Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod

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Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
Juli 2017
Das VPOD-Magazin erscheint 10-mal pro Jahr

Die Gewerkschaft
Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste

Das doppelte Leid der Opfer
Der Blick zurück auf Zwangsversorgung, Entmündigung und Entrechtung
Wiedergutmachung und die Kesb – ein Interview mit Guido Fluri
Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
Thomas Gächter
                                                                                                        Professor
                                                                                           Universität Zürich und
                                      SCHWEIGEPFLICHT                                           Stiftungsrat BVK
                                      IM STIFTUNGSRAT
                                      Maulkorb für Stiftungsräte?
                                      3. Oktober 2017, Bern                                          Jorge Serra
                                                                                           PK-Netz Vizepräsident,
                                                                                                VPOD-Finanzchef
                                                                                                   und Mitglied in
                                       Wenn die Pensionskassen-Stiftungsräte
                                                                                           diversen Stiftungsräten
                                       ihren eigenen Arbeitgebern und Arbeitneh-
                                       merorganisationen nicht berichten dürfen,
                                        was für konkrete Änderungen verhandelt
                                        werden, steht die sozialpartnerschaftlich
                                        geführte berufliche Vorsorge auf dem Spiel.
                                         Mit einer auffallend strengen Auslegung                       Kurt Pärli
                                         der Schweigepflicht hat die BVK eine                           Professor
                                         Verunsicherung ausgelöst. Um Klarheit                   Universität Basel
                                          für die Stiftungsräte zu schaffen, bietet
                                          das PK-Netz eine Präzisierung zu dieser
                                           Frage an. Wir präsentieren ein neues
                                           juristisches Gutachten von Professor
                                            Kurt Pärli und eine kontroverse Debatte           Markus Hübscher
                                            mit wichtigen Exponenten zu diesem                  Geschäftsführer
                                            Thema.                                           Pensionskasse SBB

                                            Weitere Informationen und Anmeldungen:
                                            www.pk-netz.ch

Eine Tagung der                                                   Sa 09.09.17
                                                                  von 9.30 bis 17.30 Uhr
                                                                  Hotel Bern

SGB-­Gewerkschaftsjugend
                                                                  Zeughausgasse 9
                                                                  3011 Bern

zum Thema Digitalisierung
Samstag, 9. September 2017
von 9.30 bis 17.30 Uhr
Hotel Bern, Zeughausgasse 9, 3011 Bern

Referate
von Andreas Walker (Swissfuture)
und Markus Hudritsch (BFH)

Virtual-Reality-Demo
– VR-Brillen selber testen!

Workshops
mit Luca Cirigliano (SGB) und
Laura Perret Ducommun (SGB)

Simultanübersetzung Deutsch, Französisch und Italienisch.

Teilnahme für VPOD-Mitglieder gratis (inkl. Mittagessen)

Anmelden bis 18. August 2017: www.gewerkschaftsjugend.ch
Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
Editorial und Inhalt | VPOD

        Themen des Monats

5       «Finger von der Wäsche!»
        Erfolgreicher Streik in der Spitalwäscherei Freiburg

6       Hausaufgaben für die Schweiz
        ILO-Konferenz in Genf diskutiert über soziale
        Globalisierung und grüne Wirtschaft

7       Linksherum wandern                                                              Christoph Schlatter
                                                                         ist Redaktor des VPOD-Magazins
        Neue Zusammenarbeit mit den Naturfreunden Schweiz

8       Sieg der Auf klärung                                       Neandertaler
        Die «Altersvorsorge 2020» sichert die AHV                  Trump ein Neandertaler? Konnte man da und dort lesen oder gezeich-
                                                                   net sehen. Weil er so ein primitiver Sack sei. Oder weil er mitsamt
9       Zettelwirtschaft                                           seiner Spezies kurz vorm Aussterben steht. – Jedenfalls: Von der Wis-
        Ein schönes Buch feiert «100 Jahre Zentralbibliothek»      senschaft will der US-Präsident nichts wissen. Der Klimawandel ist
                                                                   eine Lüge. Und Impfen befördert Autismus.
11–16   Dossier: Behördeneingriffe einst und heute                 Neu ist das alles freilich nicht. Auch hierzulande machen Impfgeg-
        Fürsorgerischer Behördenzwang bis 1981                     ner mobil, und neuerdings kennt Heilpraktikerin Zita Schwyter aus
        Wie Guido Fluri mit einer Volksinitiative Druck machte     Uznach die Folgen genau: Schlafstörung, Legasthenie, Stottern, Hirn-
        Verdingwesen einst, Kesb heute: Absurder Vergleich!        tumor. Und Masturbation. Dieser Zusammenhang ist noch nicht mal
        Neue historische Arbeiten bringen Licht ins Dunkel         ganz falsch. Till Raether hat das im Magazin der Süddeutschen überzeu-
                                                                   gend dargelegt: Geimpfte werden nachweislich seltener krank. Und wer
                                                                   gesund ist, hat mehr Zeit und Lust zu Handarbeiten aller Art.
                                                                   Schon länger unter Druck steht Darwins Evolutionslehre. Kann man
                                                                   dran glauben, muss man nicht, so der Tenor. In den USA denken 40
                                                                   bis 50 Prozent der Bevölkerung, dass die Lebewesen seit Anbeginn in
        Rubriken                                                   ihrer heutigen Form existieren. In mehreren Bundesstaaten steht der
                                                                   Kreationismus auf dem Lehrplan oder zumindest «Intelligentes De-
4       Gewerkschaftsnachrichten                                   sign» – alle Lebewesen sind nach Plan gefertigt. Und bei uns? Neulich
                                                                   sass ich im Zug neben einem jungen Mann, der in einem «Lehrbuch»
10      Aus den Regionen und Sektionen                             las. Darin war bildkräftig erläutert, warum die Feder des Vogels sich
                                                                   auf gar keinen Fall aus den Schuppen des Reptils entwickelt haben
17      Susi Stühlinger: Die grosse Leere                          könne. Ich muss aber zugeben, dass auch mich manchmal Zweifel pa-
                                                                   cken, ob Johann Schneider-Ammann und Albert Rösti tatsächlich das
18      Wirtschaftslektion: Mehrwertsteuer für die AHV = sozial!   Resultat eines gnadenlosen Selektionsprozesses sind.
                                                                   Apropos Evolution: Jüngst hat die Wissenschaft – oder sind es Welt-
19      Wettbewerb: Schöne Künste                                  verschwörer? – herausgefunden, dass mehr vom Neandertaler in uns
                                                                   steckt, als wir jemals dachten. Jedenfalls in Menschen eurasischer
20      VPOD aktuell                                               und nordafrikanischer Abstammung. Offensichtlich kam es nicht
                                                                   nur vereinzelt zu Begegnungen zwischen Herrn Neandertaler und
21      Hier half der VPOD: Bruchrechnen                           Frau Sapiens und vice versa. Sondern häufig. Und es blieb nicht beim
                                                                   Händchenhalten am Höhleneingang.
22      Solidar Suisse: Syrische Flüchtlinge im Libanon –          Was haben wir davon? Die Tendenz zu Nikotinsucht, Allergie und De-
        «Wohin sollen sie auch gehen?»                             pression scheint, gemäss Stand der Forschung, Neandertaler-Erbe zu
                                                                   sein. Der Neandertaler war also nicht der kerngesunde, keulenschwin-
23      Menschen im VPOD: Dimitri Moretti ist der einzige          gende Haudrauf, als der er immer dargestellt wurde, etwa in dem schö-
        SP-Regierungsrat der ganzen Zentralschweiz                 nen Hanne-Wieder-Chanson aus den 1960ern («Der nicht Zeitung
                                                                   liest, wenn man mit ihm bei Tisch ist, / Der, wie ich, ein Stück von Be-
        Redaktion /Administration:                                 ckett nicht begreift / Der auch ohne Frischzellenkuren immer frisch ist
        Postfach 8279, 8036 Zürich                                 / Und mich nachts am Schopf in seine Höhle schleift.»). Oh nein. Viel-
        Telefon 044 266 52 52, Telefax 044 266 52 53               mehr ein netter, nachdenklicher, fast zu sensibler Zeitgenosse. Insofern
        Nr. 6, Juli 2017                                           kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen
        E-Mail: redaktion@vpod-ssp.ch | www.vpod.ch                werden, dass Trump einer ist. (Der wurde vielmehr unter Umgehung
        Erscheint 10-mal pro Jahr                                  der Evolution direkt nach Gottes Schöpfungsplan erschaffen.)

