Berliner Zustände 2009 - Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus und Rassismus - MBR Berlin

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Berliner Zustände
             2009
   Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus
                                und Rassismus

              Herausgegeben von

                            apabiz
2

    Inhalt
    48
         Berliner Zustände 2009
         Chronik rechtsextremer, rassistischer und
         antisemitischer Angriffe und Bedrohungen – Von ReachOut

     3   Vorwort
         von Alexander Häusler (Arbeitsstelle Neonazismus der FH Düsseldorf)

     6   Einleitung
         von Annika Eckel (MBR), Eike Sanders und Ulli Jentsch (apabiz)

     8   Ausgerastet – Der Bordsteinkick am S- Bahnhof Frankfurter Allee
         vor Gericht von Nicole Walter
         Unfähig und überfordert? – Die Berliner NPD möchte ihr Krise

    12   überwinden von Yves Müller (Auseinandersetzung mit Rechtsextremis-
         mus in den kommunalen Gremien Berlins – Dokumentation und Analyse)
         Die Berliner rechtsextreme Szene: Gewalttätige Aktionen und

    15   inhaltliche Schwäche von Anne Benzing, Annika Eckel, Bianca Klose
         und Matthias Müller (MBR)
         Schwerpunkt

    22   Sind alle ›Islam-Kritiker‹ ›islamophob‹?
         von Ulli Jentsch und Eike Sanders (apabiz)

    24   Islamophobie in Deutschland?
         von Eberhard Seidel

    30   Ungebrochene Selbstidealisierung
         von Birgit Rommelspacher
         Pax Europa Berlin: Islamfeindliche Politik

    35   in der „Multi-Kulti-Hauptstadt“
         von Ulli Jentsch (apabiz)

    42   Fallzahlen: Grund zur Entwarnung? von ReachOut – Opferberatung und
         Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus
         Service

    58   Weiterführende Literatur

    59   Projektadressen

    60   Impressum
3

                                                                           Vorwort                          von Alexander Häusler
                                                                 In dem diesjährigen Schattenbericht wird deut-
                                                                 lich, dass sich auch in Berlin Wandlungspro-
                                                                 zesse am rechten Rand widerspiegeln, welche
                                                                 sich seit einigen Jahren im europäischen Rah-
                                                                 men vollziehen.

M
             it einer Fokussierung         Rechten an. Dabei ist jedoch die           Lagers ringt. Dabei versucht PRO
             auf einen kulturre-           Moslemfeindlichkeit als Chiffre            mit den propagandistischen
             ligiös ummantelten            für einen mehrheitsfähigen                 Mitteln der „Protest-Inszenie-
Rassismus versuchen sich Teile             Rassismus das einigende Banner.            rung“ (Karin Priester), Rassismus
der extremen Rechten an einer              Denn auch die NPD ist nicht                und Nationalismus politisch als
„Modernisierung“ ihrer Propa-              unbeeindruckt geblieben von                ‚plebiszitär’ zu verankern.2 Um
ganda. Dabei droht das politisch           dem ‚Erfolg’ eines populistisch            sich selbst als moderne Rechts-
inszenierte Schlagwort der                 betriebenen antimuslimischen               außen-Wahlgruppierung neu zu
“schleichenden Islamisierung”              Kampagnen-Rassismus in Europa              formieren, werden Begriffe der
zum Einfallstor von Rechtsaußen            und versucht sich seit ihrem               Bürgerinitiativ-Bewegungen für
in die politische Mitte zu werden.         letzten Parteitag gar, anbiedernd          sich in Anspruch genommen
Die gesellschaftliche Sprengkraft          an die in Österreich erfolgreiche          – eine perfide Spielform der
eines solchen antimuslimischen             rechtspopulistische FPÖ, als „so-          politischen Mimikry. So wird eine
Rassismus zeigte Ende 2009                 ziale Heimatpartei“ zu inszenie-           strukturelle Demokratiefeind-
die Volksabstimmung gegen                  ren. Die PRO-Bewegung will als             lichkeit als eine ‚bürgerschaftlich’
Minarettbau in der Schweiz,                neue Rechtsaußengruppierung                ausgerichtete Mogelpackung
die Vorbildcharakter für die               mit rassistischen Kulturkampf-             inszeniert, der Rassismus wird
rechtspopulistisch modernisierte           parolen ihren Wirkungskreis                als ‚demokratisches Mitbestim-
extreme Rechte in Europa hatte.            von Nordrhein-Westfalen aus                mungsangebot’ verpackt.
Auch in Deutschland sind pro-              bundesweit ausdehnen.1 Bei der             Das Schüren von Ängsten und
pagandistische Verschiebungen              Wahl zum Abgeordnetenhaus in               Vorurteilen gegenüber „dem
innerhalb der extremen Rechten             Berlin im Jahr 2011 möchte PRO             Islam“ steht im Zentrum dieser
zu konstatieren, die einhergehen           antreten.                                  rechtspopulistischen Agitation.
mit einer Neuaufstellung der ext-             Im Unterschied zu offen                 Unterschriftensammlungen
rem rechten Parteienlandschaft.            neonazistischen und demokra-               gegen Moscheebau und Mina-
   Während die NPD die DVU                 tiefeindlichen Parteien wie der            rette haben als Agitationsform
geschluckt hat und damit ver-              NPD bekleidet sich die PRO-                einen besonderen Stellenwert
sucht, das traditionsorientierte           Bewegung mit einer rechtspo-               in der Strategie dieses rechten
neofaschistische Lager erneut              pulistischen Hülle, wenngleich             Netzwerkes. Die klassische „Aus-
parteiförmig zu einen, strebt die          auch sie dem Lager der extrem              länder raus“-Parole wird dabei
so genannte PRO-Bewegung mit               rechten Parteienlandschaft                 kulturalisierend verpackt als
ihrer anvisierten Vereinigung mit          entstammt und mit den ande-                Kampfansage gegen die „Islami-
den REP eine rechtspopulistische           ren Rechtsaußenparteien um                 sierung unserer Gesellschaft“. Die
Modernisierung der extremen                die Stammwählerschaft dieses               Zuwanderung wird pauschali-

1: Vgl. AK Ruhr / LAGA NRW (Hg.): Rechtspopulismus in Gestalt einer Bürgerbewegung, online unter: http://docs.google.com/
viewer?a=v&pid=sites&srcid=ZGVmYXVsdGRvbWFpbnxha3J1aHJ8Z3g6MjJhZGExM2I5NzJlYzk2ZA
2: Vgl. Karin Priester, Populismus als Protestbewegung, in: Alexander Häusler (Hrsg.), Rechtspopulismus als Bürgerbewegung,
Wiesbaden 2008, S. 19-36
4

sierend ver-
knüpft mit der
Religion, dem
Fundamen-
talismus und
der politisch
motivierten Ge-
walt. In solchen
Feindbild-Kons-
truktionen zeigt
sich die Stoß-
richtung dieser
populistischen
Kampagnen,
der Rassismus
wird religiös als
„Kulturkampf“
verschleiert.
   Mittels einer
öffentlichkeits-
orientierten Eskalationsstrategie          der PRO-Mäzen Patrik Brink-                nenorientierte Kulturrassismus
wird ein solcher Kulturkampf               mann und sein Redenschreiber               zielt auf die „politische Mitte“,
inszeniert: Konflikte werden ag-            Andreas Molau „nicht die Juden,            indem er mehrheitsfähige
gressiv rassistisch geschürt, um           sondern die Muslime“ als das               rassistische Diskurse zur eigenen
Aufmerksamkeit und Gegenpro-               „Kernproblem“. „Die deutsche               Neuverortung benutzt. Nicht die
teste hervorzurufen. Dies wieder-          Rechte muss sich von ihrer                 „extremen Ränder“, sondern die
um bietet dann Anlass, sich als            Vergangenheit emanzipieren“, so            demokratischen Defizite im Zen-
Opfer von „Meinungsdiktatur“,              die Erläuterung Brinkmanns zum             trum des Polischen sind dabei
„politischer Correctness“ und              Wandel der Feindbilder.3                   die Sollbruchstellen für einen
„linkem Gesinnungsterror“ zu                                                          Rechtsruck.
inszenieren und erneut den Grad                          Quo Vadis?                      Die Rechten sind real keine
öffentlicher Konflikte zu ver-                                                         extremistischen ‚Aliens’, die von
schärfen. Ein solches Drehen an            Derartige Entwicklungen                    außen in die intakte heimische
der populistischen Schraube ist            erfordern Neuorientierungen                Sphäre der Demokratie ein-
Ausdruck einer Strategie, die auf          im Umgang mit dem Kulturras-               dringen – sie sind vielmehr Teil
Steigerung der Konflikte ausge-             sismus von Rechtsaußen: Das                dieser Gesellschaft und ziehen
richtet ist. Dies funktioniert nach        im parteipolitischen Geplänkel             die Wirkungsmächtigkeit ihrer
dem Prinzip rassistische Vorlage           jüngst wieder hervorgehobene               Kampagnen aus deren realen de-
– antirassistische Reaktion – ras-         „Extremismus-Konstrukt“, das               mokratischen Defiziten. Religiös
sistische Antwort – Ausweitung             den rechten mit dem linken                 verklausulierter Kulturrassismus,
der Konfliktebene im Sinne einer            Rand gleichzusetzen bestrebt               nationalistischer Anti-EU-Protest
Fortsetzung auf ständig höherer            ist und proklamiert, die „wehr-            und Anti-Establishment-Gehabe
Stufenleiter: Eine ritualisierte In-       hafte Demokratie“ gegen die                von Rechtsaußen entfalten des-
szenierung einer populistischen            „extremistischen Ränder“ zu                halb Wirkungsmächtigkeit, weil
Eskalations-Schraube.                      verteidigen, verfehlt in seinem            sie reale Probleme aufgreifen
   Damit einher geht die Forde-            ideologisch motivierten Impetus            und mit simplen Feindbild-Pro-
rung zum Austausch der Feind-              vollends die realen Entwicklun-            jektionen politisch besetzen: Sie
bilder: So interpretieren etwa             gen. Denn gerade der kampag-               sind ein Seismograf für die Krise
3: Vgl. Alexander Häusler: „Von der Vergangenheit emanzipieren…Vom Antisemitismus zur Islamfeindlichkeit?, in: ZAG Nr.
56/2010, S. 21-23
5

