AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schule - Bundeszentrale für politische Bildung
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70. Jahrgang, 51/2020, 14. Dezember 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Schule Claudia Lohrenscheit Wilfried Schubarth DAS RECHT AUF BILDUNG SCHULE ALS SOZIALEN ORT IM PERMANENTEN (WIEDER)ENTDECKEN KRISENZUSTAND Lisa Pagel · Laura Schmitz · Katharina Werner C. Katharina Spieß · Ludovica Gambaro WAS KOSTET ES, ZUR SCHULSITUATION NICHT IN BILDUNG GEFLÜCHTETER KINDER ZU INVESTIEREN? UND JUGENDLICHER Kai Maaz · Martina Diedrich Michael Wrase · Jutta Allmendinger SCHULE UNTER DAS RECHT AUF BILDUNG PANDEMIEBEDINGUNGEN VERWIRKLICHEN Stefan Immerfall SCHULE IN DER PANDEMIE: ERFAHRUNGEN AUS OSTWÜRTTEMBERG ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Schule APuZ 51/2020 CLAUDIA LOHRENSCHEIT WILFRIED SCHUBARTH DAS RECHT AUF BILDUNG SCHULE ALS SOZIALEN ORT IM PERMANENTEN KRISENZUSTAND (WIEDER)ENTDECKEN Das Recht auf Bildung ist nicht erst seit der Kinder und Jugendliche sind von der Corona- Corona-Pandemie ständig herausgefordert. Krise besonders betroffen. In der Krise haben sie „Bildung für alle“ lautet seit vielen Jahren das die Schule als sozialen Ort, als Ort der Begeg- Versprechen der internationalen Staatengemein- nung mit Freunden und Lehrkräften vermisst. schaft: Jedes Kind soll an jedem Ort der Welt zur Dies belegt die Relevanz der sozialen Dimension Schule gehen können. von Schule, die es künftig auszubauen gilt. Seite 04–08 Seite 28–33 KATHARINA WERNER LISA PAGEL · LAURA SCHMITZ · WAS KOSTET ES, NICHT IN BILDUNG C. KATHARINA SPIEẞ · LUDOVICA GAMBARO ZU INVESTIEREN? ZUR SCHULSITUATION GEFLÜCHTETER Eine gute Bildung hat für den Einzelnen und KINDER UND JUGENDLICHER die Gesellschaft einen großen Nutzen, etwa Schule ist zentral für die Integration geflüchteter höhere Arbeitseinkommen und ein vermindertes Kinder und Jugendlicher. Minderjährige mit Risiko, arbeitslos zu werden. Mehrmonatige Fluchthintergrund fühlen sich an ihrer Schule Schulschließungen sind mit individuellen wie wohl und besuchen diese oft ganztägig. Die volkswirtschaftlichen Kosten verbunden. Schulschließungen während der Corona-Krise Seite 09–14 dürften sie besonders hart getroffen haben. Seite 34–40 KAI MAAZ · MARTINA DIEDRICH SCHULE UNTER PANDEMIEBEDINGUNGEN MICHAEL WRASE · JUTTA ALLMENDINGER Seit März 2020 hat die Schule in Deutschland in DAS RECHT AUF BILDUNG VERWIRKLICHEN einer ungewöhnlichen Geschwindigkeit unter- Benachteiligungen im deutschen Bildungssystem schiedlichste Transformationen durchlaufen. wegen Herkunft, Hintergrund oder Behinde- Nach den Schulschließungen ging es in verschie- rung stehen dem Menschenrecht auf Bildung dene hybride Modelle über und dann in den für alle entgegen. Bund und Länder müssen sich „Normalbetrieb“ unter Pandemiebedingungen. beim Abbau von Barrieren und Diskriminierung Seite 15–21 gemeinsam anstrengen. Seite 41–45 STEFAN IMMERFALL SCHULE IN DER PANDEMIE: ERFAHRUNGEN AUS OSTWÜRTTEMBERG Schulen und Lehrkräfte sind trotz Defiziten ihrer (Eigen-)Verantwortung in Zeiten der Schulschließungen gerecht geworden. Aus Elternsicht erwies es sich als besondere Heraus- forderung, die Lernmotivation ihrer Kinder hochzuhalten, wie eine eigene Studie zeigt. Seite 22–27
EDITORIAL Als im November 2020 das US-amerikanische Unternehmen Pfizer und die deutsche Firma Biontech die hohe Wirksamkeit des von ihnen entwickelten Impfstoffes gegen das neuartige Corona-Virus bekanntgaben, war die Begeis- terung über die Aufsteigergeschichte zweier Migrantenkinder aus Deutschland groß. Dabei habe einer der Mitgründer von Biontech, Uğur Şahin, seinerzeit eine Empfehlung für die Hauptschule bekommen und erst die Intervention eines Nachbarn seine Gymnasiallaufbahn ermöglicht, wie in diesem Zusammenhang erzählt wurde. Auch heute noch hängen Bildungskarrieren hierzulande stärker als in anderen Staaten von bestimmten Herkünften und Hintergründen statt vom individuellen Potenzial ab. Die pandemiebedingten Schulschließungen ab März diesen Jahres haben jene Schüler besonders getroffen, die bereits „vor Corona“ zu den Benachteiligten zählten: Kinder und Jugendliche ohne eigenes Zimmer oder eigenen Schreib- tisch, um in Ruhe zu lernen, ohne (stabile) Internetverbindung und Endgeräte, um digital vermitteltem Unterricht zu folgen, mit Eltern, die aus verschiedenen Gründen keine Zeit oder nicht die Mittel haben, Struktur und Unterstützung bei Selbstlernprozessen zu geben, oder es manchmal nicht schaffen, regelmäßig Mahlzeiten bereitzustellen. Selbst diejenigen, die alle Voraussetzungen hatten oder sich selbst zu helfen wussten, waren froh, als die Schulen wieder schritt- weise für den Präsenzbetrieb öffneten. Schule ist mehr als ein Ort der Wissensvermittlung, das hat die Pandemie verdeutlicht. Und so ist die Bereitschaft der Kultusministerinnen, die Schulen in der zweiten Infektionswelle offenzuhalten, sehr hoch. Ob genug getan wird, um die Gesundheit von Schülerinnen- wie Lehrerschaft zu schützen und den Beitrag der „Massenveranstaltung“ Schule zum Infektionsgeschehen zu min- dern, ist umstritten. Das Menschenrecht auf Bildung, das viele Voraussetzungen für die Wahrnehmung anderer Rechte schafft, gilt es in Zeiten der Pandemie in Deutschland und weltweit bestmöglich zu wahren. „Nach Corona“ muss mehr getan werden, um dieses Recht für alle zu verwirklichen – ohne dabei dem Irrglauben zu verfallen, Bildung allein könne alle gesellschaftlichen Probleme lösen. Anne Seibring 03
APuZ 51/2020 DAS RECHT AUF BILDUNG IM PERMANENTEN KRISENZUSTAND Zur globalen Bildungssituation Claudia Lohrenscheit „Education is a powerful driver of development forderungen relevant sein können. Ein menschen- and one of the strongest instruments of reducing rechtsbasierter Blick heißt dabei, immer auch auf poverty and improving health, gender equality, die Gruppen von Kindern und Jugendlichen zu peace and stability.