Bye-bye, Babyboomers! - Der abstrakte demographische Wandel und seine ganz konkreten Auswirkungen - Avenir Suisse
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Mit Beiträgen von: Peter Grünenfelder Lino Guzzella Thomas Held Michael Hermann Daniel Müller-Jentsch Adolf Muschg Patrik Schellenbauer Rudolf Wehrli Bye-bye, u.a. Babyboomers! Der abstrakte demographische Wandel und seine ganz konkreten Auswirkungen. In Kooperation mit:
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 S eit Jahrzehnten drängen Demog raphen, Ökono- men und andere Sozialwissenschafter auf Refor- men der hiesigen Vorsorge- und Rentensysteme. Ohne nennenswerten Erfolg. Es wurde und wird zwar viel über den d emographischen Wandel geredet – welche handfesten Auswirkungen die Überalterung der Gesellschaft aber für den einzelnen Bürger hat, ist weiterhin nur wenigen Schweizern klar. Nun, da der lang prognostizierte Exodus der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsmarkt Realität wird, stehen Politik und Gesellschaft vor einem (in den kommenden Jahren rasant wachsenden) Berg ungelöster Probleme. Das «Bye-bye» der Babyboomergeneration, so viel ist sicher, hat Einfluss auf die Vorsorge, die intergenerationale Solidarität, aber auch auf die Demokratie, die Politik, die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, das Arbeitsleben und die Wissenschaft – kurz: auf unser ge- samtes Zusammenleben. Gemeinsam mit dem liberalen Think Tank Avenir Suisse (Projektleitung: Daniel Müller-Jentsch) geht der «Schweizer Monat» in dieser Sonderpublikation den konkreten Folgen des demographischen Wandels nach. Klar ist: für die Alters- kohorten, aus denen sich unsere Redaktion (Durchschnitts- alter: 34) zusammensetzt, bedeutet er: mehr Umverteilung, mehr Verteilkämpfe, rasant steigende Kosten, längeres Arbei- ten, weniger Mitbestimmung, weniger Freiheit. Jedenfalls, sofern nichts getan wird. Und was bedeutet er für Sie? Finden Sie es auf den kommenden Seiten heraus! Erhellende Lektüre wünschen Michael Wiederstein Peter Grünenfelder Chefredaktor Schweizer Monat Direktor Avenir Suisse
Inhalt Vermächtnis einer Generation: Peter Grünenfelder und Daniel Müller-Jentsch 1 Es wird ernst mit dem demographischen Wandel! Michael Wiederstein und Daniel Müller-Jentsch treffen Michael Hermann 2 «Alles war politisch: die Jeans, der Rock’n’Roll und natürlich auch die Sexualität» Absehbare Herausforderungen: Marco Salvi 3 Knappheit oder Überfluss? Jérôme Cosandey 4 Revision des Generationenvertrags Patrik Schellenbauer 5 Kampf um den urbanen Wohnraum Was folgt: Thomas Held 6 Die Abschiedsverweigerer Rudolf Wehrli 7 Nicht auf Kosten der Jungen! Adolf Muschg 8 Die Netzwerkler Lino Guzzella 9 So gelingt der Wissenstransfer Salomè Vogt 10 Das grosse Missverständnis 3
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 1Es wird ernst mit dem demographischen Wandel! Die grosse Pensionierungswelle der geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge zwischen 1945 und 1964 hat begonnen. Mit der Verabschiedung der Babyboomer aus dem aktiven Arbeitsleben tritt der gesellschaftliche Alterungsprozess in seine entscheidende Phase. von Peter Grünenfelder und Daniel Müller-Jentsch D emographie – war da nicht was? Seit Jahren wird vor den Fol- gen des demographischen Wandels gewarnt: Überalterung der Bevölkerung, Überlastung des Rentensystems, Fachkräfte- Peter Grünenfelder ist Direktor von Avenir Suisse. mangel, sinkende Steuereinnahmen, zurückgehende Innovations Daniel Müller-Jentsch dynamik, schwindende Wachstumskräfte. Aber von all dem war ist Ökonom und Senior Fellow von Avenir Suisse. im Alltag wenig zu spüren und entsprechend abstrakt blieb die Sorge über die Vergreisung der Gesellschaft. In der Tat befanden Bevor die sich daraus ergebenden Folgen und Probleme be- wir uns bislang in der «Latenzphase» des demographischen Wan- schrieben werden, sollte zwischen zwei verschiedenen Ab- dels. Diese geht nun zu Ende. Fortan werden die Folgen des Alte- grenzungen der Babyboomerjahrgänge unterschieden werden. rungsprozesses zunehmend spürbar. Wir stehen an der Schwelle Gemäss gängiger Definitionen zählen zu den Babyboomern die einer grossen Pensionierungswelle – jener der Babyboomer. Geburtsjahrgänge 1945 (Ende des Zweiten Weltkriegs) bis 1964 Die demographische Entwicklung von Gesellschaften ist (als der Höchststand der Geburten erreicht wurde und der ein schleichender Prozess und manche Ereignisse, die ein bis P illenknick einsetzte). Von nun an gehen jährlich immer zwei Generationen zurückliegen, haben oft weitreichende Aus- geburtenstärkere Jahrgänge in Rente – bis 2030 wird die Zahl wirkungen im Hier und Jetzt. Zu diesen gehört der «Babyboom» der Neurentner Jahr für Jahr weiter steigen. Bereits 2016 sind infolge des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Ende des Zwei- erstmals mehr inländische Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ten Weltkriegs: Ab den 1940er Jahren erlebte die Schweiz einen ausgeschieden als nachgerückt. Es wird also ernst mit dem de- rasanten Anstieg der Geburtenraten, der in zwei Wellen verlief mographischen Wandel. und 1964 seinen Zenit erreichte (siehe Grafik 1). Dann wurde Eine sinnvollere (wenn auch unübliche) Abgrenzung der die «Antibabyp ille» erfunden und mit ihr kam der «Pillen- Babyboomergeneration wären die zehn geburtenstarken Jahr- knick»: Die Geburtenrate fiel kontinuierlich, bis sie sich Mitte gänge vor und nach dem Pillenknick (1961–1971). Der Alte- der 1970er Jahre auf niedrigem Niveau stabilisierte. Dieses de- rungsprozess wird in Grafik 2 anhand dieser Jahrgänge darge- mographische Muster teilt die Schweiz mit den meisten Län- stellt. Besonders heikel wird es aus gesellschaftlicher Sicht, dern der westlichen Welt, mit gewissen Unterschieden. So wenn diese Jahrgänge das Rentenalter erreichen bzw. ein Al- setzte etwa in den USA der Kindersegen direkt nach Kriegsende ter, in dem viele pflegebedürftig werden (ca. 80 Jahre). Diese ein, während stark zerstörte Länder wie Deutschland zunächst Schwellenjahre sind in der Grafik markiert. einmal mit dem Wiederaufbau beschäftigt waren. In Frank- reich hingegen fiel der langfristige G eburtenrückgang nach Die Folgen sind in allen Bereichen spürbar dem Pillenknick weniger dramatisch aus. Mit dem Eintritt der Babyboomerjahrgänge in das Renten alter beginnt nun gewissermassen die heisse Phase des demo- Mit den Babyboomern altert die Gesellschaft graphischen Wandels. Diese hat weitreichende Konsequenzen Die Babyboomer entfalteten über die Jahrzehnte einen prä- – insbesondere auch auf das wirtschaftliche Wohlergehen genden Einfluss auf die Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur unseres Landes. Was bedeutet das konkret? – zum einen aufgrund ihrer grossen Zahl, zum anderen, weil sie Rentensystem: Durch die Pensionierung der geburtenstar- eine vergleichsweise homogene Generation sind. In den ver- ken Jahrgänge wächst das Heer der Rentenempfänger, während schiedenen Phasen ihres Lebenszyklus prägt die Generation der die Zahl der Beitragszahler abnimmt. Auch in den anderen So- Babyboomer die Gesellschaft auf unterschiedliche Weise. Jetzt, zialwerken sorgt das Ungleichgewicht zwischen den erwarte- da sie in die Jahre kommt, altert mit ihr die gesamte Gesellschaft. ten Leistungen und ihrer Finanzierung für erhöhten Druck. 4
