BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...

Die Seite wird erstellt Carlotta Reichel
 
WEITER LESEN
BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...
BETRIEBSPRAXIS &
    ARBEITSFORSCHUNG
    Zeitschrift für angewandte Arbeitswissenschaft               AUSGABE 228 | NOVEMBER 2016

                   ws:
        Intervie      ang,
            tthias M
    Wolf Ma              ,
               METALL
      H ESSEN        k to  r
               -Dire
      und ifaa        r ber
                         ü
             towasse
    Sascha S     nft 4.0
        die Zuku

Dokumentiert: Zukunftskongress »Arbeit 4.0 – Chance für den Standort?«
Erfolgsmodell: lebensphasenorientierte Arbeitszeitinstrumente bei BMW
Chancen: Mobiles Arbeiten für Betriebe und Beschäftigte
Leistungskultur: das STEP-Vergütungssystem bei der Hengst SE & Co. KG
Durchblick: neuer Katalog für Industrie 4.0-Lösungen
Qualifizierung: was KMU für die Kompetenzentwicklung un- und angelernter Mitarbeiter tun
Wissensmanagement: wie Betriebe hier strategisch vorgehen
ifaa-Projekte: STÄRKE – Wege zu mehr Resilienz; Prävention 4.0
BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...
Inhalt
Editorial                                                                                    03

Interviews
Industrie 4.0: Das Gehirn unserer Unternehmen muss in Deutschland bleiben!
Wolf Matthias Mang, Vorsitzender von HESSENMETALL                                            04
Wir müssen digital innovativer werden. ifaa-Direktor Professor Sascha Stowasser              07

Aktuelles
Dokumentiert: der Zukunftskongress »Arbeit 4.0 – Chance für den Standort?« Eine gemeinsame
Veranstaltung von HESSENMETALL und IG Metall. Podien, Workshops, Fallbeispiele               10
Digitale Arbeitswelt: Erwartungen und Befürchtungen; BAT Freizeitmonitor 2016: Erholung und
soziale Kontakte werden seltener; ifaa ist Partner im BMBF-Verbundprojekt TransWork;
DAK-Studie 1: mehr Krankschreibungen im 1. Halbjahr 2016; DAK-Studie 2: Deutlich weniger
»Burnout«-Fehltage; AOK-Expertise: schlechtes Betriebsklima produziert Fehltage.             19
Idee² – mit Reizfragen analytisch und strukturiert zu innovativen Ideen kommen               20
Digitalisierung & Industrie 4.0 – das ifaa-Fachkolloquium 2016                               22

Arbeitszeit und Vergütung
BMW Group: Lebensphasenorientierte Arbeitszeitinstrumente als
personalwirtschaftlicherErfolgsfaktor                                                        25
Mobiles Arbeiten                                                                             29
Erfolgreiches Anforderungs-, Leistungs- und Vergütungsmanagement
bei der Hengst SE & Co. KG in Münster                                                        32

Unternehmensexzellenz
Katalog zur zielgerichteten Auswahl von Industrie 4.0-Lösungen                               38
Kompetenzentwicklung bei Un- und Angelernten in nicht-forschungsintensiven KMU —
Status quo und Zukunft einer strategischen Notwendigkeit                                     41

Arbeits- und Leistungsfähigkeit
Risikobasiertes Denken am Beispiel des betrieblichen Wissensmanagements                      51
Wie resilient sind Unternehmen und Beschäftigte der Teilnehmer im Projekt STÄRKE?            54
Gesunde und produktive Führung im 4.0-Unternehmen:
erste Ergebnisse aus dem BMBF-Projekt Prävention 4.0                                         55

Kurzweiliges                                                                                 58

Glossar
Resilienz                                                                                    59

Medien
Führen in Teilzeit: Voraussetzungen, Herausforderungen und Praxisbeispiele                   60

Veranstaltungen                                                                              61

Titel und Inhalte früherer Ausgaben/Impressum                                                62

Titelbild: Produktion bei BMW. Mehr zu den Arbeitszeitmodellen dort ab Seite 25.
BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...
EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

bislang hat sich die Diskussion um Industrie 4.0 hauptsächlich
um deren technologische Treiber bewegt. Wir wissen aber aus
der vorangegangenen dritten industriellen Umwälzung rund
um das Computer-integrated Manufacturing, CIM, dass dies
allein nicht ausreicht. Die arbeitspolitische Diskussion ent-
scheidet wesentlich über den erfolgreichen Einsatz und die
Akzeptanz neuer Technologien mit. HESSENMETALL und IG
Metall haben in Frankfurt bei einem Kongress über Arbeit 4.0
gesprochen. Es ist ein wichtiges Signal, dass die Sozialpartner
darüber in den Dialog treten. Gemeinsam werden sie Leitplan-
ken für den beiderseits gewinnbringenden Einsatz der vierten      zurückholen — und auch neue Möglichkeiten, um beispiels-
industriellen Technologiegeneration entwickeln — und das ist      weise Kind und Karriere in Einklang zu bringen.
gut so: Denn ein nicht ausreichend geführter Dialog im Zuge              Bereits jetzt praktizieren viele Unternehmen sehr weit-
der Einführung von CIM hatte in den 80er- und 90-Jahren           gehende Formen von Arbeitszeitflexibilität. Interessante Kon-
einige erfolgversprechende Ansätze scheitern lassen. Es ist       zepte dafür gibt es beispielsweise bei der BMW Group. Lesen
wichtig, dass beide Seiten die Chance 4.0 aktiv annehmen und      Sie dazu mehr im Aufsatz von Jürgen Lipp, Katharina
nutzen wollen. Es geht darum, eine digitale Kultur in die Un-     Quandt-Schubert und Michael Schwarz.
ternehmen zu tragen. Lesen Sie dazu mehr in einem Interview              Ein gerade im Zuge von 4.0 sehr wichtiges Thema ist
mit dem Unternehmer und Vorsitzenden des Verbandes                die Kompetenzentwicklung von Mitarbeitern. In nicht for-
HESSENMETALL, Wolf Matthias Mang. Zudem präsentiert               schungsintensiven KMU, die weite Bereiche unserer Wirt-
Ihnen diese Ausgabe der Betriebspraxis & Arbeitsforschung         schaft prägen, findet häufig keine professionalisierte, nach-
eine ausführliche Dokumentation dieses Kongresses.                haltige und strategische Kompetenzentwicklung statt, so die
       Digitalisierung und Industrie 4.0 haben uns auch bei       Autoren Jörg Abel, Julian Decius, Sandra Güth und Niclas
unserem jüngsten Fachkolloquium bewegt. Live haben wir            Schaper. Ihre Bestandsaufnahme und Handlungsempfeh­
hier einen berührungssensitiven Roboter der Firma Kuka er-        lungen lesen Sie in der Rubrik Unternehmensexzellenz.
lebt. Er repräsentiert eine neue Generation intelligenter                Im demografischen Wandel ist das Wissensmanage-
Maschinen, die in der Produktion künftig zunehmend mit            ment eine immer wichtigere Aufgabe. Unternehmen, die es
Menschen interagieren werden. Wir beleuchten in dieser            nicht systematisch betreiben, verlieren mit altersbedingten
Ausgabe weitere Facetten der digitalen Zukunft.                   Abgängen möglicherweise essenzielles Know-how. Ein Auf-
       In der Rubrik Unternehmensexzellenz beschäftigen sich      satz von Mikko Börkircher, METALL NRW, und Laura Geiger
Jochen Deuse und andere mit einem Katalog zur zielgerich-         informiert darüber, wie Betriebe diese Herausforderung
teten Auswahl von Industrie 4.0-Lösungen. Im Rahmen ihres         systematisch bewältigen.
Projektes entwickeln sie eine Webplattform, auf die Unter-               Dieser Beitrag sowie auch eine Abhandlung über die
nehmen zugreifen können, um sich Überblick in einem Markt         erfolgreiche Implementierung einer neuen Gehaltsstruktur
bestehender Industrie 4.0-Lösungen zu verschaffen, der nach       dokumentieren einmal mehr, warum wir das Wort »ange-
Auffassung der Autoren »heterogen« und »intransparent« ist.       wandt« im Institutsnamen tragen. Wir arbeiten nicht im
       Unsere Mitarbeiterin Martina C. Frost stellt das BMBF-     Elfenbeinturm, sondern nah bei und vielfach auch vor Ort in
Projekt Prävention 4.0 vor, an dem das ifaa mitwirkt. Es geht     den Betrieben. Unser Einsatz dient der optimalen Produkti­
um gesunde und produktive Führung in 4.0-Unternehmen.             vität in einem menschengerechten Arbeitsumfeld. Das gilt
Vieles bewegt sich, viele Fragen — zum Beispiel auch bei der      auch an der Schwelle zur vierten industriellen Umwälzung,
Flexibilisierung von Arbeitszeiten — sind noch offen. Auch die    die wir gerade erleben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen
Arbeitswissenschaft ist hier gefordert zu klären, wie betrieb­    ein erfolgreiches Restjahr, eine besinnliche Weihnachtszeit
liche Notwendigkeiten der digitalen Zukunft mit den Bedürf-       und ein erfolgreiches 2017!
nissen der Beschäftigten in Einklang zu bringen sind. Neben
Risiken sind aber auch die Chancen zu betonen: deutlich           Herzlichst Ihr
mehr Produktivität, das kann Produktion nach Deutschland          Sascha Stowasser

                                                                                     ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016   3
BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...
»Das Gehirn unserer Unternehmen
                                     muss in Deutschland bleiben!«
                                     Betriebspraxis & Arbeitsforschung sprach mit dem Vorsitzenden des
                                     Arbeitgeberverbandes HESSENMETALL, Wolf Matthias Mang, über
                                     die Herausforderung Industrie 4.0. Die Fragen stellte Carsten Seim.