“ (World Bank) schauen, die diskriminiert oder benachteiligt oder von Bildung ganz ausgeschlossen werden. De- Bildung gilt vielen als Allheilmittel, als „Wun- rer gibt es viele. Aus globaler Perspektive gehö- derwaffe“ oder stärkster Treiber für Entwicklung ren hierzu unter anderem Kinder, die arbeiten und Wohlstand, wie es das Zitat der Weltbank müssen, Mädchen und schwangere junge Frauen, beispielhaft illustriert. Ganz gleich, über welches Sinti und Roma, Kinder und Jugendliche mit Be- Thema verhandelt wird und wie krisenhaft eine hinderungen oder geflüchtete Kinder – mit oder Situation auch sein mag, fehlende Bildung wird ohne ihre Familien. Bei uns in Deutschland spie- stets als Problem und Lösung gleichzeitig propa- geln sich diese Verhältnisse teilweise wider, auch giert, und immer als eine der Maßnahmen emp- wenn hier die Schulpflicht für die meisten Kinder fohlen, die es dringend braucht. Dies gilt für sehr sicherstellt, dass sie eine Schule besuchen dürfen. unterschiedliche Fragestellungen – sei es die Be- Doch auch hier werden geflüchtete Kinder diskri- kämpfung einer globalen Pandemie, die Prä- miniert oder ausgeschlossen, Kinder mit Behin- vention von Rassismus und gruppenbezogener derungen nach wie vor abgesondert und solche Menschenfeindlichkeit oder wenn es heißt, das aus armen Haushalten und Familien benachtei- Bewusstsein für die Erderwärmung und den Kli- ligt. Die Daten hierzu sind durch die Organisati- mawandel zu schärfen. Wenn es um Bildung geht, on der Vereinten Nationen für Bildung, Wissen- kann überdies jede und jeder mitreden, und tut es schaft, Kultur und Kommunikation, UNESCO, auch. Ob im privaten oder öffentlichen Bereich, und internationale Vergleichsstudien lange be- von staatlichen oder privatwirtschaftlichen Agen- kannt. Die Corona-Krise wirkt in dieser Situation turen, ob mit ausgewiesener Expertise oder ohne: wie ein Brennglas, denn sie zeigt die bereits vor- Bildung ist ein „Megathema“, zu dem ein kaum handenen Probleme nicht nur überdeutlich, son- überschaubarer Korpus an Literatur existiert, dern verstärkt sie auch noch. und an dem eine unübersichtliche Vielfalt (inter) nationaler Akteure mitwirkt, wobei diejenigen, BILDUNG FÜR ALLE um die es vornehmlich geht, die Kinder und Ju- gendlichen, wenn überhaupt meist als letzte ge- „Bildung für alle“ lautet seit vielen Jahren das hört werden. Versprechen der internationalen Staatengemein- In diesem Beitrag analysiere ich die globa- schaft, dass jedes Kind an jedem Ort der Welt le Bildungssituation vor allem mit Blick auf die zur Schule gehen kann. Dahinter steckt die zu- schulische Bildung anhand menschenrechtsba- mindest rhetorische Einsicht, dass Bildung ein sierter Kriterien. Bildung ist aus dieser Perspek- Schlüssel für persönliche Entfaltung, Entwick- tive nicht bloß ein Instrument oder eine Inves- lung und Demokratie ist. Die gute Nachricht ist: tition in „Humankapital“ wie für die Weltbank, Weltweit haben sich in den vergangenen knapp sondern zuallererst ein Menschenrecht, für dessen 30 Jahren die Schulbesuchsraten gesteigert, auch – auch krisenfeste – Realisierung es Grundlagen wenn Ressourcen und Zugänge zu Bildung nach und Standards gibt, die auch für aktuelle Heraus- wie vor extrem ungleich verteilt sind. Der aktu- 04
Schule APuZ elle Weltbildungsbericht der UNESCO gibt an, wurde enttäuscht, und auch der nächste Versuch dass heute „nur noch“ etwa eine Viertelmilliar- mit ähnlichen Absichtserklärungen beim zwei- de Kinder und Jugendliche (258 Millionen) nicht ten Weltbildungsforum im April 2000 in Da- zur Schule gehen, das entspricht 17 Prozent welt- kar, Senegal scheiterte, wobei die Zielgerade auf weit.01 Das sind fast 100 Millionen weniger als fünf Jahre verschoben wurde. Die Staatenge- noch vor 20 Jahren. Doch entwickeln sich die- meinschaft verabschiedete den Aktionsplan „Bil- se Zahlen in verschiedenen Regionen sehr unter- dung für alle“ mit sechs spezifischen Zielen,03 die schiedlich: Während Schulbesuchsraten in Asien, bis 2015 erreicht werden sollten. Die UNESCO insbesondere in China, in den vergangenen Jah- wurde damit beauftragt, die Umsetzung des ren gestiegen sind, nehmen sie vor allem auf dem weltweiten Aktionsprogramms zu evaluieren, afrikanischen Kontinent südlich der Sahara wie- und musste 2015 die kritische Bilanz ziehen, dass der ab. nur jedes dritte Land die Ziele erreicht hatte. Das Schulbesuchsraten als Indikator für Bildung größte Hindernis ist und bleibt die mangelnde sind allerdings sehr begrenzt und sagen noch Finanzierung.04 nichts über die Bildungsqualität aus, etwa über Weil die UNESCO und andere UN-Organi- die Bedingungen in den Schulen, ob etwa Kin- sationen nicht nachlassen in ihren Bemühungen, der geschlagen werden, das Curriculum veraltet die Weltgemeinschaft zu bewegen, ist Bildung und an kolonialen Inhalten ausgerichtet ist, oder auch im Nachfolgeprogramm zu den Millenni- Lehrpersonal so schlecht entlohnt wird, dass der um Development Goals, der Globalen Agenda Beruf zum Nebenjob degeneriert. Von den über 2030 mit ihren Sustainable Development Goals 80 Prozent der Kinder, die weltweit zur Schu- (SDGs, Nachhaltigkeitsziele) wieder prominent le gehen, haben die meisten noch nie davon ge- vertreten. Das Bildungsziel der Agenda lautet, hört, dass es ihr Menschenrecht auf Bildung ist, nunmehr bis 2030 inklusive, chancengerechte und um das es geht, und dass sie dieses Recht zudem hochwertige Bildung für alle Menschen sicher- noch genießen können sollten, oder dass Bildung zustellen und lebenslanges Lernen zu fördern.05 womöglich Spaß machen darf. Fest steht: Für vie- Doch auch dieser Versuch wird aller Voraussicht le Kinder und Jugendliche bringt ein fehlender nach scheitern. Aus multilateraler Perspektive Schulzugang massive weitere Benachteiligungen liefern die Menschenrechtsorgane und Sonder- in vielen anderen Bereichen mit sich, beispiels- organisationen der Vereinten Nationen fundier- weise mit Blick auf Ernährung und Gesundheit, te Daten zur globalen Bildungssituation. Sie zei- weil gesundes Trinkwasser und die regelmäßigen gen mehr als deutlich den mangelnden politischen Schulmahlzeiten fehlen. Willen der Regierungen weltweit, nicht nur der Die schlechte Nachricht ist, dass sich die in- ternationale Staatengemeinschaft bereits vor 03 Die Ziele lauteten: (1) Ausbau der frühkindlichen Bildung, 30 Jahren auf „Bildung für alle“ verpflichtet (2) uneingeschränkter Zugang zu unentgeltlicher, obligatorischer hat, einem Ziel, dem sie bis heute nicht nahe ge- und qualitativ hochwertiger Grundschulbildung für alle Kinder nug gekommen ist. 1990 waren Regierungsver bis 2015, (3) Absicherung von Lernangeboten und Basisqua- treter*innen und Delegierte aus immerhin 155 lifikationen für Jugendliche, (4) Steigerung der Alphabetisie- rungsraten unter Erwachsenen um 50 %, (5) Herstellung von Staaten, 20 multilateralen Organisationen und Geschlechtergerechtigkeit im gesamten Bildungsbereich bis 150 Nichtregierungsorganisationen in Jomtien, 2015, (6) Verbesserung der Bildungsqualität. Bei all diesen Zielen Thailand zur ersten Weltbildungskonferenz zu- und Maßnahmen sollten insbesondere benachteiligte Kinder sammengekommen in der Hoffnung, in einem (z. B. von ethnischen Minderheiten, Mädchen) und Kinder in Zeitraum von zehn Jahren bis zum Millenniums- schwierigen Lebenssituationen berücksichtigt werden. Vgl. Deut- sche UNESCO-Kommission (DUK) (Hrsg.), Education for All by wechsel 2000 zumindest eine universelle Grund- 2015. Will We Make It?, EFA Global Monitoring Report 2008, bildung für alle zu erreichen.02 Diese Hoffnung Deutsche Kurzfassung, Bonn 2008, S. 3. 04 Vgl. DUK (Hrsg.), Bildung für alle 2000–2015: Bilanz. Deut- 01 Vgl. UNESCO, Global Education Monitoring Report 2020: sche Kurzfassung, Bonn 2015. Siehe auch den Kurzüberblick Inclusion and Education – All means All, Paris 2020, S. 4. „UNESCO Weltbildungsbericht 2015“: www.unesco.de/bildung/ 02 Verabschiedet wurde die World Declaration on Educa- bildungsagenda-2030/unesco-weltbildungsbericht/bildungs- tion for All sowie als Handlungsanleitung für Regierungen agenda-2030. das Aktionsprogramm „Framework for Action to Meet Basic 05 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Learning Needs“. Vgl. https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/ Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, www.bmz.de/ pf0000127583. de/themen/2030_agenda/index.html. 05