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 Grafik 1: Entwicklung der Geburtenzahl und Geburtenziffer (1940 – 2015) In den 1940er Jahren kam es in der Schweiz zu einem ersten markanten Geburtenzahl Geburtenziffer Anstieg der Geburtenzahlen, gefolgt 120 000 4.0 von einem zweiten Schub ab den frühen Geburtenstarke Jahrgänge 1950er Jahren (rote Kurve). Die Kinder 105 000 (siehe Grafik 2) 3.5 dieser Geburtsjahrgänge werden der Babyboomergeneration zugeordnet. 90 000 3.0 1964 kam der «Pillenknick», und die Ge burtenrate sank kontinuierlich für die 75 000 2.5 nächsten 15 Jahre, um sich danach auf 2.1 niedrigerem Niveau zu stabilisieren. Ab 60 000 2.0 den 1970er Jahren fiel die Geburtenziffer Babyboom gemäss Geburtendefizit unter den Wert von 2,1, der für eine 45 000 Standarddefinition 1.5 konstante Bevölkerungszahl notwendig (siehe Grafik 4) 1.5 Geburtenzahl pro Jahr ist. Seit vielen Jahren liegt die Geburten 30 000 Geburtenziffer * 1.0 ziffer mit ca. 1,5 Kindern pro Frau fast Quelle: BfS Generationenerhalt ein Drittel tiefer als der Wert 2,1, d.h. 15 000 künftige Generationen der einheimischen 1940 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 Bevölkerung sind (ohne Zuwanderung) um ein Drittel kleiner als die ihrer Eltern. * Laut der Definition des BfS entspricht die zusammengefasste Geburtenziffer der durchschnittlichen Anzahl Kinder, die eine Frau im Verlauf ihres Lebens zur Welt bringen würde, wenn die altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern eines bestimmten Kalenderjahres zukünftig konstant bleiben würden. Grafik 2: Kohorte der 10 geburtenstärksten Jahrgänge und ihr Alterungsprozess Anzahl Personen pro Altersjahrgang 160 000 Pensionierung Vermehrt 1 440 000 * pf legebedürftig 140 000 1 410 000 * 1 290 000 * 120 000 Die Spitze der Fertilität nach dem Zweiten 1 110 000 * Weltkrieg bilden die zehn geburten stärksten Jahrgänge zwischen 1961 und 100 000 1971. Die Grafik zeigt deren Alterungs 735 000 * prozess im Zehnjahresabstand zwischen 80 000 2015 und 2055. Während sie altern (= Verschiebung der Altersverteilung Quelle: BfS 2014 (SAKE, Selbstdeklaration) nach rechts), nimmt ihre Anzahl durch 60 000 Todesfälle kontinuierlich ab (= Abflachung der Verteilungskurve) – von ca. 1,4 Mio. (2015) auf ca. 0,7 Mio. (2055). Besonders 40 000 folgenreich wird dieser Alterungsprozess 2015 2025 2035 2045 2055 bei Überschreitung des Pensionierungs 20 000 alters (65 Jahre) sowie bei Erreichung der Altersgrenze, an der sich die Zahl der Pflegebedürftigen markant erhöht (ca. 0 80 Jahre). 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 Altersverteilung * Gesamtzahl der Kohorte Grafik 3: Durchschnittsalter der Bevölkerung nach Kanton (2015) Alter 45 Das durchschnittliche Alter der 44 Schweizer Bevölkerung lag im Jahre 43 2015 bei 41,5 Jahren. Der entsprechende 42 Wert auf kantonaler Ebene variiert stark: 41 Zwischen dem jüngsten Kanton Frei Quellen: BfS, Avenir Suisse 40 burg (39 Jahre) und dem ältesten Kanton 39 Tessin (44 Jahre) liegen beachtliche 38 5 Jahre. Diese Diskrepanz ist überwiegend 37 auf internationale und Binnenmigration 36 zurückzuführen. Durch Wanderungs bewegungen entstehen demographische FR VD GE LU ZH AI SG TG ZG AG NE OW CH SZ VS JU AR UR GL SO NW BE GR BS SH BL TI Gewinner- und Verliererregionen. 5
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 Grafik 4: Babyboomer * innerhalb der Alterspyramide im Zeitverlauf Jahrgänge nach Alter Die Alterspyramide stellt den Alters aufbau der Gesamtbevölkerung dar. 2015 Für jedes Alter (gezählt von unten nach 110 2025 oben) wird die Zahl von Männern 105 (linke Hälfte) und Frauen (rechte Hälfte) 2035 100 2045 angezeigt. Früher, als die Geburtenraten 95 2055 noch höher waren, entsprach der 90 Altersaufbau einer Pyramide. Durch den demographischen Wandel jedoch 85 verschiebt sich die Geometrie des Al 80 tersaufbaus. 75 Die geburtenstärksten Jahrgänge der 70 Babyboomperiode bilden heute den 65 Bauch der Alterspyramide, die inzwi 60 schen mehr die Form einer Amphore Quellen: Bevölkerungsszenarien BfS, Avenir Suisse 55 hat. Im Zeitverlauf altert die 1945 – 1964 geborene Babyboomergeneration, 50 wodurch sich ihre Jahrgänge innerhalb 45 der Alterspyramide nach oben ver 40 schieben. Diese Verschiebung ist 35 ersichtlich in der Grafik. 30 Im Jahr 2015 waren die Babyboomer 25 zwischen 51 und 70 Jahre alt, während 20 sie im Jahr 2055 zwischen 91 und 110 Jahre alt sein werden. Somit «wächst» 15 die Babyboomergeneration über die 10 Jahrzehnte hinweg über die Pensionie 5 rungsgrenze von 65 Jahren und zuletzt ganz aus der Alterspyramide heraus. 80 000 60 000 40 000 20 000 0 20 000 40 000 60 000 80 000 Männer Frauen Anzahl Personen pro Jahrgang * Zu den Babyboomern gehören gemäss der Standarddefinition die Geburtsjahrgänge 1945 bis 1964. Die drei Bevölkerungspyramiden zeigen wurden. Die Generation X umfasst die das Generationengefüge der Schweiz in Geburtsjahrgänge 1965 bis 1980, die Ge den Jahren 1990, 2015 und 2040. Zur neration Y diejenigen von 1981 bis 1999. Kriegsgeneration gehören Personen, die Darauf folgen die Millennials. Die drei zwischen 1925 und 1945 geboren wurden, Abbildungen zeigen, wie diese Genera zur Generation der Babyboomer solche, tionen altern und sich entsprechend in die zwischen 1945 und 1964 geboren der Alterspyramide nach oben schieben. Grafik 5: Verschiebungen im Generationengefüge 1990 2015 2040 Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen 95 Kriegsgeneration: 1925 – 1945 95 95 Babyboomer: 1945 – 1964 85 85 85 Generation X: 1965 – 1980 75 Generation Y: 1981 – 1999 75 75 Millennials: 2000 – heute Quellen: BfS, Avenir Suisse 65 65 65 55 55 55 45 45 45 35 35 35 25 25 25 15 15 15 5 5 5 80 000 60 000 40 000 20 000 0 20 000 40 000 60 000 80 000 80 000 60 000 40 000 20 000 0 20 000 40 000 60 000 80 000 80 000 60 000 40 000 20 000 0 20 000 40 000 60 000 80 000 6
