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BETRIEBSPRAXIS & ARBEITSFORSCHUNG Zeitschrift für angewandte Arbeitswissenschaft AUSGABE 228 | NOVEMBER 2016 ws: Intervie ang, tthias M Wolf Ma , METALL H ESSEN k to r -Dire und ifaa r ber ü towasse Sascha S nft 4.0 die Zuku Dokumentiert: Zukunftskongress »Arbeit 4.0 – Chance für den Standort?« Erfolgsmodell: lebensphasenorientierte Arbeitszeitinstrumente bei BMW Chancen: Mobiles Arbeiten für Betriebe und Beschäftigte Leistungskultur: das STEP-Vergütungssystem bei der Hengst SE & Co. KG Durchblick: neuer Katalog für Industrie 4.0-Lösungen Qualifizierung: was KMU für die Kompetenzentwicklung un- und angelernter Mitarbeiter tun Wissensmanagement: wie Betriebe hier strategisch vorgehen ifaa-Projekte: STÄRKE – Wege zu mehr Resilienz; Prävention 4.0
Inhalt Editorial 03 Interviews Industrie 4.0: Das Gehirn unserer Unternehmen muss in Deutschland bleiben! Wolf Matthias Mang, Vorsitzender von HESSENMETALL 04 Wir müssen digital innovativer werden. ifaa-Direktor Professor Sascha Stowasser 07 Aktuelles Dokumentiert: der Zukunftskongress »Arbeit 4.0 – Chance für den Standort?« Eine gemeinsame Veranstaltung von HESSENMETALL und IG Metall. Podien, Workshops, Fallbeispiele 10 Digitale Arbeitswelt: Erwartungen und Befürchtungen; BAT Freizeitmonitor 2016: Erholung und soziale Kontakte werden seltener; ifaa ist Partner im BMBF-Verbundprojekt TransWork; DAK-Studie 1: mehr Krankschreibungen im 1. Halbjahr 2016; DAK-Studie 2: Deutlich weniger »Burnout«-Fehltage; AOK-Expertise: schlechtes Betriebsklima produziert Fehltage. 19 Idee² – mit Reizfragen analytisch und strukturiert zu innovativen Ideen kommen 20 Digitalisierung & Industrie 4.0 – das ifaa-Fachkolloquium 2016 22 Arbeitszeit und Vergütung BMW Group: Lebensphasenorientierte Arbeitszeitinstrumente als personalwirtschaftlicherErfolgsfaktor 25 Mobiles Arbeiten 29 Erfolgreiches Anforderungs-, Leistungs- und Vergütungsmanagement bei der Hengst SE & Co. KG in Münster 32 Unternehmensexzellenz Katalog zur zielgerichteten Auswahl von Industrie 4.0-Lösungen 38 Kompetenzentwicklung bei Un- und Angelernten in nicht-forschungsintensiven KMU — Status quo und Zukunft einer strategischen Notwendigkeit 41 Arbeits- und Leistungsfähigkeit Risikobasiertes Denken am Beispiel des betrieblichen Wissensmanagements 51 Wie resilient sind Unternehmen und Beschäftigte der Teilnehmer im Projekt STÄRKE? 54 Gesunde und produktive Führung im 4.0-Unternehmen: erste Ergebnisse aus dem BMBF-Projekt Prävention 4.0 55 Kurzweiliges 58 Glossar Resilienz 59 Medien Führen in Teilzeit: Voraussetzungen, Herausforderungen und Praxisbeispiele 60 Veranstaltungen 61 Titel und Inhalte früherer Ausgaben/Impressum 62 Titelbild: Produktion bei BMW. Mehr zu den Arbeitszeitmodellen dort ab Seite 25.
EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, bislang hat sich die Diskussion um Industrie 4.0 hauptsächlich um deren technologische Treiber bewegt. Wir wissen aber aus der vorangegangenen dritten industriellen Umwälzung rund um das Computer-integrated Manufacturing, CIM, dass dies allein nicht ausreicht. Die arbeitspolitische Diskussion ent- scheidet wesentlich über den erfolgreichen Einsatz und die Akzeptanz neuer Technologien mit. HESSENMETALL und IG Metall haben in Frankfurt bei einem Kongress über Arbeit 4.0 gesprochen. Es ist ein wichtiges Signal, dass die Sozialpartner darüber in den Dialog treten. Gemeinsam werden sie Leitplan- ken für den beiderseits gewinnbringenden Einsatz der vierten zurückholen — und auch neue Möglichkeiten, um beispiels- industriellen Technologiegeneration entwickeln — und das ist weise Kind und Karriere in Einklang zu bringen. gut so: Denn ein nicht ausreichend geführter Dialog im Zuge Bereits jetzt praktizieren viele Unternehmen sehr weit- der Einführung von CIM hatte in den 80er- und 90-Jahren gehende Formen von Arbeitszeitflexibilität. Interessante Kon- einige erfolgversprechende Ansätze scheitern lassen. Es ist zepte dafür gibt es beispielsweise bei der BMW Group. Lesen wichtig, dass beide Seiten die Chance 4.0 aktiv annehmen und Sie dazu mehr im Aufsatz von Jürgen Lipp, Katharina nutzen wollen. Es geht darum, eine digitale Kultur in die Un- Quandt-Schubert und Michael Schwarz. ternehmen zu tragen. Lesen Sie dazu mehr in einem Interview Ein gerade im Zuge von 4.0 sehr wichtiges Thema ist mit dem Unternehmer und Vorsitzenden des Verbandes die Kompetenzentwicklung von Mitarbeitern. In nicht for- HESSENMETALL, Wolf Matthias Mang. Zudem präsentiert schungsintensiven KMU, die weite Bereiche unserer Wirt- Ihnen diese Ausgabe der Betriebspraxis & Arbeitsforschung schaft prägen, findet häufig keine professionalisierte, nach- eine ausführliche Dokumentation dieses Kongresses. haltige und strategische Kompetenzentwicklung statt, so die Digitalisierung und Industrie 4.0 haben uns auch bei Autoren Jörg Abel, Julian Decius, Sandra Güth und Niclas unserem jüngsten Fachkolloquium bewegt. Live haben wir Schaper. Ihre Bestandsaufnahme und Handlungsempfeh hier einen berührungssensitiven Roboter der Firma Kuka er- lungen lesen Sie in der Rubrik Unternehmensexzellenz. lebt. Er repräsentiert eine neue Generation intelligenter Im demografischen Wandel ist das Wissensmanage- Maschinen, die in der Produktion künftig zunehmend mit ment eine immer wichtigere Aufgabe. Unternehmen, die es Menschen interagieren werden. Wir beleuchten in dieser nicht systematisch betreiben, verlieren mit altersbedingten Ausgabe weitere Facetten der digitalen Zukunft. Abgängen möglicherweise essenzielles Know-how. Ein Auf- In der Rubrik Unternehmensexzellenz beschäftigen sich satz von Mikko Börkircher, METALL NRW, und Laura Geiger Jochen Deuse und andere mit einem Katalog zur zielgerich- informiert darüber, wie Betriebe diese Herausforderung teten Auswahl von Industrie 4.0-Lösungen. Im Rahmen ihres systematisch bewältigen. Projektes entwickeln sie eine Webplattform, auf die Unter- Dieser Beitrag sowie auch eine Abhandlung über die nehmen zugreifen können, um sich Überblick in einem Markt erfolgreiche Implementierung einer neuen Gehaltsstruktur bestehender Industrie 4.0-Lösungen zu verschaffen, der nach dokumentieren einmal mehr, warum wir das Wort »ange- Auffassung der Autoren »heterogen« und »intransparent« ist. wandt« im Institutsnamen tragen. Wir arbeiten nicht im Unsere Mitarbeiterin Martina C. Frost stellt das BMBF- Elfenbeinturm, sondern nah bei und vielfach auch vor Ort in Projekt Prävention 4.0 vor, an dem das ifaa mitwirkt. Es geht den Betrieben. Unser Einsatz dient der optimalen Produkti um gesunde und produktive Führung in 4.0-Unternehmen. vität in einem menschengerechten Arbeitsumfeld. Das gilt Vieles bewegt sich, viele Fragen — zum Beispiel auch bei der auch an der Schwelle zur vierten industriellen Umwälzung, Flexibilisierung von Arbeitszeiten — sind noch offen. Auch die die wir gerade erleben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Arbeitswissenschaft ist hier gefordert zu klären, wie betrieb ein erfolgreiches Restjahr, eine besinnliche Weihnachtszeit liche Notwendigkeiten der digitalen Zukunft mit den Bedürf- und ein erfolgreiches 2017! nissen der Beschäftigten in Einklang zu bringen sind. Neben Risiken sind aber auch die Chancen zu betonen: deutlich Herzlichst Ihr mehr Produktivität, das kann Produktion nach Deutschland Sascha Stowasser ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016 3
