APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

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APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
                     29 – 30/2009 · 13. Juli 2009

                                   Ungarn
                                Sebastian Garthoff
                              Szenen aus Budapest

                                  Jürgen Dieringer
                   Ungarn in der Nachbeitrittskrise

                                        Attila Ágh
                 Ungarn in der Europäischen Union

                                     András Inotai
                     Die globale Krise und Ungarn

                                Krisztián Ungváry
                     Belastete Orte der Erinnerung

                    Melani Barlai · Florian Hartleb
                             Die Roma in Ungarn

                                 Zsolt K. Lengyel
                       Ungarn und seine Nachbarn

      Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament
Editorial
  Im Sommer 1989 öffnete Ungarn die Grenze zu Österreich
und ermöglichte tausenden fluchtwilligen DDR-Bürgerinnen
und -Bürgern den Weg nach Westen. Diese mutige Entscheidung
beschleunigte die Erosion der DDR. Am 23. Oktober 1989 –
dem Jahrestag des blutig niedergeschlagenen Volksaufstandes
von 1956 – wurde die Republik Ungarn ausgerufen.

  Lange Zeit galt das Land als Musterschüler der mittelosteuro-
päischen Transformationsländer. Die Ablösung des alten Regi-
mes war friedlich verlaufen, die Europäisierung schritt rasch und
scheinbar ohne große soziale Verwerfungen voran. 1999 erfolgte
der NATO-Beitritt, und 2004 wurde Ungarn Mitglied der Euro-
päischen Union. Im Jahr 2011 wird Ungarn erstmalig die EU-
Ratspräsidentschaft inne haben. Doch die globale Wirtschafts-
krise hat das Land schwer getroffen. Die Regierung hatte bereits
an Legitimität verloren, als Ungarn vom Sog des weltweiten Fi-
nanzdebakels erfasst wurde. Rasche und umfassende Hilfspakete
des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentral-
bank und der EU bewahrten das Land im vergangenen Herbst
wohl vor der Zahlungsunfähigkeit.

   In Krisenzeiten polarisiert sich das innenpolitische Klima.
Heftige geschichtspolitische Debatten über den Stalinismus wie
über die Waffenbrüderschaft an der Seite der Nationalsozialisten
führen bis in die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als
Ungarn, Teil der Donaumonarchie, zwei Drittel seines Territori-
ums einbüßte. Zudem befindet sich das politische System in der
Selbstblockade, der demokratische Grundkonsens ist in Gefahr.
Davon profitiert eine rechtsradikale Bewegung, die mit ihren Pa-
rolen nach Sündenböcken sucht. Es erscheint derzeit schwer vor-
stellbar, dass Ungarn die tiefe politische und gesellschaftliche
Spaltung in absehbarer Zeit überwindet.

                                              Hans-Georg Golz
Sebastian Garthoff         Durch eine undichte Stelle gelangt jene „Lü-
                                                        genrede“ an die Öffentlichkeit. Die Bilder

                    Szenen aus                          vom brennenden Budapest flimmern anschlie-
                                                        ßend auf den internationalen Bildschirmen.

                     Budapest                              Auch in unserer Redaktion herrscht ge-
                                                        spannte Erwartung. Frisch von der Uni oder
                                                        noch studierend, sind unsere revolutionärsten
                         Essay                          Erlebnisse die Studentenratswahlen der hei-
                                                        mischen Alma mater gewesen. Nun knallt es
                                                        auf der Straße. Es ist zum einen die journa-
                                                        listische Pflicht, vielmehr noch das histori-

       B      evor ich als Journalist nach Ungarn
              komme, geben mir die Titelseiten der
                                Reiseführer,   Stadt-
                                                        sche Interesse, das mich auf die Straßen, in
                                                        das Tränengas und zwischen die nervösen Po-
                                                        lizeiknüppel treibt. Seit dem Volksaufstand
            Sebastian Garthoff pläne und Postkar-       1956 hat Ungarn derart schwere Ausschrei-
Master of Arts (CEU Budapest), tenmotive mein Bild      tungen nicht mehr gesehen. Auch ich will
geb. 1984; von 2006 bis 2009 vom Land vor: ein          einen Blick auf die Vertreter dieser auf Spar-
    Journalist bei der Wochen- Ziehbrunnen in der       flamme gekochten Revolution werfen, bevor
      zeitung „Pester Lloyd“ in Hortobágy sowie die     es zu spät ist. Jeder ist plötzlich auf der Straße
                     Budapest. erleuchtete Ketten-      – Journalisten, Hooligans, Schaulustige –,
  sebastian_garthoff@web.de brücke, unter der die       nicht um zu demonstrieren, sondern um
                                Donau träge dahin-      dabei zu sein, wenn etwas los ist.
        fließt. Dahinter sorgt das neogotische Parla-
        ment für das gewisse Etwas.                        Die Menge skandiert Ria, ria, Hungaria
                                                        (Auf, auf, Ungarn), und es scheint, sie sind
          Am Vortag meiner Ankunft im August            mit dem, was sie tun, und dem, was sie wol-
       2006 bläst ein gewaltiges Gewitter den St.-      len, uneins. Sie wünschen sich eine Revoluti-
       Stephans-Tag weg, einen der drei Nationalfei-    on und wissen doch nichts damit anzufangen.
       ertage Ungarns, und hinterlässt mehrere To-      Die Polizeiaufgebote stoßen vor, stoßen zu-
       desopfer. Nach dem Hochwasser im Frühjahr        rück, lassen keine Strategie erkennen. In letz-
       ist dies die zweite von drei Katastrophen in     ter Konsequenz schießen sie Tränengas in die
       diesem ungarischen annus horribilis.             Menge. Es hält die Radikalen unter den De-
                                                        monstranten nicht davon ab, ein Polizeiauto
          Budapest, das ist die Stadt, die 1871 ent-    zu kapern und es am Blaha Lujza tér, einem
       steht, als sich die Stadtteile Buda, Óbuda und   der Hauptverkehrspunkte der Stadt, in Brand
       Pest zur neuen Metropolis der österreichisch-    zu stecken. Als die Polizei mit Pferden auf-
       ungarischen Monarchie zusammenschließen.         taucht, werden Steine aus der Straße gerissen
       Neben Berlin entwickelt sie sich zur am          und nach ihnen geworfen. Doch auch die
       schnellsten wachsenden europäischen Stadt        Knüppel der Polizisten zu Fuß sitzen locker.
       im fin de siècle, die berühmt wird für ihre      Manchmal ist es besser, einfach zu rennen.
       Gründerzeitgebäude, für ihre Kaffeehäuser,
       für ihr europäisches Flair. Das Leben in Bu-        Die Schlachtrufe auf den Straßen bleiben in
       dapest ist ein laissez faire, es treibt nicht    diesen Tagen und Wochen dieselben. Ria, ria,
       voran. Budapest ist eine Stadt, die ent-         Hungaria und Gyurcsány takarodj (Gyurcsá-
       krampft, doch die auf längere Sicht auch be-     ny verschwinde) werden zu täglichen Begleit-
       drückend sein kann. Für einen Neuankömm-         erscheinungen. Oft werden Parallelen zum
       ling ist sie wie ein großer Gemischtwarenla-     Volksaufstand gezogen. „Der Vergleich mit
       den, der von allem etwas bereit hält.            dem Aufstand 1956 ist abwegig und ge-
                                                        schichtsvergessen“, meint András Heltai-
          Ich verstehe kein Wort Ungarisch. Meine       Hopp. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere
       ersten Vokabeln soll ich bald lernen. Es sind    ist er einer der bekanntesten Journalisten Un-
       die Schlagworte einer nicht zur Veröffentli-     garns. 1956 sei für Freiheit und Demokratie
       chung gedachten Rede des ungarischen Minis-      gekämpft worden, sagt er, der selbst als junger
       terpräsidenten Ferenc Gyurcsány, in der er       Reporter Augenzeuge der Geschehnisse war.
       zugibt, die Wähler bewusst belogen zu haben.     Beides habe Ungarn nun. „Wer 2006 von revo-