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 Arbeitsmarkt: Da die in den Arbeitsmarkt nachrückenden fuhr für die Gesellschaft und für die Wirtschaft – zumal die Schulabgänger aus geburtenschwachen Jahrgängen stammen, Zuwanderung dank der Personenfreizügigkeit vor allem eine sinkt ohne Zuwanderung die Zahl der Arbeitnehmer und Fach- Zuwanderung von Arbeitskräften ist. Die Folgen der Alterung kräfte. Steigende Kosten und längere Suchdauern bei den Un- der Babyboomer sind in der Schweiz also nicht so stark ausge- ternehmen sind die Folgen. prägt wie in Ländern mit geringer Zuwanderung. Wachstum: Der sinkende Anteil der Erwerbstätigen an der Den gleichen Effekt hat die Binnenmigration innerhalb der Bevölkerung dämft das Wirtschaftswachstum pro Kopf, zumal Schweiz auf der regionalen Ebene: Kantone und Gemeinden mit mit zunehmendem Durchschnittsalter auch die Innovations- Abwanderung altern deutlich schneller. So sind demographi- kraft sinkt. Das Wohlstandsniveau stagniert. In einem Umfeld sche Indikatoren in einigen entlegenen Talschaften vergleich- mit geringem Wachstum nehmen die politischen Verteil- bar mit jenen in Ostdeutschland oder in der französischen Pro- kämpfe tendenziell zu. vinz. Zu den Profiteuren der Wanderungsbewegungen hingegen Staatsfinanzen: Weniger Arbeitskräfte und Wirtschafts- gehören die Städte und Agglomerationen des Mittellandes. Bei wachstum bedeuten tendenziell weniger Steuersubstrat. ihnen wirkt die Zuwanderung wie ein Jungbrunnen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben des Staates infolge des de- Die Diskrepanz zwischen Regionen, die durch Zuwande- mographischen Wandels, insbesondere in den Bereichen Sozi- rung «jünger» werden und jenen, die durch Abwanderung «al- alleistungen, Gesundheit und Pflege. tern», zeigt sich an den grossen Unterschieden beim Durch- Politik: Mit der Pensionierung der Babyboomer verschie- schnittsalter der Bevölkerung in den Kantonen (siehe Grafik 3). ben sich die politischen Mehrheiten von den Jungen zu den Dieses reicht von 39 Jahren in Fribourg bis zu 44 Jahren im Alten, von den Beitrags- und Steuerzahlern hin zu den Netto- Tessin. So durchleben einige Landesteile bereits heute demo- empfängern staatlicher Leistungen. Eine wachsende Staats- graphische Entwicklungen, die auch auf den Rest der Schweiz quote dürfte die Folge sein. in den nächsten Jahren zukommen werden. Die notwendigen Reformen jetzt anpacken Wer folgt den abtretenden Babyboomern? Insgesamt werden die Handlungsspielräume der Politik Derzeit befinden sich die geburtenstärksten Jahrgänge der ab- und die Verteilkonflikte zunehmen. Um die negativen Babyboomer vermutlich auf dem Zenit ihrer Schaffenskraft, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen des bevorste- viele von ihnen besetzen Schlüsselpositionen in privaten Un- henden Alterungsschubs abzumildern, ist es Zeit für beherzte ternehmen und in der staatlichen Verwaltung, in der Kultur Reformen: und in der Wissenschaft. Sie prägen viele Institutionen und Sozialwerke: Erhöhung des Renteneintrittsalters, Senkung gesellschaftliche Diskurse – aber ihre Tage sind gezählt. Inter- des Umwandlungssatzes in der zweiten Säule, Sanierung der essant ist deshalb, welche Generationen den Babyboomern AHV, Massnahmen gegen das kontinuierliche Wachstum der folgen werden und wie sie mit ihren spezifischen Eigenschaf- Sozialausgaben. ten die Schweiz von morgen prägen werden. Wer sind die Er- Arbeitsmarkt: Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte, ben der Babyboomergeneration? Es lassen sich anführen: Erhöhung der Erwerbsquote bei Frauen durch eine verbesserte Generation X: Die auf die Babyboomer folgenden Geburts- Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Einführung der Indi- jahrgänge bis ca. 1980 werden als «Generation X» bezeichnet. vidualbesteuerung, flexiblere Arbeitsmodelle für ältere Arbeit- Zu den ihnen gemeinhin zugeschriebenen Merkmalen zählen nehmer, Massnahmen zur Weiterbildung. ein hohes Bildungsniveau, ein ausgeprägtes Konsumverhalten Wachstum: Rahmenbedingungen, die die Produktivität er- und Individualismus. höhen – wie Abbau von Regulierungen sowie eine Standort-, Generation Y: Die Jahrgänge 1980–1999 werden der «Ge- Bildungs- und Wissenschaftspolitik, die das Innovationspo- neration Y» zugeordnet. Ihre Vertreter gelten als gut ausgebil- tenzial stärken. det und technologieaffin, sie stellen gerne althergebrachte Staatsfinanzen: Ausgabendisziplin (insbesondere bei den Konventionen in Frage und legen Wert auf Selbstverwirkli- stetig steigenden konsumtiven Ausgaben), Abbau von Subven- chung. Ihnen folgen die Millennials, die stark von der Digitali- tionen, eine konsequente Einhaltung der Schuldenbremse. sierung und insbesondere auch von den sozialen Medien ge- prägt sein werden. Migration verzögert die gesellschaftliche Alterung Mit dem allmählichen Abtreten der Babyboomer aus dem Das Migrationsland Schweiz erlebt seit vielen Jahren eine aktiven Arbeitsleben kommt es zu einer grundlegenden Ver- starke Einwanderung und die Zuwanderer sind durchschnitt- schiebung im Generationengefüge. Die Erben der Babyboomer lich jünger als die angestammte Bevölkerung. Dadurch wird sind geprägt durch andere Erfahrungen, Werte, Eigenschaften die Alterung der Gesamtbevölkerung gedämpft bzw. zeitlich und Verhaltensweisen. Aber: was erwartet sie in der Welt, die die verzögert. Die Migration wirkt also wie eine Frischzellenzu- Babyboomer aufgebaut haben, um sie ihnen nun zu übergeben? � 7
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 2«Alles war politisch: die Jeans, der Rock’n’Roll und natürlich auch die Sexualität» Über das politische Vermächtnis der abtretenden Generation. Michael Wiederstein und Daniel Müller-Jentsch treffen Michael Hermann Die gesellschaftliche Bedeutung der Babyboomer verdankt sich Michael Hermann nicht nur der Grösse ihrer Kohorte, sondern auch der Tatsache, ist Geograph und Politikwissenschafter. Er ist Leiter der Forschungs dass sie von ihrer Sozialisation und ihrem Selbstverständnis stelle sotomo und lehrt am Geographischen sowie am Politik her eine recht homogene Generation sind. Woran liegt das? wissenschaftlichen Institut der Universität Zürich. Zuletzt von ihm erschienen: «Was die Schweiz zusammenhält» (Zytglogge, 2016). Die Babyboomer hatten und haben ein starkes Generationsbe- wusstsein. Während man heute Buchstaben erfinden muss, Michael Wiederstein um eine Generation festzumachen – Generation X oder Y –, ist Chefredaktor des «Schweizer Monats». haben die Babyboomer ihre spezifischen Eigenschaften und eine klare Identität. Diese entwickelten sie, weil sie sich im Daniel Müller-Jentsch Kontrast zur Kriegsgeneration definieren mussten. ist Ökonom und Senior Fellow von Avenir Suisse. Als die Babyboomer aufwuchsen, waren ihre Eltern mit dem Wiederaufbau beschäftigt, die Entbehrungen und Sorgen aus der Kriegszeit waren aber noch sehr präsent. Wie prägend Würden Sie der These zustimmen, dass die Babyboomer eine war dieser Umstand? sehr politische Generation waren? Politisiert durch ihren kollektiven Richtig, die Babyboomer waren eine Art Scharniergeneration. Werdegang, aber auch durch die ideologisch aufgeladene Zeit Ihre Eltern, die Kriegsgeneration, hatten einen oder zwei Welt- des Kalten Krieges, in der sie aufwuchsen? kriege und mindestens eine einschneidende Wirtschaftskrise Absolut. Vor allem die 1960er und 1970er Jahre waren ein Zeit- miterlebt. Das waren traumatische Erfahrungen. Viele Entwick- alter der Theorien und Ideologien: Es gab zwei klare politische lungen, die schon in den Roaring Twenties, der Zwischenkriegs- Alternativen in Ost und West. Der Zugang zu Politik war dis- zeit, eingesetzt hatten – die gesellschaftliche Öffnung, die kursiv und dialektisch. Die radikalen Ideen dieser Zeit waren Orientierung hin auf Selbstverwirklichung –, wurden von der noch nicht von ernüchternden Erfahrungen entzaubert. Zu- grossen Depression und dem Zweiten Weltkrieg unterbrochen, dem trug der harte Generationsgegensatz selber zur Politisie- ja zunichte gemacht. Ohne diesen markanten Bruch wären die rung bei; alles war politisch: die Jeans, der Rock’n’Roll und na- Entwicklungen wohl Schritt für Schritt weitergegangen. Doch türlich auch die Sexualität. Die eigenen Erfahrungen mit ihren so wurden sie unterdrückt und aufgestaut – bis es dann 1968 zum als autoritär wahrgenommenen Eltern prägten das politische grossen Dammbruch kam. Nie zuvor gab es einen so scharfen Bewusstsein der Babyboomer und führten zur Solidarisierung Generationengraben wie in diesem Moment. Die Traumata der mit unterdrückten Völkern und ausgebeuteten Arbeitern. ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten die Eltern der Baby- Heute hat «die Generation» als Identitätsbezug massiv an Be- boomer und ihre ordnungsliebende und auf materielle Dinge deutung verloren: Die einen haben konservative Eltern, die an- orientierte Weltanschauung. Die Generation der Babyboomer deren linke – na und? wurde im Aufschwung und der Sicherheit der Nachkriegszeit sozialisiert und entdeckte für sich ganz neue Lebensstile und Konkreter? Horizonte! Das betraf die Wirtschaft, die Politik, die Musik und die Weil keine offensichtlichen Reibungsflächen mit der Eltern Mode. Die radikale Verknüpfung von allem Fortschrittlichen und generation mehr bestehen, hat das Konzept der Generation Neuen mit der Jugend ist eine Erfindung der Babyboomergene- seinen identitätsstiftenden Charakter verloren. Verstehen wir ration – und diese Bindung ist bis heute stark. So gelten in der uns hier nicht falsch: Längst nicht alle Vertreter und Vertrete- Werbung nach wie vor nur die Jüngeren als relevante Zielgruppe. rinnen der Kriegsgeneration waren konservativ und längst 8
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 nicht alle Babyboomer links. Dennoch existierte für beide det und entwickelte viel intellektuelles Selbstbewusstsein. Gruppen eine dominante Erzählung. Selbst Fussballprofis lies- Auch in dieser Hinsicht handelt es sich also um eine Schar- sen sich damals die Haare wachsen und trugen Schlaghosen, niergeneration. Anders als heute war es damals jedoch ange- auch wenn viele von ihnen wohl wenig mit dem ganzen politi- sagt, sich hochabstrakte Theorien zu erschliessen und dicke schen Überbau anfangen konnten. Es herrschte eine Art gene- Wälzer zumindest mit sich herumzutragen. Von der Kriegsge- rationaler Gruppendruck. Als dieser sich später aufzulösen be- neration hatten die Babyboomer durchaus eine gewisse gann, rückten viele Babyboomer nach rechts. Ich habe dies in Strenge und Disziplin übernommen, sie bezog sich aber nicht einer Längsschnittanalyse von Abstimmungsnachbefragun- auf alle Lebensbereiche. Von nun an ging es auch in der Politik gen untersucht. Dabei kam heraus, dass sich die Babyboomer zunehmend um Selbstverwirklichung, und die sogenannt tatsächlich deutlich links von ihren Eltern abgrenzten, später «neuen sozialen Bewegungen» entstanden typischerweise jedoch stärker als andere Kohorten nach rechts schwenkten. ausserhalb bestehender, als einengend wahrgenommener Die nachfolgende Generation etwa, zu der ich selber gehöre Strukturen. Die Babyboomer sind deshalb auch die erste Gene- und die von meinem Altersgenossen Florian Illies einmal als ration des totalen Individualismus. «Generation Golf» bezeichnet wurde, startete weniger links, bewegte sich dann aber auch weniger stark nach rechts. Welche Auswirkungen hat das bis heute? Sieht man von all dem 1968er Gedöns ab, ist Individualismus Wenn sich also Alterskohorten später kaum mehr über die letztlich der Kern dessen, was von den Babyboomern an die Generation definierten: Was ist an die Stelle des «generationalen folgenden Generationen weitergetragen wurde. Bereits damals Gruppendrucks» getreten? wurde in die Wege geleitet, was heute zur Krise des Milizsys- Viel eher als die Generation sind es räumlich gekammerte Mili- tems geführt hat: Die Ordnungsliebe und das Dienen aus eus und individuelle Bildungswege, die die politische Identität Pflichtbewusstsein der Elterngeneration wurden als blosse Se- heute prägen. Es verhält sich dabei ähnlich wie mit den Klas- kundärtugenden abqualifiziert. Was jedoch beibehalten sen: Klassenunterschiede lassen sich ökonomisch noch immer wurde, ist die Überzeugung von der eigenen Urteilskraft. Doch identifizieren und dennoch lässt sich kaum noch ein homoge- statt um Sitte und Moral ging es nun vor allem darum, zwi- nes Klassenbewusstsein im Sinne eines Karl Marx feststellen. schen gutem und schlechtem Konsum, richtigen und falschen Auch Generationen werden sich immer unterscheiden lassen, Quellen oder auch zwischen Boulevard und gehobener Presse doch dies allein ergibt noch kein Generationenbewusstsein. zu unterscheiden. Dazu sind nicht zwingend Auseinandersetzungen mit der Elterngeneration nötig, aber zumindest eine gemeinsame Er- Weil die Generation Babyboomer so politisch war, weil sie noch fahrungswelt. «Generation Praktikum» ist ein Begriff, der an über das geschriebene Wort sozialisiert wurde und gut gebildet war, diesem Konzept anzuknüpfen versucht. Ob der erschwerte Be- hatte sie auch eine ausgeprägte Fähigkeit zur Durchdringung rufseinstieg jedoch wirklich eine Identität zu schaffen vermag, komplexer Themen und einer anspruchsvollen politischen Debatte. ist eher zweifelhaft. Noch am ehesten eignet sich aktuell die Sie waren fähig, ein demokratisches Staatswesen zu tragen technologische Entwicklung, und dabei insbesondere die Digi- und dynamisch zu halten. Stimmt dieses Bild von den Babyboomern talisierung – beides prägt das Bewusstsein jüngerer Generatio- als politisch vorbildlicher Generation? nen markant. Hier liessen sich die Buchstaben-Generationen Das kann man so sehen. Aber man sollte diese Generation nicht wohl noch am ehesten mit Inhalt füllen. idealisieren als die letzte mit klarer Urteilskraft, nach der nur noch Beliebigkeit regiert. Warum? Zwar scheuten sich die Baby- Es existiert die These, dass die Babyboomer die letzte Generation boomer nicht vor abstrakten Systemen und komplexen Denk- seien, die massgeblich über das Buch sozialisiert worden sei – welten. Die Fixierung auf theoretische Stringenz und ideologi- und politisch über die klassische Tageszeitung. Später traten das sche Reinheit unterminierte jedoch zugleich die F ähigkeit zur Privatfernsehen und die elektronischen Medien ihren Siegeszug selbstkritischen, ergebnisoffenen Beobachtung – und zwar auf an; beide übernehmen immer mehr die Sozialisierungs- und beiden Seiten des politischen Spektrums. Die einen vermochten Politikvermittlungsfunktion bei Jüngeren. In der Entwicklung sich für Mao zu begeistern, die anderen für General Pinochet. Es steckt – denken wir an Echokammern und Fake News – viel war auch eine Generation der Rechthaberei: Bis in die 1980er politischer Zündstoff. Jahre hinein war jede Seite völlig überzeugt davon, dass sie auf Die Babyboomer sind die letzte Generation des Buches, aber dem richtigen Weg sei – und alle anderen verloren seien. sie sind auch die erste Generation, die an der enormen Bil- dungsexpansion nach 1945 teilgenommen hat, und entgegen Nach der Ideologie und Rebellion ihrer Jugendphase haben die allem Kulturpessimismus hält diese Expansion bis heute an. Babyboomer den langen Marsch durch die Institutionen angetreten. Sie ist im Vergleich zu ihren Eltern und Grosseltern breit gebil- Heute sitzen sie an den Schaltstellen von Wirtschaft, Politik und 9