APuZ 51/2020 armen Länder, sondern zunehmend auch der rei- satzweise skizziert werden kann: Verfügbarkeit chen. Bildung bleibt unterfinanziert, und ein ent- von Bildung bedeutet dann unter anderem auch fernter Traum für zu viele. Auch in Deutschland digitale Verfügbarkeit, worauf Schulen und gibt es viele Defizite. So schreckte zum Beispiel Lehrkräfte technisch und didaktisch vorberei- ein Bericht der Bertelsmann Stiftung auf, die be- tet sein müssen. Die Zugänglichkeit von Bil- rechnet hatte, dass in den kommenden Jahren bis dung heißt in der Pandemie einmal mehr, vor zu 35 000 Lehrer* innen an Grundschulen feh- allem die Gruppen zu erreichen, die in beson- len werden. Die Kultusministerkonferenz hatte ders verletzlichen Situationen leben, beispiels- schlichtweg übersehen, wie viele Lehrer*innen in weise behinderte oder geflüchtete Kinder und den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen, Jugendliche, die häufig in Wohnheimen oder und dass es über eine Million mehr Schüler*innen Sammelunterkünften ohne ausreichend Schutz geben wird, als von ihr prognostiziert.06 und Privatsphäre untergebracht sind, und selbst in reichen Staaten wie Deutschland ohne ange- BILDUNG ALS messenen Zugang zum Internet oder Fernun- MENSCHENRECHT terricht auskommen müssen. Bildung angemessen und akzeptabel zu orga- Die Daten aus den Weltbildungsberichten bezie- nisieren, heißt angesichts der Pandemie-Bedin- hen sich in der Regel nur auf die Schulbesuchsra- gungen auch, dass Informationen über Gesundheit ten, obwohl die UNESCO als Monitoringstelle und Schule in kindgerechter Sprache verfasst wer- für die weltweite Realisierung des Menschen- den, und dass die Bedingungen in den Familien an- rechts auf Bildung auch weitere Themenschwer- gemessen Berücksichtigung finden, beispielswei- punkte in den Blick nimmt, etwa Inklusion se mit Blick auf den Zugang zu Computern und (2020), Flucht und Migration (2019) oder Um- digitalen Medien insbesondere in ärmeren und welt und Nachhaltigkeit (2016). Das Recht auf räumlich stark begrenzten Haushalten; oder auch Bildung umfasst jedoch mehr. Seine Fundierung mit Blick auf körperliche Bedürfnisse wie Bewe- als Menschenrecht korrespondiert mit den staat- gung und Spiel. Hier wird deutlich, dass auch die lichen Pflichten der Achtung, des Schutzes und UN-Kinderrechtskonvention mit ihren Schutz-, der Gewährleistung von Bildungsrechten. Im De- Förder- und Beteiligungsrechten zentral ist. Ihre tail bedeutet dies, Regierungen sind in der Pflicht, obersten Prinzipien sind für jede Bildung unver- Bildung frei verfügbar und ohne Unterschied für zichtbar: Das beste Interesse des Kindes muss im alle zugänglich zu machen sowie die Formen von Mittelpunkt stehen (Kindeswohl). Kein Kind darf Bildung (inklusive der Methoden und Lernmate- diskriminiert werden (Gleichheitsgebot). Jedes rialien) orientiert an menschenrechtlichen Werten Kind muss gehört werden (Partizipation und Teil- und angepasst an die Bedürfnisse der Lernenden habe), und die Entwicklungstatsache des Kindes umzusetzen. muss Berücksichtigung finden (Recht auf Leben Der UN-Sozialpaktausschuss hat diese Staa- und Entwicklung), wobei Kindheit die Spanne tenpflichten in Kriterien gefasst, die als 4-A- zwischen 0 und 18 Jahren umfasst.08 Diese Garan- Scheme bezeichnet werden: Bildung muss ver- tien sollten in Zeiten einer Pandemie umso mehr fügbar (availability), zugänglich (accessibility), Bedeutung haben, dies betonen das UN-Kinder- akzeptabel (acceptability) und angemessen (ad- hilfswerk UNICEF und der UN-Kinderrechts- aptability) sein.07 Dass diese Standards als über- ausschuss genauso wie zahlreiche Kinderrechts- geordnete Richtlinien für politisches Handeln organisationen und -netzwerke auf nationaler wie – auch in Krisenzeiten – funktionieren können, internationaler Ebene.09 zeigt ihre Anwendung mit Blick auf die Coro- na-Pandemie, die hier aus Platzgründen nur an- 08 Vgl. Jörg Maywald, Kinder haben Rechte! Kinderrechte kennen – umsetzen – wahren. Für Kindergarten, Schule und 06 Vgl. Julia Köppe, Prognose bis 2025. An Grundschulen feh- Jugendhilfe, Weinheim–Basel 2012. len 35 000 Lehrer, 31. 1. 2018, www.spiegel.de/a-1190586.html. 09 Vgl. UNICEF, COVID-19 and the Impact on Children’s 07 Vgl. Claudia Lohrenscheit, Das Recht auf Bildung, 9. 9. 2013, Rights: The Imperative for a Human Rights-Based Approach, www.bpb.de/156819; Mareike Niendorf/Sandra Reitz, Das April 2020, https://d3n8a8pro7vhmx.cloudfront.net/childrights- Menschenrecht auf Bildung im deutschen Schulsystem. Was zum connect/mailings/851/attachments/original/UNICEF__CO- Abbau von Diskriminierung notwendig ist, Deutsches Institut für VID-19_and_Child_Rights_Imperative_for_a_Human_Rights_ Menschenrechte, Berlin 2016. Approach__Final_April_2020.pdf?1588854658. 06
Schule APuZ BILDUNG UND SCHULE Hier zeigt sich die Verwobenheit der Men- IN DER CORONA-PANDEMIE schenrechte, ihre Interdependenz. Kein Recht kann vernachlässigt werden, ohne nicht massi- Kaum ein anderes politisches Handlungsfeld ist ve Auswirkung auf die Verwirklichung ande- so überreguliert und institutionalisiert wie die rer Rechte zu haben. Bereits die erste Sonderbe- Schule, und gleichzeitig politisch so vernach- richterstatterin zum Recht auf Bildung, Katarina lässigt. Dies zeigt sich umso mehr in Krisenzei- Tomasevski,13 wies wiederholt auf diesen Zu- ten. Die UN berichtet, dass durch die plötzli- sammenhang hin: „Leaving seven-year-olds to che Schließung von Schulen und Hochschulen fend for themselves routinely drives them into zu Beginn der Pandemie 1,5 Milliarden Kin- child labour, child marriage, or child soldiering. dern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in The Right to education operates as a multiplier. 