der Zentralisierung der Staatsorgane steht als Überbleibsel der Systemwechselzeit und ein Selbstverwaltungssystem auf regionaler angesichts des parlamentarischen Charakters respektive kommunaler Ebene entgegen, das des Systems zu viele Rechte auf sich vereint – dysfunktional und fragmentiert ist. Zudem etwa das Recht, im Parlament Gesetzesent- fehlt es an einer Rechtshierarchie, weil die würfe einzubringen –, wurde vom Verfas- Satzungen der Komitate (regionale Verwal- sungsgericht beschnitten. So ist der Staatsprä- tungseinheiten) und Gemeinden/Städte bzw. sident heute beispielsweise Oberbefehlshaber der Hauptstadt und seiner Stadtteile gleich- der Streitkräfte, aber die Befehlsgewalt wurde rangig sind. So ist Ungarn in 3200 „Klein- ihm entzogen. 6 Gegenüber dem Parlament königreiche“ zergliedert, die Subsidiarität mit zogen die Ministerpräsidenten ihre Potenz „auf der untersten Ebene“ gleichsetzen. Das aus zunächst übergroßen Koalitionen. Da- Zweidrittelregime, dem das Selbstverwal- nach waren die Koalitionen als Minimum- tungsgesetz unterworfen ist, wie auch die winning-Formationen zwar kleiner, zeichne- „Unterwanderung“ des nationalen Parla- ten sich aber durch vergleichsweise hohe Sta- ments mit Bürgermeistern verhindern, dass es bilität und Verlässlichkeit aus. Erst in jüngster zu funktionalen Lösungen kommt. Staatsver- Zeit kam es zu Minderheitsregierungen, die waltung, Selbstverwaltung und die Institutio- aber dennoch parlamentarische Mehrheiten nen der Regionalpolitik sind über unter- organisieren konnten. Gegenüber den Minis- schiedliche, teils artifizielle Ebenen verteilt; tern bezieht der Ministerpräsident seine Stär- demokratisch legitimierte Institutionen auf ke aus der stetig ausgebauten Schaltzentrale Komitatsebene leiden unter einem Mangel an der Regierung, dem Ministerpräsidentenamt, Aufgaben und an Finanzquellen. Abhilfe auch kancellária genannt. scheint nur möglich, wenn ein politisches 6 Vgl. Jürgen Dieringer, Staatspräsident Árpád Göncz 7 András Körösényi, Gyurcsány-vezér. A magyar po- – Wegbereiter der ungarischen „Kanzlerdemokratie“ litika „prezidencializálódása“, in: Péter Sándor/László wider Willen, in: Südosteuropa, 53 (2005) 2, S. 272– Vass/Ágnes Tolnai (Hrsg.), Magyarország politikai év- 288. könyve 2006, Budapest 2006, S. 141– 149. APuZ 29–30/2009 9
Lager eine Zweidrittelmehrheit im Parlament Opposition gegen die Regierung gerichtet. In erzielt. Aber selbst dann scheinen zu viele po- manchen Fällen waren die Initiatoren erfolg- litische Karrieren betroffen, als dass sich eine reich. Neuerdings zeichnet sich eine wichtige Mehrheit für eine Reform organisieren ließe. Ergänzung ab. Erstmals richtet sich eine Initi- ative – aus der Zivilgesellschaft heraus – Von der repräsentativen zur gegen die politische Klasse als solche. In der Frage der Diäten und Spesen der Parlamenta- direkten Demokratie? rier kommt es entweder zur Abstimmung, oder das Parlament entscheidet in letzter Se- Die ungarische Zivilgesellschaft hat keinen kunde über eine Finanzierungsnovelle. Das leichten Stand. Wie in allen sozialistischen ist eine qualitativ neue Entwicklung. Das Re- Staaten wurde einst auch in Ungarn bestehen- ferendum kann zum Sprachrohr der Zivilge- des Sozialkapital mit Absicht zerschlagen sellschaft werden und präventive Kontrollen und durch ideologisierte, parteigebundene der politischen Klasse etablieren. Es kann Strukturen ersetzt. Die Zivilgesellschaft hat mobilisieren in