                                     Wolf Matthias Mang ist Geschäftsführer der          Tagesgeschäft. Dass wir diesen Kongress außer-
                                     Arno Arnold GmbH und Vorsitzender des Auf-          halb einer Tarifrunde ins Leben gerufen haben,
                                     sichtsrates der OECHSLER AG. Ehrenamtlich ist er    ist für mich schon ein Wert an sich. Wir haben
                                     Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes HESSEN-       viel Arbeit vor uns: Es geht um den Weg von
                                     METALL. In diesem Interview mit dem Magazin         »Industrie 4.0«, einer industriellen Revolution
                                     Betriebspraxis & Arbeitsforschung fordert er,       von Technologie und Märkten gleichermaßen,
                                     dass deutsche Unternehmen auf dem Weg zur           hin zur Arbeit 4.0. Wie müssen sich Arbeit, Ar-
                                     Industrie 4.0 »wieder revolutionär« werden müs-     beitsbeziehungen, Tätigkeiten und Kompeten-
                                     sen. Die deutsche Industrie dürfe das digitale      zen und Mentalitäten verändern?
                                     Gehirn ihrer neuen vernetzten Speedfactories
                                     nicht amerikanischen Software-Schmieden             Und wie ist Ihre Bilanz dieser Veranstaltung?
    OECHSLER AG                      überlassen. Dies sieht er als Grundvoraussetzung
                                     dafür, dass deutsche Unternehmen in ihrem           Das war ein gelungenes Experiment: Wir reden
    1864 gegründet, unterhält        Wirkungskreis die industrielle Führung behaup-      miteinander mit Respekt — und das ist gut so.
    der OECHSLER-Konzern heute
    zwei Standorte in Ansbach
                                     ten können. »Bosch, Continental, Daimler, Sie-      Und davon gehen die richtigen Signale aus. In
    und Weißenburg. Internatio-      mens, Opel und die mittelständischen Industrie-     unsere Industrie: sich zu rüsten für gewaltige
    nal ist das Unternehmen in       unternehmen wissen, dass wir die Steuerung          Veränderungen. In die Politik: den Weg frei zu
    China (Taicang), Rumänien        unserer Produktion und das Managen unserer          machen für Erneuerung. In die Belegschaften:
    (Lipova), Mexiko (Querétaro)
    und Singapur vertreten.
                                     Kundenbeziehung niemals aus der Hand geben          Wir packen diese Veränderungen gemeinsam
    Als Systemlieferant auf dem      dürfen«, erklärte der Unternehmer. »Wenn die        an. Und in die Tarifpolitik: Wir werden über für
    Gebiet der Kunststoff verar-     deutschen M+E-Unternehmen an der Spitze der         beide Seiten angemessene Veränderungen bei
    beitenden Industrie entwi-       Bewegung bleiben wollen, müssen wir als Welt-       der Arbeitszeit reden müssen.
    ckelt, montiert und liefert
    OECHSLER ganze Baugruppen
                                     meister im B2B-Geschäft auch die Bedürfnisse
    für die Automobil- , Kommu-      der Konsumenten im Blick haben, um für unsere       Sie haben auf dem Kongress mehrfach be-
    nikations- und Medizinindus-     Kunden im Endverbrauchergeschäft die richtigen      tont, dass der Wandel disruptiv vonstatten
    trie sowie für die Industrie-    Fabriken bauen und betreiben zu können. Eine        geht und dass — übertragen ausgedrückt —
    technik. Weltweit arbeiten
                                     riesige Chance für die mittelständische Zuliefer-   das Silicon Valley uns auch in unseren an-
    heute rund 2300 Mitarbeiter
    für OECHSLER.                    industrie, sich vom Maschinenbauer der Welt         gestammten Industrien wie zum Beispiel
                                     zum Fabrikbetreiber weltweit zu entwickeln.«        der Fahrzeugbranche den Rang streitig
                                                                                         machen will.
    Arno Arnold GmbH                 Herr Mang, Sie haben im September in
                                     Frankfurt gemeinsam mit der IG Metall               Wir erleben erstmalig, dass vollkommen neue
    Vor anderthalb Jahrhunderten
    als Hersteller von Bandoneons
                                     einen Zukunftskongress zum Thema Arbeit             Marktteilnehmer als Konkurrenten in prägenden
    gegründet, ist das in Oberts-    4.0 veranstaltet. Warum?                            Branchen auftreten, in denen wir stark sind
    hausen ansässige Familien­                                                           oder uns fühlen. Wir können darauf nicht mit
    unternehmen heute ein wich-      Weil an der Digitalisierung keiner vorbeikommt.     den alten Rezepten reagieren, wenn wir die
    tiger Systemlieferant für
                                     Gemeinsam mit unseren Sozialpartnern wollen         Wertschöpfung und damit auch unsere Arbeits-
    Schutzabdeckungen aller Art.
    »Überall in der industriellen    wir uns gegen Zukunfts- und Veränderungs-           plätze sowie den gewohnten Wohlstand in
    Fertigung, in deren Bearbei-     ängste wenden. Dazu zählen zum Beispiel             Deutschland halten wollen. Extrem kapitalstarke
    tungsprozessen bewegliche        Ängste davor, dass die neuen vernetzten Ma-         Mega-Konzerne wollen im Zuge der vierten in-
    Maschinenteile geschützt
                                     schinen uns die Arbeit nehmen. Ich sage: In-        dustriellen Revolution hierzulande das Gehirn
    werden müssen, findet man
    Schutzeinrichtungen aus          dustrie 4.0 wird es ohne Arbeitskräfte genauso      der erfolgreichen Produkte der drei vorange-
    Obertshausen«, so das Fach-      wenig geben wie die Toskana ohne Hügel. Wir         gangenen industriellen Umwälzungen überneh-
    blatt Konstruktionspraxis.       — die Arbeitgeber und die Gewerkschaften —          men — und damit die Herrschaft über unsere
    Aktuell beschäftigt die Arno     müssen füreinander Verständnis gewinnen.            Industrien und den Großteil ihrer Wertschöp-
    Arnold GmbH 100 Mitarbeiter.
                                     Veränderungen gehören für beide Seiten zum          fung. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben ein

4    ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...
INTERVIEWS | INDUSTRIE 4.0

vitales gemeinsames Interesse daran, es nicht so
weit kommen zu lassen, dass man uns von au-
ßen ein digitales Schaltzentrum einpflanzt. Wir
Produzenten wären dann nur noch fremdge-
steuerte Erfüllungshilfen, verkoppelt mit Big
Data-Superhirnen und eingebettet in eine stan-
dardisierte Dienstleistung, wie wir sie von den
großen Internetkonzernen gewohnt sind. Das
müssen wir verhindern und die Steuerung sowie
den damit verbundenen wesentlichen Teil der
Wertschöpfung im Land behalten.

Was würde passieren, wenn das von Ihnen
beschriebene Negativ-Szenario einträfe?