                                                                                      APuZ 29–30/2009        3
lutionärem Umsturz redete, den musste man          etwas wie der Königssohn, dem an der Un-
    fragen: Wohin? Zu Unfreiheit und Diktatur?“        garn statt (fast) alles gelang. Seine Beisetzung
                                                       wird zum Staatsakt, und das Volk weint kol-
       Viel Zeit verbringe ich in diesen Tagen im      lektiv. Im Nationalstadion, das offiziell seinen
    Café Kamara. Direkt gegenüber der Großen           Namen trägt, versammeln sich neben der in-
    Synagoge gelegen, klein genug, um sich allein      ternationalen Fußballprominenz um Franz
    nicht einsam zu fühlen, scheint es mir als ge-     Beckenbauer und Michel Platini Tausende,
    eigneter Rückzugsort, als Fixpunkt. Die            um ihm die letzte Ehre zu erweisen.
    Wände sind mit vergilbten Zeitungsartikeln
    plakatiert, neben der Toilettentür ist Juri Ga-       Ein Mittvierziger, der die „goldene Mann-
    garin gerade von seinem Flug aus dem All zu-       schaft“ schon nicht mehr spielen gesehen hat,
    rückgekehrt. Draußen, auf dem Boden der            weint um dieses Relikt der Vergangenheit,
    Tatsachen, findet um die Ecke die Großkund-        weint aus tiefstem Herzen, blickt zurück auf
    gebung des Fidesz statt. Die meisten Gäste         die Urahnen, auf die alte Zeit. Weiter abseits
    tragen eine Rosette mit den ungarischen Na-        skandiert eine Gruppe Jugendlicher Puskás’
    tionalfarben am Revers, ein Symbol der Re-         Namen, dazwischen brüllen sie Ria, ria,
    volution von 1848, oder eine ungarische            Hungaria, bevor das Stadion in Stille taucht.
    Fahne mit einem Loch in der Mitte, ein Sym-        Als der Sarg unter den Klängen der 9. Sinfonie
    bol von 1956. „An diesen Feiertagen ist auf        auf die letzte Ehrenrunde geht, brechen alle
    einmal jeder ein Ungar“, sagt die Café-Betrei-     Dämme. Die Menschen strömen nach vorne
    berin Krisztina. „Ich nicht. Ich bin römisch-      zur Bande, Kerzen in der Hand, Tränen in den
    katholisch.“                                       Augen. Auf dem Platz vor der St.-Stephans-
                                                       Basilika wohnen die Menschen anschließend
       Anstatt 1956 als Datum des nationalen Ge-       dem über Leinwände übertragenen Gottes-
    denkens und Heroismus zu begehen, geht der         dienst bei. Neben Königen findet der Fußbal-
    „Feiertag“ am 23. Oktober 2006 in Krawallen        ler Puskás in der Basilika seine letzte Ruhe.
    unter. Auf dem zentralen Deák Ferenc tér ka-       Jedem, der dies als anmaßend empfindet, ist
    pern Radikale einen ausgestellten sowjetischen     zu entgegnen: Könige gab es viele, Puskás nur
    Panzer, der sich auch noch als betriebsfähig er-   einen. Ungarn ist mit seinem Tod um eine
    weist. In der Nacht dasselbe Bild wie bereits      Ikone, um eine goldene Erinnerung ärmer.
    Wochen zuvor. Die Bilanz am Ende der „Fei-
    erlichkeiten“: 167 Personen, darunter 17 Poli-        Es zeigt einmal mehr, wie sehr die Ungarn
    zisten, werden bei den Straßenkämpfen ver-         der Vergangenheit verhaftet sind. Es ist die
    letzt. 131 Personen werden wegen Randalie-         Erinnerung an jene Zeit Mitte der 1950er
    rens, Gewalt gegen Polizisten und leichterer       Jahre, als sich der Kommunismus mit „Stalins
    Vergehen in Haft genommen. Hinzu kommen            bestem Schüler“ Mátyás Rákosi in Ungarn
    etliche Millionen Forint Sachschäden. Noch         bereits durchgesetzt hat. Doch die „goldene
    Tage später ist das Tränengas in den Unterfüh-     Mannschaft“ fegt jedes europäische Team aus
    rungen nicht ganz verflogen.                       dem Stadion und ist die erste Mannschaft, die
                                                       England zu Hause im Wembley-Stadion
       Es sind die stillen Symbole, die den ungari-    schlägt. Nach dem verlorenen WM-Endspiel
    schen Freiheitskampf angemessen würdigen:          gegen Deutschland 1954 in Bern kehren sich
    etwa Beethovens Schicksalssymphonie, die           die Vorzeichen um. Verlierer kann das Re-
    tagsüber durch die Straßen hallt. Es ist das       gime nicht gebrauchen. Stattdessen steht es
    simple „1956“ in weißen Lettern auf schwar-        selbst kurz vor dem Exitus. Nur zwei Jahre
    zem Grund. Es sind die vielen Menschen, die        später wird der Volksaufstand den Ostblock
    dem Kampf ihres Landes in Stille gedenken          erschüttern. Doch der Westen kann, will
    wollen. Doch Ungarn 2006 erlaubt kein still-       nicht helfen, und das Land hat einmal mehr
    les Gedenken – zumindest nicht, wenn Poli-         Grund zu trauern.
    tik im Spiel ist.
                                                         Nicht zuletzt ist Ungarn das Land des Szo-
       Das Seuchenjahr 2006 hält noch eine weite-      morú vasárnap (Trauriger Sonntag), der
    re Tragödie bereit: Im November stirbt Fe-         „Hymne der Selbstmörder“, und in den
    renc Puskás, Kapitän der „goldenen Mann-           Selbstmordstatistiken in Europa vorne dabei,
    schaft“, die in den 1950er Jahren den interna-     derzeit überboten nur von Litauen, Belarus,
    tionalen Fußball dominierte. Puskás ist so         Russland und Slowenien. Zu den Selbstmör-

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dern gehört auch der Komponist des „Trauri-       während der Revolution 1956 gegen die
gen Sonntag“, Rezs} o Seress. Von einem Ge-       Kommunisten. Dreizehn Jahre sitzt sie im
mälde blickt er heute auf den Pianisten im        Gefängnis, bevor sie begnadigt und erst 1970
Kispipa Vendegl}o herab. In diesem Restau-        freigelassen wird. Viel später erzählt sie, wie
rant, so die Legende, in den dunklen, engen       man ihr bei der Vernehmung den Gummi-
Straßen des Jüdischen Viertels, sei Anfang der    knüppel in die Intimteile stieß. Ein halbes
1930er Jahre die „Hymne der Selbstmörder“         Jahrhundert später versammelt sie sich mit
entstanden, und von dort hat sie ihren Sieges-    Tausend anderen, um der Premiere dieser
zug um die Welt angetreten.                       „Ungarischen Garde“ beizuwohnen, einer
                                                  rechtsradikalen Organisation, die ihre Mit-
   Mitten in Budapest, am Fuße der Ketten-        glieder auch an der Waffe ausbilden will.
brücke, steht eine Statue, die den Ausgleich      Wittner erklärt, dass sich „Menschen, die um
zwischen Österreich und Ungarn 1867 alle-         ihre Heimat bangen, nun gegen den Satan
gorisch darstellt. Nach dem schwierigen 20.       – die gegenwärtige Regierung – und 50 Jahre
Jahrhundert ist das kleine Land an der Donau      Kommunismus verbünden“. Die Meute ju-
seit 2004 Teil der Europäischen Union. Es         belt, mehr noch, als gegen Juden, Homosexu-
identifiziert sich mit dem europäischen Ge-       elle und Roma gedonnert wird.
danken und strebt keine Grenzrevisionen an.
Im Innern aber würden Hände eher verdor-             Schon die Nachricht über die Bildung der
ren, ehe sie sich einander reichen.               sonderbaren Garde erregt Unmut, tragen
                                                  deren Mitglieder doch Uniformen und Insig-
   Bereits kurz nach den Ereignissen im           nien, die jenen der ungarischen Faschisten der
Herbst 2006 nehme ich es bewusst wahr:            1940er Jahre, den „Pfeilkreuzlern“, ähneln.
Graffiti und Slogans, die nicht nur gegen die     Dennoch wohnen Tausende Sympathisanten
Regierung, sondern vor allem gegen Juden          der Vereidigung der ersten 55 Gardisten auf
wettern. Als Tolvaj zsídók (Judendiebe) wer-      der Budaer Burg bei, welche die „Verteidi-
den sie bezeichnet und als trágya (Dünger).       gung der Nation“ zum Ziel haben. Man wolle
In meinem Stadtteil Ferencváros, seit wenigen     Aufgaben beim Katastrophen- und Zivil-
Jahren Budapests Bezirk für Kultur und            schutz übernehmen. Ebenso finden sich ein
abendliche Unterhaltung, sind regelmäßig          katholischer und ein reformierter Pfarrer
Mülleimer mit dem Schriftzug „Juden unter         sowie eine lutherische Pastorin zur Segnung
alles“ in deutscher Sprache verziert. Gereinigt   der Garde-Fahne bereit. Die Kirchen lassen
werden sie selten.                                danach verlautbaren, dass dies ohne ihr Wis-
                                                  sen geschehen sei. In den nächsten Jahren fin-
   Dem „heißen Herbst“ folgt ein heißer           den Hunderte von weiteren Freiwilligen den
Sommer. Doch nicht nur das Quecksilber im         Weg in den „eingetragenen Verein“. Ein Ver-
Thermometer klettert nach oben, auch die ge-      botsverfahren bleibt in der Schwebe. 2009
sellschaftliche Stimmung kocht. Bei der Ver-      finden bereits 19 Prozent der Ungarn die
eidigung der von der rechtsradikalen Jobbik-      „Garde“ „akzeptabel“.
Partei gegründeten „Ungarischen Garde“
Ende August 2007 auf der Budaer Burg vor             Ungarn ist noch nicht „angekommen“. Der
dem Amtssitz des Staatspräsidenten ist mir        Eindruck entsteht, dass sich noch etwas bewegt,
Ungarn ein größeres Rätsel, als es bisher war.    sich bewegen müsste. Doch dieser Eindruck
Es sind Radikale da, doch sie verlieren sich in   kommt zu selten vor. Mit den gewaltsamen
der bunten Menge der tausend Spießbürger.         Ausschreitungen auf den Straßen der Haupt-
Als die „Ungarische Garde“ aufmarschiert,         stadt geht die Vorstellung vom Musterland
schwillt das Klatschen zum Orkan an, und          unter den neuen EU-Mitgliedstaaten buchstäb-
Jubel bricht aus. Ein junger Ordner, adrett in    lich in Rauch auf. Danach produziert das Land
Garde-Uniform und mit einem Scheitel wie          mit der „Ungarischen Garde“ und dem drohen-
mit dem Lineal gezogen, lässt mich in den         den Staatsbankrott während der globalen Krise
Pressebereich vor. Als er meinen Akzent           weitere Negativschlagzeilen. Ungarn ist ein
wahrnimmt, lächelt er.                            schönes Land. Doch es ist tief gespalten.