»Das Gehirn unserer Unternehmen muss in Deutschland bleiben!« Betriebspraxis & Arbeitsforschung sprach mit dem Vorsitzenden des Arbeitgeberverbandes HESSENMETALL, Wolf Matthias Mang, über die Herausforderung Industrie 4.0. Die Fragen stellte Carsten Seim. Wolf Matthias Mang ist Geschäftsführer der Tagesgeschäft. Dass wir diesen Kongress außer- Arno Arnold GmbH und Vorsitzender des Auf- halb einer Tarifrunde ins Leben gerufen haben, sichtsrates der OECHSLER AG. Ehrenamtlich ist er ist für mich schon ein Wert an sich. Wir haben Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes HESSEN- viel Arbeit vor uns: Es geht um den Weg von METALL. In diesem Interview mit dem Magazin »Industrie 4.0«, einer industriellen Revolution Betriebspraxis & Arbeitsforschung fordert er, von Technologie und Märkten gleichermaßen, dass deutsche Unternehmen auf dem Weg zur hin zur Arbeit 4.0. Wie müssen sich Arbeit, Ar- Industrie 4.0 »wieder revolutionär« werden müs- beitsbeziehungen, Tätigkeiten und Kompeten- sen. Die deutsche Industrie dürfe das digitale zen und Mentalitäten verändern? Gehirn ihrer neuen vernetzten Speedfactories nicht amerikanischen Software-Schmieden Und wie ist Ihre Bilanz dieser Veranstaltung? OECHSLER AG überlassen. Dies sieht er als Grundvoraussetzung dafür, dass deutsche Unternehmen in ihrem Das war ein gelungenes Experiment: Wir reden 1864 gegründet, unterhält Wirkungskreis die industrielle Führung behaup- miteinander mit Respekt — und das ist gut so. der OECHSLER-Konzern heute zwei Standorte in Ansbach ten können. »Bosch, Continental, Daimler, Sie- Und davon gehen die richtigen Signale aus. In und Weißenburg. Internatio- mens, Opel und die mittelständischen Industrie- unsere Industrie: sich zu rüsten für gewaltige nal ist das Unternehmen in unternehmen wissen, dass wir die Steuerung Veränderungen. In die Politik: den Weg frei zu China (Taicang), Rumänien unserer Produktion und das Managen unserer machen für Erneuerung. In die Belegschaften: (Lipova), Mexiko (Querétaro) und Singapur vertreten. Kundenbeziehung niemals aus der Hand geben Wir packen diese Veränderungen gemeinsam Als Systemlieferant auf dem dürfen«, erklärte der Unternehmer. »Wenn die an. Und in die Tarifpolitik: Wir werden über für Gebiet der Kunststoff verar- deutschen M+E-Unternehmen an der Spitze der beide Seiten angemessene Veränderungen bei beitenden Industrie entwi- Bewegung bleiben wollen, müssen wir als Welt- der Arbeitszeit reden müssen. ckelt, montiert und liefert OECHSLER ganze Baugruppen meister im B2B-Geschäft auch die Bedürfnisse für die Automobil- , Kommu- der Konsumenten im Blick haben, um für unsere Sie haben auf dem Kongress mehrfach be- nikations- und Medizinindus- Kunden im Endverbrauchergeschäft die richtigen tont, dass der Wandel disruptiv vonstatten trie sowie für die Industrie- Fabriken bauen und betreiben zu können. Eine geht und dass — übertragen ausgedrückt — technik. Weltweit arbeiten riesige Chance für die mittelständische Zuliefer- das Silicon Valley uns auch in unseren an- heute rund 2300 Mitarbeiter für OECHSLER. industrie, sich vom Maschinenbauer der Welt gestammten Industrien wie zum Beispiel zum Fabrikbetreiber weltweit zu entwickeln.« der Fahrzeugbranche den Rang streitig machen will. Arno Arnold GmbH Herr Mang, Sie haben im September in Frankfurt gemeinsam mit der IG Metall Wir erleben erstmalig, dass vollkommen neue Vor anderthalb Jahrhunderten als Hersteller von Bandoneons einen Zukunftskongress zum Thema Arbeit Marktteilnehmer als Konkurrenten in prägenden gegründet, ist das in Oberts- 4.0 veranstaltet. Warum? Branchen auftreten, in denen wir stark sind hausen ansässige Familien oder uns fühlen. Wir können darauf nicht mit unternehmen heute ein wich- Weil an der Digitalisierung keiner vorbeikommt. den alten Rezepten reagieren, wenn wir die tiger Systemlieferant für Gemeinsam mit unseren Sozialpartnern wollen Wertschöpfung und damit auch unsere Arbeits- Schutzabdeckungen aller Art. »Überall in der industriellen wir uns gegen Zukunfts- und Veränderungs- plätze sowie den gewohnten Wohlstand in Fertigung, in deren Bearbei- ängste wenden. Dazu zählen zum Beispiel Deutschland halten wollen. Extrem kapitalstarke tungsprozessen bewegliche Ängste davor, dass die neuen vernetzten Ma- Mega-Konzerne wollen im Zuge der vierten in- Maschinenteile geschützt schinen uns die Arbeit nehmen. Ich sage: In- dustriellen Revolution hierzulande das Gehirn werden müssen, findet man Schutzeinrichtungen aus dustrie 4.0 wird es ohne Arbeitskräfte genauso der erfolgreichen Produkte der drei vorange- Obertshausen«, so das Fach- wenig geben wie die Toskana ohne Hügel. Wir gangenen industriellen Umwälzungen überneh- blatt Konstruktionspraxis. — die Arbeitgeber und die Gewerkschaften — men — und damit die Herrschaft über unsere Aktuell beschäftigt die Arno müssen füreinander Verständnis gewinnen. Industrien und den Großteil ihrer Wertschöp- Arnold GmbH 100 Mitarbeiter. Veränderungen gehören für beide Seiten zum fung. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben ein 4 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