Wir würden weiterhin Autos produzieren ... dür-
fen. Doch die Steuerung würden die neuen In-
ternetunternehmen übernehmen, weil das Auto
ja auch eine mobile Internetadresse ist. Heute
sind wir auf dem globalen Markt durch unsere        reich sein. Und nur dann kann die leistungsstar-          Dipl.-Kfm. Wolf Matthias
Motorenkompetenz die führende Autonation.           ke deutsche Gesellschaft eine soziale bleiben.            Mang, Vorsitzender
Doch auch diese Stärke relativiert sich vor dem     Deshalb sitzen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-             von HESSENMETALL.
                                                                                                              Foto: HESSENMETALL
Hintergrund der aufkommenden Elektromobili-         seite hier in einem Boot.
tät. Technologieführer wird künftig sein, wer die
Batteriekompetenz hat. Auch das Gehirn unse-        Was raten Sie unseren Unternehmen?
rer Fabriken und Kraftwerke dürfen wir nicht
Dritten überlassen! Die Steuerung muss in           Ihr größter Fehler wäre es, sich in Nischen zu-
Deutschland und eben auch in Hessen bleiben.        rückzuziehen. Sie müssen über ihre Stärken im
Es geht um nichts weniger als um die Frage, ob      B2B- und Prozess-Bereich hinaus auch die sich
wir als ingenieurgetriebene Exportweltmeister       immer rapider wandelnden Bedürfnisse der
im industriellen Business to Business auch in       Kunden am Markt verstehen und sich ihrer an-
der Ära 4.0 Spitze bleiben, oder ob wir im Wett-    nehmen. Die Speed Factory der Oechsler AG,
bewerb mit amerikanischen Business-to-Consu-        deren Best Practice bei unserem Frankfurter
mer-Konzernen das Nachsehen haben werden.           Kongress 4.0 vorgestellt wurde, ist ein Beispiel
                                                    dafür (Seite 14). Deutsche Maschinenbauer
Was muss geschehen?                                 schaffen technologieführende Lösungen, mit
                                                    denen der Kunde, Adidas, individuelles Schuh-
Wir müssen unsere Produkte intelligenter ma-        werk nach Kundenwunsch in einer bisher nicht              Links
chen, diese Intelligenz aber über die gesamte       möglichen Geschwindigkeit herstellen und lie-
Wertschöpfungskette unserer einmaligen Vor-         fern kann. Wer Marktbedürfnisse beobachtet, ist           Kongress Arbeit 4.0 im Netz —
                                                                                                              eine Chance für den Standort?
leistung- und Fertigungsverbünde einbinden.         schneller als andere mit Lösungen dafür prä-
Wenn das gelingt, kann Deutschland seinen           sent. Generell gilt: Wir müssen Digitalisierung
entscheidenden strukturellen Wettbewerbsvor-        zur Chefsache machen und unsere Belegschaf-
teil weiter nutzen: die engmaschige, sehr de-       ten auf diesem Weg mitnehmen. Familienunter-
zentrale Zusammenarbeit zwischen OEMs und           nehmern wie mir und meiner Frau, die wir die
mittelständischen Zulieferfirmen. Stark sind wir    Arno Arnold GmbH in fünfter Generation füh-
seit 100 Jahren im Prozess-Know-how. Die            ren, ist dabei klar, dass wir selbst Revolutionäre        Auf den Seiten von
Amerikaner haben in einem Jahrzehnt eine            sein müssen, um unser Familienerbe und die                HESSENMETALL
                                                                                                              http://bit.ly/2e78dyP
weltweite Dominanz bei Big Data aufgebaut.          damit verbundenen Arbeitsplätze zu bewahren.
Sie denken nicht in Optimierungskategorien von
fünf bis zehn Prozent. Sie wollen in kurzer Zeit    Wo sehen Sie Chancen und wo Risiken von
Optimierungen um den Faktor 10. Das sind die        Industrie 4.0?
Kategorien, mit denen wir uns auseinanderzu-
setzen haben. Nur wenn wir uns der Herausfor-       Als Unternehmer gehe ich als Optimist an dieses
derung 4.0 selbst mit einer revolutionären Ein-     Thema heran: Die neue vernetzte Wirtschaft und            Auf den Seiten des
stellung stellen, werden wir in einem mit harten    das Zusammenwirken von Mensch und Maschi-                 IG Metall-Bezirks Mitte
                                                                                                              http://bit.ly/2dc5lDV
Bandagen ausgetragenen Wettbewerb erfolg-           ne bringen neue Chancen. Wir haben — siehe

                                                                                      ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016     5
BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...
INTERVIEWS | INDUSTRIE 4.0

    Studie Fachkräfte für             Speed Factory und Sportschuhproduktion — so-         sche Ausbildungen müssen noch stärker als bis-
    die Industrie 4.0                 gar die Chance, Produktion nach Deutschland          her und auch untereinander durchlässiger sein.
                                      zurückzuholen, die zuvor zum Beispiel nach Asi-
    Mit Unterstützung von
    HESSENMETALL veröffentliche       en abgewandert war. Digitalisierung — evolutio-      Beim Kongress waren sich alle Beteiligten
    die Vereinigung der hessi-        näre wie bei kollaborativen Robotern oder revo-      darin einig, dass Deutschland auf dem Weg
    schen Unternehmerverbände         lutionäre wie bei den Expertensystemen der           zu 4.0 mehr in Bildung und Ausbildung
    im Frühjahr 2016 eine Studie      Künstlichen Intelligenz — kann die Produktion        investieren muss. Wo im Besonderen?
    unter dem Titel »Fachkräfte
    für die Industrie 4.0«. Zitate:
                                      auch am Hochlohnstandort Deutschland güns-
    »Die Entwicklung zur Indust-
                                      tiger machen, sodass die Nähe zum heimischen         Ein Defizit-Beispiel dafür ist die Ausstattung
    rie 4.0 verändert auch die        Markt als Wettbewerbsfaktor wieder zum ent-          vieler unserer Berufsschulen. Manch Auszubil-
    Sicht auf den prognostizier-      scheidenden Vorteil werden kann. Industrie 4.0       dender, der aus einem modernen Unternehmen
    ten Fachkräftemangel als          kann uns aber auch Arbeitsplatzverluste brin-        kommt, hat hier den Eindruck, in ein Museum
    Folge der demografischen
                                      gen. Ich glaube, dass nicht nur Geringqualifi-       zu wechseln. Diese Botschaft hat bei unserem
    Entwicklung. Möglicherweise
    kompensiert die Digitalisie-      zierte, sondern auch höher Qualifizierte betrof-     Kongress auf direktem Wege einen prominenten
    rung diesen Effekt ganz oder      fen sein können. Aber auch hier kann 4.0 neue        Adressaten erreicht: den hessischen Wirt-
    teilweise, da immer mehr          Chancen bringen — zum Beispiel Assistenzsys-         schaftsminister Tarek Al-Wazir.
    Prozessschritte automatisiert
                                      teme, die alternden Belegschaften schwere Ar-
    werden. Damit könnten in der
    Industrie mehr Arbeitsplätze      beiten abnehmen können. Grundsätzlich funk-          Und wo sehen Sie Differenzen, bei denen
    entfallen, als neue entstehen.«   tioniert Digitalisierung nicht mit menschen­         die Sozialpartner noch dicke Bretter zu
    »Die Schnelligkeit der tech-      leeren Fabriken. Smart Factories werden erst         bohren haben?
    nologischen Entwicklung           durch die Zusammenarbeit von Menschen und
    führt dazu, dass die in Zu-       Robotern »intelligent«.                              Digitalisierung und Vernetzung bringen neue
    kunft benötigten Qualifika­
    tionen zurzeit noch nicht
                                                                                           Möglichkeiten der räumlichen und zeitlichen
    vorhanden sind. Alle Perso-       Welche Qualifikation braucht jemand, der in          Flexibilität von Arbeit. Das sieht man auf Arbeit-
    nen, die ihre Ausbildung be-      der Ära 4.0 seinen Job behalten und Karriere         nehmerseite grundsätzlich durchaus positiv.
    reits abgeschlossen haben         machen will?                                         Allerdings gibt es hier Interessenlagen, über die
    und im Beruf stehen, wurden
    während ihrer Erstausbildung
                                                                                           wir zu verhandeln haben. Während Arbeitneh-
    nicht oder nur teilweise auf      Teamfähigkeit der Menschen untereinander,            mer dadurch bessere Möglichkeiten gewinnen,
    die digitalisierte Arbeitswelt    aber auch mit den neuen intelligenten Robo-          ihre Work-Life-Balance zu optimieren und Fami-
    der Zukunft vorbereitet.«         tern, die künftig verstärkt Seite an Seite mit       lie und Karriere besser miteinander zu verbinden,
    »Jugendliche und Erwachsene       Menschen arbeiten werden. Überlegen werden           stehen die Unternehmen unter Druck, ihre Ar-
    müssen auf die technologi-
                                      Menschen den Robotern auch in Zukunft vor            beitszeiten an immer rascher wechselnde Auf-
    schen Veränderungen, die
    unter dem Stichwort Industrie     allem durch ihre soziale Kompetenz sein. Denn        tragslagen anzupassen. Diese können in einem
    4.0 zusammengefasst sind,         künstlich intelligente Maschinen werden in Ein-      Korridor von plus bis minus 20 Prozent ausschla-
    vorbereitet werden. Lern- und     zeldisziplinen mehr leisten können als Men-          gen, was für die Kapazitätsplanung extreme Her-
    Kommunikationsfähigkeit, die
                                      schen, und sie tun dies heute teilweise bereits.     ausforderungen in sich birgt. Zudem bringt in-
    Bewältigung von Komplexität,
    die Integration von Neuem         Die Bedeutung von Sozialkompetenz schätzen           ternationale und interkontinentale Vernetzung
    und Eigenverantwortung            übrigens auch unsere Mitgliedsunternehmen            auch Zeitverschiebungen mit sich, sodass unter
    stehen im Mittelpunkt.«           sehr hoch ein: Wir brauchen mehr Optimierer,         Umständen auch zu ungewöhnlichen Zeiten ge-
    »Ein zukunftsfähiges Modell       mehr Prozessintegratoren, mehr Vernetzte,            arbeitet werden muss. Wir wünschen uns als Ar-
    beruflicher Ausbildung muss       mehr Neugierige. Damit wandelt sich die Defi-        beitgeber Öffnungsklauseln im Arbeitszeitgesetz,
    die dysfunktionale Trennung
    zwischen dualen beruflichen
                                      nition von Fachkraft, die immer gut ausgebildet      die betriebliche Vereinbarungen über zeitlich
    Ausbildungswegen und voll-        sein muss, vom reinen Experten, vom reinen           flexibleres Arbeiten ermöglichen. Wenn zum Bei-
    schulisch-akademischen            Technologiespezialisten, Ingenieur oder Kauf-        spiel zu nächtlicher Stunde in Deutschland noch
    Bildungsgängen aufheben.«         mann zur sozialkompetenten Fachkraft. Team-          ein Anruf erforderlich ist, damit die Arbeit in
                                      und Sozialkompetenz ist auch eine wichtige           einem anderen Teil der Welt weitergehen kann,
                                      Schlüsselqualifikation, die hilft, an den rasanten   so darf dies nicht an einem Ruhezeitgebot von
    Fachkräfte für die Industrie      Veränderungen dranzubleiben. Expertise von           elf Stunden scheitern. Das wird den Realitäten
    4.0 — Für eine Neuorientie-
    rung im Bildungssystem
                                      heute kann in zehn Jahren vollkommen veraltet        einer digitalen Ökonomie nicht mehr gerecht!
                                      sein, wenn sie nicht im Teamkontakt sowie in         Wir werden darüber reden — und bisher hat sich
                                      Netzwerken ständig upgedatet wird. Niemand           zwischen uns Tarifpartnern noch immer eine
                                      kann heute sagen, wie bestimmte Berufsbilder         Lösung gefunden.
                                      in zehn Jahren aussehen werden. Ob duale oder
                                      akademische Ausbildung: Fit für das Zeitalter
                                      4.0 werden diejenigen sein, die praktische und
    Download Studie der VHU
                                      theoretische Inhalte gelernt haben und mitein-
    http://bit.ly/25A1wus
                                      ander verbinden können. Duale und akademi-