der Demokratie. Ein Blick über       von der „christlich-deutschen       noch vor großen Anstrengun-
den nationalen Tellerrand zeigt      Leitkultur“ als Vorlage genom-      gen. Dort zeigt die Erfahrung,
beispielhaft an Ländern wie Itali-   men für den neuen Leitspruch        dass notwendiger antifaschis-
en und den jüngsten Wahlerfol-       „Abendland in Christenhand“.        tischer Protest auf der Straße
gen in den Niederlanden und in          Hier liegen zugleich auch neue   gegen kulturalistischen Kam-
osteuropäischen Ländern, dass        Herausforderungen für eine anti-    pagnen-Rassismus nur die eine             So kam etwa auf
die größten Herausforderungen        faschistische Arbeit: Der „Kampf    Seite der Medaille ist. Er muss         einer Podiumsdis-
                                                                                                               kussion zur Tagung
nicht im Kampf gegen „äußerli-       gegen Rechts“ kann sich nicht       begleitet werden von inhaltli-       „Feindbild Islam“ im
chen Extremismus“ sondern in         auf die moralische Verurteilung     chen Auseinandersetzungen             Herbst 2008 in Köln
                                                                                                                    zur inhaltlichen
der schleichenden Implosion der      beschränken. Vielmehr muss der      mit dessen Inhalten sowie der             Auseinanderset-
Demokratie durch deren Trans-        extremen Rechten das politische     Bereitschaft von antirassistischen       zung mit dem als
                                                                                                              „Antiislamisierungs-
formation nach rechts liegen.        Terrain auf neuen Ebenen streitig   und antifaschistischen Initiati-     kongress“ angekün-
   Die parteiförmige extreme         gemacht werden. Dies beinhaltet     ven, sich neuen Fragestellungen       digten rechtspopu-
                                                                                                              listischen Spektakel
Rechte in Deutschland hat dies       die Verstärkung eigener Ausei-      und politischen Herausforderun-       großes Interesse an
zum Teil erkannt. Sie versucht die   nandersetzungen mit Integra-        gen gegenüber zu öffnen. Nur so        offenen Diskussio-
                                                                                                              nen zu bislang noch
rechtspopulistischen Erfolge in      tions- und Demokratiedefiziten      kann unter emanzipatorischen             ‚dunklen Feldern’
Europa national zu importieren,      mit dem Ziel neuer Verständi-       Prämissen politisch wieder neues        in der antirassisti-
                                                                                                                schen und antiras-
indem sie sich auf hegemoniale       gungen. So steht auch die an-       Terrain betreten und besetzt           sistischen Debatte
Diskurse bezieht und diese kam-      tifaschistische Auseinanderset-     werden.                                   im kommunalen
                                                                                                                 Kontext zum Aus-
pagnenartig zuspitzt: Nicht von      zung mit der PRO-Bewegung in                                                 druck. Vgl. hierzu
ungefähr wird der CDU-Slogan         Nordrhein-Westfalen weiterhin                                              den Tagungsband
                                                                                                                     von Alexander
                                                                                                                     Häusler/Hans-
                                                                                                               Peter Killguss (Hg.):
                                                                                                                    Feindbild Islam.
                                                                                                              Rechtspopulistische
Alexander Häusler ist Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher                                            Kulturalisierung des
Mitarbeiter der Arbeitsstelle Neonazismus der FH Düsseldorf.                                                       Politischen, Köln
                                                                                                               2008 (erhältlich bei
Er ist Herausgeber der ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzung                                                der Info- und Bil-
                                                                                                                dungsstelle gegen
mit der „PRO-Bewegung“ (siehe Literaturliste). In Kürze erscheint ein                                          Rechtsextremismus
von ihm gemeinsam mit Jan Schedler herausgegebener Sammelband                                                   des NS-Dokumen-
                                                                                                                   tationszentrums
zu den „Autonomen Nationalisten“.                                                                                   der Stadt Köln).
6

Einleitung
Von Annika Eckel (MBR), Eike Sanders und Ulli Jentsch (apabiz)

V
          ergangenes Jahr, in der        Schwerpunkt Rassismus             Weitere Artikel beschreiben
          Einleitung zum dama-                                             wesentliche Ereignisse, die die
          ligen Schattenbericht,      Im vierten Jahr des Erscheinens      Arbeit und das Engagement von
hatten wir davor gewarnt, vor-        der „Berliner Zustände“ beleuch-     Initiativen und Projekten 2009
schnell über den offensichtlichen     ten drei Berliner Projekte sowie     geprägt haben.
Niedergang der Berliner NPD zu        drei weitere Berliner AutorInnen        So hat die Journalistin Nicole
frohlocken und zu glauben, der        die anti-muslimischen und/oder       Walter ihre Eindrücke über den
parteiförmige Teil des Rechtsex-      rassistischen sowie rechtsextre-     sogenannten Bordsteinkick-
tremismus sei drauf und dran,         men Phänomene in Berlin, die         Prozess festgehalten. Sie hat den
sich selbst zu erledigen: „Doch       Grund geben für eine kontinu-        Prozess begleitet und beschreibt
wenn es die Partei nicht mehr         ierliche Auseinandersetzung. Die     sachlich und gleichermaßen
geben würde, bliebe immer             Berliner Zustände 2009 sollen        eindringlich die brutale Dimen-
noch die Bewegung.“                   Analysen aus der Hand von Prak-      sion einer Tat, die beinahe ein
   Heute sieht es so aus, als         tikerInnen geben und alternativ      Menschenleben gekostet hätte.
habe die NPD ihren Niedergang         zu staatlichen und medialen             Wie sehr inhaltliche Schwä-
zumindest aufgehalten. Es dürfte      Sichtweisen die wesentlichen         chen und gewalttätige Aktionen
aber noch einige Monate dauern,       Entwicklungen und Tendenzen          in der extremen Rechten zusam-
bis beurteilt werden kann, ob         des letzten Jahres in den Blick      men gehen, zeigt der Beitrag
es dem neuen Berliner Landes-         nehmen.                              der Mobilen Beratung gegen
vorstand wirklich gelingt aus            Neben der Entwicklung der         Rechtsextremismus Berlin (MBR).
der Talsohle heraus zu kommen.        organisierten extremen Rechten       Er beschreibt eine zunehmende
Tatsächlich gingen die entschei-      und ihrer Aktionsfähigkeit im        Dynamik von Anfeindungen
denden, weil bedrohlichen,            vergangenen Jahr werfen wir          und Bedrohungen politischer
Aktivitäten im Jahr 2009 nahezu       diesmal einen ausführlicheren        Gegner­Innen und eine neue
ausschließlich von den bewe-          Blick auf jenes Phänomen, das        Dimension der Anti-Antifa-Arbeit
gungsförmigen Strukturen des          wir als antimuslimischen Rassis-     rechtsextremer Strukturen.
Neonazismus aus – jenem Spekt-        mus bezeichnen (zur Begriffsde-      Abgesehen von den personel-
rum, dem die NPD als zu ange-         batte siehe den Beitrag „Sind alle   len Zusammenschlüssen – wie
passt und bürgernah gilt. Und         „Islam-Kritiker“ „islamophob“?“).    der durch den Berliner Senat
deren AktivistInnen sich in der       Der antimuslimische Rassismus        verbotenen Kameradschaft
Pose der militanten Politrebellen     ist für die im Schattenbericht       „Frontbann 24“ – wird deutlich,
gefallen, als StraßenkämpferIn-       vertretenen Projekte bereits ein     welche wichtige Funktion die
nen, die jederzeit bereit sind, die   deutlich sichtbares Phänomen         Kneipe „Zum Henker“ in Schö-
politischen GegnerInnen auch          im Alltag der beratenden und         neweide für diese Dynamik hat.
körperlich anzugreifen.               dokumentierenden Initiativen         Ihre Außenwirkungen auf den
                                      und eine Herausforderung für         öffentlichen Raum des Stadtteils
                                      die „Migrations-Hauptstadt“ Ber-     sowie Berlinweit wird in dem
                                      lin. Mit der Schwerpunktsetzung      Artikel ausführlich analysiert.
                                      möchten wir zu einer differen-
                                      zierten Auseinandersetzung
                                      beitragen.
7