  Auch Mária Wittner ist anwesend. Ihr
Name ist in Ungarn ein Begriff. Als junge Ar-
beiterin kämpft sie mit der Waffe in der Hand

                                                                              APuZ 29–30/2009       5
Jürgen Dieringer          und damit eine geringe Mobilisierung sowie
                                                            konzentrierte Machteliten. Im Folgenden soll

   Ungarn in der                                            der Frage nachgegangen werden, welche in-
                                                            stitutionellen und welche politisch-kulturel-
                                                            len Problemlagen die Vollendung der Trans-

Nachbeitrittskrise                                          formation behindern.

                                                                              Vier Phasen der Entwicklung
         U       ngarn erlebte einen vergleichsweise ru-
                 higen Systemwechsel. Doch mittler-
          weile hat das Land einen eher konfliktgelade-
                                                            Die ungarische Systemtransformation soll
                                                            hier in vier Phasen der Entwicklung unter-
          nen Politikprozess. Den Akteuren des Sys-         schieden werden: die Phase der Abwicklung
                                   temwechsels gelang       des Ancien Régime (1988–1990); die Phase
                 Jürgen Dieringer es zunächst gut, auf     der Systemetablierung und Konsolidierung
  Dr. phil., geb. 1969; Leiter der der Basis eines gewis-   (1990–1998), die erste etwas überlappend; die
     Professur für Politikwissen- sen Grundkonsenses        Phase der forcierten Europäisierung (1998–
schaft I an der Andrássy-Univer- zwischen alter Herr-       2002); schließlich die der Nachbeitrittskrise 2
  sität Budapest, Pollack M. tér schaftselite und den       seit 2004.
  1 – 3, 1088 Budapest/Ungarn. mannigfaltigen, be-
               jurgen.dieringer@ reits differenzierten         Die Ablösung des alten Regimes geschah
                   andrassyuni.hu demokratischen Ge-        als Elitenpakt. Das System kollabierte auf
                                   geneliten die neue       Grund der umfassenden Wirtschaftskrise, die
          Demokratie zu institutionalisieren. Der Kon-      den „ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag“
          fliktaustrag wurde verregelt, die Transforma-     zwischen sozialistischer Herrschaftselite und
          tion in geordnete Bahnen gelenkt. Um den          Volk – kein erneutes „1956“, dafür Privilegien
          Bestand dieses Kompromisssystems zu si-           wie Konsumgüter („Gulaschkommunismus“)
          chern, wurden im politischen System Schran-       und Reisefreiheiten – beendete. Außerdem
          ken eingezogen, die eine einseitige Interessen-   spielte der Wegfall der sowjetischen außenpo-
          durchsetzung verhindern sollten.                  litischen Klammer unter Michail Gorba-
                                                            tschow eine große Rolle. Die Abwicklung
            Heute, fast zwanzig Jahre nach Ausrufung        des nach dem langjährigen Parteivorsitzenden
         der Republik am 23. Oktober 1989, schaffen         János Kádár auch als „Kádárismus“ bezeich-
         es diese Institutionen nicht mehr, die politi-     neten Systems geschah im Zusammenspiel
         schen Lager zu einem Minimalkonsens zu             zwischen dem pragmatisch-technokratischen
         zwingen. Es kommt zur Politikblockade,             Teil der alten Staatspartei und der demokrati-
         weil die insgesamt 69 „Zweidrittelgesetze“,        schen Opposition. Letztere bestand aus
         die der Verfassung als „Demokratieschutz“          einem liberal-kosmopolitischen und einem
         beigegeben wurden, heute nur noch destruk-         national-populistischen Flügel. Als Transfor-
         tives Blockadepotential entwickeln. Das Sys-       mationsarena diente ein Runder Tisch: Die
         tem scheint grundlegend reformbedürftig,           Massen blieben weitgehend ausgeschlossen.
         weil Verfassungsintention und Verfassungs-         Vorteil der Konsenssuche war die Stabilität,
         wirklichkeit stark auseinanderstreben. 1 Un-       Nachteil die Überlagerung der Konflikte, die
         garn steckt in einer Adoleszenzkrise.              eines Austrags bedurft hätten, etwa die Frage
                                                            der strafrechtlichen und moralischen Verant-
            Die Reform des Systems war auf einen ge-        wortung. So wurde dem Land ein Korsett
         sellschaftlichen Konsens ausgelegt, der heute      verpasst, das es bis heute nicht sprengen
         nicht mehr besteht. Der Grundkonsens ist           konnte. Die Verfassung stammt trotz Totalre-
         eine Funktion der politischen Kultur, welche       vision aus dem Jahre 1949 und enthält noch
         sich in Ungarn zunehmend in Sphären ent-           immer Überreste aus der sozialistischen
         wickelt, die eigentlich für einen Systemum-
                                                             1 Vgl. ausführlich Jürgen Dieringer, Das politische
         bruch typisch gewesen wären. Ein nachho-
                                                            System der Republik Ungarn, Opladen 2009.
         lender Kulturkampf findet statt. So werden          2 Vgl. Attila Ágh, Bumpy road ahead in East Central
         Faktoren zum destabilisierenden Element,           Europe: Post-accession crisis and social challenge in
         die in der Wendezeit Stabilisatoren des Über-      ECE, in: ders./Alexandra Ferencz (eds.), Overcoming
         gangs waren: eine entpolitisierte Gesellschaft     the EU Crisis, Budapest 2007, S. 7–35.