INTERVIEWS | INDUSTRIE 4.0 vitales gemeinsames Interesse daran, es nicht so weit kommen zu lassen, dass man uns von au- ßen ein digitales Schaltzentrum einpflanzt. Wir Produzenten wären dann nur noch fremdge- steuerte Erfüllungshilfen, verkoppelt mit Big Data-Superhirnen und eingebettet in eine stan- dardisierte Dienstleistung, wie wir sie von den großen Internetkonzernen gewohnt sind. Das müssen wir verhindern und die Steuerung sowie den damit verbundenen wesentlichen Teil der Wertschöpfung im Land behalten. Was würde passieren, wenn das von Ihnen beschriebene Negativ-Szenario einträfe? Wir würden weiterhin Autos produzieren ... dür- fen. Doch die Steuerung würden die neuen In- ternetunternehmen übernehmen, weil das Auto ja auch eine mobile Internetadresse ist. Heute sind wir auf dem globalen Markt durch unsere reich sein. Und nur dann kann die leistungsstar- Dipl.-Kfm. Wolf Matthias Motorenkompetenz die führende Autonation. ke deutsche Gesellschaft eine soziale bleiben. Mang, Vorsitzender Doch auch diese Stärke relativiert sich vor dem Deshalb sitzen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer- von HESSENMETALL. Foto: HESSENMETALL Hintergrund der aufkommenden Elektromobili- seite hier in einem Boot. tät. Technologieführer wird künftig sein, wer die Batteriekompetenz hat. Auch das Gehirn unse- Was raten Sie unseren Unternehmen? rer Fabriken und Kraftwerke dürfen wir nicht Dritten überlassen! Die Steuerung muss in Ihr größter Fehler wäre es, sich in Nischen zu- Deutschland und eben auch in Hessen bleiben. rückzuziehen. Sie müssen über ihre Stärken im Es geht um nichts weniger als um die Frage, ob B2B- und Prozess-Bereich hinaus auch die sich wir als ingenieurgetriebene Exportweltmeister immer rapider wandelnden Bedürfnisse der im industriellen Business to Business auch in Kunden am Markt verstehen und sich ihrer an- der Ära 4.0 Spitze bleiben, oder ob wir im Wett- nehmen. Die Speed Factory der Oechsler AG, bewerb mit amerikanischen Business-to-Consu- deren Best Practice bei unserem Frankfurter mer-Konzernen das Nachsehen haben werden. Kongress 4.0 vorgestellt wurde, ist ein Beispiel dafür (Seite 14). Deutsche Maschinenbauer Was muss geschehen? schaffen technologieführende Lösungen, mit denen der Kunde, Adidas, individuelles Schuh- Wir müssen unsere Produkte intelligenter ma- werk nach Kundenwunsch in einer bisher nicht Links chen, diese Intelligenz aber über die gesamte möglichen Geschwindigkeit herstellen und lie- Wertschöpfungskette unserer einmaligen Vor- fern kann. Wer Marktbedürfnisse beobachtet, ist Kongress Arbeit 4.0 im Netz — eine Chance für den Standort? leistung- und Fertigungsverbünde einbinden. schneller als andere mit Lösungen dafür prä- Wenn das gelingt, kann Deutschland seinen sent. Generell gilt: Wir müssen Digitalisierung entscheidenden strukturellen Wettbewerbsvor- zur Chefsache machen und unsere Belegschaf- teil weiter nutzen: die engmaschige, sehr de- ten auf diesem Weg mitnehmen. Familienunter- zentrale Zusammenarbeit zwischen OEMs und nehmern wie mir und meiner Frau, die wir die mittelständischen Zulieferfirmen. Stark sind wir Arno Arnold GmbH in fünfter Generation füh- seit 100 Jahren im Prozess-Know-how. Die ren, ist dabei klar, dass wir selbst Revolutionäre Auf den Seiten von Amerikaner haben in einem Jahrzehnt eine sein müssen, um unser Familienerbe und die HESSENMETALL http://bit.ly/2e78dyP weltweite Dominanz bei Big Data aufgebaut. damit verbundenen Arbeitsplätze zu bewahren. Sie denken nicht in Optimierungskategorien von fünf bis zehn Prozent. Sie wollen in kurzer Zeit Wo sehen Sie Chancen und wo Risiken von Optimierungen um den Faktor 10. Das sind die Industrie 4.0? Kategorien, mit denen wir uns auseinanderzu- setzen haben. Nur wenn wir uns der Herausfor- Als Unternehmer gehe ich als Optimist an dieses derung 4.0 selbst mit einer revolutionären Ein- Thema heran: Die neue vernetzte Wirtschaft und Auf den Seiten des stellung stellen, werden wir in einem mit harten das Zusammenwirken von Mensch und Maschi- IG Metall-Bezirks Mitte http://bit.ly/2dc5lDV Bandagen ausgetragenen Wettbewerb erfolg- ne bringen neue Chancen. Wir haben — siehe ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016 5
INTERVIEWS | INDUSTRIE 4.0 Studie Fachkräfte für Speed Factory und Sportschuhproduktion — so- sche Ausbildungen müssen noch stärker als bis- die Industrie 4.0 gar die Chance, Produktion nach Deutschland her und auch untereinander durchlässiger sein. zurückzuholen, die zuvor zum Beispiel nach Asi- Mit Unterstützung von HESSENMETALL veröffentliche en abgewandert war. Digitalisierung — evolutio- Beim Kongress waren sich alle Beteiligten die Vereinigung der hessi- näre wie bei kollaborativen Robotern oder revo- darin einig, dass Deutschland auf dem Weg schen Unternehmerverbände lutionäre wie bei den Expertensystemen der zu 4.0 mehr in Bildung und Ausbildung im Frühjahr 2016 eine Studie Künstlichen Intelligenz — kann die Produktion investieren muss. Wo im Besonderen? unter dem Titel »Fachkräfte für die Industrie 4.0«. Zitate: auch am Hochlohnstandort Deutschland güns- »Die Entwicklung zur Indust- tiger machen, sodass die Nähe zum heimischen Ein Defizit-Beispiel dafür ist die Ausstattung rie 4.0 verändert auch die Markt als Wettbewerbsfaktor wieder zum ent- vieler unserer Berufsschulen. Manch Auszubil- Sicht auf den prognostizier- scheidenden Vorteil werden kann. Industrie 4.0 dender, der aus einem modernen Unternehmen ten Fachkräftemangel als kann uns aber auch Arbeitsplatzverluste brin- kommt, hat hier den Eindruck, in ein Museum Folge der demografischen gen. Ich glaube, dass nicht nur Geringqualifi- zu wechseln. Diese Botschaft hat bei unserem Entwicklung. Möglicherweise kompensiert die Digitalisie- zierte, sondern auch höher Qualifizierte betrof- Kongress auf direktem Wege einen prominenten rung diesen Effekt ganz oder fen sein können. Aber auch hier kann 4.0 neue Adressaten erreicht: den hessischen Wirt- teilweise, da immer mehr Chancen bringen — zum Beispiel Assistenzsys- schaftsminister Tarek Al-Wazir. Prozessschritte automatisiert teme, die alternden Belegschaften schwere Ar- werden. Damit könnten in der Industrie mehr Arbeitsplätze beiten abnehmen können. Grundsätzlich funk- Und wo sehen Sie Differenzen, bei denen entfallen, als neue entstehen.« tioniert Digitalisierung nicht mit menschen die Sozialpartner noch dicke Bretter zu »Die Schnelligkeit der tech- leeren Fabriken. Smart Factories werden erst bohren haben? nologischen Entwicklung durch die Zusammenarbeit von Menschen und führt dazu, dass die in Zu- Robotern »intelligent«. Digitalisierung und Vernetzung bringen neue kunft benötigten Qualifika tionen zurzeit noch nicht Möglichkeiten der räumlichen und zeitlichen vorhanden sind. Alle Perso- Welche Qualifikation braucht jemand, der in Flexibilität von Arbeit. Das sieht man auf Arbeit- nen, die ihre Ausbildung be- der Ära 4.0 seinen Job behalten und Karriere nehmerseite grundsätzlich durchaus positiv. reits abgeschlossen haben machen will? Allerdings gibt es hier Interessenlagen, über die und im Beruf stehen, wurden während ihrer Erstausbildung wir zu verhandeln haben. Während Arbeitneh- nicht oder nur teilweise auf Teamfähigkeit der Menschen untereinander, mer dadurch bessere Möglichkeiten gewinnen, die digitalisierte Arbeitswelt aber auch mit den neuen intelligenten Robo- ihre Work-Life-Balance zu optimieren und Fami- der Zukunft vorbereitet.