Aus der Perspektive des Projektes     die in seinem Titel gestellte Frage   so bei einer Kundgebung am 3.
„Auseinandersetzung mit Rechts-       nicht einfach machen dürfen. In       Oktober 2009. Der Artikel stellt
extremismus in den kommunalen         seine differenzierende Darstel-       die Politik und die Köpfe dieser
Gremien Berlins – Dokumentati-        lung bezieht Eberhard Seidel,         Gruppierung, die in Berlin von
on und Analyse“ beschreibt Yves       Geschäftsführer bei „Schule ohne      René Stadtkewitz, Mitglied der
Müller in seinem Artikel die Ver-     Rassismus – Schule mit Courage“,      CDU-Fraktion im Abgeordneten-
fasstheit der Berliner NPD im Jah-    vor allem auch die bei uns nur        haus, geführt wird, vor.
re 2009 – ein turbulentes Jahr voll   wenig bekannte niederländische            In ihrem Beitrag „Fallzah-
mit internen Streitereien, Austrit-   Debatte mit ein, die den hiesigen     len: Grund zur Entwarnung?“
ten, Rücktritten und Skandälchen,     Diskurs stark mitbestimmt hat.        berichtet die Opferberatungs-
die zu einer öffentlichen und par-       Einen Teilaspekt der Kontro-       stelle R­ eachOut von den Zah-
lamentarischen Unscheinbarkeit        verse um „den Islam“ beleuchtet        len rechter, rassistischer und
der Partei beitrugen. Der Autor       der Artikel von Prof. Dr. Birgit       antisemitischer Gewalt des
zeichnet die Entwicklungen des        Rommelspacher, der bereits in          Jahres 2009. Auch wenn die
Berliner Landesverbandes unter        der taz veröffentlicht wurde. Frau     von ReachOut dokumentierten
dem damaligen Vorsitzenden            Rommelspacher kritisiert hierin        Gewalttaten zwar fast um ein
Jörg Hähnel und der mit ihm           diejenigen feministischen „Islam-      Drittel gesunken sind, stellt das
(ehemals) verbündeten extrem          kritikerInnen“, die sich auf ras-      Projekt umfangreich den Anstieg
rechten Gruppierungen und Per-        sistische Argumentationen und          rassistischer Stimmungsmache
sonen nach, bis zum Februar           Organisationen einlassen, um am        in der Mitte der Gesellschaft dar.
2010, als Uwe Meenen den              lautesten Gleichberechtigung für       Die AutorInnen gehen deshalb
Posten des Landesvorsitzen-           MuslimInnen zu fordern. So wird        auch der Frage nach, welche
den übernahm. Eine inhaltliche        nicht nur kulturalisierend pau-        Wechselwirkungen rassistische
Abkehr von der wenig bürgerli-        schalisiert, sondern der Sexismus      Äußerungen wie die des ehe-
chen neonazistischen Linie der        der Mehrheitsgesellschaft gerät        maligen Berliner Finanzsenators
Berliner NPD ist aber auch unter      ebenso zum blinden Fleck.              Thilo Sarrazin mit rassistischen
Meenen nicht zu erwarten.                Das apabiz legt in diesem           Gewalttaten haben. Dazu wird
                                      Schattenbericht eine erste um-         wie in jedem Jahr ergänzend die
   Was ist antimuslimischer           fangreiche Dokumentation der          ­ReachOut-Chronik rechtsextre-
          Rassismus?                  „Bürgerbewegung Pax Europa             mer, rassistischer und antisemiti-
                                      e.V.“ vor, eine vor allem auch         scher Angriffe und Bedrohungen
Unser Themenschwerpunkt               in Berlin aktive islamfeindliche       veröffentlicht.
„Antimuslimischer Rassismus“          Organisation. Pax Europa hatte            Die Entscheidung, den Schat-
wird mit einer Begriffsklärung        im vergangenen Jahr mehrfach           tenbericht dieses Jahr mit einer
eingeleitet. Daran anschließend       öffentliche Veranstaltungen            Comic-Strecke statt einer Foto-
zeichnet Eberhard Seidel in           durchgeführt, um auf ihren             serie zu bebildern, ist hoffentlich
seinem Artikel „Islamophobie in       Kampf gegen die „Islamisierung“        eine interessante Neuerung. Wir
Deutschland?“ nach, aus wel-          Berlins aufmerksam zu ma-              bedanken uns für Illustration
chen Konflikten die Islamdebat-       chen. Dabei war sie zum Teil auf       und Layout bei den KollegInnen
ten ihre Schärfe beziehen und         deutlichen Widerspruch antiras-        von 123comics.
warum wir uns die Antwort auf         sistischer Initiativen gestoßen,
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Ausgerastet
Der Bordsteinkick am S-Bahnhof
Frankfurter Allee vor Gericht
Im Sommer 2009 wurde ein junger Mann in Friedrichshain von Neonazis attackiert
und schwer verletzt. Nur die schnell herbei gerufenen Polizisten konnten verhindern,
dass er mit einem Bordsteinkick auf den Kopf getötet wird. Die Täter kommen mit
einem überraschend milden Urteil davon.