einem Land, das für seine sich formal, gemessen an der Zahl der Verei- eher apathische, schwer zu mobilisierende nigungen, zwar relativ schnell erholt. Aber Bevölkerung bekannt ist. Damit ist das Refe- dass dieses neu entstandene Sozialkapital rendum eine Alternative zur Politik der durchgehend hochwertig ist, kann getrost be- Straße und hat das Potential, dem tiefen Miss- zweifelt werden. Im Widerstand gegen das trauen der Bevölkerung gegenüber der politi- sozialistische System hatten sich die unter- schen Klasse und den politischen Institutio- schiedlichsten sozialen Milieus verbündet. 8 nen ein Ventil zu geben. Wie auch die Parteien mussten sie danach schmerzhafte Trennungen durchleben. Heute ist die Landschaft der Nichtregierungsorgani- Kein Vertrauen in die Institutionen, sationen nicht weniger polarisiert als die Par- teienlandschaft. kein Vertrauen in die Politik Die Meinungen und Einstellungen der Un- Die Verbindungslinien von Volk und Staat garn zwanzig Jahre nach der Transformation sind in Ungarn durch korporatistische Struk- sind äußerst diffus. Weniger als die Hälfte (47 turen, das Ombudsleutesystem und Elemente Prozent) der Befragten sind mit dem Leben direkter Demokratie strukturiert. Das Om- allgemein zufrieden. Hinter Ungarn liegt in budsleutesystem funktioniert relativ gut. der EU-27 nur Bulgarien. Nur 39 Prozent der Korporatistische Strukturen fristen bisher Befragten antworteten im vergangenen Jahr eher ein Schattendasein. Volksabstimmungen auf die Frage, ob Ungarn von der Mitglied- haben das beste Potential, die staatlichen Ak- schaft in der EU profitiert habe, mit Ja. teure zu bremsen. Die Institution des Refe- Damit ist Ungarn Schlusslicht. Gleichzeitig rendums wurde eher zufällig und relativ spät bringen 64 Prozent der Befragten dem Euro- institutionalisiert und mit einigen Sprüchen päischen Parlament Vertrauen entgegen des Verfassungsgerichts präzisiert. Seither (Durchschnitt EU-27: 51 Prozent), der Kom- gilt: Grundsätzlich ist Ungarn eine repräsen- mission immerhin 56 Prozent (EU-27: 47 tative Demokratie, Elemente direkter Demo- Prozent). 9 Die Zahlen sind im Abgleich mit kratie sind die Ausnahme. Werden sie aller- dem nationalen Kontext beeindruckend: Das dings angewendet, genießen sie Vorrang vor ungarische Parlament genießt das Vertrauen Entscheidungen des Parlaments. von 15 Prozent der Ungarn (nationale Parla- mente der EU-27: 34 Prozent), die Regierung Volksbefragungen wurden meist von den von nur 13 Prozent (EU-27: 32 Prozent). 10 politischen Parteien instrumentalisiert. Zwei Befragungen waren „neutral“ (NATO- und Die allgemeine Unzufriedenheit ist innen- EU-Beitritt), die anderen wurden von der politisch motiviert und hat wenig mit der 8 Vgl. Máté Szabó, Die Zivilgesellschaft in Ungarn. europäischen Integration zu tun. Viele Un- Zwischen EU-Beitritt und globalen Heraus- garn vereint der Eindruck, dass die System- forderungen, in: Jürgen Dieringer/Stefan Okruch transformation nicht abgeschlossen bezie- (Hrsg.), Von der Idee zum Konvent. Eine inter- disziplinäre Betrachtung des europäischen Integra- 9 Vgl. Eurobarometer 70, 2008. tionsprozesses, Budapest 2004, S. 81–98, hier S. 82. 10 Vgl. Eurobarometer 69, 2008. 10 APuZ 29–30/2009