6    ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...
INTERVIEWS | INDUSTRIE 4.0

»Wir müssen digital innovativer werden«
Betriebspraxis & Arbeitsforschung sprach mit dem ifaa-Direktor
Professor Sascha Stowasser über den Weg zur Industrie 4.0.

ifaa-Direktor Professor Sascha Stowasser for-
dert, dass Deutschland die Chancen der Indus­
trie 4.0 aktiv annimmt. Vor diesem Hintergrund
begrüßte Stowasser, dass die Sozialpartner in
den Dialog darüber eintreten, wie sie den Weg
in die digitale Zukunft gemeinsam gestalten
wollen. Als »wichtige Wegmarken« sieht der
Wissenschaftler den zurückliegenden gemein­
samen Kongress vom HESSENMETALL und IG
Metall in Frankfurt (Seiten 10 bis 17), aber auch
die Gemeinsame Erklärung von NRW Metall und
IG Metall in Nordrhein-Westfalen. Die Fragen an
Stowasser, der auch als außerordentlicher Pro-
fessor am Karlsruhe Institute of Technology, KIT,
arbeitet, stellte Carsten Seim.

Herr Professor Stowasser, sie fordern hier-
zulande mehr Tempo auf dem Weg in die
digitale Zukunft. Warum?
                                                    Was brauchen wir dafür?                                  ifaa-Fachkolloquium
Wir müssen insgesamt digital innovativer wer-                                                                2016: ifaa-Direktor
den, weil unsere Industrie es mit potenziellen      Zuallererst eine möglichst breite gesellschaft-          Professor Stowasser mit
Konkurrenten wie Amazon, Google und Apple           liche Akzeptanz der neuen Technologien. Diese            einem berührungssensi­
                                                                                                             tiven Roboter, der direkt
zu tun hat. Um eine Vorstellung von der Dimen-      sind geeignet, die Produktivität unserer Indus-
                                                                                                             mit Menschen zusam-
sion zu haben, der wir gegenüberstehen: Diese       trie bis zum Jahr 2025 um bis zu 30 Prozent              menarbeiten kann.
Mega-Unternehmen haben im B2C-Segment               steigen zu lassen. Hierin liegen auch unter              Foto: Carsten Seim
die Datenhoheit und eine Kapitalstärke, mit der     Wohlstandsaspekten große Chancen für
sie das Gros der Autounternehmen in Italien         Deutschland. Das deutlich zu machen, ist eine
und Frankreich aufkaufen könnten. Die deut-         wichtige Dialogaufgabe, der sich beispiels­
sche M+E-Industrie ist einer solchen Gefahr         weise HESSENMETALL und die IG Metall mit
nicht unbedingt ausgesetzt. Aber auch sie steht     ihrem gemeinsamen Kongress in Frankfurt
unter großem Veränderungsdruck. Sie muss sich       aktiv gestellt haben. Auch die gemeinsame
neuen Technologien im Herstellungsprozess und       Erklärung von METALL NRW und IG Metall ist
auch bei den Produkten stellen. In der Produkti-    ein Beleg dafür.
on sind zum Beispiel 3D-Drucker eine Heraus-
forderung; diese trifft die Zerspanungsindustrie    Was muss diskutiert werden?
ebenso wie das Produkt »Auto« selbst. In den
USA gibt es ein Start-Up, das ein Auto komplett     Mehr Flexibilität ist aus arbeits- und be-
mit dem 3D-Drucker bauen will. Ich bin über-        triebsorganisatorischer Sicht eine zentrale Vor-
zeugt, dass neue Mitbewerber es schwer haben        aussetzung für Wettbewerbsfähigkeit in der
werden, Fahrzeuge nach den hohen deutschen          Industrie 4.0. Wir haben es mit immer indivi-
Standards herzustellen, weil der Erfahrungs-        duelleren Kundenbedürfnissen zu tun — die
horizont bei uns sehr groß ist. Auf der anderen     Massenfertigung von einst weicht immer klei-
Seite ist ein Auto mit Elektromotor sehr viel       neren Tranchen bis herunter zur Losgröße 1.
einfacher zu beherrschen als eine Verbren-          Dabei wird es zugleich weniger kalkulierbar,
nungsmaschine. In Deutschland müssen wir            wann und in welchen Dimensionen die Unter-
also daran arbeiten, neue Differenzierungsmerk-     nehmen Aufträge erreichen werden. Wer in
male zu entwickeln, um auch in Zukunft im           diesem Markt mitspielen will, muss betriebli-
Wettbewerb erfolgreich zu sein.                     che Flexibilität in den Vordergrund stellen. Das

                                                                                     ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016   7
BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...
INTERVIEWS | INDUSTRIE 4.0