                                    E
Von Nicole Walter                             s ist die Nacht vom 11.     mehr aufstehen“ fallen. Passan-
                                              auf den 12. Juli 2009.      ten, die helfen wollen, werden
                                              Vier junge Männer feiern    bedroht. Oliver K. tritt Jonas K.
                                     in der Diskothek „Jeton“ in der      mit Stampfkicks ins Gesicht und
                                     Frankfurter Allee. Es gibt eine      auf den Kopf – er zieht den Fuß
                                     Schaumparty in dieser Nacht,         hoch bis auf Kniehöhe und tritt
                                     sie betrinken sich und verlas-       mit voller Kraft zu. Jonas K. regt
                                     sen das „Jeton“ erst am frühen       sich nicht mehr, er blutet stark
                                     Sonntagmorgen. Als sie kurz vor      am Kopf. Oliver K. zieht den be-
                                     sechs Uhr die Frankfurter Allee in   wusstlosen Mann zum Fahrrad-
                                     Richtung S-Bahnhof überqueren,       weg am U-Bahneingang Frank-
                                     fällt ihnen eine Gruppe von etwa     furter Allee, legt ihn mit dem
                                     zehn Jugendlichen auf, die ihnen     Gesicht auf den Asphalt und tritt
                                     zu folgen scheinen. „Thor Steinar    weiter zu. Stampfkicks. Mit voller
                                     – lass mal auf die Fresse hauen“,    Wucht. Und der Absicht ihn
                                     sollen sie rufen. Michael L. (23)    zu töten, wie der Staatsanwalt
                                     trägt aus dem „Jeton“ kommend        sagt. Auch als die Polizei kommt,
                                     eine solche Jacke. Und unmittel-     macht Oliver K. weiter – solange,
                                     bar vor dem Aufbruch zur S-Bahn      bis die Beamten ihn und seine
                                     hatte sein Freund Michael B.         Freunde festnehmen.
                                     (20) vor der Diskothek den Arm
                                     zum Hitlergruß gestreckt, wie            „ … und dann Wumm!“
                                     später im Internet veröffentlichte
                                     Fotos dokumentieren. Wenige          Wie kaltblütig Oliver K. handelte,
                                     Momente später wird Michael L.       wird später klar: Eine Stunde
                                     von hinten geschubst, geht zu        nach seiner Festnahme sagt er:
                                     Boden und holt sich eine Platz-      „Ich bereue nichts. Ich hätte den
                                     wunde am Kopf. Eine Schlägerei       bis auf die Bordsteinkante ziehen
                                     beginnt. Der angeklagte Oliver       und mir seinen Kopf richtig hin-
                                     K. (26) aus Königs Wusterhausen      legen sollen – und dann Wumm!“
                                     greift sich einen jungen Mann,       Dabei habe er angedeutet, wie er
                                     den 22-jährigen Jonas K. Den         den Kopf von Jonas K. zwischen
                                     haut es direkt um, aber Oliver K.    seine Hände nimmt und so hin-
                                     hört nicht auf ihn zu verletzen.     legt, wie er es haben will. Dann
                                     Seine Freunde treten mit zu          habe er mit dem Bein ausgeholt
                                     oder halten ihm den Rücken frei.     und zugetreten, zum Glück nur
                                     Die Worte „Du Zecke wirst nicht      auf den Asphalt. So berichtet es
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ein Polizeibeamter, der in diesem    monstration gegenüber einem           Verwendens von Kennzeichen
Moment neben Oliver K. stand.        vermeintlichen politischen Geg-       verfassungsfeindlicher Organisa-
„Das alles erinnert mich an den      ner“ vor, den sie „Zecke“ nennen.     tionen.
Bordsteinkick in dem Film Ame-       Drei Wochen später werden zwei
rican History X“, so der Polizist.   der Angeklagten nur wegen                   Wenn es im rechten
Nach ihrer Tat bleiben die vier      gefährlicher Körperverletzung zu               Arm zuckt
Angeklagten bis zum Prozess in       milden Bewährungsstrafen ver-
Untersuchungshaft.                   urteilt. Ein Angeklagter wird frei    „Die stammen aus einem rechts-
   „Neonazis prügeln Passanten       gesprochen. Der Haupttäter, der       gerichteten Milieu“, sagte der
fast tot“ steht direkt nach der      26-jährige Oliver K. aus Königs       Richter in seiner Urteilsbegrün-
Tat in der B.Z. Zwei Tage später:    Wusterhausen, wird nicht wegen        dun. Aber bei dieser Tat sei das
„Prügel-Opfer kein unbeteiligter     versuchten Mordes, sondern nur        irrelevant gewesen. Für die Täter
Passant“. Die Berliner Zeitung       wegen versuchten Totschlags           habe es keine Rolle gespielt, ob
schreibt „Polizei ermittelt auch     und gefährlicher Körperverlet-        Jonas K. aus der linken Szene
gegen Opfer von Neonazi-             zung zu fünfeinhalb Jahren Haft       stamme oder nicht, sagte der
Angriff“. Innerhalb weniger Tage     verurteilt. Selbst sein Verteidiger   Vorsitzende Richter Kay-Thomas
verschiebt sich auch in den meis-    hatte für eine höhere Haftstrafe      Dieckmann. Zuvor hatte der
ten anderen Medien die Pers-         plädiert. Auch der Staatsanwalt       Verteidiger von Oliver K. dem
pektive. Aus Jonas K., dem Opfer     hatte für drei der Angeklagten        Richter für die „sachliche Pro-
einer Gewalttat von Neonazis,        höhere Strafen gefordert. Von ei-     zessführung“ gedankt. Er habe
wird Jonas K., der Angreifer, der    nem politischen Motiv der Tat, ei-    sich von der Vorverurteilung der
mit anderen Linken zuerst auf        nem Angriff mit rechtsextremen        Angeklagten in den Medien, die
die Rechten losgegangen sein         Hintergrund, ist in der Urteilsbe-    diese als Neonazis gebrandmarkt
soll. Was ganz genau passiert ist,   gründung keine Rede mehr. Die         hätten, nicht beeindrucken
bleibt offen.                        Angeklagten hätten sich gegen         lassen.
   Es wird auch ein halbes Jahr      einen Angriff verteidigt und die         Das ist zart ausgedrückt.
später vor Gericht nicht völlig      meiste Zeit in Notwehr bzw.           Tatsächlich spielte die rechts-
klar, zu widersprüchlich sind        Nothilfe gehandelt. Erst gegen        extreme Gedankenwelt der
die Zeugenaussagen: Im Januar        Ende der gewaltsamen Ausein-          Angeklagten kaum eine Rolle
2010 stehen die rechtsextremen       andersetzung seien sie für einen      in der Beweisaufnahme wäh-
Täter vor dem Landgericht Berlin.    kurzen Moment ausgerastet und         rend des Prozesses, hartnäckig
Und wieder wechselt die Pers-        über das Maß der Notwehr und          wurde sie nur von dem Anwalt
pektive: Angeklagt werden die        Nothilfe hinaus geschossen. Alle      der Nebenklage, Ols Weidmann,
vier jungen Männer des gemein-       vier Angeklagten sind mehrfach        zur Sprache gebracht. Richter
schaftlichen versuchten Mordes.      vorbestraft, auch wegen gefähr-       und Staatsanwalt erkundigten
Der Staatsanwalt wirft ihnen eine    licher Körperverletzung. Zwei         sich selten nach entsprechen-
„Tötungsabsicht aus Machtde-         von ihnen zudem wegen des             den Anzeichen, und ihre Fragen
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     beschränkten sich manchmal                 Opfer, Täter, Mittäter       Tat entsprechende detaillierte
     auf die Kleidungsmarken der                                             Aussagen gegenüber der Polizei
     Anklagten. Der Hitlergruß des         In dem Maß, wie in diesem         zu Protokoll geben.“ Auf welch
     20-jährigen Marcel B. unmittel-       Prozess die Täter zu Opfern       tönernen Füßen dies in diesem
     bar vor der Tat war dem Richter       wurden, rückte Jonas K. wäh-      Fall steht, zeigt die Aussage des
     am Ende die lakonische Bemer-         rend des Prozesses in die Rolle   Richters am letzten Prozesstag:
     kung wert: „Passen sie künftig        eines Mittäters. Ebenso wie die   „Hätte ich als Richter zu beurtei-
     besser auf, dass ihnen nicht          Jugendlichen, die wie er zuvor    len, ob Jonas K. des Angriffs auf
     immer der rechte Arm zuckt.“          im gleichen Hausprojekt in        Michael L. schuldig ist, würde ich
        Wie kam es dazu, dass die          Friedrichshain gefeiert hatten    ihn wahrscheinlich nicht verur-
     Anklage wegen eines rechtsext-        und dann auf dem Weg zu           teilen, weil ich Zweifel hätte.“
     rem motivierten Mordversuchs in       S-Bahn waren, und die deshalb        Im „Jeton“-Prozess hat noch
     einem Urteilsspruch mündet, der       im Prozess als Zeugen aussagten. eine andere politische Frage eine
     die Täter als großenteils in Not-     Sie hätten die vier Angeklagten   große Rolle gespielt: Wird bei
     wehr und Nothilfe handelnd be-        wegen deren rechtsextremer        linker und rechter Gewalt mit
     schreibt und ohne ein rechtsext-      Gesinnung attackiert, einen von dem gleichen Maß gemessen?
     remes Motiv? Zwei Sachverhalte        ihnen verletzt und so die Gegen- Offensichtlich hat ein parallel
     waren dafür ausschlaggebend:          attacke provoziert. Ols Weid-     stattfindender Prozess zum 1.
     Mord ist es, wenn der Täter einen     mann erkennt hierin ein Muster: Mai die Richter aufgewühlt. Zwei
     „niederen Beweggrund“ hat,            „Es geschieht oft, dass Täter aus Stunden bevor sie ihr Urteil im
     wenn er zum Beispiel einen Men-       dem rechtsextremen Spektrum       „Jeton“-Prozess verkündeten,
     schen ermorden will, weil dieser      nach ihrem Angriff behaup-        wurden drei Türen weiter die
     politisch anders denkt. „Du Zecke     ten, sie seien zuerst attackiert  beiden Schüler Yunus K. und
     wirst nicht mehr aufstehen“ wäre      worden, und direkt nach ihrer     Rigo B. aus Zehlendorf frei ge-
     dafür ein klares Signal gewesen
     – vorausgesetzt, die Zeugin hätte
     eindeutig aussagen können,
     wer genau das gesagt hat. Das
     konnte sie aber nicht. Deshalb
     wurde auch Oliver K. nur wegen
     versuchten Totschlags verurteilt,
     nicht wegen versuchten Mordes.
     Zudem gab es nach Ansicht der
     Richter keine Pause im Kampf-
     geschehen, in der Oliver K. und
     seine Freunde den Angriff auf
     Jonas K. hätten gezielt angehen
     können. Vielmehr habe sich diese
     Attacke aus ihrer anfänglichen
     Notwehr entwickelt. Hätte es eine
     Zäsur gegeben, nach der die An-
     geklagten zielgerichtet auf Jonas
     K. losgegangen wären, dann wä-
     ren sie wahrscheinlich zu höheren
     Strafen verurteilt worden, sagt Ols
     Weidmann, der Anwalt von Jonas
     K. als Nebenkläger. Anders als die
     Richter hält er eine solche Zäsur
     durchaus mit den Aussagen der
     Zeugen vereinbar.
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sprochen, sie hatten knapp acht     Königs Wusterhausen gleich
Monate in Untersuchungshaft         behandelt“. Die Debatten in den
gesessen. Die Staatsanwaltschaft    Medien und in der Politik, ob in
hatte ihnen vorgeworfen, am 1.      Berlin zu lasch gegen linksextre-
Mai 2009 einen Molotowcocktail      me Strafttäter ermittelt wird, hat
auf Polizeibeamte geworfen zu       den „Jeton“-Prozess beeinflusst.
haben. Der „1. Mai-Prozess“ hatte   Zulasten von Jonas K., der in
in der Öffentlichkeit hohe Wellen   vielen Köpfen zu Unrecht als Pro-
geschlagen und Kay-Thomas           vokateur hängen bleiben wird.
Dieckmann ging in seinem               Marcel B. und Michael L. sind
Bordsteinkick-Urteil darauf ein:    gegen das Urteil in Revision
„Viele werden sich über milde       gegangen. Das Ermittlungsver-
Strafen in diesem Verfahren         fahren gegen Jonas K. läuft noch
wundern. Aber stellen sie sich      (Stand: 3. März 2010).
vor, es wäre genau umgekehrt
und die Angeklagten wären aus
der linksextremen Szene? Dann
wären die Reaktionen doch ganz
                                                      Nicole Walter arbeitet als freie Journalistin in
anders.“ Mit Stolz sagte er an                        Berlin, vor allem zu den Themenschwerpunkten
die Angeklagten gerichtet: „Sie                       Rechtsextremismus, soziale Entwicklungen und
sehen, dass dies hier ein fairer                      Politik. Sie hat u.a. über rechtsextreme Parteien
Prozess ist. Vor Gericht werden                       im Europaparlament und Strafgesetze gegen
der Gymnasiast aus Zehlendorf                         rechte Gewalt in Deutschland geschrieben. Den
und der Autoschrauber aus                             Jeton-Prozess hat sie im Gerichtssaal verfolgt.
12