hungsweise nicht richtig vonstatten gegangen ideell determinierten (Apathie, Radikalisie- sei. Auch sind die Ergebnisse des politischen rung) Krisen. Prozesses nicht geeignet, Outputlegitimität zu erzeugen. Als Vorreiter gestartet, zeigen Der ungarische Modernisierungspfad un- die Zahlen des Bertelsmann-Transformations- terscheidet sich als Ergebnis der Polarisierung indexes, dass Ungarn an vielen Fronten zu- je nach Regierung. Die rechte Seite verfolgt rückfällt. 11 Diese messbare Unzufriedenheit eine Art gaullistische Modernisierung. Sie ist eine Gemengelage aus objektiven Parame- stellt die Nation als historisches und ethni- tern, etwa im Bereich Lebenschancen und sches Gebilde in den Mittelpunkt: Priorität soziale Leistungen sowie subjektiven Ein- für ungarische Unternehmen, Minderheiten- drücken, die sich wiederum in historische, politik als wichtiger Bestandteil der Außen- transponierte Pathologien und aktuelle Pro- politik. In der Bevölkerungspolitik gilt das blemlagen teilen lassen. Wie auch in anderen ius sanguinis, mit exklusiven Momenten. Staaten der Region zeigen sich Krisensym- Diese Konzeption braucht einen starken Staat ptome, 12 die weit vor der globalen Wirt- und den Zugriff der Akteure auf die staatli- schaftskrise manifest waren. Zu nennen ist chen Institutionen, die nicht nur den Rahmen die Unzufriedenheit mit dem alles dominie- setzen sollen. Agiert wird staatsallokativ und renden Parteienstaat, die selbst im Alltag des merkantilistisch. Aus dem Zugriffsanspruch Bürgers spürbare Korruption, die Arroganz auf staatliche Institutionen erklärt sich, dass und das Fehlverhalten der politischen Akteu- die Konzeption der Rechten gelegentlich Be- re sowie die zirkulierende alt-neue politische fürchtungen bezüglich der Qualität der De- Elite, deren etwa 9 000 Mitglieder zwischen mokratie aufkommen lässt. verschiedenen Ämtern rotieren und einen umfassenden Elitenwandel behindern. 13 His- Die eher als „blairistisch“ zu bezeichnende torisch determiniert ist die alte Spaltung in Modernisierungsstrategie des linken Lagers Nationale und Kosmopoliten, die neue in Ex- dagegen setzt auf kosmopolitische Konzepte, Kommunisten und Antikommunisten, die zu steht für die Einbettung der ungarischen Lagerdenken und Exklusion führen. Wirtschaft in die internationale Arbeitstei- lung, für Marktallokation und Wettbewerb. Sie kapriziert sich vorwiegend auf das heutige Zwei Modernisierungsstrategien, Ungarn in den Post-Trianon-Grenzen. 14 Im übertragenen Sinne verstanden: Es gilt das ius zwei Ungarn soli, die Konzeption ist grundlegend inklusiv. Hier brauchen die staatlichen Institutionen Das Land ist seit Jahrhunderten in ein urba- nicht überstrapaziert zu werden. Befürchtet nes und ein volkstümliches Ungarn gespalten. wird von den Gegnern dieser Strategie aller- Diese Zweiteilung – verstanden als intellek- dings ein „Ausverkauf des Landes“. tuelles und soziales Konstrukt – führt zur Etablierung einer Identifikationsstruktur auf Bisher gibt es keine nennenswerten Kräfte, der Basis eines „Wir“ und „Die“. Die Polari- die in der Lage wären, diese beiden Konzepte sierung ist überall spürbar. Das Institutionen- zu versöhnen und die politische Mitte neu zu system als Konfliktlösungsstelle kann diese besetzen. Eine starke Kraft in der mittleren Po- Spannung kaum noch verkraften. Die Kon- sition hätte die Möglichkeit, je nach Nähe Part- flikte bemächtigen sich der Institutionen, ner für eine ausgewogene Strategie zu suchen. diese werden zum Spielball der Spieler und Eine Pluralisierung der Lösungsansätze wäre verlieren ihre Funktion als Spielfeld. Es die Folge. Dazu muss das Parteiensystem aber kommt zu materiell (Politikblockaden) und aufgebrochen werden, oder/und ein Teil der 11 Vgl. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Sustainable Go- schweigenden Masse muss zu partizipatori- vernance Indicators 2009. Policy Performance and schem Verhalten übergehen. Vielleicht birgt die Executive Capacity in the OECD, Gütersloh 2009. Institution des Referendums dieses Potential. 12 Vgl. Alina Mungiu-Pippidi, Is East-Central Europe Backsliding? EU accession is no „End of History“, in: Journal of Democracy, 18 (2007) 4, S. 8–16. 13 Zur Elite vgl. insbesondere Zoltán Tibor Pállinger, 14 Im Friedensvertrag von Trianon verlor Ungarn nach Zwischen Polarisierung und Professionalisierung: dem Ersten Weltkrieg große Teile seines Staatsgebiets. Entwicklungslinien der politischen Elite Ungarns, in: Südosteuropa, 56 (2008) 2, S. 200–221. APuZ 29–30/2009 11
Attila Ágh In Ungarn wie auch in den anderen neuen Mitgliedstaaten zeigt sich die Nachbeitritts- Ungarn in krise mit landeseigenen Spezifika, bei denen Kurz- und die Langzeitprozesse klar von- einander unterschieden werden müssen. Die der EU Krise muss vollständig beschrieben, sollte aber nicht zu einer historischen Dimension verallgemeinert werden, da ihre Überwin- dung bereits vorhersehbar ist, sobald die der- I m Jahr 2004 ist Ungarn der Europäischen Union (EU) beigetreten; die strukturelle Anpassung an die Arbeitsweisen in der EU zeitige weltweite Krise es zulässt. Im Folgenden erörtere ich die Auswirkun- ist erfolgreich vollzogen. Gleichwohl befand gen der Übergangskrise in Ungarn, behandele sich Ungarn in der zweiten Hälfte dieses aber gleichzeitig auch die langfristigen Ten- Jahrzehnts in einer Ausnahmesituation, näm- denzen, um zu verdeutlichen, dass diese Mo- lich in einer zwar vorübergehenden, jedoch mentaufnahme Ungarns nur die derzeitigen einige Jahre andauern- Turbulenzen beschreibt, nicht aber den ge- Attila Ágh den Krise. Die gegen- samten Demokratisierungs- und Europäisie- Dr. rer. pol., geb. 1941; Profes- wärtige Krise wurde rungsprozess. Seit einigen Jahren schon sor am Institut für Politikwissen- durch das Zusammen- herrscht in Ungarn eine schlechte Stimmung, schaft der Corvinus Universität treffen verschiedener „Malaise“, aber die Ungarn sind auf lange Budapest, Közraktár u. 4– 6, Faktoren verursacht, Sicht noch immer für Demokratisierung und 1093 Budapest/Ungarn. die zum einen von Europäisierung begeisterungsfähig. Die unga- attila.agh@corvinus.hu den kurzfristigen An- rischen Einstellungen zur EU-Mitgliedschaft forderungen des EU- lassen sich nur im gegenwärtigen nationalen Beitritts sowie den langfristigen Auswirkun- Kontext verstehen. gen des Systemwandels und zum anderen als Folge der globalen Finanzkrise hervorgerufen wurden. Somit wurde die Nachbeitrittskrise Innenpolitik und EU im Grunde durch den doppelten Druck der EU-Erfordernisse und der Inlandsprobleme Jüngste Eurobarometer-Umfragen (EB 70 ausgelöst, d. h. durch die Anforderungen im und 71) haben gezeigt, dass Ungarn sich auf- Zuge der andauernden Reformbestrebungen grund der Nachbeitrittskrise und der Kon- innerhalb der EU – einschließlich des ange- junkturflaute zu einem der pessimistischsten strebten Beitritts zur Eurozone – und durch Mitgliedstaaten entwickelt hat, da sich die in- die fehlende soziale Konsolidierung, die eine nenpolitischen Spannungen negativ auf die erschreckende Reformmüdigkeit bewirkt hat. Einstellungen zur EU-Mitgliedschaft auswir- ken. Wie die Bevölkerungen der anderen EU- Leider