191 Staaten weltweit der Zugang zu Bildung er- It enhances all other human rights when guar schwert oder verwehrt war.10 Erfahrungen aus anteed and forecloses the enjoyment of most, vorangegangenen Epidemien wie der Ebola-Kri- if not all, when denied“.14 Wie keine andere hat se von 2014 bis 2016 weisen darauf hin, dass ein Tomasevski für die weltweite Abschaffung der solcher „Lockdown“ von Schulen massive Kon- Schulgebühren gestritten, was in beziehungs- sequenzen hat: Kinder und Jugendliche sind er- weise nach der Corona-Pandemie noch größere höhten Risiken ausgesetzt, weil die Verbindung Relevanz erhält. Familien, deren wirtschaftliche zu Schulen, Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen Existenz bedroht ist, werden sich Schulgebüh- und Mitschüler*innen fehlen. Die aktuelle UN- ren nicht mehr leisten können. Wenn sie meh- Sonderberichterstatterin zum Recht auf Bil- rere Kinder im Schulalter haben, sind es die dung, Koumbou Boly Barry, schätzt, dass bis zu Mädchen, deren Recht auf Bildung zuerst be- zehn Millionen Mädchen nach dem Lockdown schnitten wird. nicht mehr in die Schule zurückkehren, dass Die Corona-Krise zeigt in dramatischer Wei- mehr Kinder, vor allem Mädchen, in Ehen so- se die Schwächen der Bildungssysteme welt- wie in schädliche Kinderarbeit gezwungen wer- weit, die auch zuvor schon bekannt waren. den, und dass mehr Kinder Gefahr laufen, als In zu vielen Ländern heißt Schule auch heute Kindersoldat*innen oder durch Menschenhandel noch: marode Gebäude, überfüllte Klassenräu- in die Zwangsprostitution rekrutiert zu werden.11 me, hohe Kosten für Schulgebühren, -unifor- Auch die internationale Kinderrechtsorganisati- men und -bücher, fehlende oder kaputte Sani- on Save the Children weist auf die erhöhten Ge- täranlagen und fehlender Zugang zu sauberem waltrisiken durch die Schließung von Bildungs- Wasser. Vor diesem Hintergrund warnt Koum- und Betreuungseinrichtungen hin.12 Während der bou Boly Barry davor, dass sich durch die Pan- Ebola-Krise hatte sich etwa die Zahl der Schwan- demie die Ungleichheit beim Zugang zu Bildung gerschaften bei Teenagerinnen in manchen Regi- weiter verschärft. In ihrem Sonderbericht an den onen um bis zu 65 Prozent erhöht, und vor allem UN-Menschenrechtsrat im Juni 2020 hat sie da- Mädchen und junge Frauen waren verstärkt sexu- rauf hingewiesen, dass während der plötzlichen alisierter Gewalt sowie Verletzungen der sexuel- Umstellung auf digitales Lernen und virtuellen len Selbstbestimmungsrechte ausgesetzt. Unterricht massenhaft Kinder abgehängt wur- den: Etwa die Hälfte aller Schüler*innen welt- 10 Vgl. UN Human Rights Council, Right to Education: Impact of weit hat zu Hause keinen Zugang zu Computern the COVID-19 Crisis on the Right to Education. Concerns, Chal- und fast ebenso viele haben keinen Internetan- lenges and Opportunities, Report of the Special Rapporteur on schluss. In einkommensschwachen Ländern in the Right to Education, Juni 2020, A/HRC/44/39, S. 4. Siehe auch Subsahara-Afrika sind diese Zahlen erwartungs- UNESCO, Global Education Coalition, https://en.unesco.org/ covid19/educationresponse. 11 Vgl. UN Human Rights Council (Anm. 10), S. 8. Siehe auch 13 Vgl. Claudia Lohrenscheit, Die UN-Sonderberichterstattung UNESCO, Covid-19 School Closures Around the World Will zum Recht auf Bildung und ihre Grundlegung durch Katarina Hit Girls Hardest, 2020, https://en.unesco.org/news/covid- Tomasevski, in: Bernd Overwien/Annedore Prengel (Hrsg.), 19-school-closures-around-world-will-hit-girls-hardest. Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der 12 Vgl. Save the Children, Save the Children’s Written Submis- Vereinten Nationen in Deutschland, Opladen–Farmington Hills sion to the Special Rapporteur on the Right to Education, Juni 2007, S. 34–50. 2020, www.ohchr.org/Documents/Issues/Education/COVID19/ 14 Katarina Tomasevski, Education Denied: Costs and Reme- SavetheChildren.pdf. dies, London 2003, S. 1. 07
APuZ 51/2020 gemäß noch höher. Hier haben über Dreiviertel BUILD BACK BETTER der Schüler*innen keinen Internetzugang, und viele leben in Gebieten, die auch das Mobilfunk- Build back better – Macht Bildung in Zukunft netz nicht abdeckt.15 Dieses Abgehängt-Sein besser, ist allerorten zu vernehmen. Für die Men- gilt darüber hinaus auch für viele Lehrkräfte. schenrechtsarbeit sind unendliche Geduld, Hart- Die internationale Bildungsgewerkschaft Edu- näckigkeit und unhaltbarer Optimismus genauso cation International gibt an, dass nur etwa ein unverzichtbar wie die Wut über die herrschen- Drittel der dort vertretenen Lehrer*innen sich den Verhältnisse. Das Menschenrecht auf Bil- technisch und curricular ausreichend vorbereitet dung braucht daher weltweit Mitstreiter*innen und unterstützt fühlten, um angemessen auf die – auf allen Ebenen – mit einem langen Atem und neue Situation zu reagieren. Nur in Ausnahme- mit dem Mut, trotz anhaltender Bildungskrise fällen wurden sie bei Entscheidungen zur Öff- daran festzuhalten, dass jeder junge Mensch ler- nung oder Schließung von Schulen konsultiert. nen darf und die eigene Persönlichkeit frei ent- Sie waren zudem – vor allem in privaten Bil- falten kann. dungsinstitutionen – durch unsichere oder nur Dass auch unter widrigen Verhältnissen un- sehr begrenzt laufende Verträge, die mit Beginn bedingte Solidarität mit Kindern und ihrem der Pandemie nicht verlängert wurden, zum Teil Recht auf Bildung etwas bewirken kann, zeigt in ihrer Existenz bedroht.16 dieses Beispiel: Mitten in der Corona-Pandemie Bei aller Offenheit für neue digitale Lehr- kündigt UNICEF an, eine Schule zu gründen und Lernformen und allen Chancen, die sich für alle Kinder und Jugendlichen, die mit oder damit bieten können, glaubt niemand ernsthaft ohne ihre Familien geflüchtet sind und nun auf daran, dass virtuelle Formate das Schulleben in der griechischen Insel Lesbos meist unter kata- Präsenz auch nur annähernd ersetzen könnten. strophalen Bedingungen leben müssen. Bildung Koumbou Boly Barry würdigt deshalb in ih- bedeutet ihnen alles. Bisher konnte UNICEF rem Sonderbericht auch die vielen verschiedene nur etwa 10 Prozent der Schüler*innen mit ihren Formen des Fernunterrichts, die in den Staaten Bildungsprojekten auf Lesbos versorgen. Nicht weltweit während der Pandemie erprobt wur- zuletzt die Aussagen der Kinder und Jugendli- den. Das sind High-tech-Lösungen (wie Online- chen selbst, die daran teilnehmen konnten, haben Unterricht und Videokonferenzen) sowie Low- dazu beigetragen, dass nun Zelte aufgebaut wer- tech-Modelle, die beispielsweise das Radio oder den, die für alle Kinder Platz zum Lernen bieten: Bildungsfernsehen genutzt haben; und eben ge- „Wenn ich hier bin, fühle ich mich gut und sicher. nauso gut auch No-tech-Lösungen, bei denen (…) Wenn ich hier bin, vergesse ich, dass ich im Schüler*innen mit Dokumenten und Lernmate- Lager wohne.“18 rialien per Versand oder durch persönliche Über- gabe versorgt wurden.17 Gerade bei diesem letz- ten Modell ist es dem unermüdlichen Einsatz der Lehrer*innen zu verdanken, dass Lernpro- zesse nicht gänzlich abbrachen, und der Kontakt zu den Schüler*innen gehalten werden konnte. Auch ihre Sicherheit und ihr Schutz ist Teil des Rechts auf Bildung. Sie gehen hohe Risiken ein, wenn sie den Unterricht bei wieder steigenden Infektionszahlen aufrechterhalten. Und sie ver- dienen Respekt. 15 Vgl. UN-Human Rights Council (Anm. 10), S. 10. 16 Vgl. Education International (Hrsg.), Covid-19 and Educa- tion: How Education Unions are Responding, Survey Report, CLAUDIA LOHRENSCHEIT April 2020. ist Professorin für Internationale Soziale Arbeit 17 Vgl. UN-Human Rights Council (Anm. 10), S. 7. 18 Zit. nach Thomas Bormann, Zeltschule für Kinder auf Les- und Menschenrechte an der Hochschule für bos. „Hier vergesse ich, dass ich im Lager wohne“, 30. 9. 2020, angewandte Wissenschaften Coburg. www.tagesschau.de/ausland/lesbos-fluechtlingslager-111.html. claudia.lohrenscheit@hs-coburg.de 08