                                     bringt auch neue Chancen für die Beschäftig-        Ampelschaltungen im Sinne einer grünen
                                     ten. Die digitale Vernetzung ermöglicht es in       Welle den Verkehr in Städten lenken. Zuneh-
                                     vielen Fällen, völlig ortsunabhängig zu arbei-      mend entstehen an Kreuzungen heute Kreis-
                                     ten. Das kann sich positiv aufs Familienleben       verkehre. Die Autofahrer steuern den Verkehr
                                     auswirken: zum Beispiel gemeinsam zu Abend          damit selbst dezentral nach zuvor vereinbar-
                                     essen, die Kinder ins Bett bringen und danach       ten Regeln. So wird es in Zukunft auch in
                                     noch eine Stunde Mails bearbeiten. Wer sich         Netzwerken künstlicher und menschlicher
                                     dann aber beispielsweise zwischen 20 und 21         Intelligenz sein.
    Arbeitszeitflexibilität:
                                     Uhr noch einmal an den Rechner setzt, dürfte               Wir können ins Ausland abgewanderte
    Welche Pausen
                                     nach dem Arbeitszeitgesetz, dessen Wurzeln          Produktion und damit verbundene Wertschöp-
    notwendig sind,
                                     ins 19. Jahrhundert zurückreichen, eigentlich       fung zurückgewinnen: Nach langen Jahren des
    muss arbeitswissen-
                                     erst nach einer elfstündigen Ruhepause, also        Offshorings von Produktion können wir ein
    schaftlich noch
                                     anderntags um 10 Uhr, am Arbeitsplatz er-           Reshoring erleben, weil Marktnähe und schnelle
    erforscht werden.
                                     scheinen. Das hält der neuen Realität nicht         Lieferfähigkeit immer individuellerer Industrie-
    Professor Dr.-Ing.               Stand. Welche Pausen notwendig sind, muss           produkte an Bedeutung gewinnen. Dieses
    Sascha Stowasser, ifaa           arbeitswissenschaftlich sicher noch erforscht       Reshoring infolge einer neuen Technologie hat
                                     werden. Das hängt auch von den Branchen ab.         in der Tat etwas Revolutionäres. Eine Chance
                                     Wir brauchen auf jeden Fall neuere flexiblere       von Industrie 4.0 ist, dass die Produktionspla-
                                     Lösungen. Das geht ganz sicher nur, wenn bei-       nung mit Einsatz dezentraler I4.0-Technologien
                                     de Seiten konstruktiv miteinander reden und         an Komplexität verliert.
                                     Leitplanken entwickeln. Alle Beteiligten müs-
                                     sen mit ins Boot genommen werden. Dabei             Wir haben über mächtige potenzielle Kon-
                                     muss aber auch klar sein, dass es neben vielen      kurrenten in den USA gesprochen. Doch was
                                     Chancen auf dem Weg in die Industrie 4.0            bringt unsere Industrie denn auf die Waag-
                                     nicht nur Gewinner geben wird. Ich glaube an        schale und wie können wir das für die
                                     die Lösungskompetenz der Sozialpartner. Diese       digitale Zukunft nutzen?
                                     haben sie in Zeiten des Umbruchs immer wie-
                                     der unter Beweis gestellt.                          In der analogen Wirtschaft haben wir über viele
                                                                                         Unternehmer-Generationen hinweg bereits sehr
                                     Was muss technisch geschehen?                       prozessstabile und hochproduktive betriebliche
                                                                                         Strukturen entwickelt. Es geht nun darum, diese
                                     Essenziell ist, dass wir in Deutschland und Euro-   in die digitale Vernetzung hineinzubringen. Wir
                                     pa eigene digitale Standards und Normen defi-       brauchen dazu intelligente Lösungen. Damit
                                     nieren. Wer diese setzt, hat einen entscheiden-     meine ich: nicht um jeden Preis digitalisieren,
                                     den Vorsprung bei der Software und der Vernet-      sondern genau dort, wo wir die größten Pro-
                                     zung. Was die Standardsetzung angeht, erleben       duktivitätsfortschritte erzielen können. Darüber
                                     wir derzeit einen Dreikampf zwischen Asien,         hinaus müssen unsere Unternehmen neue Ge-
                                     Europa und Nordamerika. Wer Gewinner dieser         schäftsmodelle für das Zeitalter der Digitalisie-
                                     Auseinandersetzung ist, weil er die klügste und     rung entwickeln — zum Beispiel nachhaltige
                                     gebrauchstauglichste Lösung anbieten kann,          Mobilität komplett als kundenindividuelle
                                     der wird in punkto Gehirn die Standards für die     Dienstleistung verkaufen. Ein augenfälliges Bei-
                                     nächsten Jahre setzen. Wir können darauf auf-       spiel dafür, wie Banken durch ein cleveres digi-
                                     bauen, dass wir gerade in betriebsinformato­        tales Geschäftsmodell im wahrsten Sinne des
                                     rischen Lösungen stark sind — dafür stehen bei-     Wortes alt ausgesehen haben, ist der Bezahl-
                                     spielsweise Namen wie SAP, Bosch und Siemens.       dienst Paypal. Es geht auf dem Weg in die In-
                                     Aufholen müssen wir bei der Vernetzungsfähig-       dustrie 4.0 eben auch darum, Kundenwünsche
                                     keit. Hier und auch bei der künstlichen Intelli-    auf Basis der neuen digitalen Realisierungs-
                                     genz sind die Amerikaner stark.                     möglichkeiten vorauszudenken und zu bedie-
                                                                                         nen, bevor es andere tun. Das Beispiel Paypal
                                     Wie wird Industrie 4.0 die Prozesse                 zeigt, dass die Revolution nicht nur in den Fa­
                                     verändern?                                          briken stattfindet — zum Beispiel durch Roboter
                                                                                         Seite an Seite mit dem Menschen — sondern im
                                     Produktion wird in vernetzten kleineren Ein-        gesamten Markt.
                                     heiten stattfinden, die selbststeuernd on De-
                                     mand arbeiten. Ein Beispiel aus dem Straßen-        Was müssen Beschäftigte mitbringen, um in
                                     verkehr veranschaulicht die Veränderung:            der Industrie 4.0 erfolgreich bestehen zu
                                     Früher wollte man mit zentral gesteuerten           können?

8    ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...
INTERVIEWS | INDUSTRIE 4.0

Es liegt auf der Hand, dass IT-Kenntnisse in                         bestehende Zahl der Arbeitsangebote für Ge-
Theorie und Anwendung erforderlich sein wer-                         ringqualifizierte gehalten werden kann. Einen
den. Wir brauchen in der digitalisierten Arbeits-                    Zuwachs werden wir hier aber nicht erleben.
welt auch weiterhin Prozesskenntnisse. Darüber
hinaus werden Selbstorganisation und Selbst-                         Welche Herausforderungen bringt Industrie
lernkompetenz wesentlich wichtiger. Neue An-                         4.0 für das Bildungssystem?
forderungen werden immer schneller auf die
Arbeitnehmer zukommen. Wir werden nicht                              Zu Recht wurde auf dem Frankfurter Kongress
                                                                                                                                                                           In der digitalisierten
erwarten können, dass die Arbeitgeber zu al-                         von HESSENMETALL und IG Metall die vielfach
                                                                                                                                                                           Arbeitswelt werden
lem, was neu auf uns zukommt, formelle Schu-                         veraltete Ausstattung unserer Berufsschulen
                                                                                                                                                                           Selbstorganisation
lungen und Kurse anbieten kann. Hier ist es                          beklagt. Über das Technische hinaus müssen
                                                                                                                                                                           und Selbstlernkompe-
wichtig, dass jeder selbst die Augen und Ohren                       auch unsere Berufsschullehrer aus meiner Sicht
                                                                                                                                                                           tenz immer wichtiger.
offenhält und sich das via Internet leichter                         dringend fortgebildet werden. Generell haben
denn je verfügbare Wissen selbst aneignet.                           wir eine große Bildungsanstrengung 4.0 vor                                                            Professor Dr.-Ing.
Dazu braucht es auch eine Medienkompetenz                            uns, die bereits im frühkindlichen Alter anset-                                                       Sascha Stowasser, ifaa
— das heißt: zu wissen, wo man etwas findet.                         zen muss. Es geht hier beispielsweise um Medi-
Es wird möglicherweise auch neue Formen der                          enkompetenz und — in Zeiten größer Flexibili-
Zusammenarbeit von Schwarm-vernetzten Be-                            tät — auch um Fragen des Selbstmanagements.
schäftigten geben: Diese kommen möglicher-                           Auch Internetsucht ist ein Thema, dem wir
weise nur wenige Male im Jahr zusammen, um                           begegnen müssen.
Prozesse zu entwickeln, die anschließend auto-
matisiert ablaufen. Wenn wir in Deutschland
                                                                     Statement von Professor Sascha Stowasser zur Industrie 4.0:
Leitanbieter der Industrie 4.0 sein und bleiben
                                                                     https://www.arbeitswissenschaft.net/arbeitsfelder/industrie-40/
wollen, müssen wir offen sein — auch für neue
Arbeitsformen, ohne den bewährten Boden zu
verlassen, auf dem wir stehen. Es kann sein,
dass auch im Zeitalter der Smart Factories die

                                                                                Leistungsentgelt     Produktionssysteme
                                                                      Prozessorganisation alternsgerechte Arbeitszeiten
                                                                                          betriebliches Gesundheitsmanagement
  Trendbarometer                                                          Fachkräftesicherung    Industrie 4.0
  Arbeitswelt                                                         gesetzlicher Arbeits- und Gesundheitsschutz

  Teilen Sie uns mit, welche Bedeutung die Themen aus Arbeits­
  wissenschaft und Betriebsorganisation nach Ihrer Einschätzung
                                                         Wie schätzen Sie die Bedeutung der folgenden Themen in den Unternehmen ein?