überschnitten sich die EU-Nach- Länder projizieren auch die Ungarn innenpo- beitrittsgegebenheiten mit den kurzfristigen litische Probleme und innerstaatliche Spal- Wirkungen der Abschwächungsphase im un- tungen auf die EU-Ebene. Sie formulieren garischen Konjunkturverlauf und auch mit ihre Unterstützung der EU-Mitgliedschaft den Langzeitwirkungen der Reformmüdig- und der europäischen Institutionen durch das keit, welche wiederum durch die großen Prisma ihrer Einstellungen zum eigenen Hoffnungen auf soziale Konsolidierung nach Land. Die öffentliche Meinung zur EU in zwanzig Jahren des ständigen Wandels und Ungarn verrät eine besonders kurzfristige der Arbeitsplatzunsicherheit hervorgerufenen Sichtweise aufgrund der innenpolitischen Si- worden waren. Die weltweite Finanzkrise tuation. Es ist tatsächlich so, dass in Ungarn trat zu einem Zeitpunkt ein, als sich Ungarn aufgrund der hohen Erwartungen traditionell ohnehin bereits in einer finanzpolitisch eine pessimistische Denkweise besteht; schwierigen Situation befand, die aber inner- gleichwohl hat sich der ungarische Pessimis- halb weniger Monate, bis Ende 2008, über- mus in den vergangenen Jahren noch ver- wunden war; die Schwierigkeiten der darauf stärkt. folgenden wirtschaftlichen und sozialen Krise bestehen fort. Am 14. April 2009 nahm eine Übersetzung aus dem Englischen: Jaiken Struck, South neue Regierung die Arbeit auf. 1 Petherton, England/UK. 12 APuZ 29–30/2009
Der Einbruch der öffentlichen Stimmung in den subjektiven Wahrnehmungen seiner Bür- Ungarn zeichnete sich bereits dadurch ab, dass ger hat zu einer Reihe von Paradoxien bei der die Ungarn mit ihrem Leben stets deutlich un- Bewertung der EU-Mitgliedschaft geführt. zufriedener waren als der durchschnittliche Genau genommen sind die Ungarn in erster EU-Bürger. Mittlerweile glaubt nur noch ein Linie nicht mit der EU unzufrieden, sondern winziger Prozentsatz der Ungarn, dass sich mit der Verlangsamung des Wirtschafts- das Land in eine gute Richtung entwickelt, wachstums bzw. der beginnenden Rezession während sich der Anteil derjenigen, nach mit ihren kurzfristigen sozialen Folgen, d. h. deren Auffassung sich die EU in die richtige der gegenwärtigen Stagnation oder geringfü- Richtung bewegt, nahe am EU-Durchschnitt gigen Verschlechterung des Lebensstandards befindet. Die ungarischen Eigenheiten zeigen und den zunehmenden politischen Spannun- sich deutlich in der Liste der drängendsten gen im eigenen Land. Diese innenpolitischen Probleme. Sie enthält dieselben vier Begriffe, Probleme, auf die EU-Ebene projiziert, die auch in der EU allgemein Priorität haben: haben zu drei Paradoxien geführt. Arbeitslosigkeit, Inflation, das Gesundheits- wesen und die allgemeine wirtschaftliche Si- Paradoxon I: Die Ungarn sind zunehmend tuation. Doch die Ungarn machen sich weitaus unzufrieden in der EU, aber sie bewerten die größere Sorgen über diese Probleme, und ein EU weiterhin positiver als die innenpoliti- viel höherer Prozentsatz überhaupt ist besorgt. schen Entwicklungen. Das spiegelt eine Situation wider, die ich als „Falle materialistischer Bedürfnisse“ be- Die Ungarn sehen immer weniger die Vorteile zeichne. Gleichzeitig sorgen sich die Ungarn der EU-Mitgliedschaft, und das positive Bild meist deutlich weniger um „post-materialisti- der EU schwindet von Jahr zu Jahr. Diese öf- sche“ Fragen wie internationale Sicherheit und fentliche Wahrnehmung bringt eine wachsen- Einwanderung. Vor dem