Schule APuZ WAS KOSTET ES, NICHT IN BILDUNG ZU INVESTIEREN? Katharina Werner Wie in vielen anderen Ländern herrscht in sellschaft insgesamt einen großen Nutzen hat. Deutschland Schulpflicht – Kinder sind damit Wenn zum Beispiel eine gute Bildung das Risi- verpflichtet, Bildungseinrichtungen zu besuchen, ko von Arbeitslosigkeit reduzieren kann, ist dies deren Kosten zum überwältigenden Teil der Staat von Vorteil für die betroffene Person, aber eben- und damit alle Steuerzahler tragen. In diesem Bei- so für deren Familie und die lokale Wirtschaft in trag beleuchte ich die Vorteile eines solchen Sys- der Gegend, in der die Person lebt. Dieses Phäno- tems aus volkswirtschaftlicher Sicht. men, von Ökonomen als „Externalität“ bezeich- net, ist ein wichtiger Grund, wieso Bildung ge- BILDUNG IST sellschaftlich umfassend diskutiert und finanziert WISSENSVERMITTLUNG wird: Von positiven Entwicklungen im Bildungs- UND MEHR system profitieren nicht nur die direkten Nutz- nießer, sondern langfristig alle. Die Ziele von staatlich geförderter Bildung sind Dem Umstand, dass Bildung auf verschie- vielfältig. Dies ist nicht zuletzt auch anhand der denste Teilbereiche im Leben einen Einfluss hat, aktuellen Debatten zu Schulschließungen auf- ist geschuldet, dass es unmöglich ist, alle Folgen grund der Corona-Pandemie zu erkennen, die auf einer Bildungskarriere buchhalterisch aufzufüh- die weitreichenden Folgen des Bildungsausfalls ren und gegeneinander abzuwägen. Während es hinweisen. So werden beispielsweise in Zeiten der also wichtig ist, die vielfältigen Folgen von Bil- Schulschließungen die Funktion als Betreuungs- dung im Hinterkopf zu behalten, fokussiere ich einrichtungen, die den Eltern das Arbeiten ermög- mich in diesem Beitrag auf die bezifferbaren, ar- licht, oder die Funktion als sozialer Treffpunkt beitsmarktrelevanten Aspekte von Bildung. mit Gleichaltrigen neben der Funktion als Ort der Wissensvermittlung offenkundig.01 All dies ist BILDUNG UND bekannt und historisch belegt. Der Ursprung des UNGLEICHHEIT modernen deutschen Bildungssystems etwa kann im Bestreben der preußischen Regierung verortet Unter den vielen Zielen, die das Bildungssystem werden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in verfolgt, ist neben der Wissensvermittlung das Ziel ihrem Sinne zu stärken.02 Nichtsdestotrotz steht der Chancengleichheit besonders wichtig und be- heutzutage allem voran die Vermittlung von Wis- darf besonderen Augenmerks. Historisch gesehen, sen und damit langfristig die Vorbereitung auf das war Bildung eine Institution der oberen Schichten Erwerbsleben im Fokus der Bildungsbestrebun- und diente neben dem Erhalt des menschlichen gen. Dass das Bildungssystem diese Kernaufga- Wissens auch dem Erhalt von Status. Hieraus er- be im Allgemeinen gut erfüllt, belegen zahlreiche gab sich lange Zeit eine Situation, in der die fami- wissenschaftliche Studien. Eine bessere Bildung liäre Herkunft eine entscheidende Rolle beim Zu- führt im späteren Verlauf zu einem höheren Ar- gang zu Bildung spielte. In anderen Ländern, zum beitseinkommen und einer niedrigeren Arbeits- Beispiel im Vereinigten Königreich, ist gut zu ver- losigkeit. Personen mit höherer Bildung führen folgen, wie sich diese Diskussion etwa am Beispiel zudem im Durchschnitt stabilere Ehen, sind po- der Aufnahme von Mitgliedern der englischen litisch aktiver und damit besser repräsentiert und Königsfamilie an Eliteuniversitäten wie der Uni- erfreuen sich besserer Gesundheit.03 versity of Cambridge bis heute fortsetzt.04 Damit bleibt einleitend festzuhalten, dass gute Nach wie vor ist Bildungserfolg wesentlich Bildung für den Einzelnen, aber auch für die Ge- vom Familienhintergrund abhängig, wobei die- 09
APuZ 51/2020 ser Zusammenhang in Deutschland tendenziell vorbereitet haben. Die finanzielle Situation der stärker ausgeprägt ist als in anderen europäischen Familie, der Wohnort oder die Schulkenntnisse Ländern.05 Etwa 74 Prozent derjenigen studie- der Eltern – Faktoren, die die Kinder selbst nicht ren, deren Eltern selbst ein Universitätsstudium beeinflussen können –, sollten hingegen keinen abgeschlossen haben, aber nur 21 Prozent derer, Einfluss auf die Benotung haben. bei denen kein Elternteil studiert hat. Ein weite- Auch wenn die Einordnung verschiedener res Beispiel ist der Übertritt auf die weiterführen- Umstände in beeinflussbare und nicht beeinfluss- de Schule: Selbst bei gleich guten Noten ist die bare Faktoren in der Praxis niemals trennscharf Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind das Gymnasi- möglich ist, ergeben sich anhand dieser theore- um besucht, höher, wenn die Eltern selbst einen tischen Überlegungen wichtige Kriterien für die höheren Bildungsabschluss haben.06 Diese zwei Gestaltung des Bildungssystems. Es zeigt sich Beispiele illustrieren ein Muster, dass sich auch etwa, dass eine Schulpflicht ein wichtiger ers- bei vielen anderen Bildungsentscheidungen zeigt. ter Schritt ist, um sicherzustellen, dass alle Kin- Vor dem Hintergrund der vielfältigen positiven der Zugang zu Bildung erhalten. Des Weiteren ist Effekte von Bildung für das spätere (Arbeits-)Le- kostenlose Bildung, ermöglicht durch ein staatlich ben der Schülerinnen und Schüler führt eine sol- finanziertes Bildungssystem, Voraussetzung, um che Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom fa- den Zusammenhang zwischen dem Zugang eines miliären Hintergrund zu einer Verfestigung von Kindes zu qualifizierendem Wissenserwerb von gesellschaftlicher Ungleichheit. der Motivation, den Präferenzen und den finan- Dennoch ist es in der heutigen Zeit erklärtes ziellen Mitteln der Eltern zu verringern. Wenn es Ziel des Bildungssystems, allen Kindern die Ent- dem Bildungssystem gelingt, Kindern unabhän- faltung ihres Potenzials zu ermöglichen und sie gig von ihrem familiären Hintergrund Mathema- je nach ihren Stärken zu fördern, also Chancen- tik