     6    APuZ 29–30/2009
Zeit. 3 Der Versuch einer Totalrevision schei-            tritt stand an, der EU-Beitritt verlangte von
terte 1997. Der erste Ministerpräsident des               Ungarn die Erfüllung der Kopenhagener Kri-
modernen demokratischen Ungarn, József                    terien. Die Stabilität des politischen Prozesses
Antall, entgegnete Kritikern der Kooperati-               ist bei Beitrittsverhandlungen essenziell. Es
onsstrategie einst lakonisch: „Hättet ihr halt            entwickelte sich in der Folge ein außenpoliti-
eine Revolution gemacht!“                                 scher Minimalkonsens, der immerhin zur
                                                          Einführung eines Europaartikels in die Ver-
   Die zweite Phase der Transformation eta-               fassung führte und die Verbesserung parla-
blierte die demokratischen und marktwirt-                 mentarischer Kontrollrechte mit sich brach-
schaftlichen Grundlagen des politischen Sys-              te. 4 Diese Phase des westintegrationsbeding-
tems. Dies ist die Phase der Regierungen An-              ten Burgfriedens endete mit dem Beitritt
tall/Boross (1990–1994, bürgerlich) und                   Ungarns zur EU.
Horn (1994–1998, sozialliberal). Die Regie-
rung Antall verfeinerte und präzisierte die in-             Seither, nunmehr in der vierten Phase der
stitutionelle Ordnung durch einen Pakt mit                Transformation, sind die latenten Konflikte
der stärksten Oppositionspartei, den Libera-              offen ausgebrochen. Der politische Diskurs
len (der sog. Antall-Tölgyessy-Pakt), also                radikalisierte sich in der Wortwahl, in der
konsensorientiert. Die Regierung Horn er-                 Heftigkeit, letztlich auch in der Methodik.
wies sich Verdienste – nicht immer freiwillig             Ein Teil des oppositionellen Protestes wurde
– durch die Vollendung der wirtschaftspoliti-             vom Parlament auf die Straße verlagert. Die
schen Transformation. Nach anfänglichen                   institutionellen Schranken – die Zweidrittel-
Rückschritten wurden mit dem Bokros-Paket                 gesetze – verhindern die adäquate Bearbei-
die makroökonomische Stabilisierung einge-                tung des hausgemachten finanzpolitischen
leitet, die Privatisierung vorangebracht und              Desasters, zudem eine adäquate Befassung
der Dialog der Sozialpartner stärker institu-             mit der Weltwirtschaftskrise. Auch politisch-
tionalisiert. 1998 befand sich Ungarn in einer            kulturell zeigen sich die Risse deutlich: Die
Phase der Stabilität. Der Systemwechsel war               Aussage, dass in einem demokratischen Sys-
institutionell vollzogen. Es wäre nun an der              tem alle demokratischen Parteien miteinander
Zeit gewesen, in eine neue Phase einzutreten,             koalitionsfähig sein müssen, gilt für Ungarn
eine der institutionellen Feinjustierung und              offenbar nicht. Partikularinteressen überstei-
der Schwerpunktsetzung auf die Entwicklung                gen das gesamtungarische Interesse deutlich.
und Einbeziehung der Zivilgesellschaft, der               Das institutionelle Gerüst der ungarischen
Entwicklung einer kohärenten Außen- und                   Demokratie wird erheblich belastet.
Nachbarschaftspolitik, der Reform des Ge-
sundheits- und des Bildungswesens, einer Re-
form der Selbstverwaltungssysteme, einer                                                             Kartellparteien
Parlamentsreform und letztlich einer großen
Verfassungsrevision. Nichts von dem ist ge-               Ungarn ist das mittelosteuropäische Land mit
schehen. Das System blockierte sich selbst,               dem stabilsten Parteiensystem. Die Parteien
und die politische Kultur wurde zunehmend                 konnten sich aufgrund des Paktes der demo-
konfrontativer.                                           kratischen Opposition mit der Staatspartei
                                                          bereits während des Systemwechsels pro-
   Ministerpräsident Viktor Orbán legte bei               grammatisch differenzieren. Das ursprünglich
seinem Amtsantritt 1998 den Finger in die                 tripolare Parteiensystem mit den Lagern
Wunden, als er sagte, er wolle weniger als                „konservativ“, „liberal“ und „sozialdemokra-
einen Systemwechsel, aber mehr als einen Re-              tisch“, wandelte sich in ein bipolares (konser-
gierungswechsel. Doch letztlich hat das insti-            vativ-bürgerlich und sozialdemokratisch) mit
tutionelle Korsett auch ihm enge Grenzen ge-              einer Scharnierpartei (Liberale). Die Existenz
setzt. Das mag auch daran liegen, dass seit               anderer Parteien ist historisch, weniger funk-
1997/98, dem Beginn der dritten Transforma-               tional begründet, und ihre parlamentarische
tionsphase, der Prozess der Europäisierung                Anbindung scheint sich dem Ende zu nähern.
stark an Dynamik gewann. Der NATO-Bei-                     4 Vgl. Jürgen Dieringer, Zwischen Parlamentsvorbe-

                                                          halt und Regierungsdominanz: die wachsende Bedeu-
 3 Vgl. Herbert Küpper, Die „unvollendete Revolu-         tung des ungarischen Parlaments im europäischen In-
tion“: Sozialistische Überreste in der ungarischen Ver-   tegrationsprozess, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen,
fassung, in: Südosteuropa, 56 (2008) 2, S. 183 –199.      (2007) 4, S. 764–775.

                                                                                            APuZ 29–30/2009          7
Sie werden aufgesogen oder marginalisiert.         dem auf ungarische Mittelständler kaprizier-
    Dass es neuen Parteien nicht gelingt, eine par-    ten Ansatz der Rechten. Diese Trennlinie ist
    lamentarische Repräsentation zu erzielen,          dem Konflikt Nation versus Kosmopolitis-
    scheint zunächst daran zu liegen, dass die Par-    mus geschuldet.
    lamentsparteien in einer Art Kartell die Ein-
    trittsschranken hoch legen. Dies gilt insbeson-
    dere für den Zugang zu den Medien und für                                   Institutionelle Totenstarre
    die Parteienfinanzierung. Weiterhin hat das
    Wahlsystem, ein Grabenwahlsystem mit kom-          Seit dem Scheitern der Verfassungsreform im
    pensatorischen Elementen, dafür gesorgt, dass      Jahre 1997 ist der politische Prozess systemim-
    nur ex ante gebildete Bündnisse Siegeschancen      manent organisiert. Die Zweidrittelklauseln
    haben. Dies erhöht die Magnetfunktion der je-      wirken präventiv auf die Ausgestaltung der
    weils größten Partei im Lager und reduziert        politischen Programmatik. Es gelangen nur ge-
    die Chancen neuer Parteien.                        ringe Modifikationen, vor allem im Zuge des
                                                       Beitritts zur EU. Hier kommt es zu einer Er-
       Die soziokulturellen Parameter der Wahl-        weiterung des Souveränitätsbegriffs, indem
    entscheidungen laufen entlang einer Stadt/         eine monistische Rechtskonzeption angelegt
    Zentrum- versus Land/Peripherie-Line, einer        wird. Eine Öffnungsklausel in der Verfassung
    Trennlinie zwischen „Nation“ und Kosmo-            etabliert den Vorrang des europäischen Rechts.
    politismus, schließlich entlang des Gegensat-      Europäisches und nationales Recht wird als
    zes von Postkommunisten und Antikommu-             Teil eines gemeinsamen Rechtskörpers ver-
    nisten. Weder die Gegensätze von Arbeit und        standen. Konflikte wie im dualistisch gepräg-
    Kapital noch von religiös und säkular schei-       ten deutschen System bleiben aus.
    nen eine große Rolle zu spielen. Der „typi-
    sche“ bürgerliche Wähler kommt, stark ver-            Das Parlament hatte indes eine relativ
    einfacht dargestellt, eher aus Westungarn, aus     schwierige Entwicklung genommen. Eigent-
    kleineren Städten und nicht aus Budapest,          lich steht es nach Artikel 19 der Verfassung
    war nicht Mitglied der Staatspartei und ist        im Zentrum des politischen Systems. Gewis-
    eher jünger. Auch die Kirchgänger wählen           sermaßen ist das eine mehr oder weniger un-
    rechts. Der Wähler der Sozialisten kommt           intendierte Fortschreibung der Regelung des
    eher aus Ostungarn, aus einer Stadt, ist älter     sozialistischen Systems. Allerdings galt im
    und war eventuell in der Partei und den nach-      Kádárismus für keine Institution mehr als für
    geschalteten gesellschaftlichen Organisatio-       das Parlament, dass Anspruch und Wirklich-
    nen der sozialistischen Zeit aktiv. Der liberale   keit weit auseinanderklafften. Die formalen
    Wähler ist idealtypisch hoch gebildet und          Rechte des Parlaments sind enorm. Es ist ein-
    kommt aus Budapest.                                ziger Gesetzgeber, das Parlament ist Wahlor-
                                                       gan für fast alle anderen Staatsorgane: für den
       Die klassische Links-Rechts-Gliederung ist      Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten,
    in Ungarn also mit Vorsicht zu genießen.           für die Ombudsleute und Verfassungsrichter.
    Zwar sind die Begriffe einschlägig und wer-        Es ist zentraler Ort der Interessenaggregie-
    den in Befragungen „richtig“ angegeben, also       rung und wichtiger Kontrolleur der Regie-
    entsprechend zur Wahlpräferenz. Allerdings         rung. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten
    ergibt sich Kongruenz mit westeuropäischen         mit vielen Fraktionswechslern (von den ins-
    Parteiensystemen nur auf der gesellschaftli-       gesamt 2022 Abgeordneten zwischen 1990
    chen Achse zwischen kosmopolitischer und           und 2006 wechselten 186 die Fraktion) und
    nationaler Orientierung. Die wirtschaftliche       kaum parlamentarisch sozialisierten Abge-
    Achse zeigt eine „Rechte“, die staatsallokativ,    ordneten, mit schwach ausgeprägter Fachex-
    sowie eine „Linke“, die marktallokativ orien-      pertise und unterkomplex formulierter Ge-
    tiert ist. Die Gründe hierfür liegen erstens im    schäftsordnung zeigt sich mittlerweile eine
    stärkeren Zugriff der postkommunistischen          deutliche Professionalisierung der Abgeord-
    Netzwerke auf die Produktionsfaktoren;             neten 5. Neue Regelungen zur Fraktionsbil-
    zweitens in der Fixierung der demokratischen       dung und zum Fraktionswechsel haben ihre
    Wendeeliten auf die Staatsorgane; drittens im      5 Vgl. zu den folgenden Zahlen Gabriella Ilonszki, A
    Gegensatz zwischen dem auf die internatio-         képvisel}
                                                               ok arculatváltása – a csoport-meghatáro-
    nale Arbeitsteilung ausgerichteten Ansatz der      zottságok ereje, in: dies. (Hrsg.), Amat}
                                                                                               or és hivatásos
    Linken (Privatisierung, Liberalisierung) und       politikusok, Budapest 2008, S. 153 –181.