Hintergrund dieser de Ernüchterung bezüglich der EU-Mitglied- nationalen Sorgen wird deutlich, dass die Un- schaft zum Ausdruck, aber eine noch stärker garn zurzeit weniger an der EU als vielmehr an wachsende Massenenttäuschung ist in den ihren innenpolitischen Problemen leiden. vergangenen zwei Jahren aufgrund der Ent- wicklungen im eigenen Land – Gesundheits- Die ungarische Besonderheit liegt darin, reformen und Umgang mit der Wirtschafts- dass eine beträchtliche Kluft zwischen der krise – entstanden. mangelnden sozialen Konsolidierung und den sehr hohen Erwartungen an das Sozial- wesen besteht. In Ungarn hat die übliche Paradoxon II: Es herrscht größeres Vertrauen langsame und daher umstrittene Verbesserung in die EU-Institutionen als in die nationalen. des Lebensstandards und öffentlicher Dienst- leistungen in den vergangenen zwanzig Jah- Die Ungarn haben ein sehr schwaches Ver- ren – trotz des raschen Fortschritts in der er- trauen in die eigenen nationalen Institutio- sten Hälfte dieses Jahrzehnts – größere Ent- nen, vertrauen aber in viel stärkerem Maße täuschungen verursacht als in den meisten als der EU-Durchschnitt den europäischen anderen neuen Mitgliedstaaten. Dieser Um- Institutionen. Zwar neigen die Europäer in stand verschärfte sich in den vergangenen den meisten Mitgliedstaaten zu größerem zwei Jahren durch die Konjunkturflaute und Vertrauen in die Union als in ihre nationalen ihre gesellschaftlichen Folgen. Trotz eines ei- Institutionen. Aber dieses Phänomen er- genen, konjunkturbedingten Musters zählte scheint in Ungarn in einer Extremform, denn die sozioökonomische Entwicklung Ungarns die Ungarn zeigen viel tiefere Unzufrieden- im vergangenen Jahrzehnt zur besten und heit mit den und geringeres Vertrauen in die schnellsten unter den neuen Mitgliedstaaten. inländischen Institutionen als der EU-Durch- Das Wirtschaftswachstum lag zwischen 1995 schnitt. Tatsächlich wächst ganz allgemein und 2006 bei durchschnittlich vier Prozent das Misstrauen gegenüber Institutionen in pro Jahr, und der Anstieg der Reallöhne be- Ungarn, aber das betrifft die nationalen Insti- trug zwischen 2001 und 2006 35 Prozent; bei- tutionen viel stärker als die der EU. Die de- des war in der EU beispiellos. mokratischen Institutionen in den neuen Mit- gliedstaaten sind noch immer schwach und Der enorme Gegensatz zwischen dem ob- belegen nicht selten ein nur geringes soziales jektiv guten Abschneiden des Landes und Einfühlungsvermögen, so dass die Menschen APuZ 29–30/2009 13
das Gefühl haben, ihre realen Probleme wür- letzt mithilfe tiefer Einschnitte in den Staats- den von offizieller Seite nicht ernst genom- haushalt auf die Einführung des Euro men. vorzubereiten. Trotzdem träumen die Ungarn noch immer von einer EU, die alle innenpoli- Paradoxon III: Die Zufriedenheit mit der De- tischen Probleme löst und auch im Rahmen mokratie in der EU ist viel höher als mit der der EU selbst ihre hohen Erwartungen er- in Ungarn. füllt. Dadurch ist es zu einer Teilung der öf- fentlichen Meinung zwischen der weiterhin In Ungarn besteht ein starker Gegensatz zwi- positiven und optimistischen Einstellung zur schen der Verfahrens- oder Input-Legitimität EU einerseits und der zunehmend negativen und der Ergebnis- oder Output-Legitimität und pessimistischen Sicht auf die innenpoliti- des neuen demokratischen Institutionensy- sche Entwicklung andererseits gekommen. stems. Die meisten Menschen bezeichnen die Zweifellos jedoch