                                                                                                                                Juli 2017 3
Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
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                                                                              Kein Schiff wird kommen: Streik auf dem Lago Maggiore.
                                                                              Kein Licht ins Dunkel? Schwarzarbeit in der Schweiz.

                                                                              Unterschiede hinsichtlich Kontrolle, Sanktion und Berichterstattung
                                                                              verschwinden. Für den Aufenthalt von Sans-Papiers hat Genf mit dem
                                                                              Projekt «Papyrus» einen Weg aufgezeigt, der helfen wird, Schwarzarbeit
                                                                              einzudämmen. | sgb/slt (Foto: judigrafie/photocase.de)

                                                                              Gleichstellungsgesetz: Gut gemeint . . .
                                                                              Ein Bericht des Bundes zeigt, dass das Gleichstellungsgesetz (GlG) nach
                                                                              wie vor mangelhaft umgesetzt wird. Bereits 2005 hatte eine Evaluation
                                                                              einen solchen Befund erbracht. Inzwischen stehen die Chancen für die
                                                                              klagende – arbeitnehmende – Partei noch schlechter. 42 Prozent der Ur-
                                                                              teile fielen damals zu ihren Gunsten aus, seither nur noch 37,5 Prozent.
                                                                              Zu gewinnen gibt es also mit einer Klage nach GlG wenig. Gross ist da-
                                                                              gegen die Chance, zu verlieren. Und zwar den Job. In 84 Prozent der un-
                                                                              tersuchten Fälle besteht das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt der Urteils-
                                                                              verkündigung nicht mehr. Zwar sind Rachekündigungen verboten, doch
                                                                              die Klage dagegen bleibt meist erfolglos. Für den SGB ist es daher Zeit für
                                                                              einen Paradigmenwechsel: Es braucht Lohntransparenz und eine offizielle
                                                                              Behörde, die über die Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes wacht! | sgb

                                                                              24-Stunden-Pflege steht im Regen
                                                                              Der Bundesrat hat entschieden, die 24-Stunden-Betreuung der Regelung
E la nave non va!                                                             durch die Kantone zu überantworten und lässt damit die betroffenen
Auf der Schweizer Seite des Lago Maggiore fährt kein Schiff. Der 34-köp-      Care-Arbeiterinnen im Regen stehen. Der VPOD hatte für eine nationale
fige Schweizer Teil der Belegschaft der Navigazione Lago Maggiore pro-        Regulierung plädiert, welche die 24-Stunden-Betreuerinnen – meist Pen-
testiert mit dem Streik gegen seine Entlassung: Die dem italienischen         delmigrantinnen aus Mittel- und Osteuropa – dem Arbeitsgesetz unter-
Staat gehörende Schifffahrtsgesellschaft hat sämtlichen Beschäftigten         stellt. Auch gemäss der seit 2015 gültigen ILO-Konvention 189 über men-
der Schweizer Seite per Ende Jahr gekündigt. Gemäss Mitteilung der Ge-        schenwürdige Arbeit für Hausangestellte dürfen letztere arbeitsrechtlich
werkschaft SEV stösst der Streik bei Passagierinnen und Touristen auf         nicht schlechter gestellt werden als alle übrigen Beschäftigten. Schätzun-
grosses Verständnis; viele hätten sich in das Solidaritätsbuch eingetragen.   gen zufolge arbeiten in der Schweiz rund 10 000 Frauen in der Rund-um-
Auch die lokale Bevölkerung ist aufgerufen, sich an den Aktionen an der       die-Uhr-Betreuung von Betagten, wo sie häufig der Willkür ihrer Arbeit-
Schifflände Locarno zu beteiligen. Die Verkehrsminister Italiens und der      geber schutzlos ausgeliefert sind. Mit seinem Netzwerk Respekt@vpod
Schweiz hatten sich erst jüngst auf die Aufwertung der Schifffahrt auf den    unterstützt der VPOD die Betroffenen bereits seit 2013. | vpod
beiden Grenzseen verständigt; der Bund hatte die entsprechende Konzes-
sion für den Lago Maggiore erneuert und eine Zusammenarbeit mit der           Poststellen: Gelber Riese ohne Strategie
von der Schweiz aus betriebenen Luganersee-Schifffahrt angedacht. Al-         Kanton um Kanton, Gemeinde um Gemeinde wird der Bevölkerung klar,
lerdings steht Italien seit der Finanzkrise 2008 unter starkem Spardruck.     wie der von der Post geplante Abbau bei den Poststellen konkret aussehen
Die Streikenden bekräftigen ihren Willen zum Dialog, aber auch ihre           wird. Überall regt sich Widerstand gegen die Ausdünnung des Netzes.
Kampfbereitschaft. | slt (Foto: TiPress)                                      Inzwischen hat die Post eine Reorganisation von Poststellen und Verkauf
                                                                              vorgestellt; der neue Name «PostNetz» ist aber auch schon die grösste
Schwarzarbeit: Es braucht schmerzhafte Bussen                                 Innovation gegenüber den bisherigen Plänen. Weiterhin werden abge-
Schwarzarbeit in der Schweiz: 2016 gab es zwar mehr Verdachtsfälle, aber      magerte Zugangspunkte als Projekte der Zukunft präsentiert, während
weniger Kontrollen. Das Missverhältnis zeigt, dass die Politik offenbar       die Weiterentwicklung des Serviceangebots nebulös bleibt. Die Syndicom
nicht gewillt ist, Schwarzarbeit ernsthaft und effizient zu bekämpfen. Der    wird den Kahlschlag weiterhin bekämpfen. Auch die Motion, die im Nati-
SGB fordert Bussen, die so bemessen sind, dass sie wirklich abschrecken       onalrat mit 173 zu 13 Stimmen überwiesen wurde und die eine Neuformu-
– also gleich hohe wie bei Verstössen gegen die flankierenden Massnah-        lierung der gesetzlichen Vorgaben will, sollte der Postführung zu denken
men. Zudem muss der Bund dafür sorgen, dass die grossen kantonalen            geben. | syndicom/slt