8    APuZ 29–30/2009
Arbeit stabilisiert, wie auch ein Ausbau der              Die Reform der Exekutive nach dem Mas-
parlamentarischen Dienste. In der ersten Le-           terplan von Gyurcsány stärkte zudem das
gislaturperiode (1990–1994) waren über 90              Kanzler- und das Kabinetts- gegenüber dem
Prozent der Abgeordneten neu, 1998 gelang-             Ressortprinzip. Die zentrale Politikformulie-
ten 50 Prozent neue Abgeordnete ins Parla-             rung in wichtigen Politikbereichen wurde
ment, 2006 nur noch knapp 30 Prozent.                  den Ministerien entzogen und externen Re-
                                                       formausschüssen mit externen Beratern zuge-
   Trotz aller Fortschritte: Eine Entparlamen-         wiesen. Die Minister hatten im Kabinett eine
tarisierung des politischen Systems ist deutlich       allgemeine Reformstrategie zu verabschieden,
sichtbar. Parlamentarische Rechte werden teil-         die von den Ministerien nur noch zu imple-
weise karikiert. Zu nennen wären die Unter-            mentieren war. Der Minister vertritt nicht
suchungsausschüsse, die eigentlich nie zu Er-          mehr die Interessen des Ministeriums im Ka-
gebnissen führen, weil die Mehrheit mit Ver-           binett, sondern jene des Kabinetts im Mini-
fahrenstricks die Arbeit behindert. Bestenfalls        sterium – und damit die des Ministerpräsi-
entstehen parallele Meinungen der beiden               denten, in dessen Händen alle Fäden zusam-
Blöcke. Der krasseste Fall der Missachtung ist         menlaufen. Es waren vor allem die
das konstruktive Misstrauensvotum gegen                Ministerpräsidenten Viktor Orbán (1998–
Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány im                  2002) und Ferenc Gyurcsány (2004–2009),
Frühjahr 2009, das dieser gegen sich selbst            die den Politikprozess als starke Persönlich-
initiierte, um einen Wechsel im Amt durch-             keiten dominierten und den Machtapparat
führen zu können, ohne den Staatspräsidenten           auf sich zuschnitten. Man spricht bereits von
in den Prozess involvieren zu müssen.                  einer Art „Präsidentialisierung“ 7 des ungari-
                                                       schen politischen Systems, die aus der Person
   Ungarn wurde im Laufe der Zeit immer                des Ministerpräsidenten erwachse (wohlge-
stärker zu einer „Kanzlerdemokratie“. Die              merkt: nicht aus der des Staatspräsidenten).
Ministerpräsidenten setzten sich auch ohne             Dies führt wohl zu weit, aber die Stärkung
formale Richtlinienkompetenz gegenüber                 des Ministerpräsidenten ist signifikant.
dem Staatspräsidenten und dem Parlament
durch. Die Macht des Staatspräsidenten, der               Der Zentralisierung der Staatsorgane steht
als Überbleibsel der Systemwechselzeit und             ein Selbstverwaltungssystem auf regionaler
angesichts des parlamentarischen Charakters            respektive kommunaler Ebene entgegen, das
des Systems zu viele Rechte auf sich vereint –         dysfunktional und fragmentiert ist. Zudem
etwa das Recht, im Parlament Gesetzesent-              fehlt es an einer Rechtshierarchie, weil die
würfe einzubringen –, wurde vom Verfas-                Satzungen der Komitate (regionale Verwal-
sungsgericht beschnitten. So ist der Staatsprä-        tungseinheiten) und Gemeinden/Städte bzw.
sident heute beispielsweise Oberbefehlshaber           der Hauptstadt und seiner Stadtteile gleich-
der Streitkräfte, aber die Befehlsgewalt wurde         rangig sind. So ist Ungarn in 3200 „Klein-
ihm entzogen. 6 Gegenüber dem Parlament                königreiche“ zergliedert, die Subsidiarität mit
zogen die Ministerpräsidenten ihre Potenz              „auf der untersten Ebene“ gleichsetzen. Das
aus zunächst übergroßen Koalitionen. Da-               Zweidrittelregime, dem das Selbstverwal-
nach waren die Koalitionen als Minimum-                tungsgesetz unterworfen ist, wie auch die
winning-Formationen zwar kleiner, zeichne-             „Unterwanderung“ des nationalen Parla-
ten sich aber durch vergleichsweise hohe Sta-          ments mit Bürgermeistern verhindern, dass es
bilität und Verlässlichkeit aus. Erst in jüngster      zu funktionalen Lösungen kommt. Staatsver-
Zeit kam es zu Minderheitsregierungen, die             waltung, Selbstverwaltung und die Institutio-
aber dennoch parlamentarische Mehrheiten               nen der Regionalpolitik sind über unter-
organisieren konnten. Gegenüber den Minis-             schiedliche, teils artifizielle Ebenen verteilt;
tern bezieht der Ministerpräsident seine Stär-         demokratisch legitimierte Institutionen auf
ke aus der stetig ausgebauten Schaltzentrale           Komitatsebene leiden unter einem Mangel an
der Regierung, dem Ministerpräsidentenamt,             Aufgaben und an Finanzquellen. Abhilfe
auch kancellária genannt.                              scheint nur möglich, wenn ein politisches

6 Vgl. Jürgen Dieringer, Staatspräsident Árpád Göncz    7 András Körösényi, Gyurcsány-vezér. A magyar po-

– Wegbereiter der ungarischen „Kanzlerdemokratie“      litika „prezidencializálódása“, in: Péter Sándor/László
wider Willen, in: Südosteuropa, 53 (2005) 2, S. 272–   Vass/Ágnes Tolnai (Hrsg.), Magyarország politikai év-
288.                                                   könyve 2006, Budapest 2006, S. 141– 149.