Unfähig und
überfordert?
Die Berliner NPD möchte ihre Krise überwinden
Die NPD beschreibt sich selbst als den „parteigebundenen          Von Yves Müller
Teil der nationalen Volksbewegung“, der den „Kampf um die                  Projekt
Straße“ und den „Kampf um die Parlamente“ erfolgreich mit-   „Auseinandersetzung
einander verzahne. Ein Blick auf den Berliner NPD-Landes-  mit Rechtsextremismus
verband spricht jedoch eine andere Sprache, war das           in den kommunalen
vergangene Jahr doch eher von Machtkämpfen, Austritten           Gremien Berlins –
und geringen Aktivitäten in der Öffentlichkeit geprägt.        Dokumentation und
                                                                         Analyse“

M
             it der Neuwahl des            und Gesine Hennrich, damals                                          Ursprünglich wollte sich Henry
             Landesvorsitzenden            Vorsitzende des KV Marzahn-                                        selbst zum Landesvorsitzenden
             endeten vorerst ein-          Hellersdorf und Funktionärin des                                   wählen lassen, allein der Rück-
einhalb Jahre der Spaltung und             Berliner „Ring Nationaler Frauen“                                  halt fehlte ihm. Deutlich wurde
Untätigkeit der Berliner NPD un-           (RNF), sammelte sich ein opposi-                                   der Disput erstmals anlässlich
ter dem glücklosen Jörg Hähnel.            tioneller Flügel, der Hähnel vor-                                  der rechtsextremen „Anti-
Am 6. Februar 2010 übernahm                warf, mit seinen verschiedenen                                     Kinderschänder-Demo“1 am
der rechtsextreme Funktionär               Ämtern überfordert zu sein und                                     18. Oktober 2008 in Marzahn-
Uwe Meenen den Posten.                     – nicht einmal in Berlin wohnhaft                                  Hellersdorf. Hennrich hatte
   Die Geschichte des Scheiterns           – die Interessen des Landesver-                                    diesen Aufmarsch angemeldet
Hähnels begann am 7. Juni 2008             bandes nicht zu repräsentieren.                                    und erbat die Unterstützung
mit seiner Wahl an die Berliner            Hähnel sei inaktiv und intrigant.                                  des NPD-Landesvorsitzenden
NPD-Spitze. War mit dem Wahl-              Inhaltliche Differenzen spielten                                   Hähnel, der jedoch den Auf-
erfolg zu den Bezirksverordne-             dabei kaum eine Rolle, stehen                                      marsch nicht – wie üblich – beim
tenversammlungen (BVV) 2006                doch beide Seiten für eine klar                                    Bundesvorstand anmeldete. So
ein Erstarken des mitgliederar-            neonazistische Ausrichtung. Aus-                                   musste Hennrich den Aufmarsch
men Landesverbandes erwartet               schlaggebend waren vielmehr                                        ohne offizielle Unterstützung
worden, setzte bald Ernüchte-              persönliche Animositäten und                                       der NPD durchführen, was der
rung ein. Parallel zum Richtungs-          Gezanke um Machtpositionen.                                        Mobilisierung – es kamen 400
streit in der Bundes-NPD, aber             Nicht zuletzt mögen habituelle                                     Rechtsextreme – keinen Ab-
ohne inhaltliche Verbindung,               und strategische Unterschiede                                      bruch tat. Am 3. Februar 2009
machten sich auch in Berlin Spal-          zwischen aktivistischem Radau-                                     kam es zum Eklat, als Hennrich
tungstendenzen bemerkbar. Um               Rechtsextremismus à la Hennrich                                    von Hähnel zu ihrer Loyalität
den damaligen stellvertretenden            und einer ebenso sich neonazis-              Manuela Tönhardt      gegenüber Henry befragt wurde.
                                                                                        ist Vorsitzende der
Landesvorsitzenden und Vorsit-             tisch gerierenden bürgernahen                   NPD- Fraktion in
                                                                                                              Nachdem sie erklärte, dass sie
zenden des Kreisverbandes (KV)             Linie um Hähnel und Manuela                   der Lichtenberger    „Henry politisch und menschlich
                                                                                             BVV sowie des
Tempelhof-Schöneberg/Steglitz-             Tönhardt eine Rolle gespielt               Lichtenberger NPD-
                                                                                                              sehr schätze und auch in Zukunft
Zehlendorf, Hans-Joachim Henry,            haben.                                           Kreisverbandes    zu ihm stehen werde“2, wurde sie