4 Juli 2017
Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
Arbeitskampf | VPOD

Streik gegen die Privatisierung der Spitalwäscherei Freiburg: Erfolg in zwei Tagen

«Finger von der Wäsche!»
Zwei Tage lang standen die Maschinen in der Wäscherei des Freiburger Spitals HFR still. Am dritten Tag hat der
Verwaltungsrat den Streikenden und dem VPOD zugesichert, dass die Beibehaltung der Wäscherei geprüft wird. Die
Gewerkschaft bestreitet, dass mit einer Auslagerung Geld gespart wird. | Text: VPOD (Fotos: Eric Roset)

Auslagerung in Etappen? Die Wäsche des
Freiburger Spitals HFR wird heute lediglich
noch in Freiburg und Tafers «selber» gewa-
schen; an den übrigen Standorten sind Dritte
mit der Aufgabe betraut. Trotzdem war es für
die verbliebenen 30 Angestellten ein Schock,
als sie erfuhren, dass der Verwaltungsrat
nun die vollständige Privatisierung der Wä-
schereien anstrebt. Begründung: In Tafers
falle zu wenig Wäsche an, in Freiburg müsse
der Maschinenpark modernisiert werden,
was das Spital nicht zu leisten vermöge. Die-
sen «Grundsatzentscheid» zugunsten einer
Auslagerung quittierten die Beschäftigten
und der VPOD mit einem Streik. Am dritten
Tag der Arbeitsniederlegung lenkte der Ver-
waltungsrat ein.

Ebenbürtige Stelle zugesichert
Demnach wird, wie verlangt, eine Studie
erstellt, welche die Möglichkeit einer zentra-                                   «Finger von der Wäsche!»: Die Beibehaltung der Spitalwäscherei Freiburg wird
len Wäscherei in Freiburg für alle Standorte                                       jetzt ernsthaft geprüft – ein Erfolg des zweitägigen Streiks der Beschäftigten.
des HFR auf die Sicht von 10 Jahren hinaus
evaluiert. Der Entscheid pro Privatisierung
ist damit aufgehoben. Die Untersuchung             unabhängig vom Resultat der Studie alle                des HFR. Trotzdem, so betonte der VPOD,
soll sowohl finanzielle als auch technische        Beschäftigten der Wäscherei innerhalb des              würde die öffentliche Hand durch die Aus-
und logistische Aspekte beleuchten; sobald         HFR eine ebenbürtige Stelle angeboten be-              lagerung nicht einen Rappen sparen. Das
sie – in drei Monaten – vorliegt, muss neu         kommen.                                                Geld, das bei den Löhnen der Arbeiterinnen
verhandelt werden. Bereits jetzt ist, eben-        Die Monatslöhne in privaten Wäschereien                abgeknapst wird, fliesst dann einfach in Ma-
falls aufgrund des Streiks, zugesichert, dass      liegen über 1000 Franken unter dem Niveau              nagementaufgaben wie Schnittstellenbewirt-
                                                                                                          schaftung, Qualitätskontrolle, Ausschrei-
                                                                                                          bungswesen.
                                                                                                          Der zweitägige Streik wurde begleitet durch
                                                                                                          eine Unterstützungsdemo. Auf den Trans-
                                                                                                          parenten hiess es etwa «Touche pas à ma
                                                                                                          lingerie» («Geh mir nicht an die Wäsche»),
                                                                                                          und es wurde der Abba-Song «Money money
                                                                                                          money», leicht umgetextet, intoniert. Der po-
                                                                                                          sitive Ausgang zeigt: Privatisierung ist kein
                                                                                                          unabwendbares Schicksal. Der VPOD beharrt
                                                                                                          darauf, dass Spitäler Dienstleistungen aus ei-
                                                                                                          ner Hand erbringen: Um Kranke und Verletz-
                                                                                                          te gesund zu machen, braucht es Ärzte und
                                                                                                          Reinigungskräfte, Köchinnen und Pflegeper-
                                                                                                          sonal, Wäscherinnen und Techniker. Sie alle
                                                                                                          sollen bei einem Arbeitgeber angestellt sein.

                                                                                                                                                     Juli 2017 5
Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
VPOD | Internationales

Die ILO-Konferenz in Genf diskutiert über soziale Globalisierung und grüne Wirtschaft

Hausaufgaben für die Schweiz
An der 106. Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation ILO wurde die Schweiz in den
Expertenausschuss für Vereinigungsfreiheit gewählt, obwohl sie in dieser Frage selbst noch
Hausaufgaben hat. Freihandel und Umwelt waren weitere Themen. | Text: SGB (Foto: Laurent Gillieron/Keystone)

                                                                                                         völkerrechtskonformen Kündigungsschutz
                                                                                                         sorgen. Wie will man auf der Weltbühne für
                                                                                                         Ordnung sorgen, wenn man in der eigenen
                                                                                                         Stube nicht aufwischt?
                                                                                                         2006 hatte das CFA in der Behandlung einer
                                                                                                         Klage des SGB festgehalten, dass der Kündi-
                                                                                                         gungsschutz in der Schweiz nicht dem Völ-
                                                                                                         kerrecht entspricht. Es bemängelte, dass bei
                                                                                                         missbräuchlicher Entlassung aufgrund der
                                                                                                         Ausübung von Grundrechten keine Wieder-
                                                                                                         einstellung möglich sei. Das CFA wertet dies
                                                                                                         als Verletzung der ILO-Konventionen 87 und
                                                                                                         98 sowie der Europäischen Menschenrechts-
                                                                                                         konvention (EMRK). Ein kürzlich publizier-
                                                                                                         tes Gutachten der Universität Neuenburg
                                                                                                         kommt zum gleichen Schluss.