« tern, die künftig verstärkt Seite an Seite mit lie und Karriere besser miteinander zu verbinden, »Jugendliche und Erwachsene Menschen arbeiten werden. Überlegen werden stehen die Unternehmen unter Druck, ihre Ar- müssen auf die technologi- Menschen den Robotern auch in Zukunft vor beitszeiten an immer rascher wechselnde Auf- schen Veränderungen, die unter dem Stichwort Industrie allem durch ihre soziale Kompetenz sein. Denn tragslagen anzupassen. Diese können in einem 4.0 zusammengefasst sind, künstlich intelligente Maschinen werden in Ein- Korridor von plus bis minus 20 Prozent ausschla- vorbereitet werden. Lern- und zeldisziplinen mehr leisten können als Men- gen, was für die Kapazitätsplanung extreme Her- Kommunikationsfähigkeit, die schen, und sie tun dies heute teilweise bereits. ausforderungen in sich birgt. Zudem bringt in- Bewältigung von Komplexität, die Integration von Neuem Die Bedeutung von Sozialkompetenz schätzen ternationale und interkontinentale Vernetzung und Eigenverantwortung übrigens auch unsere Mitgliedsunternehmen auch Zeitverschiebungen mit sich, sodass unter stehen im Mittelpunkt.« sehr hoch ein: Wir brauchen mehr Optimierer, Umständen auch zu ungewöhnlichen Zeiten ge- »Ein zukunftsfähiges Modell mehr Prozessintegratoren, mehr Vernetzte, arbeitet werden muss. Wir wünschen uns als Ar- beruflicher Ausbildung muss mehr Neugierige. Damit wandelt sich die Defi- beitgeber Öffnungsklauseln im Arbeitszeitgesetz, die dysfunktionale Trennung zwischen dualen beruflichen nition von Fachkraft, die immer gut ausgebildet die betriebliche Vereinbarungen über zeitlich Ausbildungswegen und voll- sein muss, vom reinen Experten, vom reinen flexibleres Arbeiten ermöglichen. Wenn zum Bei- schulisch-akademischen Technologiespezialisten, Ingenieur oder Kauf- spiel zu nächtlicher Stunde in Deutschland noch Bildungsgängen aufheben.« mann zur sozialkompetenten Fachkraft. Team- ein Anruf erforderlich ist, damit die Arbeit in und Sozialkompetenz ist auch eine wichtige einem anderen Teil der Welt weitergehen kann, Schlüsselqualifikation, die hilft, an den rasanten so darf dies nicht an einem Ruhezeitgebot von Fachkräfte für die Industrie Veränderungen dranzubleiben. Expertise von elf Stunden scheitern. Das wird den Realitäten 4.0 — Für eine Neuorientie- rung im Bildungssystem heute kann in zehn Jahren vollkommen veraltet einer digitalen Ökonomie nicht mehr gerecht! sein, wenn sie nicht im Teamkontakt sowie in Wir werden darüber reden — und bisher hat sich Netzwerken ständig upgedatet wird. Niemand zwischen uns Tarifpartnern noch immer eine kann heute sagen, wie bestimmte Berufsbilder Lösung gefunden. in zehn Jahren aussehen werden. Ob duale oder akademische Ausbildung: Fit für das Zeitalter 4.0 werden diejenigen sein, die praktische und Download Studie der VHU theoretische Inhalte gelernt haben und mitein- http://bit.ly/25A1wus ander verbinden können. Duale und akademi- 6 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
INTERVIEWS | INDUSTRIE 4.0 »Wir müssen digital innovativer werden« Betriebspraxis & Arbeitsforschung sprach mit dem ifaa-Direktor Professor Sascha Stowasser über den Weg zur Industrie 4.0. ifaa-Direktor Professor Sascha Stowasser for- dert, dass Deutschland die Chancen der Indus trie 4.0 aktiv annimmt. Vor diesem Hintergrund begrüßte Stowasser, dass die Sozialpartner in den Dialog darüber eintreten, wie sie den Weg in die digitale Zukunft gemeinsam gestalten wollen. Als »wichtige Wegmarken« sieht der Wissenschaftler den zurückliegenden gemein samen Kongress vom HESSENMETALL und IG Metall in Frankfurt (Seiten 10 bis 17), aber auch die Gemeinsame Erklärung von NRW Metall und IG Metall in Nordrhein-Westfalen. Die Fragen an Stowasser, der auch als außerordentlicher Pro- fessor am Karlsruhe Institute of Technology, KIT, arbeitet, stellte Carsten Seim. Herr Professor Stowasser, sie fordern hier- zulande mehr Tempo auf dem Weg in die digitale Zukunft. Warum? Was brauchen wir dafür? ifaa-Fachkolloquium Wir müssen insgesamt digital innovativer wer- 2016: ifaa-Direktor den, weil unsere Industrie es mit potenziellen Zuallererst eine möglichst breite gesellschaft- Professor Stowasser mit Konkurrenten wie Amazon, Google und Apple liche Akzeptanz der neuen Technologien. Diese einem berührungssensi tiven Roboter, der direkt zu tun hat. Um eine Vorstellung von der Dimen- sind geeignet, die Produktivität unserer Indus- mit Menschen zusam- sion zu haben, der wir gegenüberstehen: Diese trie bis zum Jahr 2025 um bis zu 30 Prozent menarbeiten kann. Mega-Unternehmen haben im B2C-Segment steigen zu lassen. Hierin liegen auch unter Foto: Carsten Seim die Datenhoheit und eine Kapitalstärke, mit der Wohlstandsaspekten große Chancen für sie das Gros der Autounternehmen in Italien Deutschland. Das deutlich zu machen, ist eine und Frankreich aufkaufen könnten. Die deut- wichtige Dialogaufgabe, der sich beispiels sche M+E-Industrie ist einer solchen Gefahr weise HESSENMETALL und die IG Metall mit nicht unbedingt ausgesetzt. Aber auch sie steht ihrem gemeinsamen Kongress in Frankfurt unter großem Veränderungsdruck. Sie muss sich aktiv gestellt haben. Auch die gemeinsame neuen Technologien im Herstellungsprozess und Erklärung von METALL NRW und IG Metall ist auch bei den Produkten stellen. In der Produkti- ein Beleg dafür. on sind zum Beispiel 3D-Drucker eine Heraus- forderung; diese trifft die Zerspanungsindustrie Was muss diskutiert werden? ebenso wie das Produkt »Auto« selbst. In den USA gibt es ein Start-Up, das ein Auto komplett Mehr Flexibilität ist aus arbeits- und be- mit dem 3D-Drucker bauen will. Ich bin über- triebsorganisatorischer Sicht eine zentrale Vor- zeugt, dass neue Mitbewerber es schwer haben aussetzung für Wettbewerbsfähigkeit in der werden, Fahrzeuge nach den hohen deutschen Industrie 4.0. Wir haben es mit immer indivi- Standards herzustellen, weil der Erfahrungs- duelleren Kundenbedürfnissen zu tun — die horizont bei uns sehr groß ist. Auf der anderen Massenfertigung von einst weicht immer klei- Seite ist ein Auto mit Elektromotor sehr viel neren Tranchen bis herunter zur Losgröße 1. einfacher zu beherrschen als eine Verbren- Dabei wird es zugleich weniger kalkulierbar, nungsmaschine. In Deutschland müssen wir wann und in welchen Dimensionen die Unter- also daran arbeiten, neue Differenzierungsmerk- nehmen Aufträge erreichen werden. Wer in male zu entwickeln, um auch in Zukunft im diesem Markt mitspielen will, muss betriebli- Wettbewerb erfolgreich zu sein. che Flexibilität in den Vordergrund stellen. Das ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016 7