  aktuell in den Unternehmen haben.                                                                     Aktuelle Bedeutung
                                                                                                                            Erwartete Bedeutung
                                                                                                                                  in 2017
                                                                                                                                                eher niedrig

                                                                                            Thema
  Die Befragung wird seit 2009 zweimal im Jahr unter Experten aus
                                                                                                                                                               eher hoch
                                                                                                                                      niedrig

                                                                                                                                                                             hoch

  Wirtschaft, Wissenschaft und Arbeitgeberverbänden durchgeführt.
                                                           1. ArbeitsgestAltung
                                                                                                                                                                                           

  Die aktuellen Auswertungen finden Sie in unserer Zeitschriftgesetzlicher Arbeits- und Gesundheitsschutz

  »Betriebspraxis & Arbeitsforschung« und auf unserer Internetseite.
                                                              ergonomische Arbeitsgestaltung
                                                              arbeitsbezogene psychische Belastung
                                                                                            Arbeitszufriedenheit

  Anmerkung zur Teilnahme:                                                                2. Arbeits- und betriebszeitgestAltung
                                                                                                                                                                                          Herbst-
                                                                                            Arbeitszeitflexibilität
  Das Ausfüllen des Fragebogens dauert nur ca. 2 Min. Die von Ihnen                         alternsgerechte Arbeitszeiten                                                            erhebung – jetzt
  gegebenen Informationen werden vollständig anonym behandelt                               lebenssituationsabhängige Arbeitszeiten

  und Sie sind in keiner Präsentation oder Publikation dieser Forschung                   3. Vergütungssysteme
                                                                                                                                                                                    online teilnehmen:
  persönlich identifizierbar. Es ist unmöglich, einen Zusammenhang                          Leistungsentgelt                                                                          www.arbeits-
  zwischen Ihnen und Ihren Daten herzustellen.                                              Leistungsbeurteilung                                                                     wissenschaft.net
                                                                                            erfolgsabhängige Vergütung
                                                                                          4. ProduktionsmAnAgement
                                                                                            Produktionssysteme
                                                                                            Prozessorganisation
  www.arbeitswissenschaft.net                                                               kontinuierlicher Verbesserungsprozess
                                                                                            Einsatz von Werkverträgen

  ifaa — Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e. V.                                5. Querschnittsthemen

                                                                                                                       ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
                                                                                         betriebliches Gesundheitsmanagement
                                                                                                                                                                                                         9
  Uerdinger Straße 56 | 40474 Düsseldorf | Telefon: +49 211 54 22 63-0 | Telefax: +49 211Führungsmanagement
                                                                                           54 22 63-37 | E-Mail: info@ifaa-mail.de | www.arbeitswissenschaft.net
                                                                                            Industrie 4.0
                                                                                            Fachkräftesicherung
BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG - ifaa - Institut für ...
Dokumentiert: Zukunftskongress
                                      »Arbeit 4.0 – Chance für den Standort?«

                                      Wie können sich Tarifpartner und Politik opti-      stand Stefan Körzell, Jörg Köhlinger, Bezirks­
                                      mal auf den digitalen Wandel einstellen und so      leiter IG Metall Bezirk Mitte, Gesamtmetall-
                                      die Chancen der Industrie 4.0 aktiv nutzen?         Hauptgeschäftsführer Oliver Zander und
                                      Welche Herausforderungen sind bei den Ar-           HESSENMETALL-Hauptgeschäftsführer Volker
                                      beitsbeziehungen und den betrieblichen Abläu-       Fasbender über die Zukunft 4.0.
                                      fen zu meistern? Darum ging es am 27. Sep-                 Betriebspraxis & Arbeitsforschung dokumen-
                                      tember in Frankfurt bei einem gemeinsamen           tiert wichtige Aussagen, Diskussionen (Seiten 16
                                      Zukunftskongress des Arbeitgeberverbandes           bis 17). Fakten und Standpunkte des Kongresses.
                                      HESSENMETALL und der IG Metall. Anliegen
                                      dieser Veranstaltung war es, Gemeinsamkeiten
     Carsten Seim                     auf dem Weg in die Digitalisierung auszuloten,      Die Eröffnungsrunde
     avaris | konzept                 aber auch offen über unterschiedliche Positio-
     (Dokumentation)                  nen zu sprechen. Der Vorsitzende von HESSEN-        Unter der Moderation von Thomas Kreutzmann,
                                      METALL, Wolf Matthias Mang, und die Zweite          Studioleiter des Hessischen Rundfunks im Hes-
                                      Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner,       sischen Landtag, diskutierten Wolf Matthias
                                      eröffneten den Kongress mit einem Gespräch          Mang, Vorsitzender von HESSENMETALL, und
                                      über Aus- und Weiterbildung, Mitbestimmung,         Christiane Benner, Zweite Vorsitzende der IG
                                      die neue digitale Mobilität, Veränderungsängs-      Metall, über die Zukunftsperspektiven, Heraus-
                                      te und die Zukunft des Industriestandortes in       forderungen und Rahmenbedingungen in der
                                      der Ära 4.0.                                        Ära 4.0. Beide waren sich einig darin, dass Ar-
                                            Es folgten Praxisbeispiele aus Betrieben,     beitgeber- und Arbeitnehmerseite nur zusam-
                                      die bereits 4.0-Technologien einsetzen. Das rund    men erfolgreich in die digitale Zukunft gehen
                                      200-köpfige Fachpublikum aus Unternehmer-           können. »Wenn es uns gelingt, gemeinsam ei-
                                      schaft und Betriebsräten gewann dabei Ein­          nen vernünftigen Rahmen zu schaffen, dann ist
                                      blicke in die betriebliche Realität von Continen-   mir vor der Zukunft nicht bange. Wir können
                                      tal Automotive, eine Speed Factory der Oechsler     das Fundament so legen, dass wir wissen, wo
                                      AG, die Smart Factory von Limtronik sowie von       wir ankommen werden, wenn wir uns weiter so
                                      Bosch Rexroth in Erbach (Seiten 14 bis 15).         anstrengen«, so Mang. »Wir tragen gemeinsam
                                      Nachmittags diskutierten Teilnehmer in Work-        Verantwortung dafür, wie wir die Transformati-
     Wolf Matthias Mang (links),      shops mit Fachleuten von HESSENMETALL, der          on in Industrie und Dienstleistung so gestalten,
     mit Thomas Kreutzmann            IG Metall und dem ifaa über Fragen rund um 4.0.     dass daraus ein Gewinnerthema wird und dass
     und Christiane Benner                  In der Finalrunde diskutierten Hessens        wir alle Beschäftigten mitnehmen in die neue
     auf dem Podium                   Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, DGB-Vor-        digitale Zeit«, erklärte Christiane Benner.
                                                                                                Die Gewerkschafterin wandte sich auch
                                                                                          gegen die pessimistische Titelschlagzeile des
                                                                                          Nachrichtenmagazins Spiegel, das im Septem-
                                                                                          ber unter Verweis auf zunehmenden Roboter-
                                                                                          einsatz die Schlagzeile »Sie sind alle entlassen«
                                                                                          gedruckt hatte. Benner: »Dieses Magazin hat
                                                                                          bereits 1978 in Zusammenhang mit der Com-
                                                                                          puter-Revolution ähnliche Inhalte verbreitet:
                                                                                          Fortschritt mache arbeitslos. Wir alle wissen,
                                                                                          dass es nicht so gekommen ist.« Dies, so Ben-
                                                                                          ner, sei auch die Folge einer starken Mitbestim-
                                                                                          mung gewesen: »Unsere Industrie steht gut da.
                                                                                          Wir haben gute Voraussetzungen dafür, auch
                                                                                          diesen Wandel erfolgreich zu bestehen und die
                                                                                          Beschäftigung zu erhalten.«
                                                                                                 »Industrie 4.0 wird uns ohne Arbeitskräfte
                                                                                          nicht gelingen«, erklärte Wolf Matthias Mang