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 Gesellschaft. Insofern haben sie wieder zurückgefunden in das Sys- Sozialisten. Ideen am Horizont, die man verwirklichen wollte. tem ihrer Eltern, das sie reformiert, aber nicht über Bord geworfen, Wo ist denn dieser zukunftsoptimistische Überbau eigentlich sondern weiterentwickelt haben. Jetzt, da sie allmählich abtreten: hin? Die grossen Linien, die Aufstiegsnarrative: sie sind ver- was wird aus unserer Fähigkeit, die bestehende Komplexität blasst. Ich denke, das sorgt bei den Jüngeren für eine Art politi- intellektuell und organisatorisch zu beherrschen? sche Orientierungslosigkeit. Tatsächlich nimmt die Bereitschaft, sich mit komplexen Syste- men zu befassen, bei den nachfolgenden Generationen ab. Welche Konsequenzen hat das für unser Wertesystem? Was sich nicht in ein eingängiges Storytelling packen lässt, gilt Man kann hier einen schönen Vergleich ziehen: Für die Baby- zunehmend als unvermittelbar. Ohnehin scheint heute Politik boomer war wirtschaftlicher Wohlstand selbstverständlich mehr und mehr als eine Subdisziplin von Kommunikation ver- und sie haben diesen Wohlstand als selbstverständlich ge- standen zu werden. Man kann der Babyboomergeneration ja nommen, wenn nicht gar verachtet. Meine Generation und alle vieles vorwerfen, aber sie hat tatsächlich noch ganz ernsthaft jüngeren haben Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Demokratie versucht, das System zu verbessern. Bill Clinton, Gerhard auf ganz ähnliche Weise als etwas Selbstverständliches kennen Schröder oder Tony Blair als typische Vertreter dieser Genera- gelernt. Das, was für die ältere Generation eine umkämpfte tion waren bereit, den Bruch mit ihrer eigenen Basis zu riskie- Errungenschaft bedeutet, ist für die jüngere Generation etwas, ren, um die eigenen Reformideen voranzubringen. Typischer- das es «immer» schon gab. Wer die Zeit des Totalitarismus weise hatten sie sich dabei auch längst vom alten ideologischen nicht mehr erlebt hat, schätzt die Bedeutung und die Kraft der Korsett gelöst. liberalen Gesellschaftsordnung, des liberalen Rechtsstaats nicht in derselben Weise. Die Kriegsgeneration hat die Grenzen Jüngere Generationen wachsen auf mit der Omnipräsenz des der Menschlichkeit, die Babyboomer die des Materialismus weltweiten Netzes, der Social Media und der Smartphone-Apps. gesehen, wir sehen jetzt die Grenzen der Demokratie. Zu viele Dinge, die mehr als zwei Minuten Aufmerksamkeitsspanne haben vergessen, was Totalitarismus ist – und wie gefährlich erfordern, haben dort kaum mehr eine Chance. Wie wirkt sich das er sein kann. auf den politischen Diskurs und die Meinungsbildung aus – zumal in einer direkten Demokratie Schweizer Prägung? Sind es nicht vielleicht gerade die abtretenden Babyboomer, Hier sehe ich durchaus Herausforderungen für unser politi- die hier in der Pflicht sind, vermehrt aufzuklären? sches System. Denn nun ist eine neue Generation gekommen, Dabei gibt es ein Problem: Die Babyboomer haben aus einer die sich scheinbar immer weniger dafür interessiert, was dort langanhaltenden Phase der Sicherheit und Stabilität heraus geschieht, im «Maschinenraum» der Politik. Im Zentrum steht etwas gewagt und ausgetestet, und sind dann selber erschro- nicht mehr die Frage, welche Reformen angepackt werden cken über die Kräfte, die sie entfesselt hatten. Sie haben sich sollen, sondern vielmehr die Frage, wie sich dies politisch am eine gewisse Unsicherheit bezüglich der rasanten Globalisie- besten verkaufen und kapitalisieren lässt. Das Handwerk rung und der zunehmenden Öffnung eingehandelt. Viele sind heisst Kommunikation, PR statt Gesetze drechseln und legife- heute aber nicht mehr unbedingt bereit, den Preis dafür zu rieren. Personen, die Politik eher als ein juristisches, techni- zahlen. Auch deshalb sind sie im Laufe der Zeit konservativer sches Handwerk sehen, finden sich eher noch in Verbänden geworden… oder in der Verwaltung. Dies ist mit ein Grund für das Revival des Populismus. Denn durch die Umdeutung der Politik als …was wieder Emanzipationspotenziale für die Jüngeren böte, nicht? einen Akt der Kommunikation hat die Dominanz gefühlter Die jüngeren Generationen – das hat sich sowohl beim Brexit Wahrheit gegenüber faktenbasierter erst die nötige Legitima- als auch bei der Wahl Donald Trumps gezeigt – sind dahinge- tion erhalten. hend tatsächlich offener und finden auch dramatische Ver änderungen weniger problematisch. Als Optimist würde ich Sie meinen: das befreite Individuum der Generation X oder Y sagen: wir befinden uns aktuell in einer Phase, in der von ver- wirkt heute zusehends orientierungslos im Supermarkt der schiedenen Generationen mit unterschiedlichen Motiven aus- Ideen und der Lebenskonzepte? getestet wird, wie wichtig Demokratie, Rechtsstaat und Gewal- Wir haben heute tatsächlich eine unglaubliche Pluralität, die tenteilung sind. Dieses Austesten oder Gefährden führt dann man sich noch vor einer Generation kaum vorstellen konnte. zu einer stärkeren Bewusstwerdung dessen, was man hat und Die Babyboomer haben dafür gekämpft, aber zu ihrer Jugend- was man verlieren kann. Demokratien brauchen manchmal zeit waren das noch abstrakte Ideen, heute ist es allgegenwär- auch die Herausforderung und das Gegenprojekt – wenn wir tige Realität: Freiheit, Offenheit, Prosperität. Es gab eine aus der jüngeren Vergangenheit etwas lernen wollen, dann, Utopie von «demnächst ist alles offen und du kannst alles dass dieser Prozess langfristig stabilisierend wirkt. � machen». Das hatten die Liberalen, aber das hatten auch die 10