                                                                                                         Nur die ILO kann’s
                                                                                                         Weitere Themen der ILO-Konferenz waren
ILO-Konferenz Nummer 106: Generaldirektor Guy Ryder plädiert                                             der ökologische Umbau der Wirtschaft (siehe
vor bunten Fahnen und hinter weissen Blumen für eine grüne Wirtschaft.                                   Kasten) und ein sozial gestalteter Freihandel.
                                                                                                         Keine andere Organisation vermag in diesen
                                                                                                         Fragen in ähnlicher Weise Impulse zu geben
Das Problem: In der Schweiz sind gewerk-             Expertenausschuss für Vereinigungsfrei-             wie die ILO. Namentlich beim Freihandel
schaftlich Aktive und Whistleblower nur              heit (Committee on Freedom of Association,          fehlt es bei anderen Akteuren (WTO, IMF,
unzureichend gegen antigewerkschaftliche             CFA) hat wählen lassen. Dieses Gremium              G8) am Know-how oder am Willen. Ein Be-
Kündigung geschützt. Sie können wegen                prüft Beschwerden gegen Staaten hinsicht-           weis für das Gewicht der ILO ist die Integ-
Teilnahme an GAV-Verhandlungen, gewerk-              lich Verletzung der Gewerkschaftsfreiheit.          ration ihrer Forderungen in die 17 Ziele für
schaftlichen Aktivitäten oder gar wegen un-          Die Schweiz wird von Seco-Mitarbeiterin             nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030
bequemen Fragen entlassen werden. Selbst             Valérie Berset-Bircher vertreten. Das ist eine      der Uno. Deren Ziel Nr. 8 verlangt menschen-
wenn ein Gericht später feststellt, dass die         Ehre, aber vor allem auch eine Verpflichtung:       würdige Arbeit, die Respektierung der Ge-
Entlassung missbräuchlich war, hilft das             Der Bundesrat muss jetzt endlich für einen          werkschaftsfreiheit und Vollbeschäftigung.
den Geschassten wenig: Das Opfer kann mit
maximal 6 Monatslöhnen als Entschädigung
rechnen. In der Praxis sind es zumeist nur           Prelicz-Huber für grüne Wirtschaft
2 bis 3 Monatslöhne. Damit sind die ILO-             VPOD-Präsidentin Katharina Prelicz-Huber hat        treiben lassen.» In der Energiepolitik etwa füh-
Empfehlungen für Vereinigungsfreiheit und            an der ILO-Konferenz klargemacht, dass eine         re kein Weg an der Umstellung auf erneuerbare
das Recht auf Kollektivverhandlungen in der          sozialere Welt ohne ökologische Nachhaltigkeit      Quellen vorbei. Die Idee, dass ökologische Nach-
Schweiz nicht respektiert.                           nicht zu erreichen ist. In ihrer Rede zum Bericht   haltigkeit im Widerspruch zu Wachstum und Ent-
                                                     von Generaldirektor Guy Ryder über «Arbeit in       wicklung stünden, ist laut Prelicz-Huber obsolet.
Auf der Weltbühne aufwischen?                        Zeiten des Klimawandels» signalisierte Prelicz-     «Es mutet zynisch an, Arbeitsplätze erhalten zu
Darauf hat auch der SGB an der 106. Kon-             Huber, dass die Schweizer Gewerkschaften diese      wollen, die über kurz oder lang mehr schaden
ferenz der Internationalen Arbeitsorgani-            «grüne Initiative» unterstützen: «Es kann nicht     als nützen.» Daher gelte es, die Umstellung auf
sation ILO, die Anfang Juni in Genf statt-           sein, dass wir wider besseres Wissen aufgrund       eine grüne Wirtschaft voranzutreiben und sie mit
fand, hingewiesen. Zumal angesichts der              kurzfristiger Gewinnaussichten unseren Planeten     der Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze
Tatsache, dass sich die Schweiz dort in den          und die Menschheit weiter in die Katastrophe        zu verschränken. | vpod

6 Juli 2017
Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
Verbände | VPOD

Zusammenarbeit mit den Naturfreunden Schweiz: VPOD-Mitglieder erhalten Rabatt

Linksherum wandern
Die Naturfreunde Schweiz (NFS) haben einen neuen Präsidenten: Urs Wüthrich-Pelloli. Die Jüngeren kennen den
Kollegen als ehemaligen Baselbieter SP-Regierungsrat, die Älteren erinnern sich noch an den VPOD-Zentralsekretär.
| (schriftliches) Interview: slt (Foto: zVg)

VPOD-Magazin: Urs Wüthrich-Pelloli,                Urs Wüthrich-Pelloli, ehema-
du bist der neue Präsident der Naturfreunde          liger VPOD-Sekretär, dann
Schweiz und kennst auch den VPOD sehr              Baselbieter Regierungsrat, ist
                                                     neuer Präsident der Natur-
gut. Wo siehst du die Gemeinsamkeiten der          freunde Schweiz und will die
beiden Organisationen – abgesehen vom                       Organisation wieder
Gründungsjahr 1905?                                        «politischer» machen.
Neben der Tatsache, dass die Naturfreunde-
bewegung – parallel zu SP, Gewerkschaften
und Genossenschaften – ihre Wurzeln in
der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung
hat, verstehen sich beide Verbände als Selbst-
hilfeorganisationen, die nur dank grossem
ehrenamtlichen Engagement funktionieren
können. Gemeinsam ist uns die internatio-
nale Vernetzung. Hohe Übereinstimmung
besteht auch bei den Werten, für die wir
einstehen. Als NFS bekennen wir uns aus-
drücklich zu nachhaltiger Entwicklung, To-
leranz, demokratischen Werten sowie zu den        haben die Naturfreunde Schweiz in den             verständlich. Ist der Vereinsname – der nur
Grundrechten von Mensch und Natur.                letzten Jahrzehnten auf eine politische Posi-     die männliche Form nennt – noch nie unter
Du hättest dich nach 12 Jahren Regierungs-        tionierung verzichtet. Ich habe im Hinblick       feministischen Beschuss geraten?
tätigkeit in den wohlverdienten Ruhestand         auf meine Wahl klargestellt, dass ich diese       Persönlich wurde ich noch nicht mit dieser
zurückziehen können. Was treibt dich an,          Entwicklung für verhängnisvoll halte, weil        Kritik konfrontiert, und der «Markenname»
nochmals ein neues Amt anzupacken?                sie Verlust von Identität, Profil und Allein-     steht nicht zur Diskussion. Da ich in Sachen
Welche persönliche Verbundenheit gibt es?         stellungsmerkmal bedeutet. Weil ich nicht         Gleichstellung in meiner VPOD-Zeit klar
Selbstverständlich schätze ich einen deutlich     will, dass unsere Leitideen und Werte Wort-       geprägt wurde, spreche ich in Briefen, Be-
langsameren Rhythmus und mehr Möglich-            hülsen und wirkungslose Absichtserklärun-         richten und Reden aber konsequent die Na-
keiten, freie Zeit zu geniessen. Gleichzeitig     gen bleiben, hat für mich die inhaltliche und     turfreundinnen und Naturfreunde an – im
finde ich herausfordernde Aufgaben unver-         politische Positionierung unserer Bewegung        Unterschied zu diesem Interview, in dem
ändert spannend und auch unverzichtbar für        einen hohen Stellenwert.                          ich den Begriff «Naturfreundebewegung»
meine geistige Fitness. Konsequenterweise         Der gleichberechtigte Einbezug der weiblichen     verwende.
engagiere ich mich in verschiedenen Projek-       Mitgliedschaft ist für die Naturfreunde selbst-   Warum sind die Naturfreunde – trotz ihres
ten. Weil ich vom Sinn der Naturfreundebe-                                                                           biblischen Alters – noch
wegung überzeugt bin und meine Erfahrung          VPOD-Mitglieder profitieren von einer Direktmitgliedschaft zeitgemäss?
für die Führung dieses Verbandes mit seinen       zum halben Preis im ersten Jahr. Die Naturfreunde Schweiz Wandern ist mit grossem
vielfältigen Interessen und Anspruchsgrup-        (NFS) sind ein Freizeitverband für Umweltschutz, sanften Abstand der beliebteste Brei-
pen sicher nützlich ist, habe ich diese Her-      Tourismus, Sport und Kultur mit rund 15 000 Mitgliedern tensport in der Schweiz. Ge-
ausforderung gerne angenommen.                    in 136 Sektionen sowie 70 Naturfreundehäusern. In der meinsame Naturerlebnisse
Die Naturfreunde sind, wie du geschildert hast,   Naturfreundebewegung begegnen sich gesundheits-, natur- und stärken den gesellschaftli-
aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen.          kulturinteressierte Menschen aller Altersgruppen. Naturfreunde- chen Zusammenhalt. En-
Ist diese Herkunft heute noch spürbar?            Mitglieder profitieren von Aktivitäten und Kursen im Bereich gagement für eine intakte
Das ist je nach Sektion und Altersstruktur un-    Naturkunde und Sport. Die Naturfreundehäuser liegen an Umwelt bedeutet Zukunfts-
terschiedlich. Im Gegensatz zu Deutschland,       wunderschönen Orten, mitten in Wander- und Skigebieten. Das sicherung. Wir sorgen für
wo man sich mit «Genossin»/«Genosse»              Magazin Naturfreund informiert 4-mal jährlich in attraktiver Bewegung und Begegnung
anspricht und sich in den Statuten dem            Form über die Themen Freizeit, Umwelt und Gesundheit. und sind darum aktuell und
demokratischen Sozialismus verpf lichtet,         www.mitgliedschaft.naturfreunde.ch – Gutscheincode: VPOD17         zukunftsfähig.