oder Lesen beizubringen, schafft es damit die gerechtigkeit zu gewährleisten. In der ökono- Voraussetzungen, dass alle Kinder gemäß ihren misch-philosophischen Theorie ist eine Institu- Talenten Fähigkeiten erwerben können. tion dann gerecht, wenn der Erfolg des Einzelnen Insgesamt steht die Schule damit im Spannungs- von Faktoren abhängt, die dieser selbst in der feld zwischen Herausforderung und Möglichkeit, Hand hat. Gleichzeitig sollte der Erfolg unab- das Potenzial eines gut gestalteten Bildungssys- hängig von Faktoren sein, für die das Individuum tems zur Verbesserung von Chancengerechtigkeit nichts kann. Am Beispiel der Schule wäre es die- innerhalb einer Gesellschaft zu heben. ser Theorie zufolge zum Beispiel gerecht, wenn Schülerinnen und Schüler bessere Noten bekom- WIE SICH EFFEKTE men, wenn sie sich im Unterricht beteiligt, gewis- VON BILDUNG MESSEN LASSEN senhaft ihre Hausaufgaben gemacht oder sich in ihrer Freizeit besonders gründlich auf einen Test Die Effekte von Bildung für einzelne Schülerin- nen und Schüler oder Länder zuverlässig abzu- schätzen, ist aus wissenschaftsmethodischer Sicht 01 Siehe dazu den Beitrag von Wilfried Schubarth in dieser alles andere als trivial. Denn prinzipiell wird jede Ausgabe (Anm. d. Red.). Bildungsentscheidung nur einmal getroffen – 02 Vgl. Francesco Cinnirella/Ruth Schueler, Nation Building: The Role of Central Spending in Education, in: Explorations in wie das weitere Leben einer Schülerin oder eines Economic History C/2018, S. 18–39. Schülers verlaufen wäre, wenn die- oder derjenige 03 Vgl. Marta Dziechciarz-Duda/Anna Krol, On the Non-Mo- weniger Stunden geschwänzt hätte, auf eine ande- netary Benefits of Tertiary Education, in: Ekonometria 3/2013, re Schule gegangen wäre oder einen anderen Leh- S. 78–94. rer in Mathematik gehabt hätte, ist unmöglich 04 Vgl. Prince William Begins Agriculture Course at Cambridge, 7. 1. 2014, www.bbc.com/news/uk-25639442. vorherzusagen, der Einfluss von verschiedenen 05 Vgl. Wilfried Bos et al., IGLU 2016: Wichtige Ergebnisse im Faktoren im Bildungssystem damit unklar. Überblick, in: Anke Hußmann et al. (Hrsg.), IGLU 2016. Lesekom- Klar ist dagegen, dass ein einfacher Vergleich petenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internatio- von Schülerinnen und Schülern in den verschie- nalen Vergleich, Münster 2017, S. 13–28. denen Gruppen Fragen zu Effekten der Bil- 06 Vgl. Tobias C. Stubbe/Wilfried Bos, Schullaufbahnemp- fehlungen von Lehrkräften und Schullaufbahnentscheidungen dung nicht zufriedenstellend beantworten kann. von Eltern am Ende der vierten Jahrgangsstufe, in: Empirische So kann zum Beispiel kaum davon ausgegan- Pädagogik 1/2008, S. 49–63. gen werden, dass ein möglicher Unterschied in 10
Schule APuZ den Mathematikleistungen von Gymnasiasten den Kindertagesstätten und Kindergärten zwar und Hauptschülern alleine auf den Besuch des oft unabhängig von der Schulpolitik diskutiert, Gymnasiums zurückzuführen ist. Da das Gym- aus ökonomischer Sicht sind diese Bereiche aller- nasium eher von Schülerinnen und Schülern be- dings eng verwandt. Obwohl der Anteil der priva- sucht wird, die bereits in der Grundschulzeit ten Einrichtungen unter den frühkindlichen Be- gute Schulleistungen gezeigt haben, würden wir treuungseinrichtungen nicht vernachlässigbar ist, Unterschiede zwischen beiden Gruppen auch sind diese ebenso wie Schulen stark staatlich sub- dann erwarten, wenn die weiterführenden Schu- ventioniert. Zudem liegt der Anteil der Kinder, len identisch wären. Im Umkehrschluss können die einen Kindergarten besuchen, trotz fehlender wir von den beobachteten Mathematikleistungen Kindergartenpflicht bei über 90 Prozent und da- der durchschnittlichen Schülerin am Gymnasium mit sehr hoch.07 Trotz aller bestehenden Engpäs- nicht auf die zu erwarteten Mathematikleistungen se im Ausbau ist der Rechtsanspruch auf einen einer Hauptschülerin schließen, die wir ab mor- Betreuungsplatz, der inzwischen in Deutschland gen am Gymnasium einschreiben. gilt, eine Anerkennung dieser Entwicklung. Statt auf einfache Gruppenvergleiche stützen Inhaltlich unterscheiden sich frühkindliche sich wissenschaftliche Studien deshalb auf soge- Einrichtungen hingegen deutlich von schulischen, nannte natürliche Experimente, um abzuschät- die im Regelfall einen deutlich stärkeren Fokus zen, welche Effekte bestimmte Bildungsmaß- auf strukturierte Wissensvermittlung legen. Den- nahmen auf die betroffenen Schülerinnen und noch ist auch der Erwerb von Fähigkeiten, der Schüler haben. Als „natürliche Experimente“ in Kindergärten und Kindertagesstätten geför- werden Situationen beschrieben, in denen betrof- dert wird, im ökonomischen Sinne als Bildung fene Schülerinnen und Schüler oder Länder un- zu verstehen: Das Erlernen neuer Fähigkeiten ist terschiedlichen Bildungsszenarien ausgesetzt wa- ein dynamischer Prozess, bei dem bereits erlern- ren, ohne dass dies in Zusammenhang mit ihrer tes Wissen die notwendige Grundlage für den Er- intrinsischen Motivation oder ihren eigenen Cha- werb von neuen Fähigkeiten ist und das Erlernen rakteristika steht. Ein natürliches Experiment dieser erleichtert. Demzufolge sind Investitionen könnte beispielsweise auf eine Gesetzesänderung in frühkindliche Bildung besonders wichtig, da folgen, in der festgelegt wird, wie viele Jahre die sie nicht nur frühkindliche Fähigkeiten verbes- Schulpflicht gilt. Da eine solche Änderung für alle sern können, sondern in direkter Folge auch al- Schülerinnen und Schüler eines Landes gilt, ließe les zukünftige Lernen ermöglichen. So kann zum sich vergleichen, wie sich der durchschnittliche Beispiel Sprachförderung, wie sie in frühkindli- Bildungserfolg in der durch die Gesetzesände- chen Einrichtungen möglich ist, Kindern, die im rung betroffenen Kohorte von vorhergegangenen familiären Umfeld wenig Deutsch sprechen oder Jahrgängen unterscheidet. Sprachdefizite haben, helfen, diese aufzuholen, Im Folgenden werden Ergebnisse solcher wis- was ihnen es ihnen nach der Einschulung einfa- senschaftlichen Studien zusammengefasst, die es cher macht, im Unterricht zu folgen und weiter- uns erlauben, die ökonomischen Auswirkungen führende Inhalte zu erlernen. von Bildung besser zu verstehen. Wissenschaftliche Studien weisen nach, dass die Investitionskosten für Programme, die das EFFEKTE VON BILDUNG frühkindliche Lernen von Kindern fördern, durch die verbesserten Chancen der Kinder spä- Insgesamt zeigt die Forschung, dass gute Bildung ter im Leben ausgeglichen werden, es sich also aus einen großen Beitrag dazu leistet, dass Kinder Fä- higkeiten erwerben, und damit langfristig einen 07 Dennoch greift hier das Argument, dass eine verpflichtende positiven Einfluss auf ihr späteres Erwerbsleben Teilnahme an staatlichen Bildungsangeboten einen wichtigen und die Wirtschaft allgemein hat. Beitrag zur Chancengerechtigkeit leistet: Studien zeigen, dass die Inanspruchnahme von frühkindlicher Betreuung bei Kindern aus Frühkindlicher Bereich sozioökonomisch schlechter gestellten Familien besonders niedrig ist, obwohl diese Kinder am meisten von einer solchen Betreuung Ein wichtiges Ergebnis der bildungsökonomi- profitieren könnten. Vgl. Thomas Cornelissen/Christian Dust- schen Forschung ist, dass Bildung im frühkind- mann/Anna Raute/Uta Schönberg, Who Benefits from Universal lichen Bereich besonders erfolgreich sein kann. Child Care? Estimating Marginal Returns to Early Child Care At- Organisatorisch und gesellschaftspolitisch wer- tendance, in: Journal of Political Economy 6/2018, S. 2356–2409. 11