1: http://de.altermedia.info/general/anti-kinderschander-demo-in-berlin-marzahn-181008_17908.html [07.02.2009]
2: http://de.altermedia.info/general/rucktrittserklarung-von-gesine-hennrich-landesvorsitzende-de-rings-nationaler-frauen-berlins-und-npd-kreisvors-
von-berlin-marzahn-hellersdorf-060209_22501.html [07.02.2009]
13

mit Fotografien konfrontiert, die                                       vember verboten, die Annähe-       September 2009 erreichte die
sie in lasziven Posen zeigten, und                                      rung an die DVU verlief letztlich  NPD in keinem Berliner Bezirk
zum Rücktritt von ihren Ämtern                                          im Sande. Gleichwohl scheint       die Fünf-Prozent-Marke. Zudem
in der NPD aufgefordert. Mit der                                        der Dissens der beiden Lager       wurde der alljährlich im Dezem-
folgenden Austrittswelle hatte                                          im Berliner Rechtsextremismus      ber stattfindende Aufmarsch
Hähnel aber nicht gerechnet: Der                                        nicht unüberbrückbar, bleiben      von „Freien Kräften“ und NPD
rechtsextremen Internetplatt-                                           personelle Verbindungen doch       2009 nach Königs Wusterhausen
form „de.altermedia.info“ zufolge                                       bestehen. Das Auftreten von        verlegt und verlor damit seine
hatte die Berliner NPD angeblich                                        „Frontbann 24“-Anhänger/innen      Mobilisierungskraft. Noch im
einen Mitgliederverlust von 20                                          bei der NPD-Veranstaltung in der   Vorjahr zog der Aufmarsch hun-
Prozent, also etwa 60 Personen,                                         Bundeszentrale am 1. Mai 2009      derte „Autonome Nationalisten“
hinzunehmen.3 Nicht zuletzt                                             ist daher kaum verwunderlich.      aus dem ganzen Bundesgebiet
kehrten einige aktive Kader der                                                                            an. Die Berliner Sektion der
Partei den Rücken und for-                                                   Anhaltende Stagnation         „Jungen Nationaldemokraten“
mierten sich in Folge zur einzig                                                                           (JN), Jugendorganisation der
relevanten Opposition.                                                  Auch ist die NPD zwar ge-          NPD, war in der Öffentlichkeit
                                                                        schwächt, doch blieb eine Erosi- nicht wahrnehmbar. Zwar kann
             Neue                                                       on im Landesverband aus. Zwar von internen Schulungen aus-
     Organisationsversuche                                              verlor die Partei einflussreiche   gegangen werden, ein eigen-
                                                                        Akteure, doch konnte ein völliges ständiges öffentliches Agieren
So machte der „Frontbann 24“                                            Auseinanderbrechen verhindert blieb jedoch weitgehend aus.
Schlagzeilen, weil sich seine                                           werden. Einerseits konnte ein Teil Auch der kurzfristig organisierte
Mitglieder recht unverhoh-                                              der innerparteilichen Opposition Aufmarsch in Berlin-Mitte am
len zum Nationalsozialismus                                             ruhig gestellt werden, anderer-    10. Oktober 2009, der hunderte
bekannten und uniformähnli-                                             seits kehrten etliche Mitglieder   Rechtsextreme aus dem ganzen
che Kleidungsstücke zur Schau                       Beispielsweise
                                                                        eines der größten Kreisverbän-     Bundesgebiet anzog, wurde von
stellten. Seit Anfang 2009 traten            formierte sich beim        de (KV Marzahn-Hellersdorf )       der Berliner JN lediglich unter-
                                                   „Trauermarsch“
sie auf rechtsextremen Veran-                       in Dresden am
                                                                        der NPD den Rücken, während        stützt.6 Offizieller Ausrichter war
staltungen auf und wurden mit                    14. Februar 2009       ein Großteil der Kritiker/innen    „NW-Berlin“, wenngleich hier
                                                 sowie bei einem
ihrer „aktionistische[n] Straßen-                     Aufmarsch in
                                                                        Hähnels in der Partei verblieb.    personelle Überschneidungen
politik“4 zur ersten „relevante[n]                   Rathenow am        Letztlich ist der Grad für Hähnels zu den JN offensichtlich sind,
                                                     18. April je ein
rechtextremistische[n] Kamerad-                      eigener Block
                                                                        Wirken als Landesvorsitzender      und die „Freien Kräfte Königs
schaft“5 seit Verbot der Kame-                     mit „Frontbann       an den öffentlichkeitswirksamen Wusterhausen“. Auch die NPD-
                                              24“-Sympathisant/
radschaften „Berliner Alternative               innen. Mitglieder
                                                                        Aktivitäten unter seiner Regie, an Unterorganisation RNF konnte
Süd-Ost“ und „Kameradschaft                      der Gruppierung        Erfolgen und Raumgewinnen, zu den Verlust Hennrichs kaum
                                                        nahmen im
Tor“.                                            Jahresverlauf an
                                                                        messen. Und hier fällt die Bilanz ausgleichen. Gerade Hennrich
   Auch das Internet nutzen                       rechtsextremen        für die NPD ernüchternd aus: Die hatte als RNF-Funktionärin die
                                                 Aufmärschen im
die „Abtrünnigen“ für sich. Die                Bundesgebiet teil.
                                                                        Partei war in der Öffentlichkeit   bei Rechtsextremen zentrale
Homepage „ex-k3-berlin.de“                         Der „Frontbann       kaum wahrnehmbar. So konn-         „Kinderschänder“-Thematik
                                                  24“ mobilisierte
ist Forum und Tummelplatz für                     eigenständig zu
                                                                        te die bereits 2007 anvisierte     bedient und einige junge Frauen
all jene, die mit dem Kurs der                einer Kundgebung          „Veranstaltungsoffensive“ auch     um sich sammeln können. Mit
                                                unter dem Motto
hiesigen NPD unzufrieden sind                „Härtere Strafen für       im letzten Jahr nicht umge-        Hennrichs Weggang ebbte auch
und so werden Interna der Partei                Kinderschänder!“        setzt werden. Das änderte sich     der Aktionismus des RNF, der
                                                       am 27. März
freimütig „ausgeplaudert“. Eine                        2009 und zu      angesichts notorisch klammer       sich seither wieder auf die inter-
bleibende Heimstatt fanden die                      einer weiteren      Finanzen der Bundespartei          ne Strukturarbeit besinnt, ab.
                                              Kundgebung am 5.
„Renegaten“ indes nicht: Der                  September 2009 in         ebenso wenig im Bundestags-
„Frontbann 24“ wurde im No-                   Berlin-Lichtenberg.       wahlkampf. Bei den Wahlen im

3: Vgl. http://de.altermedia.info/general/nach-fnb-grundung-im-vogtland-170209_23225.html/print/ [19.02.2009]
4: Jentsch, Ulli: Frontbann 24 verboten. NS-NostalgikerInnen tanzen nur ein Jahr. In: monitor. Rundbrief des apabiz e.v., Nr. 43, Dezember 2009, S. 3
5: http://www.berlin.de/sen/inneres/verfassungsschutz/aktuell/am_frontbann_25.06.2009.html [10.07.2009]
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          Rechsextreme                                             Provokationen. Aufmerksamkeit               Landesvorstand an.
         Kommunalpolitik                                           erregte so ein NPD-Schreiben                   Die Berliner NPD hat ein
                                                                   an Berliner Kommunal- und                   turbulentes Jahr hinter sich. Der
Die Aktivitäten der NPD be-                                        Landespolitiker/innen mit Migra-            Streit hinderte die Partei, ihre
schränkten sich im Jahr 2009                                       tionshintergrund, in dem diesen             kontinuierliche Aufbauarbeit
bis auf wenige Ausnahmen auf                                       nahe gelegt wurde, Deutsch-                 fortzusetzen. Mit dem neuen
                                                  Am 27. Januar
ihre Präsenz in den Bezirksver-                2009 mobilisierte   land zu verlassen.9 Zwar konnte             Vorsitzenden soll nun Ruhe
ordnetenversammlungen. Hier                       die NPD in der   sich die NPD unter Hähnel als               einkehren. Um das bisherige
                                                   Stadtmitte zu
konnten die NPD-Verordneten                  einer Kundgebung      wichtiger Akteur des Rechtsex-              Ergebnis bei den Wahlen im
nur vereinzelt Skandale insze-                      gegen einen    tremismus in Berlin behaupten,              Jahr 2011 – die NPD wähnt sich
                                                 vermeintlichen
nieren. Zwar präsentiert sich in            „Holocaust in Gaza“.   doch vermochte sie es kaum,                 bereits „auf dem Weg ins Berliner
der BVV Lichtenberg eine agile                Außerdem fanden      ihre Mandate in den Bezirksver-             Abgeordnetenhaus“10 – aber aus-
                                                   zwei Hoffeste
und provokatorisch auftreten-                        in der NPD-   ordnetenversammlungen für                   bauen zu können, ist ein wenig
de NPD-Fraktion und auch die                  Bundeszentrale in    außerparlamentarische Aktivitä-             mehr nötig.
                                                 Köpenick statt.
Fraktion in Treptow-Köpenick mit                                   ten zu nutzen und veranstaltete                       Er war zuletzt stellvertretender
dem Bundesvorsitzenden Udo                                         lediglich vereinzelte Informati-                     bayerischer Landesvorsitzender
                                                                                                                     seiner Partei und bekleidete zuvor
Voigt vermag es, sich stetig in                                    onsstände.                                         Ämter bei den „Jungen National-
Szene zu setzen, doch sind die                                                                                         demokraten“ und der Partei „Die
                                                                                                                 Republikaner“. Publizistisch tätig war er
kommunalpolitischen Aktivitä-                                           Neuer Landesvorstand                             bereits als Redaktionsmitglied
ten insgesamt im Vergleich zu                                                                                               der national-revolutionären
                                                                                                                                  Zeitschrift „wir selbst“.
den Vorjahren rapide gesunken.7                                    Mit Uwe Meenen ist nun ein
Zuletzt trat der Neuköllner NPD-                                   erfahrener Aktivist an die                  Das Projekt „Auseinanderset-
Verordnete Thomas Vierk aus                                        Spitze der Berliner NPD gehievt             zung mit Rechtsextremismus in
der Partei aus und auch Eckart                                     worden. Da Meenen, wie seine                kommunalen Gremien Berlins
Bräuniger legte sein Mandat                                        Vorgänger Bräuniger und Hähnel              – Dokumentation und Analyse“
                                                                                                               (VdK e.V.) dokumentiert syste-
in der BVV Treptow-Köpenick                                        als radikaler Vertreter der NPD             matisch die Aktivitäten der
nieder. Bleiben Motive für die                                     gilt, ist ein Kurswechsel unwahr-           Rechtsextremen in den kommu-
Austritte mehr oder minder ver-                                    scheinlich. Die weiteren Mitglie-           nalen Gremien, analysiert deren
borgen, verdeutlichen sie doch,                                    der des neuen Landesvorstandes              Vorgehensweisen und beschreibt
dass die Konflikte in der Partei                                   deuten auf den Versuch hin ver-             die Handlungsweisen der de-
                                                                                                               mokratischen Verordneten. Eine
weiter virulent sind. Nicht zuletzt                                schiedene Kräfte innerhalb der              inhaltliche Auseinandersetzung
vermochte es die rechtsextreme                                     Partei zu repräsentieren. Stellver-         mit der menschenverachtenden
Partei bisher nicht, ihrem Ziel,                                   treter Meenens sind Bräuniger,              und antidemokratischen Pro-
sich im kommunalpolitischen                                        der zuletzt durch seine Abrech-             grammatik der NPD ist ebenso
Raum zu verankern, näher                                           nung mit dem NPD-Bundesvor-                 wie eine konsequente Abgren-
                                                                                                               zung von deren Vertreter/innen
zu kommen. Kontinuierliche                                         sitzenden Udo Voigt für Furore              Voraussetzung dafür, dass die
kommunalpolitische Aushand-                                        sorgte, Dietmar Tönhardt, ehe-              NPD mit ihrer „Normalisierungs-
lungsprozesse liegen der NPD                                       maliger Berliner Vorsitzender der           strategie“ mittel- und langfristig
nicht. Sie verfolgt nicht den                                      DVU, sowie Sebastian Schmidtke,             erfolglos bleibt. Ziel des Projektes
Anspruch, sich ins „Hamsterrad                                     der es versteht, die „Freien Kräfte         ist es zu einer kontinuierlichen
                                                                                                               Entwicklung von Präventions-
der Ausschussarbeit“8 zu bege-                                     Berlin“ um sich zu scharen und              und Interventionsmöglichkeiten
ben, und baut stattdessen auf                                      so an die Partei zu binden. Auch            im Umgang mit Rechtsextremis-
medienwirksame Skandale und                                        Hähnel gehört weiterhin dem                 mus beizutragen