                                                                                                                                      Juli 2017 7
Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
VPOD | Politik

Die Fronten rund um die «Altersvorsorge 2020» klären sich, die Pro-Kampagne läuft

Sieg der Aufklärung
Die Fronten klären sich: Das Ja-Lager zur «Altersvorsorge 2020» umfasst inzwischen auch fortschrittliche Bür-
gerliche – und sämtliche Altersorganisationen. Auch die Frauendachverbände heissen die Reform gut. Derweil
geben die Verordnungsentwürfe Antwort auf wichtige Fragen. | Text: SGB/VPOD

Der SGB begrüsst die Eröffnung des Ver-         sen Zeitpunkt hin greift auch die Besitzstand-       sind auch die Ja-Parolen der wichtigsten
nehmlassungsverfahrens über die Verord-         garantie für die Übergangsgeneration. Für            Frauen- (Alliance F, Landfrauen, Katholi-
nungen zur «Altersvorsorge 2020». Damit         den SGB ist klar, dass auch Versicherte davon        scher Frauenbund, Evangelische Frauen)
wird Klarheit darüber geschaffen, wie die       profitieren sollen, die sich vor dem Referenz-       und Altersorganisationen (Vasos, Senioren-
Gesamtlösung konkret umgesetzt werden           alter 65 pensionieren lassen. Eine Ungleich-         rat und Pro Senectute). Überall setzte sich
soll. Für die Versicherten wichtige Fragen      behandlung würde vor allem die körperlich            bei der Gesamtbetrachtung die Erkenntnis
werden beantwortet: Die AHV-Verbesserun-        streng Arbeitenden bestrafen und dem Willen          durch, dass die Vorlage das derzeit erhältli-
gen etwa werden ab 1. Januar 2019 ausbe-        des Gesetzgebers zuwiderlaufen.                      che Optimum verkörpert.
zahlt, und zwar an all jene, die ab 2018 das    Jetzt zeichnet sich auch ab, dass es am              Auch die Delegiertenversammlung des VPOD
Referenzalter erreichen. Damit können auch      24. September ein doppeltes Ja brauchen              hatte sich nochmals mit der Altersvorsorge
jene Frauen, die 2018 bereits eine Erhöhung     wird, denn das Referendum gegen die «Al-             2020 zu beschäftigen, weil die Frauenkom-
ihres Rentenalters um 3 Monate hinnehmen        tersvorsorge 2020» ist deponiert. Es wäre            mission den für die Pro-Kampagne vorgese-
müssen, auf den Zuschlag zählen.                nicht nötig gewesen, da die Vorlagen ohne-           henen Zusatzbeitrag an den SGB (2 Franken
                                                hin über Kreuz miteinander gekoppelt sind.           pro Mitglied) verweigern wollte. Der Antrag
Sorgfältiger Übergang                           Derweil wächst der Kreis der Unterstützen-           unterlag. Der Abstimmungskampf ist inzwi-
Auch die Anpassung des Mindestumwand-           den immer weiter; er umfasst inzwischen              schen angelaufen, da der Urnengang gefühlt
lungssatzes in der obligatorischen beruf-       auch kompromissorientierte Bürgerliche (in           direkt nach den Sommerferien stattfindet.
lichen Vorsorge tritt per 1. Januar 2019 in     einem Komitee um die Aargauer Alt-Stände-            Tenor: Mit der «Altersvorsorge 2020» werden
Kraft. Dadurch erhalten die Pensionskassen      rätin Christine Egerszegi) und fortschrittli-        die Renten gestärkt, und die AHV-Finanzie-
Zeit, ihre Reglemente anzupassen. Auf die-      che Patrons der Westschweiz. Von Belang              rung wird bis gegen 2030 gesichert.

Otto Piller: Als Grossvater die erste AHV bekam
                                                VPOD-Kollege Otto Piller war Ständerat und           Gesellschaft und Wirtschaft haben sich seither
                                                langjähriger Direktor des Bundesamts für So-         verändert. Die Lebenserwartung ist stark gestie-
                                                zialversicherungen. Hier sagt er, warum er die       gen. Ebenso erfreulich: Die Gleichstellung von
                                                AHV mit Süssigkeiten in Verbindung bringt. Und       Frau und Mann kommt voran, wenn auch zu lang-
                                                warum es die Reform braucht.                         sam. Die dritte Veränderung ist weniger positiv:
                                                                                                     Seit einigen Jahren stottert der Motor der zweiten
                                                Im Januar 1948 erhielt mein Grossvater erst-         Säule. All das verlangt natürlich Anpassungen.
                                                mals die AHV. Es waren rund 40 Franken. Er           Die Abstimmungsvorlage bringt sie. Sie sichert
                                                war überglücklich und wollte uns Grosskinder         das Vorsorgeziel von 60 Prozent des letzten Loh-
                                                an seiner Freude teilhaben lassen. So kaufte er      nes. Und sie ist ausgewogen. Alle mussten etwas
                                                uns im Dorfladen Süssigkeiten. Ich war 6 Jah-        geben. Aber letztlich profitieren auch alle – aus-
                                                re alt – und die AHV blieb mir lange eine süsse      ser die Reichen und die Superreichen, die den
                                                Überraschung.                                        Sozialstaat nicht brauchen und ihn bei jeder Gele-
                                                Die Einführung der AHV in der Schweiz war al-        genheit bekämpfen. Die gleichen Kreise aus Poli-
                                                les andere als süss. Es war ein langer politischer   tik und Wirtschaft sind schon 1947 gegen die AHV
                                                Kampf notwendig, bis sie 1947 gutgeheissen wur-      Sturm gelaufen. Allerdings ist die Schweiz seither
                                                de. 1972 beschloss das Stimmvolk das Dreisäulen-     zu einem der reichsten Länder der Welt aufgestie-
                                                prinzip für die Altersvorsorge; 1985 trat das BVG    gen. Wir können uns den Sozialstaat heute viel
                                                in Kraft. Im Grundsatz wurde festgelegt, dass        besser leisten als damals. Deshalb: Erteilen wir
                                                AHV und berufliche Vorsorge zusammen eine Al-        diesen Kreisen im kommenden September einen
                                                tersrente von mindestens 60 Prozent des letzten      Denkzettel! Stimmen wir massiv Ja! | Otto Piller
«Mister AHV»: Otto Piller.                      Lohnes ergeben sollten.                              (Foto: zVg)