                                                                                        APuZ 29–30/2009          9
Lager eine Zweidrittelmehrheit im Parlament            Opposition gegen die Regierung gerichtet. In
        erzielt. Aber selbst dann scheinen zu viele po-        manchen Fällen waren die Initiatoren erfolg-
        litische Karrieren betroffen, als dass sich eine       reich. Neuerdings zeichnet sich eine wichtige
        Mehrheit für eine Reform organisieren ließe.           Ergänzung ab. Erstmals richtet sich eine Initi-
                                                               ative – aus der Zivilgesellschaft heraus –
Von der repräsentativen zur                                    gegen die politische Klasse als solche. In der
                                                               Frage der Diäten und Spesen der Parlamenta-
direkten Demokratie?                                           rier kommt es entweder zur Abstimmung,
                                                               oder das Parlament entscheidet in letzter Se-
        Die ungarische Zivilgesellschaft hat keinen            kunde über eine Finanzierungsnovelle. Das
        leichten Stand. Wie in allen sozialistischen           ist eine qualitativ neue Entwicklung. Das Re-
        Staaten wurde einst auch in Ungarn bestehen-           ferendum kann zum Sprachrohr der Zivilge-
        des Sozialkapital mit Absicht zerschlagen              sellschaft werden und präventive Kontrollen
        und durch ideologisierte, parteigebundene              der politischen Klasse etablieren. Es kann
        Strukturen ersetzt. Die Zivilgesellschaft hat          mobilisieren in einem Land, das für seine
        sich formal, gemessen an der Zahl der Verei-           eher apathische, schwer zu mobilisierende
        nigungen, zwar relativ schnell erholt. Aber            Bevölkerung bekannt ist. Damit ist das Refe-
        dass dieses neu entstandene Sozialkapital              rendum eine Alternative zur Politik der
        durchgehend hochwertig ist, kann getrost be-           Straße und hat das Potential, dem tiefen Miss-
        zweifelt werden. Im Widerstand gegen das               trauen der Bevölkerung gegenüber der politi-
        sozialistische System hatten sich die unter-           schen Klasse und den politischen Institutio-
        schiedlichsten sozialen Milieus verbündet. 8           nen ein Ventil zu geben.
        Wie auch die Parteien mussten sie danach
        schmerzhafte Trennungen durchleben. Heute
        ist die Landschaft der Nichtregierungsorgani-                     Kein Vertrauen in die Institutionen,
        sationen nicht weniger polarisiert als die Par-
        teienlandschaft.
                                                                                kein Vertrauen in die Politik
                                                               Die Meinungen und Einstellungen der Un-
           Die Verbindungslinien von Volk und Staat            garn zwanzig Jahre nach der Transformation
        sind in Ungarn durch korporatistische Struk-
                                                               sind äußerst diffus. Weniger als die Hälfte (47
        turen, das Ombudsleutesystem und Elemente
                                                               Prozent) der Befragten sind mit dem Leben
        direkter Demokratie strukturiert. Das Om-
                                                               allgemein zufrieden. Hinter Ungarn liegt in
        budsleutesystem funktioniert relativ gut.
                                                               der EU-27 nur Bulgarien. Nur 39 Prozent der
        Korporatistische Strukturen fristen bisher             Befragten antworteten im vergangenen Jahr
        eher ein Schattendasein. Volksabstimmungen
                                                               auf die Frage, ob Ungarn von der Mitglied-
        haben das beste Potential, die staatlichen Ak-
                                                               schaft in der EU profitiert habe, mit Ja.
        teure zu bremsen. Die Institution des Refe-
                                                               Damit ist Ungarn Schlusslicht. Gleichzeitig
        rendums wurde eher zufällig und relativ spät
                                                               bringen 64 Prozent der Befragten dem Euro-
        institutionalisiert und mit einigen Sprüchen           päischen Parlament Vertrauen entgegen
        des Verfassungsgerichts präzisiert. Seither
                                                               (Durchschnitt EU-27: 51 Prozent), der Kom-
        gilt: Grundsätzlich ist Ungarn eine repräsen-
                                                               mission immerhin 56 Prozent (EU-27: 47
        tative Demokratie, Elemente direkter Demo-
                                                               Prozent). 9 Die Zahlen sind im Abgleich mit
        kratie sind die Ausnahme. Werden sie aller-
                                                               dem nationalen Kontext beeindruckend: Das
        dings angewendet, genießen sie Vorrang vor             ungarische Parlament genießt das Vertrauen
        Entscheidungen des Parlaments.
                                                               von 15 Prozent der Ungarn (nationale Parla-
                                                               mente der EU-27: 34 Prozent), die Regierung
          Volksbefragungen wurden meist von den
                                                               von nur 13 Prozent (EU-27: 32 Prozent). 10
        politischen Parteien instrumentalisiert. Zwei
        Befragungen waren „neutral“ (NATO- und                    Die allgemeine Unzufriedenheit ist innen-
        EU-Beitritt), die anderen wurden von der
                                                               politisch motiviert und hat wenig mit der
         8 Vgl. Máté Szabó, Die Zivilgesellschaft in Ungarn.
                                                               europäischen Integration zu tun. Viele Un-
        Zwischen EU-Beitritt und globalen Heraus-              garn vereint der Eindruck, dass die System-
        forderungen, in: Jürgen Dieringer/Stefan Okruch        transformation nicht abgeschlossen bezie-
        (Hrsg.), Von der Idee zum Konvent. Eine inter-
        disziplinäre Betrachtung des europäischen Integra-     9    Vgl. Eurobarometer 70, 2008.
        tionsprozesses, Budapest 2004, S. 81–98, hier S. 82.   10   Vgl. Eurobarometer 69, 2008.

   10    APuZ 29–30/2009
hungsweise nicht richtig vonstatten gegangen              ideell determinierten (Apathie, Radikalisie-
      sei. Auch sind die Ergebnisse des politischen             rung) Krisen.
      Prozesses nicht geeignet, Outputlegitimität
      zu erzeugen. Als Vorreiter gestartet, zeigen                 Der ungarische Modernisierungspfad un-
      die Zahlen des Bertelsmann-Transformations-               terscheidet sich als Ergebnis der Polarisierung
      indexes, dass Ungarn an vielen Fronten zu-                je nach Regierung. Die rechte Seite verfolgt
      rückfällt. 11 Diese messbare Unzufriedenheit              eine Art gaullistische Modernisierung. Sie
      ist eine Gemengelage aus objektiven Parame-               stellt die Nation als historisches und ethni-
      tern, etwa im Bereich Lebenschancen und                   sches Gebilde in den Mittelpunkt: Priorität
      soziale Leistungen sowie subjektiven Ein-                 für ungarische Unternehmen, Minderheiten-
      drücken, die sich wiederum in historische,                politik als wichtiger Bestandteil der Außen-
      transponierte Pathologien und aktuelle Pro-               politik. In der Bevölkerungspolitik gilt das
      blemlagen teilen lassen. Wie auch in anderen              ius sanguinis, mit exklusiven Momenten.
      Staaten der Region zeigen sich Krisensym-                 Diese Konzeption braucht einen starken Staat
      ptome, 12 die weit vor der globalen Wirt-                 und den Zugriff der Akteure auf die staatli-
      schaftskrise manifest waren. Zu nennen ist                chen Institutionen, die nicht nur den Rahmen
      die Unzufriedenheit mit dem alles dominie-                setzen sollen. Agiert wird staatsallokativ und
      renden Parteienstaat, die selbst im Alltag des            merkantilistisch. Aus dem Zugriffsanspruch
      Bürgers spürbare Korruption, die Arroganz                 auf staatliche Institutionen erklärt sich, dass
      und das Fehlverhalten der politischen Akteu-              die Konzeption der Rechten gelegentlich Be-
      re sowie die zirkulierende alt-neue politische            fürchtungen bezüglich der Qualität der De-
      Elite, deren etwa 9 000 Mitglieder zwischen               mokratie aufkommen lässt.
      verschiedenen Ämtern rotieren und einen
      umfassenden Elitenwandel behindern. 13 His-                  Die eher als „blairistisch“ zu bezeichnende
      torisch determiniert ist die alte Spaltung in             Modernisierungsstrategie des linken Lagers
      Nationale und Kosmopoliten, die neue in Ex-               dagegen setzt auf kosmopolitische Konzepte,
      Kommunisten und Antikommunisten, die zu                   steht für die Einbettung der ungarischen
      Lagerdenken und Exklusion führen.                         Wirtschaft in die internationale Arbeitstei-
                                                                lung, für Marktallokation und Wettbewerb.
                                                                Sie kapriziert sich vorwiegend auf das heutige
Zwei Modernisierungsstrategien,                                 Ungarn in den Post-Trianon-Grenzen. 14 Im
                                                                übertragenen Sinne verstanden: Es gilt das ius
zwei Ungarn                                                     soli, die Konzeption ist grundlegend inklusiv.
                                                                Hier brauchen die staatlichen Institutionen
      Das Land ist seit Jahrhunderten in ein urba-
                                                                nicht überstrapaziert zu werden. Befürchtet
      nes und ein volkstümliches Ungarn gespalten.
                                                                wird von den Gegnern dieser Strategie aller-
      Diese Zweiteilung – verstanden als intellek-
                                                                dings ein „Ausverkauf des Landes“.
      tuelles und soziales Konstrukt – führt zur
      Etablierung einer Identifikationsstruktur auf
                                                                   Bisher gibt es keine nennenswerten Kräfte,
      der Basis eines „Wir“ und „Die“. Die Polari-
                                                                die in der Lage wären, diese beiden Konzepte
      sierung ist überall spürbar. Das Institutionen-
                                                                zu versöhnen und die politische Mitte neu zu
      system als Konfliktlösungsstelle kann diese
                                                                besetzen. Eine starke Kraft in der mittleren Po-
      Spannung kaum noch verkraften. Die Kon-
                                                                sition hätte die Möglichkeit, je nach Nähe Part-
      flikte bemächtigen sich der Institutionen,
                                                                ner für eine ausgewogene Strategie zu suchen.
      diese werden zum Spielball der Spieler und
                                                                Eine Pluralisierung der Lösungsansätze wäre
      verlieren ihre Funktion als Spielfeld. Es
                                                                die Folge. Dazu muss das Parteiensystem aber
      kommt zu materiell (Politikblockaden) und
                                                                aufgebrochen werden, oder/und ein Teil der
       11 Vgl. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Sustainable Go-    schweigenden Masse muss zu partizipatori-
      vernance Indicators 2009. Policy Performance and          schem Verhalten übergehen. Vielleicht birgt die
      Executive Capacity in the OECD, Gütersloh 2009.           Institution des Referendums dieses Potential.
       12 Vgl. Alina Mungiu-Pippidi, Is East-Central Europe

      Backsliding? EU accession is no „End of History“, in:
      Journal of Democracy, 18 (2007) 4, S. 8–16.
       13 Zur Elite vgl. insbesondere Zoltán Tibor Pállinger,   14 Im Friedensvertrag von Trianon verlor Ungarn nach
      Zwischen Polarisierung und Professionalisierung:          dem Ersten Weltkrieg große Teile seines Staatsgebiets.
      Entwicklungslinien der politischen Elite Ungarns, in:
      Südosteuropa, 56 (2008) 2, S. 200–221.