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 3 Knappheit oder Überfluss? Wie sich die anschwellende Pensionierungswelle auf Arbeitsmarkt und Arbeitsleben auswirken wird. von Marco Salvi W enn es in den Schweizer Medien um den Arbeitsmarkt geht, dominieren zwei entgegengesetzte, gar wider- sprüchliche Ansichten. Einerseits herrscht die diffuse Angst, Marco Salvi ist Ökonom und Senior Fellow von Avenir Suisse. dass der technologische Wandel zwangsläufig mit einer V ernichtung von Arbeitsplätzen einhergeht. Andererseits beklagen viele Unternehmen einen permanenten Mangel an beigetragen. Ebenfalls positiv auf die Erwerbsquote der Frauen Fachkräften, die sich mit der Pensionierung der Babyboomer- wirkte sich die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters aus. generation noch zuspitzen könnte. Nun, was stimmt? Dazu kam die Zuwanderung. Seit 1997 wurde eine Million Es lohnt sich, ein paar Fakten zu vergegenwärtigen. Ende Arbeitsplätze in der Schweiz geschaffen, die Hälfte davon von 2016 gaben 18 Prozent der Schweizer Unternehmen Schwie- Ausländern besetzt. Insgesamt hat die Erwerbsbevölkerung in rigkeiten bei der Einstellung von Fachkräften an; 16 Prozent der Schweiz in nur 20 Jahren um mehr als ein Viertel zuge- beklagten einen spezifischen Mangel an Akademikern. Vor nommen. Eine beachtliche Leistung. zehn Jahren hatten weniger als 10 Prozent der Betriebe ent- All dies spricht nicht für die «Arbeit geht aus»-These. Wer sprechende Rekrutierungsschwierigkeiten. Kürzlich vermel- dennoch davon überzeugt ist, dass Maschinen und Roboter die deten Wirtschafts- und Berufsverbände sogar einen akuten menschliche Arbeit ersetzen werden, sollte sich umso mehr Ingenieurmangel. Es geht aber nicht nur um Spezialisten. Die vor seinen Mitmenschen fürchten. Denn was ist ein besseres Gesamterwerbsquote liegt momentan auf rekordhohem Substitut für menschliche Arbeit als andere menschliche Ar- Niveau: Im Jahr 2016 nahmen etwas mehr als zwei von drei beit? Die jüngste Entwicklung in der Schweiz (man könnte aber Personen am Arbeitsmarkt teil. Dieser Anteil hat in den letzten auch weiter in der Geschichte zurückgehen) beweist, dass es 20 Jahren um 1,4 Prozentpunkte zugenommen, trotz der wach- keine fixe Menge an Arbeit gibt, die aufgeteilt werden muss. senden Zahl von Rentnerinnen und Rentnern. Die um 4,2 Pro- Im Gegenteil: mehr Beschäftigung generiert mehr Einkommen, zent höhere Erwerbsquote von Personen im «erwerbsfähigen was eine zusätzliche Nachfrage nach Arbeit auslöst. Arbeit er- Alter» (von 15 bis 64 Jahren) hat die Pensionierungswelle mehr zeugt Arbeit, sozusagen. als kompensiert. Es wäre allerdings falsch, die positive Dynamik des Das ist zuerst auf die vermehrte Arbeitsmarktbeteiligung Schweizer Arbeitsmarktes als selbstverständlich anzuneh- der Frauen zurückzuführen. Die (etwas) bessere Vereinbarkeit men, Alterung hin oder her. So nimmt der Anteil der Langzeit- von Beruf und Familie, aber auch das höhere Durchschnittsal- arbeitslosen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen laufend zu. ter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes haben dazu Dies könnte auf einen steigenden «Mismatch» zwischen nach- Arbeitsalltag im Generationenvergleich Babyboomer Generationen X/Y Produktion findet in einem Büro statt Produktion nicht mehr an einen Ort gebunden Nur ein Arbeitgeber Mehrere Arbeitgeber gleichzeitig Einzelkämpfer oder fixes Team Team für ein Projekt zusammengesetzt Lebenslängliche Arbeitsbeziehung Keine langfristige Arbeitsbeziehung Hierarchische Arbeitsaufteilung Arbeitsinhalt von den Angestellten selbst definiert Karriere und Lohnentwicklung im Vordergrund Autorenschaft als zentraler Wert 11
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 gefragten und angebotenen Kompetenzen hinweisen. Davon ersichtlich: So hat die Verweildauer im gleichen Betrieb bei sind ältere Beschäftigte eher betroffen, da sie in der Regel spe- den Jüngeren (leicht) abgenommen. Es ist auch nicht mehr zialisierter sind. unüblich, gleichzeitig für mehrere Arbeitgeber zu arbeiten. In den letzten Jahren mögen aber auch die sogenannten Neue, flexiblere Arbeitsmodelle machen sich langsam breit. flankierenden Massnahmen (FlaM) zur Personenfreizügigkeit Dank Technologie ist die Produktion nicht mehr an einem Ort die Funktionsweise des Arbeitsmarktes beeinträchtigt haben. gebunden, Teams werden also ad hoc für ein gegebenes Pro- Mit den FlaM hat die Zahl der allgemeinverbindlichen Gesamt- jekt zusammengesetzt. arbeitsverträge (GAV) stark zugenommen. Die darin enthalte- Diese Neuerungen beunruhigen die Gewerkschaften, die nen Mindestlöhne erschweren die Integration von Berufsein- flexible Arbeitsmodelle als prekär einstufen. Aber sie täuschen steigern und Tiefqualifizierten in den Arbeitsmarkt und leis- sich: Die Hoheit über die eigene Agenda bietet mehr Vorteile ten Automatisierung und Auslagerung Vorschub. Wenn sie für die Arbeitnehmer als für die Arbeitgeber. Letztere bevorzu- zudem – ähnlich Besoldungsreglementen – Lohnskalen fest gen grundsätzlich feste Arbeitszeiten; zum einen lassen sich so legen, die mit der Anzahl Erfahrungsjahre zunehmen, bilden ihre Angestellten besser kontrollieren und koordinieren, zum sie neue Hürden für den Wiedereinstieg von älteren Mitarbei- anderen sind sie oft an fixe Öffnungs- oder Präsenzzeiten ge- tern in den Arbeitsmarkt. So sehr, dass diese im Wettbewerb bunden. Bestimmt, Uber und die anderen Plattformen der Sha- mit weniger erfahrenen Kandidaten chancenlos bleiben. ring Economy bieten vielleicht nicht die besten Perspektiven Die wichtigste Herausforderung für den Schweizer Ar- für eine Langzeitkarriere. Trotzdem könnten sie eine wichtige beitsmarkt der Zukunft wird also nicht so sehr darin beste- Ergänzung sein, insbesondere für Jugendliche und weniger gut hen, ob genügend Stellen oder ausreichend viele Aufgaben situierte Personen. geschaffen werden können. Roboter hin oder her, die Arbeit Anpassungen sind aber auch seitens der Unternehmen wird uns nicht ausgehen. Vielmehr wird es darum gehen, die fällig. Die Treue der Mitarbeiter ist ihnen nicht garantiert. richtigen Investitionen in Bildung und Weiterbildung zu Viele Junge meiden zusehends Vollzeitstellen. Sie wollen beim s ichern und die Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes Inhalt der Arbeit vermehrt mitreden. Anders noch als die aufrechtzuerhalten. Babyboomer legen sie einen hohen Wert auf «Autorenschaft», Die Digitalisierung – diese wichtige, wenn auch keines- wie ihre Faszination für die Start-up-Szene und für Kultfiguren wegs einzige Quelle des Strukturwandels – wird der Schweizer wie Elon Musk oder Steve Jobs beweist. Dafür sind sie bereit, Arbeitsmarkt nicht ohne tiefgreifende Veränderungen meis- auf Sicherheit und garantierte Lohnerhöhungen zu verzich- tern können. Die Symptome des Wandels sind bereits heute ten. Oder zumindest auf einen Teil davon. � «Insgesamt hat die Erwerbsbevölkerung in der Schweiz in nur 20 Jahren um mehr als ein Viertel zugenommen. Eine beachtliche Leistung.» Marco Salvi 12