8 Juli 2017
Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
Neue Bücher | VPOD

Ein schön gemachtes Buch feiert das Jubiläum einer Zürcher Institution – «Wissen im Zentrum: 100 Jahre Zentralbibliothek»

Zettelwirtschaft
Die Zentralbibliothek Zürich feiert ihr 100-jähriges Bestehen. Der schöne Jubiläumsband schält wesentliche
Entwicklungen heraus, etwa jene von der Zettel- zur Datenwirtschaft. Auch die Arbeitsbedingungen und die
Organisation des Personals kommen zur Sprache. | Text: Christoph Schlatter (Foto: Béla A. Polyvás, aus dem besprochenen Buch)

Vor 100 Jahren wurden in Zürich die Stadt-
und die Kantonsbibliothek in einem Neubau
vereinigt. Der Band, der dieses Jubiläum
feiert, ist eine Augenweide. Die Geschichte
und damit die Bestände der Vorläuferinsti-
tutionen reichen ja viel weiter zurück. Davon
zeugen die Bilder: Die drei Stadtheiligen tra-
gen ihre Köpfe unterm Arm in einem Gebet-
buch aus dem 15. Jahrhundert. Aus dem 16.
Jahrhundert stammt ein Mini-Koran. Land-
karten und Stadtpläne finden sich. Der frühe
Globi von 1939. Und ein alter Globus aus
St. Gallen, Objekt eines interkantonalen Kul-
turgüterstreits, der sich von 1712 bis 2009
erstreckte ...

VPOD seit 1959 vor Ort                                                                              Jugendstil ade: Der alte Lesesaal der Zentralbibliothek
Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk von fünf                                                          ist mit dem Umbau 1900–1994 abgebrochen worden.
Autorinnen und Autoren. Der Gewerkschaf-
ter stürzt sich naturgemäss zunächst auf den
Beitrag von Adrian Knoepfli, der das Perso-        tallationen auf Schreibtischen – bis die An-     Zentralkatalog – 8316 Schubladen, 2,4 Mil-
nal in den Mittelpunkt stellt. Zu Beginn wa-       schaffung einer ersten zentralen Mövenpick-      lionen Katalogzettel, Stock aus Nussbaum,
ren die Arbeitsbedingungen vergleichsweise         Kaffeemaschine für Entspannung sorgte.           Schubladen aus Ahorn oder Obstholz, Be-
komfortabel, zumal für die Bibliothekare. Die                                                       schläge aus vernickeltem Messing – stand bis
ihnen gewährte 40-Stunden-Woche und die            «Einer ist eingeschlafen»                        2016 im Katalogsaal. Er wies die Bestände
4 Wochen Ferien waren allerdings mit der Er-       Mit dem Erweiterungs- und Umbau Anfang           der Bibliothek nach zweierlei Logik nach. Ein-
wartung verknüpft, «dass sie ausserhalb ihrer      der 1990er Jahre hatte die nach Nutzerzahl       mal nach der Autorschaft, und dann, eben-
Amtszeit wissenschaftlicher Arbeit obliegen».      und Ausleihen grösste Bibliothek der Schweiz     falls alphabetisch, nach Schlagworten, was
Der Hauswart hatte 1961 um 6.45 Uhr inof-          eine besondere Herausforderung zu bewälti-       eine Konzession ans Laienpublikum darstell-
fiziell und um 8 Uhr offiziell Arbeitsbeginn       gen. In kürzester Zeit mussten 2 Millionen       te und einst von vielen Gelehrten abgelehnt
– und einen 11-Stunden-Tag.                        Bücher gezügelt und mehrere Provisorien in       wurde, die darin den Beginn der Beliebigkeit
Seit 1959, so ist bei Knoepfli zu lesen, gibt es   Betrieb genommen werden. Nicht alles klapp-      erblickten. Sie ahnten nichts von der Umwäl-
eine VPOD-Gruppe an der Zentralbibliothek.         te einwandfrei. Im Interimsquartier «Zeug-       zung und Unordnung, die Automatisierung
Sie kümmerte sich namentlich um Fragen             haus 3» fehlte jegliche Heizung, was das Per-    und Digitalisierung über die Büchereien die-
der Einstufung: So wollten etwa die Ange-          sonal («in einer Viertelstunde durchgefroren»)   ser Welt bringen sollten.
stellten der Bücherausgabe 1959 nicht länger       nicht hinnehmen wollte. Bei einem Regalein-      Und wie sieht die Bibliothek der Zukunft
mit Maurerpolieren und Kochberaterinnen            sturz gab es glücklicherweise bloss Eselsoh-     aus? Implodiert die Institution im Internet
die Lohnstufe teilen. Für 1973 ist ein Konflikt    ren. Nostalgische Seelen hatten derweil den      – oder ist sie als Kuratorin und Ordnungsstif-
um die Pausengestaltung geschildert: Der           Abriss des alten Jugendstil-Lesesaals hinzu-     terin erst recht gefragt? So ganz genau weiss
Direktor sorgte sich um das Image seiner           nehmen; Rea Brändle schildert die Atmosphä-      es auch Mario König nicht, der den Ausblick
Einrichtung angesichts der Tatsache, dass          re im neuen: «Selbst das Lesen hat verschiede-   wagt und vor allem die soziale Bedeutung der
seine Angestellten zu Pausenzeiten in Scha-        ne Nuancen, viele büffeln mit Leuchtstiften,     Einrichtung unterstreicht.
ren die umliegenden Cafés bevölkerten. Das         andere räkeln sich mit ihrer Lektüre in der
                                                                                                    Rea Brändle, Markus Brühlmeier, Adrian Knoepfli, Mario
Verbot zum Verlassen des Hauses stiess auf         Lounge, einer ist eingeschlafen.»
                                                                                                    König, Verena Rothenbühler: Wissen im Zentrum. 100 Jahre
Widerstand und führte zur Inbetriebnahme           Die Zentralbibliothek war ein Jahrhundert        Zentralbibliothek Zürich, Zürich (Chronos) 2017. 303 Sei-
von zahllosen Tauchsiedern und anderen Ins-        lang eine Zettelwirtschaft. Der Alphabetische    ten, zahlreiche Abbildungen; ca. 59 Franken.