6: Vgl. antifaschistisches pressearchiv und bildungszentrum berlin e.v. (Hrsg.): Neonazi-Demo in Berlin-Mitte „gegen linke Gewalt“. Ein Dossier über den
Nazi-Aufmarsch am 10. Oktober 2009. http://www.apabiz.de/publikation/publikation/Linke%20Gewalt.pdf [07.03.2010]
7: Vgl. Henßler, Vera/Lang, Juliane/Müller, Yves/Wörsching, Mathias: „In der BVV kann der Kampf gegen Rechtsextremismus nicht gewonnen werden,
muss dort aber dennoch geführt werden.“ herausgegeben vom Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. Berlin 2009. S. 16ff.
8: So der sächsische Landtagsabgeordnete und NPD-Vordenker Jürgen W. Gansel. Zitiert nach Staud, Toralf: Moderne Nazis. Die neuen Rechten und der
Aufstieg der NPD. Bonn 2006. S. 127.
9: Vgl. Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (Hrsg.): Rundschreiben: NPD provoziert Politiker/innen mit Migrationshintergrund, 23.09.2009,
http://mbr-berlin.de/Verein/Rechtsextremismus_in_den_BVVen/Rundschreiben/660.html [07.03.2010]
10: „Die Alternative für Berlin“, Verlautbarung vom 30. Januar 2010, http://npd-berlin.de/?p=65 [17.03.2010]
15

„Und die Zeit ist nun
vorbei, wo wir uns alles
gefallen lassen. Wenn
wir es so haben wol-
len, dann kann es ganz
schnell vom nationalen
Widerstand zum natio-
nalen Angriff werden!“
 Sebastian Schmidtke
(NPD - Berlin) am
10. Oktober 2009,
Alexanderplatz

                                    Die Berliner rechtsextreme Szene:

                      Gewalttätige
                           Aktionen
                                und
                        inhaltliche
                          Schwäche
                           Mit dem Lokal „Zum Henker“ in Schöneweide schuf sich die
                           rechtsextreme Szene Berlins 2009 einen ihrer wichtigsten
                           Treff- und Anlaufpunkte. Für den Erhalt dieser Infrastruktur
                           gelingt es ihr, ihre Anhänger/innen spektrenübergreifend zu
                           mobilisieren und Geschlossenheit zu demonstrieren. Daraus
                           resultiert eine erhöhte Bedrohung für Personen und Projekte,
                           die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen.
                           Von Anne Benzing, Annika Eckel, Bianca Klose,
                           Matthias Müller (MBR)
16

     T
              rotz oder gerade wegen             man in Berlin von der NPD mitt-
              des Repressionsdrucks              lerweile ein eher bürgernahes
              auf das Kameradschafts-            Auftreten und von „Autonomen
     spektrum sowie der Krise und                Nationalisten“ einen jugendkul-
     Personalschwäche der Berliner               turellen Stil gewohnt ist. Her-
     NPD machte die rechtsextreme                vorgegangen war der „Front-
     Szene im vergangenen Jahr                   bann 24“ aus unzufriedenen
     mit Angriffen auf linke Projekte            Mitgliedern der NPD, genauer
     und Einrichtungen sowie mit                 gesagt aus den Kreisverbänden
     der Bedrohung engagierter                   Treptow-Köpenick und Marzahn-
     Antifaschist/innen auf sich                 Hellersdorf, die nach personellen
     aufmerksam. Durch Aktionismus,              Streitigkeiten und interner Kritik
     insbesondere durch direkte                  am damaligen Landesvorsitzen-
     gewalttätige Aktionen gegen                 den Jörg Hähnel aus der Partei
     politische Gegner/innen und                 ausgetreten waren.1 Im Gegen-
     deren Einrichtungen vor allem in            satz zum NPD-Landesverband,
     Neukölln und Kreuzberg, gelang              der im vergangenen Jahr kaum
     es einer geschwächten Szene mit             in der Öffentlichkeit mit Ak-
     relativ wenig Aufwand öffent-               tionen oder Veranstaltungen
     lichkeitswirksam und spektakulär            in Erscheinung trat, gelang es
     in Erscheinung zu treten. Die               dem „Frontbann 24“, sowohl mit
     Radikalisierung und der Aktionis-           eigenen Aktionen als auch im
     mus der Rechtsextremen haben                Rahmen von rechtsextremen
     vor allem für engagierte Berliner/          Aufmärschen oder Festen, wie
     innen und alternative Projekte zu           etwa am 1. Mai in Köpenick,
     einer neuen Qualität unmittelba-            präsent zu sein. Es machte den
     rer Bedrohung geführt. Zudem                Eindruck, als sei ein Teil der
     eröffnete mit der Kneipe „Zum               rechtsextremen Szene Berlins
     Henker“ in Schöneweide im ver-              des bürgernahen Auftretens der
     gangenen Jahr der mittlerweile              NPD überdrüssig und wolle ver-
     wichtigste Treff- und Anlauf-               stärkt wieder den konfrontativen
     punkt der Berliner rechtsextre-             „Kampf um die Straße“ forcie-
     men Szene.                                  ren. Offenbar gelang es dem
        Im Februar 2009 traten                   „Frontbann 24“ eine Leerstelle
     erstmals Berliner Aktivist/innen            zwischen NPD und „Autonomen
     des kameradschaftsähnlichen                 Nationalisten“ zu füllen.
     Zusammenhangs „Frontbann 24“
     auf dem rechtsextremen „Trauer-
     marsch“ in Dresden öffentlich in
     Erscheinung. Ihr uniformiertes,
     martialisches Auftreten sowie
     ihre unverhohlene Bezugnahme
     auf den Nationalsozialismus
     waren insofern überraschend, als