INTERVIEWS | INDUSTRIE 4.0 bringt auch neue Chancen für die Beschäftig- Ampelschaltungen im Sinne einer grünen ten. Die digitale Vernetzung ermöglicht es in Welle den Verkehr in Städten lenken. Zuneh- vielen Fällen, völlig ortsunabhängig zu arbei- mend entstehen an Kreuzungen heute Kreis- ten. Das kann sich positiv aufs Familienleben verkehre. Die Autofahrer steuern den Verkehr auswirken: zum Beispiel gemeinsam zu Abend damit selbst dezentral nach zuvor vereinbar- essen, die Kinder ins Bett bringen und danach ten Regeln. So wird es in Zukunft auch in noch eine Stunde Mails bearbeiten. Wer sich Netzwerken künstlicher und menschlicher dann aber beispielsweise zwischen 20 und 21 Intelligenz sein. Arbeitszeitflexibilität: Uhr noch einmal an den Rechner setzt, dürfte Wir können ins Ausland abgewanderte Welche Pausen nach dem Arbeitszeitgesetz, dessen Wurzeln Produktion und damit verbundene Wertschöp- notwendig sind, ins 19. Jahrhundert zurückreichen, eigentlich fung zurückgewinnen: Nach langen Jahren des muss arbeitswissen- erst nach einer elfstündigen Ruhepause, also Offshorings von Produktion können wir ein schaftlich noch anderntags um 10 Uhr, am Arbeitsplatz er- Reshoring erleben, weil Marktnähe und schnelle erforscht werden. scheinen. Das hält der neuen Realität nicht Lieferfähigkeit immer individuellerer Industrie- Professor Dr.-Ing. Stand. Welche Pausen notwendig sind, muss produkte an Bedeutung gewinnen. Dieses Sascha Stowasser, ifaa arbeitswissenschaftlich sicher noch erforscht Reshoring infolge einer neuen Technologie hat werden. Das hängt auch von den Branchen ab. in der Tat etwas Revolutionäres. Eine Chance Wir brauchen auf jeden Fall neuere flexiblere von Industrie 4.0 ist, dass die Produktionspla- Lösungen. Das geht ganz sicher nur, wenn bei- nung mit Einsatz dezentraler I4.0-Technologien de Seiten konstruktiv miteinander reden und an Komplexität verliert. Leitplanken entwickeln. Alle Beteiligten müs- sen mit ins Boot genommen werden. Dabei Wir haben über mächtige potenzielle Kon- muss aber auch klar sein, dass es neben vielen kurrenten in den USA gesprochen. Doch was Chancen auf dem Weg in die Industrie 4.0 bringt unsere Industrie denn auf die Waag- nicht nur Gewinner geben wird. Ich glaube an schale und wie können wir das für die die Lösungskompetenz der Sozialpartner. Diese digitale Zukunft nutzen? haben sie in Zeiten des Umbruchs immer wie- der unter Beweis gestellt. In der analogen Wirtschaft haben wir über viele Unternehmer-Generationen hinweg bereits sehr Was muss technisch geschehen? prozessstabile und hochproduktive betriebliche Strukturen entwickelt. Es geht nun darum, diese Essenziell ist, dass wir in Deutschland und Euro- in die digitale Vernetzung hineinzubringen. Wir pa eigene digitale Standards und Normen defi- brauchen dazu intelligente Lösungen. Damit nieren. Wer diese setzt, hat einen entscheiden- meine ich: nicht um jeden Preis digitalisieren, den Vorsprung bei der Software und der Vernet- sondern genau dort, wo wir die größten Pro- zung. Was die Standardsetzung angeht, erleben duktivitätsfortschritte erzielen können. Darüber wir derzeit einen Dreikampf zwischen Asien, hinaus müssen unsere Unternehmen neue Ge- Europa und Nordamerika. Wer Gewinner dieser schäftsmodelle für das Zeitalter der Digitalisie- Auseinandersetzung ist, weil er die klügste und rung entwickeln — zum Beispiel nachhaltige gebrauchstauglichste Lösung anbieten kann, Mobilität komplett als kundenindividuelle der wird in punkto Gehirn die Standards für die Dienstleistung verkaufen. Ein augenfälliges Bei- nächsten Jahre setzen. Wir können darauf auf- spiel dafür, wie Banken durch ein cleveres digi- bauen, dass wir gerade in betriebsinformato tales Geschäftsmodell im wahrsten Sinne des rischen Lösungen stark sind — dafür stehen bei- Wortes alt ausgesehen haben, ist der Bezahl- spielsweise Namen wie SAP, Bosch und Siemens. dienst Paypal. Es geht auf dem Weg in die In- Aufholen müssen wir bei der Vernetzungsfähig- dustrie 4.0 eben auch darum, Kundenwünsche keit. Hier und auch bei der künstlichen Intelli- auf Basis der neuen digitalen Realisierungs- genz sind die Amerikaner stark. möglichkeiten vorauszudenken und zu bedie- nen, bevor es andere tun. Das Beispiel Paypal Wie wird Industrie 4.0 die Prozesse zeigt, dass die Revolution nicht nur in den Fa verändern? briken stattfindet — zum Beispiel durch Roboter Seite an Seite mit dem Menschen — sondern im Produktion wird in vernetzten kleineren Ein- gesamten Markt. heiten stattfinden, die selbststeuernd on De- mand arbeiten. Ein Beispiel aus dem Straßen- Was müssen Beschäftigte mitbringen, um in verkehr veranschaulicht die Veränderung: der Industrie 4.0 erfolgreich bestehen zu Früher wollte man mit zentral gesteuerten können? 8 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
INTERVIEWS | INDUSTRIE 4.0 Es liegt auf der Hand, dass IT-Kenntnisse in bestehende Zahl der Arbeitsangebote für Ge- Theorie und Anwendung erforderlich sein wer- ringqualifizierte gehalten werden kann. Einen den. Wir brauchen in der digitalisierten Arbeits- Zuwachs werden wir hier aber nicht erleben. welt auch weiterhin Prozesskenntnisse. Darüber hinaus werden Selbstorganisation und Selbst- Welche Herausforderungen bringt Industrie lernkompetenz wesentlich wichtiger. Neue An- 4.0 für das Bildungssystem? forderungen werden immer schneller auf die Arbeitnehmer zukommen. Wir werden nicht Zu Recht wurde auf dem Frankfurter Kongress In der digitalisierten erwarten können, dass die Arbeitgeber zu al- von HESSENMETALL und IG Metall die vielfach Arbeitswelt werden lem, was neu auf uns zukommt, formelle Schu- veraltete Ausstattung unserer Berufsschulen Selbstorganisation lungen und Kurse anbieten kann. Hier ist es beklagt. Über das Technische hinaus müssen und Selbstlernkompe- wichtig, dass jeder selbst die Augen und Ohren auch unsere Berufsschullehrer aus meiner Sicht tenz immer wichtiger. offenhält und sich das via Internet leichter dringend fortgebildet werden. Generell haben denn je verfügbare Wissen selbst aneignet. wir eine große Bildungsanstrengung 4.0 vor Professor Dr.-Ing. Dazu braucht es auch eine Medienkompetenz uns, die bereits im frühkindlichen Alter anset- Sascha Stowasser, ifaa — das heißt: zu wissen, wo man etwas findet. zen muss. Es geht hier beispielsweise um Medi- Es wird möglicherweise auch neue Formen der enkompetenz und — in Zeiten größer Flexibili- Zusammenarbeit von Schwarm-vernetzten Be- tät — auch um Fragen des Selbstmanagements. schäftigten geben: Diese kommen möglicher- Auch Internetsucht ist ein Thema, dem wir weise nur wenige Male im Jahr zusammen, um begegnen müssen. Prozesse zu entwickeln, die anschließend auto- matisiert ablaufen. Wenn wir in Deutschland Statement von Professor Sascha Stowasser zur Industrie 4.0: Leitanbieter der Industrie 4.0 sein und bleiben https://www.arbeitswissenschaft.net/arbeitsfelder/industrie-40/ wollen, müssen wir offen sein — auch für neue Arbeitsformen, ohne den bewährten Boden zu verlassen, auf dem wir stehen. Es kann sein, dass auch im Zeitalter der Smart Factories die Leistungsentgelt Produktionssysteme Prozessorganisation alternsgerechte Arbeitszeiten betriebliches Gesundheitsmanagement Trendbarometer Fachkräftesicherung Industrie 4.0 Arbeitswelt gesetzlicher Arbeits- und Gesundheitsschutz Teilen Sie uns mit, welche Bedeutung die Themen aus Arbeits wissenschaft und Betriebsorganisation nach Ihrer Einschätzung Wie schätzen Sie die Bedeutung der folgenden Themen in den Unternehmen ein? aktuell in den Unternehmen haben. Aktuelle Bedeutung Erwartete Bedeutung in 2017 eher niedrig Thema Die Befragung wird seit 2009 zweimal im Jahr unter Experten aus eher hoch niedrig hoch Wirtschaft, Wissenschaft und Arbeitgeberverbänden durchgeführt. 