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 4 Revision des Generationenvertrags Warum der Umbau der Vorsorgesysteme dringend und eine Diskussion über die künftige Organisation der Alterspflege notwendig ist. von Jérôme Cosandey D ie erste Säule der Altersvorsorge (AHV) und die obligato- rische Krankenversicherung sind Grundpfeiler der sozia- len Sicherheit in der Schweiz. 2014 beanspruchten die beiden Jérôme Cosandey ist Forschungsleiter Sozialpolitik und Senior Fellow von Avenir Suisse. Versicherungen 44 Prozent aller Sozialausgaben, ihre Leistun- gen sind gesetzlich verankert und damit auch künftig vorgege- ben. Allerdings: diese Leistungsversprechen werden nicht vor- Drittens kann die Beitragsdauer verlängert werden, indem finanziert, sondern müssen durch künftige Generationen das gesetzliche Rentenalter erhöht wird. Diese Massnahme sichergestellt werden. Was bedeutet das? entfaltet gleich eine doppelte Wirkung: einerseits leisten Ar- In der AHV finanzieren die Lohnbeiträge der Aktiven die beitgeber und Arbeitnehmer länger AHV-Beiträge, anderseits laufenden Renten der Pensionäre. Die erste Säule der Alters- wird die Bezugsdauer der Rente verkürzt. Die finanziellen vorsorge basiert also nicht auf Sparen, sondern entspricht ei- Konsequenzen wären substanziell: Eine Erhöhung des Ren- nem gut organisierten, solidarischen Transfersystem. Dabei tenalters um 12 Monate für Mann und Frau würde eine Verbes- spielt das Mengenverhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern serung der AHV-Rechnung um ca. CHF 2,7 Milliarden im Jahr eine wichtige Rolle: Die AHV-Ausgaben werden infolge der 2030 bringen. Ein Blick in die Vergangenheit kann zudem Hin- Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge der Babyboo- weise liefern, dass sich eine Erhöhung des Rentenalters positiv mer, die zudem immer länger leben, künftig signifikant stei- auf den Arbeitsmarkt auswirkt: Das Frauenrentenalter wurde gen. Will man die AHV-Finanzen – vor allem im Sinne der im- 2001 und 2005 von 62 auf 63 bzw. von 63 auf 64 Jahre erhöht. mer weniger werdenden künftigen Zahler – ins Lot bringen, Das effektive Rentenalter der betroffenen Kohorte hat damals stehen grundsätzlich drei Hebel zur Verfügung. stark mitgezogen (s. Grafik 1). Erstens können die Leistungen, also die Renten, reduziert Allerdings: eine Erhöhung des Rentenalters über 65 Jahre werden. Solche Kürzungen sind jedoch politisch besonders ist in der Schweiz ein politisches Tabu. Doch wer, wenn nicht schwierig umzusetzen und auch wenig zielführend, weil die die Schweiz, sollte diese Massnahme ergreifen? Unser Land AHV die Existenzsicherung garantieren soll. weist eine der höchsten Lebenserwartungen der Welt aus. Un- Zweitens können die Einnahmen erhöht werden. Will man sere Wirtschaft zeichnet sich durch einen starken Dienstleis- das Kostenwachstum ohne Erhöhung der AHV-Beitragssätze tungssektor aus, der Anteil der Erwerbsbevölkerung in Sekto- finanzieren, muss die Gesamtlohnsumme in der Schweiz – und ren wie Landwirtschaft oder Schwerindustrie, die eine höhere damit die kumulierten Lohnbeiträge – steigen. Das gelingt ent- körperliche Abnützung bedingen, ist im internationalen Ver- weder, indem mehr Personen erwerbstätig werden (z.B. infolge gleich tief. Anders verläuft die Diskussion in der Mehrheit der von Migration oder durch Aktivierung bisher nicht arbeiten- Industrieländer: 17 OECD-Länder haben das Rentenalter 67 der Menschen), oder, indem die Wohnbevölkerung pro Kopf bzw. 68 beschlossen und zum Teil bereits in Kraft gesetzt, ob- mehr verdient. Das Problem: Wachstum kann nicht verordnet wohl diese Länder eine tiefere Lebenserwartung bei der Ge- werden. Anders sieht es bei der Erhöhung der Beiträge für die burt kennen als die Schweiz (s. Grafik 2). AHV-Finanzierung aus. Am generationengerechtesten gelänge das über die Mehrwertsteuer: Alle, Jung und Alt, zahlten in Steigende Belastung in der Alterspflege diesem Fall über ihre Konsumausgaben mit. Mit höheren Auch in der Krankenversicherung impliziert die Finanzie- Lohnabgaben hingegen würde die für den Schweizer Standort rung der Gesundheitsleistungen längerfristig eine zusätzliche wichtige Exportwirtschaft unter noch stärkeren Druck gera- Belastung der Erwerbsbevölkerung. Die Krankenkassenprä- ten, als sie mit dem starken Franken heute schon ist. mien sind als Kopfprämien konzipiert, auf den ersten Blick fin- 13
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 Grafik 1: Enge Kopplung zwischen effektivem und gesetzlichem Rentenalter der Frauen Rentenalter, Frauen 65 Rentenalter 64 (2005) 64 Rentenalter 63 (2001) 63 Quelle: BfS 2014 (SAKE, Selbstdeklaration) Gesetzliches Rentenalter 62 61 Effektives Rentenalter 60 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 Jahrgang der jeweiligen Kohorte Grafik 2: Lebenserwartung in OECD-Staaten mit Rentenalter 67+ * und in der Schweiz Alter Lebenserwartung Rentenalter 85 83 81 79 77 75 73 71 69 Quellen: OECD 2014, Avenir Suisse 67 65 Spanien Schweiz Italien Frankreich Australien Island Israel Norwegen Kanada Griechenland Niederlande Irland Grossbritannien Deutschland Belgien Dänemark USA Tschechien Polen * Rentenalter in Kraft oder bereits beschlossen Grafik 3: Die Pflegekosten pro 65+ variieren unter den Kantonen um den Faktor zwei Kosten der Alterspflege (Spitex und Pflegeheime, inkl. Betreuung und Hotellerie) pro 65+ (2014), indexiert Quellen: Spitex-Statistik 2014, SOMED-Statistik 2014, Avenir Suisse 140 120 100 80 60 40 20 0 AI VS NW AG SO TI TG BL SG JU OW GL GR SZ ZG VD CH FR UR LU BE SH ZH NE BS GE AR 14
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 det also kein Transfer zwischen Aktiven und Rentnern statt, ern um 12 Prozent nötig wird und sich der Anteil der Kranken- sondern nur zwischen Gesunden und Kranken. Da jedoch der kassenprämien für den Bereich der Alterspflege verdoppelt. grösste Teil der Gesundheitskosten in den letzten zwei Jahren Die langfristige Lösung der meisten skizzierten Probleme wäre vor dem Tod, sprich für die meisten im hohen Alter, anfällt, ein obligatorisches individuelles Pflegekapital für die Finan- führt das Kopfprämiensystem de facto zu einer Quersubventi- zierung der Alterspflege. Die angesparten Mittel wären für onierung der Betagten durch die Jungen. Auch die staatliche Pflege oder Betreuung – zu Hause oder im Heim – einsetzbar. Mitfinanzierung von Spital-, Spitex- und Pflegeheimleistun- Nicht verwendete Ersparnisse würden im Todesfall vererbt. gen über Steuermittel setzt eine zunehmende Umverteilung Das honoriert die Unterstützung der Angehörigen, motiviert von Jung zu Alt voraus. Im Kanton Zürich beispielsweise werden zum schonenden Umgang mit Ressourcen und stärkt die Ei- rund drei Viertel der Einkommens- und Vermögenssteuern genverantwortung. durch die Personen im Erwerbsalter erbracht. Das Pflegekapital sollte die durchschnittlichen Pflegekos- Die Zunahme der Lebenserwartung per se wirkt sich nicht ten (ohne Hotellerie) in einem Pflegeheim decken können. besonders stark auf die Gesundheitskosten aus. Mit steigender Daraus resultiert eine monatliche Prämie von ca. CHF 250. Das Lebenserwartung verschieben sich die «Kosten des Sterbens» mag auf den ersten Blick hoch erscheinen, allerdings werden einfach nach hinten. Mit der Pensionierung der Babyboomer heute etwa 70 Prozent davon über andere Kanäle finanziert, ändert sich jedoch die Dynamik der Finanzierung der Gesund- vor allem über Steuermittel und Krankenkassenprämien, die heitsausgaben: Die Anzahl der 80-Jährigen und Älteren nimmt entsprechend reduziert werden müssten. Weil die Beitrags- in den nächsten zwanzig Jahren in der Schweiz um über pflicht erst mit 55 