wird sich Ungarn inner- Institutionen durchaus als demokratisch, da halb weniger Jahre von der Wirtschaftsflaute ihnen die Grundsätze der Verfahrensgesetze erholen, die letztlich nur ein Teil der allge- deutlich geworden sind. Die meisten Ungarn meinen konjunkturellen Entwicklung ist. sind allerdings der Meinung, sie arbeiteten Diese Erholung wird sicherlich auch zu einer äußerst ineffektiv, d. h. die Institutionen be- positiveren Bewertung der ungarischen In- fänden sich noch immer in einer „Anlauf“- nenpolitik führen; aufgrund dieser Wende Phase. EU-Institutionen hingegen werden werden die kontroversen und geradezu para- von großen Teilen der Bevölkerung als Mo- doxen Einstellungen zur EU ebenfalls schwä- dell voll entwickelter, gut funktionierender cher und schließlich verschwinden. Einrichtungen angesehen, und es gibt keine öffentliche Debatte über das Demokratiedefi- Vorläufiges Fazit: Eine geringe Befürwortung zit der EU. der EU-Mitgliedschaft ist in Ungarn parado- xerweise mit einer starken Befürwortung der Zum Zeitpunkt des EU-Beitritts befürwor- europäischen Integration und mit großer tete die Mehrheit der Ungarn die Mitglied- Wertschätzung für die EU-Institutionen ver- schaft. Diese Zahl ging bis heute auf ein Drit- knüpft. tel zurück. Obwohl die Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft in den vergangenen Jahren stetig nachgelassen hat, sind die Un- Der ungarische EU-Kurs garn doch nach wie vor Europa-Enthusiasten, wie diverse Daten belegen: Vor allem zählen Dieser Prozess zeigt ebenfalls eine interes- sie zu den glühendsten Anhängern einer wei- sante Ambiguität, da einerseits eine Art na- teren europäischen Integration und behaup- tionaler Konsens hinsichtlich der Hauptziele ten zudem von sich, großes Interesse an den der ungarischen Europapolitik besteht, in er- Arbeitsweisen der EU-Institutionen zu ster Linie die finalité politique der EU betref- haben. Diese Paradoxien zeigen recht deut- fend, aber andererseits zwischen Regierung lich, dass die Massenunzufriedenheit vor und Opposition starke Spannungen wegen allem durch die nationalen Probleme hervor- grundlegender politischer Vorgehensweisen gerufen wurde, denn die Ungarn haben eine herrschen, beispielsweise die Agrar- und stabile Präferenz für die EU und befürworten Energiepolitik in der EU betreffend. Die Op- die EU und ihre Institutionen in überwälti- position unterstützt die kleineren, familiären gender Weise. Landwirtschaftsbetriebe, während die Regie- rung eine Modernisierung der Landwirtschaft Folglich könnte man in Bezug auf die un- anstrebt, weshalb sie die Zusammenlegung garischen EU-Einstellungen auf den ersten kleinerer Betriebe zu größeren und wettbe- Blick schließen, dass das Hauptmerkmal der werbsfähigeren Unternehmen fördert. In der öffentlichen Meinung in Ungarn eine kogniti- Energiepolitik hat die Regierung den Schwer- ve Dissonanz ist: die Akzeptanz miteinander punkt auf die Sicherung der Energieversor- nicht zu vereinbarender Meinungen. Die Un- gung gelegt, weshalb sie ausgewogene Bezie- garn leiden unter Transformationsmüdigkeit hungen zu Russland aufbaut, während die und sind daher unzufrieden mit dem fortwäh- Opposition auf eine Konfrontation mit Russ- renden Druck seitens der EU, weitere Refor- land wegen dessen Demokratiedefiziten men durchzuführen und das Land nicht zu- drängt. Die Debatte um die Außenpolitik er- 14 APuZ 29–30/2009
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