                                                                                                                                                Juli 2017 9
Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
VPOD | Aus den Regionen und Sektionen

                                                                       Gefahr am Theater Basel:
                                                                       Gemäss Vertrag mit Baselland droht Abbau.

                                                                       Erfolg bei der BVK-Wahl:
                                                                       Irene Willi, Stefan Giger, Calista Fischer.

                                                                       ist erst vorläufig. «Wir wollen eine definitive Zusage für die definitive
                                                                       Organisation», sagt VPOD-Sekretärin Bettina Dauwalder. Die Pflege
                                                                       ist eine der Kerndisziplinen eines Spitals; sie auf der strategischen
                                                                       Ebene zu ignorieren, wäre ein verhängnisvoller Fehler. | slt

                                                                       Basel soll TISA-freie Zone werden
                                                                       Mit 42 zu 39 Stimmen hat der Basler Grosse Rat beschlossen, ein
                                                                       Postulat – in Basel «Anzug» genannt – für eine TISA-freie Zone Basel
                                                                       aufrechtzuerhalten. Damit ist die Regierung aufgefordert, ihr «Spiel
                                                                       auf Zeit» aufzugeben und endlich aktiv zu werden. Zürich, Bern, Genf
                                                                       und Lausanne sind bereits TISA-frei. | slt

                                                                       Bundespersonal: Ortszulage gerettet
                                                                       Der Bundesrat hat Änderungen am Lohnsystem beschlossen, aber auf
                                                                       massive Eingriffe verzichtet. Für die Geringverdienenden innerhalb
                                                                       des Bundespersonals ist die Ortszulage besonders wichtig, gerade an-
                                                                       gesichts der Mietzinsentwicklung. Dem VPOD ist es gelungen, ihre
                                                                       Abschaffung zu verhindern. Die Verhandlungsgemeinschaft Bun-
                                                                       despersonal hält darüber hinaus fest, dass sich beim Lohnsystem des
                                                                       Bundes keine Änderungen aufdrängen. Dennoch schraubt der Bun-
Basel: Gefährliches Pokerspiel um Uni und Kultur                       desrat dauernd daran herum. Neu sollen Beschäftigte, deren Lohn
Der Uni- und Kulturvertrag wird in der Form, wie er von den Regie-     noch nicht dem Funktionslohn entspricht, geringere Prämien für
rungen der beiden Basel vorgelegt wurde, aufs Schärfste verurteilt.    ausserordentliche Leistungen erhalten. Der Spielraum für eine höhere
Der VPOD nennt ihn ein «gefährliches Pokerspiel». Zum einen ist        Einstufung von gefragten Fachkräften wird ebenfalls eingeengt. | vpod
unverständlich, dass Baselland sich aus der finanziellen Verantwor-
tung für Institutionen stehlen kann, die auch von seiner Bevölkerung   BVK-Wahl: VPOD stark!
genutzt werden. Und zweitens gefährden die Vereinbarungen die          Der VPOD ist erfreut über das gute Abschneiden seiner Liste «Starke
Universitäten und die Kultureinrichtungen (Theater und Orchester)      Stimmen in die BVK». 3 der 9 Kandidierenden wurden in den Stif-
ganz direkt. | vpod (Foto: Andreas Praefcke)                           tungsrat der kantonalzürcherischen Pensionskasse gewählt, nämlich
                                                                       Irene Willi (im Wahlkreis Schulen), Stefan Giger (im Wahlkreis Ge-
Neuenburg: Referenden gegen GAV-Aushöhlung                             sundheitsinstitutionen) und Calista Fischer (im Wahlkreis Bildungsin-
Der Neuenburger Kantonsrat will den bisher im kantonalen Gesund-       stitutionen). Abgewählt wurde der vom VPOD nicht mehr unterstützte
heitswesen gültigen GAV «Santé 21» zergliedern. Künftig soll es zwei   Ernst Joss, während der andere einstige VPOD-Vertreter, Guido Suter,
Verträge geben – einen für das pflegende Personal und einen für die    die Wiederwahl schaffte. Erschreckend tief war die Stimmbeteiligung:
Übrigen. Der VPOD wehrt sich gegen diese Deregulierung; er hat das     9,1 Prozent! Nach einem mit harten Bandagen geführten Wahlkampf
Referendum ergriffen. Die Unterschriften sind beisammen, so dass       gilt es nun, im Interesse der Versicherten zu einer konstruktiven und
die Kantonsbevölkerung entscheiden kann, ob sie die Spitäler so für    transparenten Arbeit zurückzukehren. | slt (Fotos: Nick Spoerri)
internationale Gesundheitskonzerne übernahmereif machen will. | slt
                                                                       Lugano: Leistungslohn ist diskriminierend
Inselspital: Pflege bleibt in der Leitung                              In Lugano wehrt sich der VPOD weiter gegen den Leistungslohn für
Der VPOD hat mit einer Petition am Berner Inselspital zumindest        die Beschäftigten der Stadt. Er verlangt, dass dieser Punkt aus der Re-
einen Etappensieg für das Personal errungen. Wie die Spitalgruppe      vision des Personalreglements entfernt wird, weil ein adäquates Beur-
mitteilt, werden die Berufsgruppen der Pflege und der Medizintech-     teilungssystem fehlt. Eine faire Bewertung der Leistung ist aus Sicht
nik und -therapie auch weiterhin in der obersten Leitung der Spital-   des VPOD ohnehin unmöglich; zumindest müssen die Angestellten
gruppe vertreten sein – entgegen den ursprünglichen Plänen. Das        aber gegen Beurteilungen vorgehen können, die sie als ungerecht
Bündnis «Zäme geit’s» ist aber noch nicht zufrieden, denn die Zusage   empfinden, so wie das auf kantonaler Ebene geregelt ist. | vpod

10 Juli 2017
Dossier: Behördeneingriffe einst und heute

Interview mit Guido Fluri, Unternehmer, Begründer der Wiedergutmachungsinitiative, Wegbereiter der Aufarbeitung von Behördenunrecht

«Den Opfern geschah doppeltes Leid»
Guido Fluri zählt sich selbst nicht zu den «schweren Fällen» – trotz einer Kindheit zwischen Fremdplatzierung und
schizophrener Mutter. Das VPOD-Magazin traf den Begründer der Wiedergutmachungsinitiative zum Gespräch über
«Wohltätigkeit» und über Behördenzwang einst. Auch die heutige Kesb war Thema. | Interview: Christoph Schlatter (Foto: zVg)