1. ArbeitsgestAltung Die aktuellen Auswertungen finden Sie in unserer Zeitschriftgesetzlicher Arbeits- und Gesundheitsschutz »Betriebspraxis & Arbeitsforschung« und auf unserer Internetseite. ergonomische Arbeitsgestaltung arbeitsbezogene psychische Belastung Arbeitszufriedenheit Anmerkung zur Teilnahme: 2. Arbeits- und betriebszeitgestAltung Herbst- Arbeitszeitflexibilität Das Ausfüllen des Fragebogens dauert nur ca. 2 Min. Die von Ihnen alternsgerechte Arbeitszeiten erhebung – jetzt gegebenen Informationen werden vollständig anonym behandelt lebenssituationsabhängige Arbeitszeiten und Sie sind in keiner Präsentation oder Publikation dieser Forschung 3. Vergütungssysteme online teilnehmen: persönlich identifizierbar. Es ist unmöglich, einen Zusammenhang Leistungsentgelt www.arbeits- zwischen Ihnen und Ihren Daten herzustellen. Leistungsbeurteilung wissenschaft.net erfolgsabhängige Vergütung 4. ProduktionsmAnAgement Produktionssysteme Prozessorganisation www.arbeitswissenschaft.net kontinuierlicher Verbesserungsprozess Einsatz von Werkverträgen ifaa — Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e. V. 5. Querschnittsthemen ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016 betriebliches Gesundheitsmanagement 9 Uerdinger Straße 56 | 40474 Düsseldorf | Telefon: +49 211 54 22 63-0 | Telefax: +49 211Führungsmanagement 54 22 63-37 | E-Mail: info@ifaa-mail.de | www.arbeitswissenschaft.net Industrie 4.0 Fachkräftesicherung
Dokumentiert: Zukunftskongress »Arbeit 4.0 – Chance für den Standort?« Wie können sich Tarifpartner und Politik opti- stand Stefan Körzell, Jörg Köhlinger, Bezirks mal auf den digitalen Wandel einstellen und so leiter IG Metall Bezirk Mitte, Gesamtmetall- die Chancen der Industrie 4.0 aktiv nutzen? Hauptgeschäftsführer Oliver Zander und Welche Herausforderungen sind bei den Ar- HESSENMETALL-Hauptgeschäftsführer Volker beitsbeziehungen und den betrieblichen Abläu- Fasbender über die Zukunft 4.0. fen zu meistern? Darum ging es am 27. Sep- Betriebspraxis & Arbeitsforschung dokumen- tember in Frankfurt bei einem gemeinsamen tiert wichtige Aussagen, Diskussionen (Seiten 16 Zukunftskongress des Arbeitgeberverbandes bis 17). Fakten und Standpunkte des Kongresses. HESSENMETALL und der IG Metall. Anliegen dieser Veranstaltung war es, Gemeinsamkeiten Carsten Seim auf dem Weg in die Digitalisierung auszuloten, Die Eröffnungsrunde avaris | konzept aber auch offen über unterschiedliche Positio- (Dokumentation) nen zu sprechen. Der Vorsitzende von HESSEN- Unter der Moderation von Thomas Kreutzmann, METALL, Wolf Matthias Mang, und die Zweite Studioleiter des Hessischen Rundfunks im Hes- Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, sischen Landtag, diskutierten Wolf Matthias eröffneten den Kongress mit einem Gespräch Mang, Vorsitzender von HESSENMETALL, und über Aus- und Weiterbildung, Mitbestimmung, Christiane Benner, Zweite Vorsitzende der IG die neue digitale Mobilität, Veränderungsängs- Metall, über die Zukunftsperspektiven, Heraus- te und die Zukunft des Industriestandortes in forderungen und Rahmenbedingungen in der der Ära 4.0. Ära 4.0. Beide waren sich einig darin, dass Ar- Es folgten Praxisbeispiele aus Betrieben, beitgeber- und Arbeitnehmerseite nur zusam- die bereits 4.0-Technologien einsetzen. Das rund men erfolgreich in die digitale Zukunft gehen 200-köpfige Fachpublikum aus Unternehmer- können. »Wenn es uns gelingt, gemeinsam ei- schaft und Betriebsräten gewann dabei Ein nen vernünftigen Rahmen zu schaffen, dann ist blicke in die betriebliche Realität von Continen- mir vor der Zukunft nicht bange. Wir können tal Automotive, eine Speed Factory der Oechsler das Fundament so legen, dass wir wissen, wo AG, die Smart Factory von Limtronik sowie von wir ankommen werden, wenn wir uns weiter so Bosch Rexroth in Erbach (Seiten 14 bis 15). anstrengen«, so Mang. »Wir tragen gemeinsam Nachmittags diskutierten Teilnehmer in Work- Verantwortung dafür, wie wir die Transformati- Wolf Matthias Mang (links), shops mit Fachleuten von HESSENMETALL, der on in Industrie und Dienstleistung so gestalten, mit Thomas Kreutzmann IG Metall und dem ifaa über Fragen rund um 4.0. dass daraus ein Gewinnerthema wird und dass und Christiane Benner In der Finalrunde diskutierten Hessens wir alle Beschäftigten mitnehmen in die neue auf dem Podium Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, DGB-Vor- digitale Zeit«, erklärte Christiane Benner. Die Gewerkschafterin wandte sich auch gegen die pessimistische Titelschlagzeile des Nachrichtenmagazins Spiegel, das im Septem- ber unter Verweis auf zunehmenden Roboter- einsatz die Schlagzeile »Sie sind alle entlassen« gedruckt hatte. Benner: »Dieses Magazin hat bereits 1978 in Zusammenhang mit der Com- puter-Revolution ähnliche Inhalte verbreitet: Fortschritt mache arbeitslos. Wir alle wissen, dass es nicht so gekommen ist.« Dies, so Ben- ner, sei auch die Folge einer starken Mitbestim- mung gewesen: »Unsere Industrie steht gut da. Wir haben gute Voraussetzungen dafür, auch diesen Wandel erfolgreich zu bestehen und die Beschäftigung zu erhalten.« »Industrie 4.0 wird uns ohne Arbeitskräfte nicht gelingen«, erklärte Wolf Matthias Mang 10 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