APuZ 51/2020 gesellschaftlicher Sicht lohnt, diese zu finanzie- Neben den positiven Effekten für die Schü- ren. Dies zeigt etwa die Evaluation eines Projekts, lerinnen und Schüler profitiert auch die Gesell- das in den 1960er Jahren einigen armen Familien schaft von einem erfolgreichen Bildungssystem. mit kleinen Kindern im US-Bundesstaat Michi- Die Erwartung, dass ein gutes Bildungssystem ein gan den Zugang zu intensiverer Betreuung durch wichtiger Treiber für wirtschaftlichen Fortschritt pädagogisches Fachpersonal ermöglichte. Da die ist, ist auch in der Allgemeinheit weit verbreitet: Teilnehmer für das Projekt zufällig ausgewählt In einer repräsentativen Befragung der Bevölke- worden waren, lassen sich die Ergebnisse derer, rung in Deutschland stimmen über 90 Prozent für die eine Teilnahme möglich war, mit denje- der Befragten der Aussage sehr oder eher zu, dass nigen, die nicht teilnehmen durften, vergleichen. die Schülerleistungen der heute 15-Jährigen wich- Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss, tig für den zukünftigen wirtschaftlichen Wohl- dass die Ertragsrate des Projekts bei 7 bis 10 Pro- stand Deutschlands sind. Diese Intuition wird zent lag, das heißt, dass die sozialen Gewinne die von der bildungsökonomischen Forschung bestä- Kosten deutlich überstiegen.08 Neuere Forschung tigt und quantifiziert. Internationale Studien zei- zeigt, dass diese positiven Effekte hauptsächlich gen, dass Länder, deren Schülerinnen und Schüler für Kinder gelten, die in einem benachteiligten so- in Kompetenztests besser abschneiden, ein höhe- zioökonomischen Umfeld aufwachsen.09 res Wirtschaftswachstum aufweisen als Länder, die schlechtere Leistungen in Kompetenztests Schulischer Bereich erreichen. Dabei entspricht eine Verbesserung Das Kernelement des Bildungsbereichs ist zweifel- der Schülerleistungen um eine Standardabwei- los das Schulsystem. Die umfangreiche Literatur chung – was in etwa dem Kompetenzzuwachs in der empirischen Bildungsforschung quantifi- von drei Schuljahren entspricht12 – im interna- ziert die Effekte des Schulbesuchs auf die erlernten tionalen Durchschnitt einem zusätzlichen Wirt- Fähigkeiten und den späteren Arbeitsmarkterfolg. schaftswachstum von zwei Prozentpunkten.13 Insgesamt zeigt sich, dass jedes Jahr an zusätz- Hierbei ist herauszuheben, dass die positiven Ef- licher Bildung im Durchschnitt für den Einzelnen fekte nicht davon getrieben sind, wie viele Jah- ein etwa 10 Prozent höheres Einkommen bedeu- re die Schülerinnen und Schüler eines Landes im tet.10 Diese Einschätzung ist das Ergebnis vieler Durchschnitt das Bildungssystem besuchen, son- Studien, die den Zusammenhang zwischen in der dern welches Kompetenzlevel sie in dieser Zeit Schule erlernten Fähigkeiten und Arbeitsmarkt erreichen. Damit bestätigt sich, dass es für einen erfolg untersuchen. Die Tatsache, dass die Grö- späteren Arbeitsmarkterfolg hauptsächlich um ßenordnung des geschätzten Effekts unverändert die im Unterricht vermittelten Fähigkeiten geht, bleibt, wenn als Datengrundlage Informationen nicht um das Absitzen der Mindestschulzeit. über die pro Schuljahr erlangten Fähigkeiten in Einer der zentralen Faktoren, der die Qua- Kompetenztests und den Zusammenhang zwi- lität des Schulunterrichts maßgeblich beein- schen diesen Fähigkeiten und dem Erwerbsein- flusst, ist die pädagogische und fachliche Eignung kommen verwendet oder der Effekt direkt über der Lehrkräfte. Schülerinnen und Schüler, die Variation in der Länge des Schulbesuchs berech- von einer Lehrkraft unterrichtet werden, deren net wird, unterstreicht die Verlässlichkeit dieser Leistung im unteren Dezil der Verteilung liegt, Schlussfolgerung.11 erreichen später ein deutlich geringeres Lebens- einkommen.14 Offen bleibt dabei, wie das Bil- 08 Vgl. James J. Heckman et al., The Rate of Return to the High/Scope Perry Preschool Program, in: Journal of Public Economics 1–2/2010, S. 114–128. 12 Diese Rechnung greift auf die gängige Näherung zurück, 09 Vgl. Sneha Elango et al., Early Childhood Education, dass Schülerinnen und Schüler pro Schuljahr im Durchschnitt National Bureau of Economic Research, NBER Working Paper Kompetenzen erwerben, die einem Drittel einer Standardabwei- 21766/2015. chung in internationalen Kompetenztests entsprechen. 10 Vgl. Morley K. Gunderson/Philip Oreopolous, Returns 13 Vgl. Eric A. Hanushek/Ludger Wößmann, Do Better Schools to Education in Developed Countries, in: Steve Bradley/Colin Lead to More Growth? Cognitive Skills, Economic Outcomes, and Green (Hrsg.), The Economics of Education. A Comprehensive Causation, in: Journal of Economic Growth 4/2012, S. 267–321. Overview, London 20202, S. 39–51. 14 Vgl. Raj Chetty/John N. Friedman/Jonah E. Rockoff, 11 Vgl. Ludger Wößmann, Folgekosten ausbleibenden Lernens: Measuring the Impacts of Teachers II: Teacher Value-Added and Was wir über die Corona-bedingten Schulschließungen aus der Student Outcomes in Adulthood, in: American Economic Review Forschung lernen können, in: Ifo Schnelldienst 6/2020, S. 38–44. 9/2014, S. 2633–2679. 12