     1: Vgl. Yves Müller: Unfähig und überfordet? – Die Berliner NPD möchte ihre Krise
     überwinden, in diesem Heft.
17

 Der Henker: „Wir sind eine                                            Funktion des „Henkers“ für       wickeln können. Sie bieten Raum
Kneipe und kein Parteibüro!“2                                           die rechtsextreme Szene         für Kontakt und Austausch unter
                                                                                                        Gleichgesinnten, sodass sich
Zwar blieb die langjährige                                           Der „Henker“ dient der rechtsext- rechtsextreme Orientierungen
Forderung der Rechtextremen                                          remen Szene als Versammlungs- oder Teilidentifikationen in einer
nach einem „nationalen Jugend-                                       ort, als Ort des Informationsaus- Art „Freiraum“ zu eindeutigen
zentrum“ auch 2009 erfolglos,                                        tausches sowie als Freizeit- und   politischen Identitäten festigen
mit der Eröffnung des Lokals                                         Erlebniswelt. Rechtsextreme        und radikalisieren können.
„Zum Henker“ Ende Februar im                                         Erlebniswelten bieten Jugendli-    Doch solche Orte bedienen nicht
Treptow-Köpenicker Stadtteil                                         chen und (jungen) Erwachsenen nur auf unterschiedlichste Art
Schöneweide gab es fortan                                            Aktivitäten mit Eventcharakter     und Weise das Bedürfnis nach
jedoch einen „nationalen Frei-                                       und ein gemeinsames Lebens-        einem rechten Lebensgefühl,
raum“ jenseits von Parteipolitik.                                    gefühl in einem rechtsextremen sie sichern zugleich auch den
Der Betreiber ist der bekannte                                       Kontext. Die im „Henker“ statt-    personellen, materiellen und
englische Rechtsextremist Paul                                       findenden Aktivitäten haben        finanziellen Fortbestand der
Stuart B.. Er wurde 2003 wegen                                       – auch dann, wenn es sich nur      rechtsextremen Szene.5
der Verbreitung verfassungswid-                                      um das Zusammensitzen bei
                                                  Auf einer von
riger Kennzeichen, Bedrohung,                ihm betriebenen         einem Glas Bier handelt – einen
Beleidigung sowie wegen des               Website („SS88.de“)        wichtigen Anteil an der Entste-
                                             veröffentlichte er
Verstoßes gegen das Waffenge-            Bilder zweier Staats-       hung eines Gemeinschafts- und
setz zu sieben Monaten Haft auf             schützer. Darüber        Zugehörigkeitsgefühls sowie
                                           prangten eine Ma-
Bewährung verurteilt.                     schinenpistole und         einen identitätsstiftenden Effekt
   Im „Henker“ finden seit der             der Satz “Die Kugel       auf die rechtsextreme Szene.
                                                ist für dich”. Bei
Eröffnung eine Vielzahl von                der Durchsuchung             Generell spielen solche auf
Treffen der rechtsextremen Sze-               seiner Wohnung         Dauer angelegten Treff- und
                                             beschlagnahmte
ne Berlins statt. Mitglieder des                  die Polizei ein    Anlaufpunkte für die Schaffung
mittlerweile verbotenen „Front-           Handbuch zum Bau           rechtsextremer Erlebniswelten
                                            von Bomben und
bann 24”3 gehören dabei ebenso                Schlagringe. Vor       eine wesentliche Rolle. Kneipen,
zu den Stammgästen in der                      Gericht verzich-      Tattoostudios, Büro-, Seminar-                       So bezeichnete Uwe
                                               tete der damals                                                              Dreisch, führendes
Brückenstraße 14 wie „Autonome           33-Jährige auf einen        und Bandproberäume, Geschäf-                             Mitglied des ver-
                                            Anwalt, beschrieb                                                               botenen kamerad-
Nationalisten“, Aktivist/innen ver-      die leicht verzerrten
                                                                     te und Imbisse sind wichtige                             schaftsähnlichen
botener Kameradschaften sowie                Hakenkreuze auf         Bestandteile rechtsextremer                         Zusammenschlusses
                                            seiner Website als                                                                  „Frontbann 24“,
NPD- Funktionär/innen.4                      „Kunstwerk“ und
                                                                     Strukturen und (Sub-)Kultur. Im                         die rechtsextreme
                                               gestand „Ich bin      Gegensatz zu temporären, oft                           Szenekneipe „Zum
                                              rechts orientiert.                                                           Henker“ in Schöne-
                                          Was ich getan habe
                                                                     jahreszeitlich gebundenen Treff-                        weide gegenüber
                                          war gerechtfertigt“.       punkten wie etwa Parks oder                                der RBB Abend-
                                              Vgl. dazu: Tages-                                                             schau (28.07.2009)
                                         spiegel (12.06.2002),
                                                                     öffentliche Plätze bieten sie eine                    als „enorm wichtig“,
                                               Berliner Zeitung      dauerhafte Basis. Rechtsextreme                           weil man dort in
                                             (13.06.2002) und                                                              der „nationalen Be-
                                                    Morgenpost
                                                                     Erlebniswelten und rechtsextre-                        wegung […] unter
                                                   (13.06.2002).     me Infrastruktur schaffen so ein                         sich“ sein könne.
                                                                     soziokulturelles Milieu, in dem
                                                                     Jugendliche und junge Erwach-
                                                                     sene rechtsextrem(-orientiert)e
                                                                     Lebensstile und Identitäten ent-

2: Einladung zur „Soli Feier im Henker“ auf http://www.henker-berlin.de, abgerufen am 27.08.2009.
3: Am 5.11.2009 wurde der „Frontbann 24“ durch den Berliner Innensenator auf Grund seiner „Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“ in
„Vorstellungswelt und Gesamtstil“ verboten.
4: Vgl.: Kleine Anfrage „Rechtsextreme Aktivitäten im „Zum Henker““ im Abgeordnetenhaus Berlin DS 16/14272 vom 17.03.2010.
5: Vgl.: Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin: Ladenschluss jetzt! Kommunale Handlungsstrategien im Umgang mit rechtsextremer
Infrastruktur, Berlin 2009
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             Auswirkungen auf                 das Bedrohungspotenzial für               deshalb gar nicht oder nur mit
              den Sozialraum                  potenzielle Opfer rechtsextremer          Vorsicht und Angst betreten wer-
                                              oder rassistischer Gewalt. Oft            den. Für die Entstehung eines
     Kneipen und andere Treffpunkte           wohnen wichtige Aktivist/innen            Angstraumes genügen mitunter
     Rechtsextremer sind Ausgangs-            der Szene in der Nähe oder zie-           ein einzelnes Gewalterlebnis
     punkte und zugleich Ausdruck             hen hinzu; Nachbarschaften und            oder auch nur ein Bedrohungs-
     einer schleichenden Besetzung            Kieze werden dann tagtäglich              gefühl und deren Kommunikati-
     des öffentlichen Raums. Anders           als „szeneeigenes Territorium“            on an andere potenzielle Opfer.
     als bei Aufmärschen oder Akti-           beansprucht.                              Eine solche Entwicklung lässt
     onen wird der öffentliche Raum              Die Vereinnahmung des                  sich auch in der Umgebung der
     nicht nur anlassbezogen besetzt,         öffentlichen Raumes im Umfeld             Kneipe „Zum Henker“ beobach-
     vielmehr sind solche Treffpunk-          rechtsextremer Infrastruktur              ten.
     te ein wesentlicher Beitrag zur          kann letztlich zur Entstehung so          Für die Zunahme rechtsextremer
     Verankerung rechtsextrem(-               genannter Angsträume6 führen.             Aktivitäten im Sozialraum spre-
     orientiert)er Alltagskultur im           Angsträume sind Orte, an denen            chen auch die Zahlen. Das Re-
     Sozialraum. Der entsprechende            potenzielle Opfer von Rechts-             gister in Treptow-Köpenick, das
     Publikumsverkehr erhöht sich             extremen Angst vor Bedrohung              Vorfälle mit einem rechtsextre-
     in dieser Gegend und mit ihm             oder Gewalt haben müssen und              men, rassistischen oder antisemi-

     6: Vgl. Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin: Angsträume in Berlin. Lokale Handlungskonzepte im Umgang mit
     rechtsextremen Erscheinungen im öffentlichen Raum, Berlin 2006.
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