10    ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
AKTUELLES

für die Arbeitgeberseite. Er betonte den revolu-     Standpunkte über Veränderungsängste                        »Unsere Industrie
tionären Charakter des Veränderungsprozesses,                                                                   steht gut da. Wir ha-
der uns wie eine Naturgewalt trifft: »Wir sind       Christiane Benner: »Es kommt auf die gemein-               ben gute Vorausset-
mit exogenen Faktoren konfrontiert, die wir so       same Gestaltung an: Es geht darum, Ängste zu               zungen dafür, auch
noch nicht erlebt haben.« Er verwies auf den         nehmen, nach vorn zu schauen und positive                  diesen Wandel erfolg-
iTunes-Musicstore-Angriff auf die CD-Industrie       Leitbilder zu schaffen. Sonst bekomme ich ein              reich zu bestehen.«
und Web-Plattformen, die der angestammten            Klima der Angst, und dann bewegt sich nichts.
Hotellerie den Rang abgelaufen haben. »Die           An bestimmten Stellen werden wir auch die                  Christiane Benner,
deutsche Industrie darf sich auf dem Weg zu          Politik fordern. Arbeit 4.0 braucht auch                   IG Metall
4.0 den Wandel im Markt nicht in ähnlicher           einen Sozialstaat 4.0.
Weise aus der Hand nehmen lassen. Wir müssen                Wir wollen keine neuen Formen unsiche-
vielmehr an der Spitze der industriellen Revolu-     rer oder prekärer Arbeit, keine sogenannten
tion stehen«, forderte er. Der Verbandsvorsit­       Clickworker ohne jeden sozialen Schutz. Wir
zende favorisiert eine Ermöglichungsstrategie        brauchen hier gesetzliche und tarifvertragliche
mit behutsamen Regelungen, um den Anforde-           Regelungen, bevor das Kind in den Brunnen
rungen der digitalen Zukunft gerecht zu wer-         fällt. Das wird sich nicht von selbst am Markt
den, und forderte Öffnungsklauseln zum Bei-          regeln. Erst wenn Beschäftigte angstfrei arbei-
spiel beim Arbeitszeitgesetz.                        ten können, sind sie auch innovativ. Das kann
      »Industrie 4.0 trifft uns nicht wie eine Na-   sich jedes Unternehmen nur wünschen.«
turgewalt. Technik wird von Menschen gemacht
und ist gestaltbar«, erklärte Gewerkschafterin       Wolf Matthias Mang: »Wenn es darum geht,
                                                                                                                »Wir müssen erst ein-
Benner. Der Weg in die digitale Zukunft muss         Veränderungsängsten zu begegnen, dann sind
                                                                                                                mal verstehen, wie der
ihrer Auffassung nach auch tarifvertraglich und      wir auf einer Linie. Ich glaube aber, dass wir in
                                                                                                                Wandel aussieht und
gesetzgeberisch gestaltet werden. »Der Wandel        erster Linie die Marktchancen sehen und ergrei-
                                                                                                                welche Regelungen
zu 4.0 in der Industrie ist eher evolutionär als     fen müssen, dabei eine fördernde Infrastruktur-
                                                                                                                gebraucht werden,
revolutionär. Wir haben hier auf nationaler und      politik brauchen und nicht den Sozialstaat aus-
                                                                                                                bevor wir ihn mit Vor-
internationaler Ebene Regelungsbedarf in puncto      weiten dürfen. Wenn wir in Deutschland einen
                                                                                                                stellungen aus der
Monopolbildung, Datenschutz und informatio-          Bruchteil dessen, was der staatlich verordnete
                                                                                                                Vergangenheit mög­
neller Selbstbestimmung.«                            Ausstieg aus der Kernenergie gekostet hat, in die
                                                                                                                licherweise verbauen.«
                                                     Digitalisierung gesteckt hätten, wären wir heute
                                                     deutlich weiter. Wir unterscheiden uns nicht da­           Wolf Matthias Mang,
Standpunkte über die neue digitale                   rin, dass wir glauben, dass sich der Wandel in ei-         HESSENMETALL
Mobilität                                            nem Dreiklang aus betrieblicher, tarifvertraglicher
                                                     und gesetzlicher Ebene gestalten lässt. Wir mei-
Christiane Benner: »Die Digitalisierung ermög-       nen aber, dass wir erst einmal verstehen müssen,
licht neue mobile Arbeitsformen. Das kann eine       wie der Wandel aussieht und welche Regelungen
Chance für die Beschäftigten sein. Wir treten für    überhaupt gebraucht werden, bevor wir ihn mit
ein Recht auf mobiles Arbeiten ein, andererseits     Vorstellungen aus der Vergangenheit möglicher-
aber auch für ein Recht darauf, einmal abzu-         weise verbauen. Wir brauchen auch für Unter-
schalten. Hier sehe ich regulatorischen Bedarf.      nehmen, die international vernetzt produzieren,
Wir wollen auch das agile Arbeiten vorantreiben,     ganz andere Lösungen als für Unternehmen,
dürfen dabei aber den Arbeitnehmerschutz nicht       deren Herstellungsprozesse ausschließlich in
aus den Augen verlieren. Wenn wir in der digita-     Deutschland stattfinden. Dazu zählt die Arno
len Arbeitswelt keine Regeln haben, werden wir       Arnold GmbH, deren Geschäftsführer ich bin.
die sozialen Folgen tragen.«                         Wir brauchen unterschiedliche Regeln, die auf
                                                     die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der ein-
Wolf Matthias Mang: »Wir buchen vom Ses-             zelnen Betriebe maßgeschneidert eingehen.«
sel aus eine Reise im Internet und erwarten
zehn Minuten später die Bestätigung des Reise-
unternehmens. Diese Beschleunigung erfasst           Standpunkte über Mitbestimmung
die gesamte Wirtschaft. Und wir werden nicht         im Veränderungsprozess
erfolgreich sein, wenn wir glauben, all das
staatlich und tarifvertraglich reglementieren zu     Wolf Matthias Mang: »Ich bin ein wirklicher
können. Wenn Amerika zu arbeiten beginnt,            Fan der Mitbestimmung. Ich sitze im Aufsichts-
können wir in Deutschland nicht aufhören da-         rat der Oechsler AG gemeinsam mit drei Arbeit-
mit. Wir brauchen deshalb mehr Flexibilität und      nehmervertretern. Vom Dialog mit ihnen profi-
individuelle betriebliche Lösungen.«                 tiert dieses Unternehmen sehr. Ich glaube, dass

                                                                                        ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016   11
AKTUELLES

                                      man den Betriebsräten in den Unternehmen            gleichbar ist mit dem Aufkommen des Automo-
                                      durchaus zutrauen kann, dass sie Lösungen fin-      bils vor 100 Jahren. Deshalb müssen wir natür-
                                      den, die die Interessen der Arbeitnehmer nicht      lich sehr viel in die Aus- und Weiterbildung un-
                                      hintanstellen. Ich bin begeistert davon, wie so     serer Mitarbeiter investieren. Hier stehen jedoch
                                      immer wieder Lösungen gefunden werden, die          auch die Mitarbeiter selbst als Manager ihrer
                                      dem Unternehmen und gleichermaßen auch              Karriere in der Verantwortung. Nur wenn sie
                                      den Interessen der Arbeitnehmer nutzen.             neugierig und interessiert bleiben, können wir
                                                                                          alle hier am Standort erfolgreich sein. Hier ist
                                      Christiane Benner: Wir tragen gemeinsam             jeder individuell gefragt, denn wir können unse-
                                      Verantwortung dafür, wie wir die Transforma­        ren Mitarbeitern nicht sagen, wie ihr Arbeits-
                                      tion in Industrie und Dienstleistung so gestal-     platz in zehn Jahren aussieht.
     Wolf Matthias Mang               ten, dass daraus ein Gewinnerthema wird. Ich
                                      bin überzeugt: Beteiligung und Mitbestimmung        Christiane Benner: Bildung und Qualifizierung
                                      sind dafür die entscheidenden Stellschrauben.       müssen zu Leitmotiven der digitalen Arbeitsge-
                                      Nur wenn Betriebsräte und Beschäftigte die          sellschaft werden. Die Berufe der Zukunft erfor-
                                      Digitalisierung von Anfang an mitgestalten, be-     dern Kompetenzen, die den rasanten Veränderun-
                                      steht die Chance auf eine humane und gerechte       gen der Technik und Arbeitsorganisation Rech-
                                      Arbeitswelt, in der die Bedürfnisse der Men-        nung tragen. Bildung wird mehr denn je der
                                      schen im Mittelpunkt stehen.                        Schlüssel für die Emanzipations- und Entwick-
                                                                                          lungschancen aller Beschäftigten sein. Deshalb
                                                                                          gilt es, allen Beschäftigten auf allen Qualifikati-
                                      Standpunkte zur Zukunft des Industrie­              onsebenen Qualifizierungsmöglichkeiten und da-
                                      standortes in der Ära 4.0                           mit berufliche Entwicklungschancen zu eröffnen.
                                                                                          Dafür braucht es eine lernförderliche Arbeitsorga-
     Christiane Benner                Wolf Matthias Mang: Wir verfügen über eine          nisation sowie bedarfsgerechte Qualifizierungs-
                                      Automobilindustrie, die jenseits des Hypes um       und Weiterbildungsangebote über das gesamte
                                      Tesla weltweit Standards setzt. Insofern haben      Erwerbsleben hinweg. Nur so nutzen wir die
                                      wir hervorragende Voraussetzungen. Wir werden       Chancen, die die Digitalisierung für die Beschäf-
                                      weiterhin Autos für die Welt bauen. Die zu-         tigten und die hiesigen Unternehmen bietet.
                                      kunftsentscheidende Frage ist, ob wir dabei den
                                      wesentlichen Wertschöpfungsanteil behalten.
                                      Heute liegt dieser bei den Verbrennungsmotoren.     Das Teilnehmer-Feedback zur
                                      In Zukunft wird es die Batterie sein. Auch hier     digitalen Zukunft
                                      müssen wir an der Spitze des technologischen
                                      Fortschritts stehen und seismografisch die Kun-     Insgesamt 13 Workshops beschäftigten sich mit
                                      denbedürfnisse scannen. Wer den Kontakt zu sei-     Fragestellungen rund um Industrie 4.0. In klei-
                                      nen Kunden verliert, weil er nicht flexibel genug   nen rund um Flipcharts versammelte Gruppen
                                      auf einen immer stärker vernetzten globalen         diskutierten die rund 200 Kongressteilnehmer
                                      Markt reagiert, wird letztendlich auch den An-      mit Experten von HESSENMETALL, der IG Metall
                                      schluss beim Prozess-Know-how verlieren.            und des Instituts für angewandte Arbeitswis-
                                                                                          senschaft über Perspektiven, Chancen und Risi-
                                      Christiane Benner: Wenn sich durch global           ken der digitalen Arbeitswelt. Exemplarisch fas-
                                      vernetzte Maschinen, Robotik und Assistenzsys-      sen hier drei Workshop-Moderatoren ihre Grup-
                                      teme Arbeitsplätze verändern oder gar wegfal-       pen-Diskussionen zusammen.
                                      len, dann müssen Arbeitgeber und Interessen-
                                      vertretungen überlegen, wie sie diesen Wandel       Dipl.-Päd. Sven Hille, Arbeitswissenschaft-
                                      gestalten. Auf der anderen Seite sollten Unter-     ler beim ifaa, beschäftigte sich in seinem
                                      nehmen aus meiner Sicht auch aktiver Ge-            Workshop mit der Frage, welche Arbeits-
                                      schäftsmodelle in der Industrie 4.0 suchen.         plätze im Zuge von Industrie 4.0 ver-
                                                                                          schwinden und welche neu hinzukommen.
                                                                                          Teilnehmer-Aussagen fasste er wie folgt
                                      Standpunkte über Aus- und Weiter­                   zusammen: »Neue Remote-Techniken werden
                                      bildung 4.0                                         den externen Facharbeiter entstehen lassen. Es
                                                                                          ist zu erwarten, dass Wartungsarbeiten, die bis-
                                      Wolf Matthias Mang: Wir werden immer                lang in der Linie erledigt werden, künftig aus
                                      wieder Innovationssprünge meistern müssen.          der Ferne zentral von Fachleuten beziehungs-
                                      Zurzeit erleben wir eine Revolution, die ver-       weise durch Fremdfirmen oder Maschinenher-