AKTUELLES für die Arbeitgeberseite. Er betonte den revolu- Standpunkte über Veränderungsängste »Unsere Industrie tionären Charakter des Veränderungsprozesses, steht gut da. Wir ha- der uns wie eine Naturgewalt trifft: »Wir sind Christiane Benner: »Es kommt auf die gemein- ben gute Vorausset- mit exogenen Faktoren konfrontiert, die wir so same Gestaltung an: Es geht darum, Ängste zu zungen dafür, auch noch nicht erlebt haben.« Er verwies auf den nehmen, nach vorn zu schauen und positive diesen Wandel erfolg- iTunes-Musicstore-Angriff auf die CD-Industrie Leitbilder zu schaffen. Sonst bekomme ich ein reich zu bestehen.« und Web-Plattformen, die der angestammten Klima der Angst, und dann bewegt sich nichts. Hotellerie den Rang abgelaufen haben. »Die An bestimmten Stellen werden wir auch die Christiane Benner, deutsche Industrie darf sich auf dem Weg zu Politik fordern. Arbeit 4.0 braucht auch IG Metall 4.0 den Wandel im Markt nicht in ähnlicher einen Sozialstaat 4.0. Weise aus der Hand nehmen lassen. Wir müssen Wir wollen keine neuen Formen unsiche- vielmehr an der Spitze der industriellen Revolu- rer oder prekärer Arbeit, keine sogenannten tion stehen«, forderte er. Der Verbandsvorsit Clickworker ohne jeden sozialen Schutz. Wir zende favorisiert eine Ermöglichungsstrategie brauchen hier gesetzliche und tarifvertragliche mit behutsamen Regelungen, um den Anforde- Regelungen, bevor das Kind in den Brunnen rungen der digitalen Zukunft gerecht zu wer- fällt. Das wird sich nicht von selbst am Markt den, und forderte Öffnungsklauseln zum Bei- regeln. Erst wenn Beschäftigte angstfrei arbei- spiel beim Arbeitszeitgesetz. ten können, sind sie auch innovativ. Das kann »Industrie 4.0 trifft uns nicht wie eine Na- sich jedes Unternehmen nur wünschen.« turgewalt. Technik wird von Menschen gemacht und ist gestaltbar«, erklärte Gewerkschafterin Wolf Matthias Mang: »Wenn es darum geht, »Wir müssen erst ein- Benner. Der Weg in die digitale Zukunft muss Veränderungsängsten zu begegnen, dann sind mal verstehen, wie der ihrer Auffassung nach auch tarifvertraglich und wir auf einer Linie. Ich glaube aber, dass wir in Wandel aussieht und gesetzgeberisch gestaltet werden. »Der Wandel erster Linie die Marktchancen sehen und ergrei- welche Regelungen zu 4.0 in der Industrie ist eher evolutionär als fen müssen, dabei eine fördernde Infrastruktur- gebraucht werden, revolutionär. Wir haben hier auf nationaler und politik brauchen und nicht den Sozialstaat aus- bevor wir ihn mit Vor- internationaler Ebene Regelungsbedarf in puncto weiten dürfen. Wenn wir in Deutschland einen stellungen aus der Monopolbildung, Datenschutz und informatio- Bruchteil dessen, was der staatlich verordnete Vergangenheit mög neller Selbstbestimmung.« Ausstieg aus der Kernenergie gekostet hat, in die licherweise verbauen.« Digitalisierung gesteckt hätten, wären wir heute deutlich weiter. Wir unterscheiden uns nicht da Wolf Matthias Mang, Standpunkte über die neue digitale rin, dass wir glauben, dass sich der Wandel in ei- HESSENMETALL Mobilität nem Dreiklang aus betrieblicher, tarifvertraglicher und gesetzlicher Ebene gestalten lässt. Wir mei- Christiane Benner: »Die Digitalisierung ermög- nen aber, dass wir erst einmal verstehen müssen, licht neue mobile Arbeitsformen. Das kann eine wie der Wandel aussieht und welche Regelungen Chance für die Beschäftigten sein. Wir treten für überhaupt gebraucht werden, bevor wir ihn mit ein Recht auf mobiles Arbeiten ein, andererseits Vorstellungen aus der Vergangenheit möglicher- aber auch für ein Recht darauf, einmal abzu- weise verbauen. Wir brauchen auch für Unter- schalten. Hier sehe ich regulatorischen Bedarf. nehmen, die international vernetzt produzieren, Wir wollen auch das agile Arbeiten vorantreiben, ganz andere Lösungen als für Unternehmen, dürfen dabei aber den Arbeitnehmerschutz nicht deren Herstellungsprozesse ausschließlich in aus den Augen verlieren. Wenn wir in der digita- Deutschland stattfinden. Dazu zählt die Arno len Arbeitswelt keine Regeln haben, werden wir Arnold GmbH, deren Geschäftsführer ich bin. die sozialen Folgen tragen.« Wir brauchen unterschiedliche Regeln, die auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der ein- Wolf Matthias Mang: »Wir buchen vom Ses- zelnen Betriebe maßgeschneidert eingehen.« sel aus eine Reise im Internet und erwarten zehn Minuten später die Bestätigung des Reise- unternehmens. Diese Beschleunigung erfasst Standpunkte über Mitbestimmung die gesamte Wirtschaft. Und wir werden nicht im Veränderungsprozess erfolgreich sein, wenn wir glauben, all das staatlich und tarifvertraglich reglementieren zu Wolf Matthias Mang: »Ich bin ein wirklicher können. Wenn Amerika zu arbeiten beginnt, Fan der Mitbestimmung. Ich sitze im Aufsichts- können wir in Deutschland nicht aufhören da- rat der Oechsler AG gemeinsam mit drei Arbeit- mit. Wir brauchen deshalb mehr Flexibilität und nehmervertretern. Vom Dialog mit ihnen profi- individuelle betriebliche Lösungen.« tiert dieses Unternehmen sehr. Ich glaube, dass ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016 11
AKTUELLES man den Betriebsräten in den Unternehmen gleichbar ist mit dem Aufkommen des Automo- durchaus zutrauen kann, dass sie Lösungen fin- bils vor 100 Jahren. Deshalb müssen wir natür- den, die die Interessen der Arbeitnehmer nicht lich sehr viel in die Aus- und Weiterbildung un- hintanstellen. Ich bin begeistert davon, wie so serer Mitarbeiter investieren. Hier stehen jedoch immer wieder Lösungen gefunden werden, die auch die Mitarbeiter selbst als Manager ihrer dem Unternehmen und gleichermaßen auch Karriere in der Verantwortung. Nur wenn sie den Interessen der Arbeitnehmer nutzen. neugierig und interessiert bleiben, können wir alle hier am Standort erfolgreich sein. Hier ist Christiane Benner: Wir tragen gemeinsam jeder individuell gefragt, denn wir können unse- Verantwortung dafür, wie wir die Transforma ren Mitarbeitern nicht sagen, wie ihr Arbeits- tion in Industrie und Dienstleistung so gestal- platz in zehn Jahren aussieht. Wolf Matthias Mang ten, dass daraus ein Gewinnerthema wird. Ich bin überzeugt: Beteiligung und Mitbestimmung Christiane Benner: Bildung und Qualifizierung sind dafür die entscheidenden Stellschrauben. müssen zu Leitmotiven der digitalen Arbeitsge- Nur wenn Betriebsräte und Beschäftigte die sellschaft werden. Die Berufe der Zukunft erfor- Digitalisierung von Anfang an mitgestalten, be- dern Kompetenzen, die den rasanten Veränderun- steht die Chance auf eine humane und gerechte gen der Technik und Arbeitsorganisation Rech- Arbeitswelt, in der die Bedürfnisse der Men- nung tragen. Bildung wird mehr denn je der schen im Mittelpunkt stehen. Schlüssel für die Emanzipations- und Entwick- lungschancen aller Beschäftigten sein. Deshalb gilt es, allen Beschäftigten auf allen Qualifikati- Standpunkte zur Zukunft des Industrie onsebenen Qualifizierungsmöglichkeiten und da- standortes in der Ära 4.0 mit berufliche Entwicklungschancen zu eröffnen. Dafür braucht es eine lernförderliche Arbeitsorga- Christiane Benner Wolf Matthias Mang: Wir verfügen über eine nisation sowie bedarfsgerechte Qualifizierungs- Automobilindustrie, die jenseits des Hypes um und Weiterbildungsangebote über das gesamte Tesla weltweit Standards setzt. Insofern haben Erwerbsleben hinweg. Nur so nutzen wir die wir hervorragende Voraussetzungen. Wir werden Chancen, die die Digitalisierung für die Beschäf- weiterhin Autos für die Welt bauen. Die zu- tigten und die hiesigen Unternehmen bietet. kunftsentscheidende Frage ist, ob wir dabei den