                                                                                                 APuZ 29–30/2009         11
Attila Ágh          In Ungarn wie auch in den anderen neuen
                                                             Mitgliedstaaten zeigt sich die Nachbeitritts-

                         Ungarn in                           krise mit landeseigenen Spezifika, bei denen
                                                             Kurz- und die Langzeitprozesse klar von-
                                                             einander unterschieden werden müssen. Die

                           der EU                            Krise muss vollständig beschrieben, sollte
                                                             aber nicht zu einer historischen Dimension
                                                             verallgemeinert werden, da ihre Überwin-
                                                             dung bereits vorhersehbar ist, sobald die der-

          I     m Jahr 2004 ist Ungarn der Europäischen
                Union (EU) beigetreten; die strukturelle
            Anpassung an die Arbeitsweisen in der EU
                                                             zeitige weltweite Krise es zulässt.

                                                                Im Folgenden erörtere ich die Auswirkun-
            ist erfolgreich vollzogen. Gleichwohl befand     gen der Übergangskrise in Ungarn, behandele
            sich Ungarn in der zweiten Hälfte dieses         aber gleichzeitig auch die langfristigen Ten-
            Jahrzehnts in einer Ausnahmesituation, näm-      denzen, um zu verdeutlichen, dass diese Mo-
            lich in einer zwar vorübergehenden, jedoch       mentaufnahme Ungarns nur die derzeitigen
                                    einige Jahre andauern-   Turbulenzen beschreibt, nicht aber den ge-
                        Attila Ágh den Krise. Die gegen-    samten Demokratisierungs- und Europäisie-
  Dr. rer. pol., geb. 1941; Profes- wärtige Krise wurde      rungsprozess. Seit einigen Jahren schon
sor am Institut für Politikwissen- durch das Zusammen-       herrscht in Ungarn eine schlechte Stimmung,
 schaft der Corvinus Universität treffen verschiedener       „Malaise“, aber die Ungarn sind auf lange
    Budapest, Közraktár u. 4– 6, Faktoren verursacht,        Sicht noch immer für Demokratisierung und
          1093 Budapest/Ungarn. die zum einen von            Europäisierung begeisterungsfähig. Die unga-
          attila.agh@corvinus.hu den kurzfristigen An-       rischen Einstellungen zur EU-Mitgliedschaft
                                    forderungen des EU-      lassen sich nur im gegenwärtigen nationalen
            Beitritts sowie den langfristigen Auswirkun-     Kontext verstehen.
            gen des Systemwandels und zum anderen als
            Folge der globalen Finanzkrise hervorgerufen
            wurden. Somit wurde die Nachbeitrittskrise                                     Innenpolitik und EU
            im Grunde durch den doppelten Druck der
            EU-Erfordernisse und der Inlandsprobleme         Jüngste Eurobarometer-Umfragen (EB 70
            ausgelöst, d. h. durch die Anforderungen im      und 71) haben gezeigt, dass Ungarn sich auf-
            Zuge der andauernden Reformbestrebungen          grund der Nachbeitrittskrise und der Kon-
            innerhalb der EU – einschließlich des ange-      junkturflaute zu einem der pessimistischsten
            strebten Beitritts zur Eurozone – und durch      Mitgliedstaaten entwickelt hat, da sich die in-
            die fehlende soziale Konsolidierung, die eine    nenpolitischen Spannungen negativ auf die
            erschreckende Reformmüdigkeit bewirkt hat.       Einstellungen zur EU-Mitgliedschaft auswir-
                                                             ken. Wie die Bevölkerungen der anderen EU-
             Leider überschnitten sich die EU-Nach-          Länder projizieren auch die Ungarn innenpo-
          beitrittsgegebenheiten mit den kurzfristigen       litische Probleme und innerstaatliche Spal-
          Wirkungen der Abschwächungsphase im un-            tungen auf die EU-Ebene. Sie formulieren
          garischen Konjunkturverlauf und auch mit           ihre Unterstützung der EU-Mitgliedschaft
          den Langzeitwirkungen der Reformmüdig-             und der europäischen Institutionen durch das
          keit, welche wiederum durch die großen             Prisma ihrer Einstellungen zum eigenen
          Hoffnungen auf soziale Konsolidierung nach         Land. Die öffentliche Meinung zur EU in
          zwanzig Jahren des ständigen Wandels und           Ungarn verrät eine besonders kurzfristige
          der Arbeitsplatzunsicherheit hervorgerufenen       Sichtweise aufgrund der innenpolitischen Si-
          worden waren. Die weltweite Finanzkrise            tuation. Es ist tatsächlich so, dass in Ungarn
          trat zu einem Zeitpunkt ein, als sich Ungarn       aufgrund der hohen Erwartungen traditionell
          ohnehin bereits in einer finanzpolitisch           eine pessimistische Denkweise besteht;
          schwierigen Situation befand, die aber inner-      gleichwohl hat sich der ungarische Pessimis-
          halb weniger Monate, bis Ende 2008, über-          mus in den vergangenen Jahren noch ver-
          wunden war; die Schwierigkeiten der darauf         stärkt.
          folgenden wirtschaftlichen und sozialen Krise
          bestehen fort. Am 14. April 2009 nahm eine         Übersetzung aus dem Englischen: Jaiken Struck, South
          neue Regierung die Arbeit auf. 1                   Petherton, England/UK.