Jahren begänne, wären jüngere Versicherte 80 Prozent zu. Zugleich steigt die Anzahl der Personen im Er- und ihre Familien signifikant entlastet. Kann eine Person die werbsalter nur um 7 Prozent. Damit wird klar: wollen wir den Prämie nicht zahlen, soll der Staat den betreffenden Bürger, Hochbetagten künftig gleich viele Ressourcen für die Alters- analog zur heutigen Regelung für Krankenkassenprämien, pflege widmen, stehen wir vor grossen finanziellen, aber auch entlasten. Reicht das Pflegekapital nicht aus, müssten die Aus- organisatorischen Herausforderungen. gaben wie heute durch private Mittel oder Ergänzungsleistun- gen gedeckt werden. Damit bleibt ein soziales Auffangnetz be- Kostenwachstum eindämmen stehen, der Staat käme jedoch nur noch subsidiär statt mit der Die Organisation der Alterspflege ist Sache der Kantone. Giesskanne zum Zug. Der föderalistische Ansatz ermöglicht die Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten. Jedoch sind erhebliche Unterschiede Umbau statt Abbau in bezug auf die jährlichen Pflegekosten pro 65-Jährigen und Die Finanzierung der AHV und die Sicherstellung der Al- Älteren zu beobachten. Die günstigsten Kantone Appenzell In- terspflege stellen den Generationenvertrag auf die Probe: nerrhoden, Wallis und Nidwalden können die Alterspflege bis Wenn künftig die jüngeren Generationen «nur» gleich viel wie zu 45 Prozent billiger erbringen als die teuersten (Appenzell die älteren Generationen einzahlen, reicht das Geld für ein Ausserrhoden, Genf, Basel-Stadt) – bei vergleichbarem Ver- Altern in Würde nicht. Erwarten die älteren Generationen die- sorgungsniveau (s. Grafik 3). selben finanziellen Leistungen wie ihre Vorfahren, wird die Eine komplementäre, ganzheitliche Organisation der Last für die Aktiven kaum tragbar sein. Es braucht also eine Pflege ist nötig: leicht pflegebedürftige Personen sollten am- Revision, wenn auch keine Kündigung des Generationenver- bulant zu Hause oder in Tagesstrukturen, die schwer pflegebe- trags. Die geltenden Leistungsversprechen dürfen aber so oder dürftigen hingegen stationär in Heimen gepflegt werden. Es so nicht auf Kosten der nächsten Generationen ausgeweitet braucht also eine Strategie des «ambulant mit stationär» statt werden. Der im Rahmen der Vorsorgereform 2020 geplante «vor stationär». Ausbau der AHV für Neurentner um CHF 70 pro Monat, der die Gelänge es, sich entlang der ganzen Versorgungskette von Erwerbsbevölkerung jährlich CHF 1,4 Mrd. zusätzlich kosten den besten Kantonen inspirieren zu lassen, wäre das Optimie- würde, zielt jedoch genau in die andere Richtung. � rungspotenzial substanziell. Es liessen sich jährlich CHF 1,9 Mrd. einsparen, wenn alle Kantone mindestens so effizient aufgestellt wären wie der Schweizer Durchschnitt. Dies entspricht 17 Pro- zent der Ausgaben von CHF 11 Mrd. (2014) für die Alterspflege. Generationengerechte Pflegefinanzierung Bei allen Optimierungsmöglichkeiten wird die Finanzie- rung der Alterspflege eine Herausforderung bleiben. Der Bun- desrat geht davon aus, dass bis 2045 eine Erhöhung der Steu- 15
SCHWEIZER MONAT SONDERDRUCK JUNI 2017 5Kampf um den urbanen Wohnraum Die Alten kehren in die Zentren zurück – und sie bringen viel Kapital mit. von Patrik Schellenbauer B is Anfang der 1990er Jahre verlief die Schweizer Geschichte des Wohnens, wie man sie in einem Land mit ländlichem Selbstbild erwarten würde: Das Häuschen im Grünen, in eini- Patrik Schellenbauer ist Chefökonom und stellvertretender Direktor von Avenir Suisse. ger Entfernung zur nächsten grösseren Stadt, galt den meisten als die erstrebenswerte, beinahe natürliche Lebensform. Zwar arbeiteten auch damals schon viele in der Stadt und der urbane Raum war auch damals schon der Wachstumsmotor der Volks- Das alles ist Geschichte. In den 1990er Jahren drehte der wirtschaft, doch das Ländliche war einst mehr als ein Sehn- Zeitgeist und mit ihm die Bewegungsrichtung der Menschen. suchtsort, die Landliebe führte tatsächlich zur Stadtflucht. Es Urbanität war wieder gefragt, aus «Retour à la nature» wurde war die Generation der Babyboomer – damals in ihren 30ern –, «Back to the City». Die Städte begannen wieder zu wachsen. die der Stadt den Rücken kehrte. Die Kernstädte erlebten einen Die Städter begannen bald, sich regulatorisch gegen den zu- ungeahnten Exodus. Sie schrumpften, und zwar sehr deutlich: nehmenden Druck auf den urbanen Lebensraum zu wehren – Die Stadt Zürich verlor zwischen 1970 und 1990 gut 60 000 und dieser Trend wird sich künftig verschärfen. ihrer Einwohner, Basel und Bern erging es nicht viel besser. Gleichzeitig setzte in der Agglomeration und auf dem Land ein Babyboomer in Rente kehren in die Stadt zurück enormer Bauboom ein. Davon zeugen heute Abertausende von Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass heutige Men- etwas angejahrten Einfamilienhäusern in den äusseren Vor- schen in den späteren Lebensphasen zentral wohnen wollen. ortsgürteln der Grossstädte, die in den 1980er Jahren ent Zwar altert die Gesellschaft in hohem Tempo, gleichzeitig erle- standen. Innerhalb nur eines Jahrzehnts verdoppelten sich die ben wir aber eine soziologische Verjüngung. Auf einen kurzen Häuserpreise, und Sorgen um ungebremsten Landverschleiss Nenner gebracht bedeutet dies: Die Babyboomer fühlen sich und Zersiedlung beschäftigten erstmals eine breitere Öffent- mit 65 oder 70 Jahren keineswegs alt, sie sind so gesund, mobil lichkeit. und unternehmungslustig wie keine gleichaltrige Generation vor ihnen. Für sie beginnt die nächste aktive Lebensphase. Die jungen Pensionäre suchen darum Konsum, Infrastruktur, Kul- tur, Unterhaltung und nicht zuletzt viele Sozialkontakte. In einem Wort: sie suchen die Urbanität. Diese erhöhte Nach- Tabelle frage nach zentralem Wohnraum durch die Babyboomer wird Bevölkerungsentwicklung der Schweizer Grossstädte 1930–2015 kein temporäres Phänomen sein, denn den betagten Alten 2015 2000 1990 1980 1970 1930 (80+) werden kurze Wege zu Infrastruktur, Medizin und So Basel 169 916 166 558 178 428 182 143 212 857 148 063 zialkontakten noch wichtiger. Bern 131 554 128 634 136 338 145 254 162 405 111 783 Viele Babyboomer, die vor 30 Jahren ins Grüne zogen, wer- Genève 198 072 177 964 171 042 156 505 173 618 124 121 den also zurück in die Städte drängen, und sie können sich dies Lausanne 135 629 124 914 128 112 127 349 137 383 75 915 leisten, denn sie sind so zahlungskräftig wie keine Rentnerge- Winterthur 108 268 90 483 86 959 86 758 92 722 53 925 neration vor ihnen. Die meisten von ihnen sind gut abgesi- Zürich 396 955 363 273 365 043 369 522 422 640 290 937 chert, sie profitierten während fast ihrer ganzen Erwerbskar Total Grossstädte 1 140 394 1 051 826 1 065 922 1 067 531 1 201 625 804 744 riere von der beruflichen Vorsorge, die 1985 obligatorisch wurde. In der Hochkonjunktur von 2003 bis 2008 standen sie Quellen: BfS, Schweizer Städteverband auf dem Karrierehöhepunkt und viele von ihnen waren Dop- 16
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