wesentlichen Wertschöpfungsanteil behalten. Heute liegt dieser bei den Verbrennungsmotoren. Das Teilnehmer-Feedback zur In Zukunft wird es die Batterie sein. Auch hier digitalen Zukunft müssen wir an der Spitze des technologischen Fortschritts stehen und seismografisch die Kun- Insgesamt 13 Workshops beschäftigten sich mit denbedürfnisse scannen. Wer den Kontakt zu sei- Fragestellungen rund um Industrie 4.0. In klei- nen Kunden verliert, weil er nicht flexibel genug nen rund um Flipcharts versammelte Gruppen auf einen immer stärker vernetzten globalen diskutierten die rund 200 Kongressteilnehmer Markt reagiert, wird letztendlich auch den An- mit Experten von HESSENMETALL, der IG Metall schluss beim Prozess-Know-how verlieren. und des Instituts für angewandte Arbeitswis- senschaft über Perspektiven, Chancen und Risi- Christiane Benner: Wenn sich durch global ken der digitalen Arbeitswelt. Exemplarisch fas- vernetzte Maschinen, Robotik und Assistenzsys- sen hier drei Workshop-Moderatoren ihre Grup- teme Arbeitsplätze verändern oder gar wegfal- pen-Diskussionen zusammen. len, dann müssen Arbeitgeber und Interessen- vertretungen überlegen, wie sie diesen Wandel Dipl.-Päd. Sven Hille, Arbeitswissenschaft- gestalten. Auf der anderen Seite sollten Unter- ler beim ifaa, beschäftigte sich in seinem nehmen aus meiner Sicht auch aktiver Ge- Workshop mit der Frage, welche Arbeits- schäftsmodelle in der Industrie 4.0 suchen. plätze im Zuge von Industrie 4.0 ver- schwinden und welche neu hinzukommen. Teilnehmer-Aussagen fasste er wie folgt Standpunkte über Aus- und Weiter zusammen: »Neue Remote-Techniken werden bildung 4.0 den externen Facharbeiter entstehen lassen. Es ist zu erwarten, dass Wartungsarbeiten, die bis- Wolf Matthias Mang: Wir werden immer lang in der Linie erledigt werden, künftig aus wieder Innovationssprünge meistern müssen. der Ferne zentral von Fachleuten beziehungs- Zurzeit erleben wir eine Revolution, die ver- weise durch Fremdfirmen oder Maschinenher- 12 ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016
AKTUELLES steller erledigt werden. Neue berufliche Chan- rin einig, dass der Zugriff auf Wissen in der ver- cen entstehen beispielsweise in der Hard- und netzten Gesellschaft heute einfacher als je zu- Software-Entwicklung für Assistenzsysteme, vor ist. Das empfanden die meisten als Ermäch- Maschinensteuerungen und Kommunikations- tigung. In der neuen Lebens- und Arbeitswelt systeme. Insgesamt rechnen die Teilnehmer da- der Bits & Bytes müssen insbesondere bei Ge- mit, dass Arbeitsplätze elektronischer werden. ringqualifizierten Möglichkeiten zur Nachquali- Getrieben wird diese Entwicklung auch durch fizierung geschaffen werden.« mobile Endgeräte wie Tablets oder Smartpho- nes. Arbeitsplätze für Geringqualifizierte bleiben »Werden Mitarbeiter Anhängsel von Com- »Aus Teilnehmersicht dort erhalten, wo sich Maschineneinsatz be- putern oder erleichtern diese die Arbeit bringt die Entwicklung triebswirtschaftlich nicht lohnt. der menschlichen Teams?« Darüber disku- des 3D-Drucks Kritisch wird ebenfalls die Entwicklung des tierte Dr. Stephan Sandrock mit Teilneh- Risiken für ganze 3D-Drucks gesehen. Risiken sehen die Teilnehmer mern. Der Arbeitswissenschaftler am ifaa: Berufsgruppen im für ganze Berufsgruppen im Zerspanungs-, Dreh- »In der Chancen-Risiken-Abwägung war das Zerspanungs-, Dreh- und Fräsbereich. Auch einfachere Angestelltentä- Meinungsbild unabhängig davon, ob die Teil- und Fräsbereich.« tigkeiten sind in Gefahr. Versicherungsverträge nehmer aus dem Arbeitgeber- oder Arbeitneh- werden heute teilweise bereits vollautomatisch merlager kamen, heterogen. Auf der Haben- Workshopleiter Sven Hille bearbeitet, ohne dass ein Angestellter Hand anle- Seite: höhere Produktivität, geringere Fehler- gen müsste. In der Logistik könnte das Qualifizie- quote sowie Entlastung von schwerer rungsniveau sinken, weil Mitarbeiter sich bei- körperlicher Arbeit. Mit künstlicher Intelligenz spielsweise in einem Lager nicht mehr selbst zu- ausgestattete Systeme könnten ihre mensch rechtfinden müssen, wenn sie durch die Anzeigen lichen Partner zudem bei der Entscheidungsfin- von Datenbrillen gelenkt werden und Drohnen in dung unterstützen und so kognitive Belastun- der Lage sind, die Inventuren durchzuführen. gen im Arbeitsprozess reduzieren. Erwähnt wur- Einhellige Meinung war: Je höher die de hier beispielsweise, dass intelligente Qualifikationsanforderung einer Arbeitsaufgabe Maschinen Mediziner bei der Stellung von Diag- an die Beschäftigten ist, desto sicherer werden nosen unterstützen können. Durch bessere Da- deren Arbeitsplätze auch in Zeiten von Industrie tenaufzeichnung sei auch eine objektivere Leis- 4.0 sein.« tungsbeurteilung von Arbeitnehmern möglich. Dagegen sahen einige Teilnehmer aber Javier Pato Otero, IG Metall-Bezirk Mitte, auch das Risiko der Entmündigung von Beschäf- Gewerkschaftliche Bildungsarbeit, Beruf tigten durch intelligente Maschinen. Ein kritisch liche Bildung, Jugendpolitik, über seinen angemerkter Aspekt war auch, dass künftig die Workshop zur Frage, ob die Digitalisierung Ausbildung leiden könnte, wenn Unternehmen die Menschen entmündigt oder ermäch- immer mehr Ressourcen in Roboter stecken. tigt: »Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wa- Thema waren natürlich Arbeitsplatzeffekte ren sich einig, dass die Digitalisierung bei uns von Industrie 4.0. Die Teilnehmer sahen durch- allen angekommen ist und dass wir damit um- aus neue Chancen für geringer Qualifizierte, die gehen müssen. Weitgehende Übereinstimmung in komplexen Arbeitsumfeldern durch Assis- bestand auch darin, dass das Leben dadurch tenzsysteme angeleitet werden können. Ande- transparenter wird. Die einen stört das, die an- rerseits befürchteten viele, dass es gerade in deren nicht. Thematisiert wurden auch Gefah- dieser Gruppe von Arbeitnehmern zu Beschäfti- Teilnehmer-Workshop ren: Durch die fortschreitende internationale gungsabbau kommen könnte.« mit Sven Hille Vernetzung könnten Regulatorien unterlaufen werden oder nicht mehr greifen; die gesetzli- chen Rahmenbedingungen müssen an die Digi- talisierung angepasst werden. Der Workshop zeigte auch, dass gewisse Gefahren der digitalen Welt vielen gar nicht be- kannt sind: Ein Beispiel ist die Änderung der AGB bei WhatsApp, die eine ungehemmte Weitergabe der Nutzerdaten an Facebook erlauben sollten. Die zweite diskutierte Frage war, wie man sich in diesem Umfeld für die digitale Zukunft qualifizieren kann. Schließlich müssen die Men- schen damit ja nicht nur leben, sondern auch arbeiten können. Die Teilnehmer waren sich da- ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 228 | 2016 13
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