     12    APuZ 29–30/2009
Der Einbruch der öffentlichen Stimmung in      den subjektiven Wahrnehmungen seiner Bür-
Ungarn zeichnete sich bereits dadurch ab, dass    ger hat zu einer Reihe von Paradoxien bei der
die Ungarn mit ihrem Leben stets deutlich un-     Bewertung der EU-Mitgliedschaft geführt.
zufriedener waren als der durchschnittliche       Genau genommen sind die Ungarn in erster
EU-Bürger. Mittlerweile glaubt nur noch ein       Linie nicht mit der EU unzufrieden, sondern
winziger Prozentsatz der Ungarn, dass sich        mit der Verlangsamung des Wirtschafts-
das Land in eine gute Richtung entwickelt,        wachstums bzw. der beginnenden Rezession
während sich der Anteil derjenigen, nach          mit ihren kurzfristigen sozialen Folgen, d. h.
deren Auffassung sich die EU in die richtige      der gegenwärtigen Stagnation oder geringfü-
Richtung bewegt, nahe am EU-Durchschnitt          gigen Verschlechterung des Lebensstandards
befindet. Die ungarischen Eigenheiten zeigen      und den zunehmenden politischen Spannun-
sich deutlich in der Liste der drängendsten       gen im eigenen Land. Diese innenpolitischen
Probleme. Sie enthält dieselben vier Begriffe,    Probleme, auf die EU-Ebene projiziert,
die auch in der EU allgemein Priorität haben:     haben zu drei Paradoxien geführt.
Arbeitslosigkeit, Inflation, das Gesundheits-
wesen und die allgemeine wirtschaftliche Si-      Paradoxon I: Die Ungarn sind zunehmend
tuation. Doch die Ungarn machen sich weitaus      unzufrieden in der EU, aber sie bewerten die
größere Sorgen über diese Probleme, und ein       EU weiterhin positiver als die innenpoliti-
viel höherer Prozentsatz überhaupt ist besorgt.   schen Entwicklungen.
Das spiegelt eine Situation wider, die ich als
„Falle materialistischer Bedürfnisse“ be-
                                                  Die Ungarn sehen immer weniger die Vorteile
zeichne. Gleichzeitig sorgen sich die Ungarn
                                                  der EU-Mitgliedschaft, und das positive Bild
meist deutlich weniger um „post-materialisti-
                                                  der EU schwindet von Jahr zu Jahr. Diese öf-
sche“ Fragen wie internationale Sicherheit und
                                                  fentliche Wahrnehmung bringt eine wachsen-
Einwanderung. Vor dem Hintergrund dieser
                                                  de Ernüchterung bezüglich der EU-Mitglied-
nationalen Sorgen wird deutlich, dass die Un-
                                                  schaft zum Ausdruck, aber eine noch stärker
garn zurzeit weniger an der EU als vielmehr an
                                                  wachsende Massenenttäuschung ist in den
ihren innenpolitischen Problemen leiden.
                                                  vergangenen zwei Jahren aufgrund der Ent-
                                                  wicklungen im eigenen Land – Gesundheits-
   Die ungarische Besonderheit liegt darin,
                                                  reformen und Umgang mit der Wirtschafts-
dass eine beträchtliche Kluft zwischen der
                                                  krise – entstanden.
mangelnden sozialen Konsolidierung und
den sehr hohen Erwartungen an das Sozial-
wesen besteht. In Ungarn hat die übliche          Paradoxon II: Es herrscht größeres Vertrauen
langsame und daher umstrittene Verbesserung       in die EU-Institutionen als in die nationalen.
des Lebensstandards und öffentlicher Dienst-
leistungen in den vergangenen zwanzig Jah-        Die Ungarn haben ein sehr schwaches Ver-
ren – trotz des raschen Fortschritts in der er-   trauen in die eigenen nationalen Institutio-
sten Hälfte dieses Jahrzehnts – größere Ent-      nen, vertrauen aber in viel stärkerem Maße
täuschungen verursacht als in den meisten         als der EU-Durchschnitt den europäischen
anderen neuen Mitgliedstaaten. Dieser Um-         Institutionen. Zwar neigen die Europäer in
stand verschärfte sich in den vergangenen         den meisten Mitgliedstaaten zu größerem
zwei Jahren durch die Konjunkturflaute und        Vertrauen in die Union als in ihre nationalen
ihre gesellschaftlichen Folgen. Trotz eines ei-   Institutionen. Aber dieses Phänomen er-
genen, konjunkturbedingten Musters zählte         scheint in Ungarn in einer Extremform, denn
die sozioökonomische Entwicklung Ungarns          die Ungarn zeigen viel tiefere Unzufrieden-
im vergangenen Jahrzehnt zur besten und           heit mit den und geringeres Vertrauen in die
schnellsten unter den neuen Mitgliedstaaten.      inländischen Institutionen als der EU-Durch-
Das Wirtschaftswachstum lag zwischen 1995         schnitt. Tatsächlich wächst ganz allgemein
und 2006 bei durchschnittlich vier Prozent        das Misstrauen gegenüber Institutionen in
pro Jahr, und der Anstieg der Reallöhne be-       Ungarn, aber das betrifft die nationalen Insti-
trug zwischen 2001 und 2006 35 Prozent; bei-      tutionen viel stärker als die der EU. Die de-
des war in der EU beispiellos.                    mokratischen Institutionen in den neuen Mit-
                                                  gliedstaaten sind noch immer schwach und
   Der enorme Gegensatz zwischen dem ob-          belegen nicht selten ein nur geringes soziales
jektiv guten Abschneiden des Landes und           Einfühlungsvermögen, so dass die Menschen

                                                                              APuZ 29–30/2009       13
das Gefühl haben, ihre realen Probleme wür-       letzt mithilfe tiefer Einschnitte in den Staats-
     den von offizieller Seite nicht ernst genom-      haushalt auf die Einführung des Euro
     men.                                              vorzubereiten. Trotzdem träumen die Ungarn
                                                       noch immer von einer EU, die alle innenpoli-
     Paradoxon III: Die Zufriedenheit mit der De-      tischen Probleme löst und auch im Rahmen
     mokratie in der EU ist viel höher als mit der     der EU selbst ihre hohen Erwartungen er-
     in Ungarn.                                        füllt. Dadurch ist es zu einer Teilung der öf-
                                                       fentlichen Meinung zwischen der weiterhin
     In Ungarn besteht ein starker Gegensatz zwi-      positiven und optimistischen Einstellung zur
     schen der Verfahrens- oder Input-Legitimität      EU einerseits und der zunehmend negativen
     und der Ergebnis- oder Output-Legitimität         und pessimistischen Sicht auf die innenpoliti-
     des neuen demokratischen Institutionensy-         sche Entwicklung andererseits gekommen.
     stems. Die meisten Menschen bezeichnen die        Zweifellos jedoch wird sich Ungarn inner-
     Institutionen durchaus als demokratisch, da       halb weniger Jahre von der Wirtschaftsflaute
     ihnen die Grundsätze der Verfahrensgesetze        erholen, die letztlich nur ein Teil der allge-
     deutlich geworden sind. Die meisten Ungarn        meinen konjunkturellen Entwicklung ist.
     sind allerdings der Meinung, sie arbeiteten       Diese Erholung wird sicherlich auch zu einer
     äußerst ineffektiv, d. h. die Institutionen be-   positiveren Bewertung der ungarischen In-
     fänden sich noch immer in einer „Anlauf“-         nenpolitik führen; aufgrund dieser Wende
     Phase. EU-Institutionen hingegen werden           werden die kontroversen und geradezu para-
     von großen Teilen der Bevölkerung als Mo-         doxen Einstellungen zur EU ebenfalls schwä-
     dell voll entwickelter, gut funktionierender      cher und schließlich verschwinden.
     Einrichtungen angesehen, und es gibt keine
     öffentliche Debatte über das Demokratiedefi-      Vorläufiges Fazit: Eine geringe Befürwortung
     zit der EU.                                       der EU-Mitgliedschaft ist in Ungarn parado-
                                                       xerweise mit einer starken Befürwortung der
        Zum Zeitpunkt des EU-Beitritts befürwor-       europäischen Integration und mit großer
     tete die Mehrheit der Ungarn die Mitglied-        Wertschätzung für die EU-Institutionen ver-
     schaft. Diese Zahl ging bis heute auf ein Drit-   knüpft.
     tel zurück. Obwohl die Unterstützung für
     die EU-Mitgliedschaft in den vergangenen
     Jahren stetig nachgelassen hat, sind die Un-                            Der ungarische EU-Kurs
     garn doch nach wie vor Europa-Enthusiasten,
     wie diverse Daten belegen: Vor allem zählen       Dieser Prozess zeigt ebenfalls eine interes-
     sie zu den glühendsten Anhängern einer wei-       sante Ambiguität, da einerseits eine Art na-
     teren europäischen Integration und behaup-        tionaler Konsens hinsichtlich der Hauptziele
     ten zudem von sich, großes Interesse an den       der ungarischen Europapolitik besteht, in er-
     Arbeitsweisen der EU-Institutionen zu             ster Linie die finalité politique der EU betref-
     haben. Diese Paradoxien zeigen recht deut-        fend, aber andererseits zwischen Regierung
     lich, dass die Massenunzufriedenheit vor          und Opposition starke Spannungen wegen
     allem durch die nationalen Probleme hervor-       grundlegender politischer Vorgehensweisen
     gerufen wurde, denn die Ungarn haben eine         herrschen, beispielsweise die Agrar- und
     stabile Präferenz für die EU und befürworten      Energiepolitik in der EU betreffend. Die Op-
     die EU und ihre Institutionen in überwälti-       position unterstützt die kleineren, familiären
     gender Weise.                                     Landwirtschaftsbetriebe, während die Regie-
                                                       rung eine Modernisierung der Landwirtschaft
       Folglich könnte man in Bezug auf die un-        anstrebt, weshalb sie die Zusammenlegung
     garischen EU-Einstellungen auf den ersten         kleinerer Betriebe zu größeren und wettbe-
     Blick schließen, dass das Hauptmerkmal der        werbsfähigeren Unternehmen fördert. In der
     öffentlichen Meinung in Ungarn eine kogniti-      Energiepolitik hat die Regierung den Schwer-
     ve Dissonanz ist: die Akzeptanz miteinander       punkt auf die Sicherung der Energieversor-
     nicht zu vereinbarender Meinungen. Die Un-        gung gelegt, weshalb sie ausgewogene Bezie-
     garn leiden unter Transformationsmüdigkeit        hungen zu Russland aufbaut, während die
     und sind daher unzufrieden mit dem fortwäh-       Opposition auf eine Konfrontation mit Russ-
     renden Druck seitens der EU, weitere Refor-       land wegen dessen Demokratiedefiziten
     men durchzuführen und das Land nicht zu-          drängt. Die Debatte um die Außenpolitik er-

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