Schule APuZ dungssystem gestaltet sein muss, um gute Lehr- tiplizieren und daraus den Wert der jeweiligen kräfte für den Beruf zu gewinnen, auszubilden Bildung ableiten. Allerdings würde eine solche und langfristig zu binden. Argumentation davon ausgehen, dass es für die Neben den positiven Effekten auf das durch- Betroffenen gleichermaßen akzeptabel ist, wenn schnittliche Einkommen erhöht gute Bildung sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 Prozent auch die Chance, überhaupt ein Erwerbseinkom- ein sehr hohes Einkommen von 30 000 Euro pro men zu verdienen. Statistisch gesehen, lag die Ar- Monat verdienen, aber mit einer Wahrscheinlich- beitslosigkeit für diejenigen, die keinen qualifizie- keit von 95 Prozent lediglich staatliche Notfall- renden Abschluss haben, 2015 bei etwa 20 Prozent unterstützung von 446 Euro erhalten – oder aber und damit deutlich über dem Durchschnitt derje- mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent ein nigen, die eine berufliche oder akademische Aus- Einkommen von 2000 Euro im Monat und ledig- bildung abgeschlossen haben.15 Doch auch bei den lich mit 5 Prozent Wahrscheinlichkeit eine Zah- höheren Bildungsabschlüssen gibt es noch deutli- lung von 446 Euro. In der Praxis zeigt sich je- che Unterschiede: Das Risiko einer Arbeitslosig- doch, dass Sicherheit für viele Menschen ein Wert keit unter Akademikern war im Durchschnitt nur an sich ist. Wenn das Risiko, von einem Beruf halb so hoch wie das derjenigen, die eine Lehre als nicht leben zu können, als belastend empfunden höchsten Berufsabschluss absolviert haben. Dabei wird, können die erlebten Kosten, die durch Ar- zeigen Studien interessante dynamische Effekte: beitslosigkeit entstehen, deutlich über dem einfa- Während das Arbeitslosigkeitsrisiko bei Akade- chen mathematischen Erwartungswert liegen. mikern zu Beginn des Erwerbslebens noch über Gesamtwirtschaftlich, sowohl bei Betrach- dem der Auszubildenden liegt, kehrt sich dies im tung der späteren Einkommen als auch der er- Laufe des Erwerbslebens um.16 Dieses Phänomen warteten Arbeitslosigkeit, zeigt sich, dass Schulen kann dadurch erklärt werden, dass das deutsche die einzigartige Chance bieten, die Fähigkeiten Ausbildungssystem sehr erfolgreich darin ist, Ab- einer jeden Schülergeneration zu entwickeln und solventinnen und Absolventen die speziellen Fä- damit einen entscheidenden Beitrag zum langfris- higkeiten zu vermitteln, die für den gelernten Be- tigen Wohlstand eines Landes zu leisten. ruf zu diesem Zeitpunkt relevant sind, was den Berufseinstieg erleichtert. Gleichzeitig haben die- AUSNAHMEJAHR 2020: se zielgerichteten Ausbildungen potenziell den KOSTEN FÜR Nachteil, dass spezialisiertes Wissen mit der Zeit SCHULSCHLIE ẞ UNGEN obsolet wird, womit der Beschäftigungsvorteil ge- genüber den oft breiter aufgestellten Akademi- Die rasche Ausbreitung des neuartigen Corona- kern nach und nach verloren geht. Festzuhalten Virus und die zur Eindämmung der Pandemie ist auf jeden Fall, dass das oft beschriebene Phä- getroffenen Maßnahmen, wie die großflächigen nomen des arbeitslosen Akademikers in Deutsch- Schließungen der Schulen, haben das Bildungs- land derzeit nicht weit verbreitet ist. Im Gegenteil, system vor unerwartete Herausforderungen ge- statistisch gesehen, sinkt mit guter Bildung auch stellt. Nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen die Wahrscheinlichkeit, auf dem Arbeitsmarkt Aufgaben, die Schulen und Kindergärten gesamt- keine Beschäftigung zu finden. gesellschaftlich übernehmen, von der Wissens- Zu beachten ist, dass die Kosten einer Ar- vermittlung über die Kinderbetreuung bis hin zu beitslosigkeit höher sind, als der einfache mathe- einem wichtigen Frühwarnsystem bei Fragen des matische Erwartungswert suggeriert. Eine nai- Kindeswohls, sind die oft überstürzten, mehrwö- ve Berechnung des Erwartungswertes würde die chigen Schul- und Kitaschließungen bemerkens- Wahrscheinlichkeit einer Arbeitslosigkeit für wert. Die in diesem Beitrag vorgestellten Effekte Individuen mit einem bestimmten Bildungsab- von Bildung lassen vermuten, dass die Nachwe- schluss mit dem durchschnittlichen Gehalt mul- hen dieser disruptiven Phase die betroffenen Ge- nerationen von Schülerinnen und Schülern lang- fristig begleiten dürften. 15 Vgl. Institut für Arbeit und Berufsforschung, Qualifikations- Erste Studien zeigen, dass in der Zeit der spezifische Arbeitslosenquoten, Nürnberg 2015. 16 Vgl. Eric A. Hanushek et al., General Education, Vocational Schulschließungen für einen Großteil der Schü- Education, and Labor-Market Outcomes over the Lifecycle, in: lerinnen und Schüler nur sehr wenig interaktiver The Journal of Human Resources 1/2017, S. 48–87. Ersatzunterricht, etwa über Videotelefoniefor- 13
APuZ 51/2020 mate, stattgefunden hat. Stattdessen legten viele liche Teilhabe. Ein Ausfall der Bildung, wie im Schulen den Fokus auf Arbeitsblätter und Auf- vergangenen Schuljahr aufgrund der Pandemie gaben, die in Selbstarbeit Lerninhalte vermitteln gesehen, hat potenziell gravierende Auswirkun- sollten und deren Bearbeitung von den Schülerin- gen. Besonders zu beachten ist, dass die wahren nen und Schülern – oder ihren Betreuungsperso- Kosten von unzureichender Bildung schwer zu nen – ein hohes Maß an Disziplin und Eigenmo- beziffern sind, nicht zuletzt deshalb, weil es sich tivation voraussetzt. zum großen Teil um sogenannte Opportunitäts- Auf Grundlage der wissenschaftlich ermit- kosten handelt – Kosten, die dadurch entstehen, telten Effekte von Bildung kann man für die Si- dass Chancen nicht genutzt werden. Da die Fol- tuation der Schulschließungen größenordnungs- gen von Entscheidungen, die nicht getroffen wur- mäßig abschätzen, welche Auswirkungen der den, niemals direkt beobachtet werden können, Ausfall des Schulunterrichts haben könnte. Da- werden diese Kosten oft unterschätzt. Aber sie bei ist zu beachten, dass die zur Verfügung ste- sind sowohl für den Einzelnen als auch die Ge- henden Zahlen notwendigerweise aus Studien meinschaft hoch. stammen, die Ereignisse der Vergangenheit eva- luieren – die Vorhersage der Effekte in einer neu- artigen Situation wie der Corona-Pandemie kann KATHARINA WERNER daher immer nur eine erste Näherung sein. Neh- ist promovierte Ökonomin und wissenschaftliche men wir jedoch die bereits erwähnte Erkenntnis, Mitarbeiterin am Ifo Zentrum für für Bildungs dass ein Schuljahr im Bildungssystem das Ein- ökonomik. kommen um etwa 10 Prozent erhöht, dann ergibt werner.k@ifo.de sich aus den Schulschließungen für das Jahr 2020 ein errechneter Schaden von 3 bis 4 Prozent des Einkommens.17 In der Zeit der Pandemie waren in vielen Be- reichen einschneidende Veränderungen des wirt- schaftlichen Lebens notwendig. Doch auch wenn Präsenzunterricht aufgrund des Infektionsrisikos nicht möglich ist, zeigen erste Erkenntnisse, dass andere Ländern sehr viel erfolgreicher dabei wa- ren, Lernen durch digitale Formate zu ermögli- chen. Genau wie die Erfolge der beschriebenen frühkindlichen Intervention in Michigan erst in vollem Umfang offensichtlich wurden, als die be- troffenen Kinder Jahrzehnte später das mittle- re Lebensalter erreicht hatten, werden die Fol- gen der aktuellen Bildungspolitik für Jahrzehnte nachwirken. Daher ist es bei der Gestaltung der Krisenpolitik besonders wichtig, dass die Kos- ten ausbleibender Bildung bei politischen Über- legungen ausreichend berücksichtigt werden, um die nächste Generation und damit die deut- sche Gesellschaft insgesamt gut für die Zukunft aufzustellen. SCHLUSS Ein gutes Schulsystem erhöht die Fähigkeiten der Bevölkerung, erhält damit die Leistungsfähig- keit der Wirtschaft und ermöglicht gesellschaft- 17 Vgl. Wößmann (Anm. 11). 14
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