12    ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
AKTUELLES

steller erledigt werden. Neue berufliche Chan-       rin einig, dass der Zugriff auf Wissen in der ver-
cen entstehen beispielsweise in der Hard- und        netzten Gesellschaft heute einfacher als je zu-
Software-Entwicklung für Assistenzsysteme,           vor ist. Das empfanden die meisten als Ermäch-
Maschinensteuerungen und Kommunikations-             tigung. In der neuen Lebens- und Arbeitswelt
systeme. Insgesamt rechnen die Teilnehmer da-        der Bits & Bytes müssen insbesondere bei Ge-
mit, dass Arbeitsplätze elektronischer werden.       ringqualifizierten Möglichkeiten zur Nachquali-
Getrieben wird diese Entwicklung auch durch          fizierung geschaffen werden.«
mobile Endgeräte wie Tablets oder Smartpho-
nes. Arbeitsplätze für Geringqualifizierte bleiben   »Werden Mitarbeiter Anhängsel von Com-
                                                                                                                »Aus Teilnehmersicht
dort erhalten, wo sich Maschineneinsatz be-          putern oder erleichtern diese die Arbeit
                                                                                                                bringt die Entwicklung
triebswirtschaftlich nicht lohnt.                    der menschlichen Teams?« Darüber disku-
                                                                                                                des 3D-Drucks
       Kritisch wird ebenfalls die Entwicklung des   tierte Dr. Stephan Sandrock mit Teilneh-
                                                                                                                Risiken für ganze
3D-Drucks gesehen. Risiken sehen die Teilnehmer      mern. Der Arbeitswissenschaftler am ifaa:
                                                                                                                Berufs­gruppen im
für ganze Berufsgruppen im Zerspanungs-, Dreh-       »In der Chancen-Risiken-Abwägung war das
                                                                                                                Zer­spanungs-, Dreh-
und Fräsbereich. Auch einfachere Angestelltentä-     Meinungsbild unabhängig davon, ob die Teil-
                                                                                                                und Fräsbereich.«
tigkeiten sind in Gefahr. Versicherungsverträge      nehmer aus dem Arbeitgeber- oder Arbeitneh-
werden heute teilweise bereits vollautomatisch       merlager kamen, heterogen. Auf der Haben-                  Workshopleiter Sven Hille
bearbeitet, ohne dass ein Angestellter Hand anle-    Seite: höhere Produktivität, geringere Fehler-
gen müsste. In der Logistik könnte das Qualifizie-   quote sowie Entlastung von schwerer
rungsniveau sinken, weil Mitarbeiter sich bei-       körperlicher Arbeit. Mit künstlicher Intelligenz
spielsweise in einem Lager nicht mehr selbst zu-     ausgestattete Systeme könnten ihre mensch­
rechtfinden müssen, wenn sie durch die Anzeigen      lichen Partner zudem bei der Entscheidungsfin-
von Datenbrillen gelenkt werden und Drohnen in       dung unterstützen und so kognitive Belastun-
der Lage sind, die Inventuren durchzuführen.         gen im Arbeitsprozess reduzieren. Erwähnt wur-
       Einhellige Meinung war: Je höher die          de hier beispielsweise, dass intelligente
Qualifikationsanforderung einer Arbeitsaufgabe       Maschinen Mediziner bei der Stellung von Diag-
an die Beschäftigten ist, desto sicherer werden      nosen unterstützen können. Durch bessere Da-
deren Arbeitsplätze auch in Zeiten von Industrie     tenaufzeichnung sei auch eine objektivere Leis-
4.0 sein.«                                           tungsbeurteilung von Arbeitnehmern möglich.
                                                           Dagegen sahen einige Teilnehmer aber
Javier Pato Otero, IG Metall-Bezirk Mitte,           auch das Risiko der Entmündigung von Beschäf-
Gewerkschaftliche Bildungsarbeit, Beruf­             tigten durch intelligente Maschinen. Ein kritisch
liche Bildung, Jugendpolitik, über seinen            angemerkter Aspekt war auch, dass künftig die
Workshop zur Frage, ob die Digitalisierung           Ausbildung leiden könnte, wenn Unternehmen
die Menschen entmündigt oder ermäch-                 immer mehr Ressourcen in Roboter stecken.
tigt: »Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wa-              Thema waren natürlich Arbeitsplatzeffekte
ren sich einig, dass die Digitalisierung bei uns     von Industrie 4.0. Die Teilnehmer sahen durch-
allen angekommen ist und dass wir damit um-          aus neue Chancen für geringer Qualifizierte, die
gehen müssen. Weitgehende Übereinstimmung            in komplexen Arbeitsumfeldern durch Assis-
bestand auch darin, dass das Leben dadurch           tenzsysteme angeleitet werden können. Ande-
transparenter wird. Die einen stört das, die an-     rerseits befürchteten viele, dass es gerade in
deren nicht. Thematisiert wurden auch Gefah-         dieser Gruppe von Arbeitnehmern zu Beschäfti-              Teilnehmer-Workshop
ren: Durch die fortschreitende internationale        gungsabbau kommen könnte.«                                 mit Sven Hille
Vernetzung könnten Regulatorien unterlaufen
werden oder nicht mehr greifen; die gesetzli-
chen Rahmenbedingungen müssen an die Digi-
talisierung angepasst werden.
       Der Workshop zeigte auch, dass gewisse
Gefahren der digitalen Welt vielen gar nicht be-
kannt sind: Ein Beispiel ist die Änderung der AGB
bei WhatsApp, die eine ungehemmte Weitergabe
der Nutzerdaten an Facebook erlauben sollten.
       Die zweite diskutierte Frage war, wie man
sich in diesem Umfeld für die digitale Zukunft
qualifizieren kann. Schließlich müssen die Men-
schen damit ja nicht nur leben, sondern auch
arbeiten können. Die Teilnehmer waren sich da-

                                                                                        ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016   13
Sie können auch lesen