VPOD-Magazin: Guido Fluri, bestimmt haben           ich eine Spenglerlehre und brach sie wieder
Sie Ihre Geschichte schon oft erzählt. Können       ab. Später konnte ich immerhin noch eine
Sie das für uns ein weiteres Mal tun?               zweijährige Tankwart-Ausbildung machen –
Guido Fluri: Gern. Denn aus meiner Bio-             «Autoservicemann» hiess dieser Beruf, der
grafie erwächst für mich die Motivation für         inzwischen «ausgestorben» ist.
mein heutiges Engagement in zahlreichen             Damals hätte wohl niemand vermutet,
Stiftungen und Initiativen. Ich bin als un-         dass Sie es einmal zu Reichtum und Ansehen
eheliches Kind geboren und weiss bis heu-           bringen.
te nicht, wer mein Vater ist. Die Mutter war        Ich habe mit 20 ein erstes Immobilienge-
knapp 17, als ich geboren wurde, und ist            schäft erfolgreich abschliessen können, das
kurz danach an Schizophrenie erkrankt. Die          die Basis für weitere Erfolge und einen ge-
Kindheit verbrachte ich zu einem Teil bei           wissen Wohlstand gelegt hat. Glauben Sie
der Mutter, was aufgrund ihrer Krankheit            mir: Ich bin kein «Geldmensch» und auch
und deren Stigmatisierung (eine «Geistes-           kein «Zocker». Ausschlaggebend war, so
kranke», eine «von der Rosegg», wie es im           glaube ich, vielmehr das Streben nach finan-
Solothurnischen damals hiess) sehr schwie-          zieller Sicherheit. Die ärmlichen Verhältnis-
rig war. Schlechte Erinnerungen habe ich            se meiner Kindheit haben mich geprägt. Ich
auch an das Kinderheim Mümliswil, wo man            weiss noch, dass es mir immer peinlich war,
mich dann platzierte. Kurz vor Schuleintritt        wenn ich auf Geheiss der Mutter im Dorf-
kam ich zu den Grosseltern. Aber dann star-         laden anschreiben lassen musste. Und noch
ben kurz nacheinander der Grossvater und            peinlicher, als es dort hiess, jetzt sei der Kre-
ein Onkel, an dem ich mich zu orientieren           dit aufgebraucht, jetzt wolle man Geld sehen!
begonnen hatte. Traumatische Erfahrun-              Mit Ihren Tätigkeiten, auch mit den
gen für einen Zehnjährigen. Ich erinnere            Stiftungen, die Sie ins Leben gerufen haben,                         Guido Fluri ist trotz schwieriger
mich noch heute an die Särge in der Stube.          bearbeiten Sie sozusagen die Probleme                                 Kindheitsjahre nicht verbittert.
Und an den Duft der Blumen. In der Schu-            Ihrer Kindheit und Jugend.
le konnte ich nicht mithalten – ich war ein         Ja, meine persönliche Geschichte spiegelt
schlechter Schüler. Nach der Schule begann          sich in meinen Engagements, die ich dank            meiner Holding dann auch eigenständig fi-
                                                                                                        nanzieren konnte – ein Drittel des Ertrags
                                                                                                        fliesst in gemeinnützige Projekte. So habe
                                                                                                        ich das Kinderheim Mümliswil, in dem ich
Seit 1. April gilt das Bundesgesetz über die Auf-   voran. In kürzester Zeit waren die Unterschriften   selbst gesessen und gelitten habe, gekauft
arbeitung der fürsorgerischen Zwangsmass-           für die «Wiedergutmachungsinitiative» beisam-       und in eine nationale Gedenkstätte für
nahmen und Fremdplatzierungen. Nicht nur der        men, dank deren Druck Bundesbern sofort einen       Heim- und Verdingkinder umgewandelt.
Name, auch die Vorgeschichte ist kompliziert.       Gegenvorschlag vorlegte. Dieser erlaubte, weil      Die Erkrankung meiner Mutter wurde zum
Seit dem Millennium wurde die Stimme einsti-        er die wesentlichen Forderungen enthielt, den       Ausgangspunkt für die Plattform «Mit Schi-
ger Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen          Rückzug der Initiative. Auch die Mehrheit in den    zophrenie leben». Dass ich vor einiger Zeit
bis 1981 immer lauter. Auch die Politik wurde,      Räten hatte – nicht ganz von selber – gedreht.      an einem Hirntumor erkrankte, der geheilt
wenn auch langsam, aufmerksam. An einem             Das folgende Dossier befasst sich mit dem Be-       werden konnte, motivierte mich, etwas für
Runden Tisch tauschten sich der Bund und Ver-       hördenunrecht bis 1981, das beispielsweise in       die entsprechende Forschung zu tun. Bei le-
tretungen der Betroffenenverbände aus; die          Zwangsversorgung in Anstalten ohne Gerichts-        bensbedrohlichen Tumoren haben wir auch
Bundesrätinnen Eveline Widmer-Schlumpf und          urteil und ohne Rechtsmittel bestand. Im Inter-     schon mehrfach Patienten aus einfachen
Simonetta Sommaruga formulierten Entschul-          view mit Guido Fluri wird der Weg zur Rehabi-       Verhältnissen zur Operation in die Schweiz
digungen. Doch erst als der Zuger Unternehmer       litierung der Opfer nachgezeichnet, aber auch       geholt.
Guido Fluri, selbst Heimkind aus schwierigen        gefragt, inwiefern die heutige Kesb-Debatte sich    Diese Art Wohltätigkeit scheint wie aus einer
Verhältnissen, sich der Sache annahm, ging es       an diese Fragestellungen anschliesst.               anderen Zeit zu kommen... Am meisten

                                                                                                                                             Juli 2017 11
Dossier: Behördeneingriffe einst und heute

Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit                  Auch die «Wiedergutmachungsinitiative»              Ich war ja viele, viele Male im Bundeshaus
haben Sie aber mit der «Wiedergutmachungs-            fokussiert nicht auf die Frage der Schuld.          und habe mit zahlreichen Politikern gespro-
initiative» erlangt. Wie kam es zu diesem             Trotz des Titels ist natürlich allen klar: Man      chen. Bei einigen von ihnen bin ich auf ein
Engagement?                                           kann diese schlimmen Dinge nicht unge-              erstaunliches Mass an Hartherzigkeit ge-
Ich war schon viele Jahre mit zahlreichen             schehen machen. Und es geht nicht darum,            stossen. Empathie mit den Opfern? Null!
Betroffenengruppen in Verbindung, die sich            Schuldige zu benennen und zu bezichtigen.           Ich selbst bin parteilos, aber von liberaler
um Rehabilitierung und Wiedergutmachung               Es geht um Anerkennung. Um das Einge-               Gesinnung. Doch Sie glauben nicht, was
des Behördenunrechts bis 1981 bemühten.               ständnis einer Gesellschaft, dass Leid über         das für eine Übung war, bis ich die Mehr-
Die Politik bewegte sich nur sehr zaghaft             diese Menschen gekommen ist. Um ein Ende            heit der Bürgerlichen im Boot hatte. Was hat
und wollte auf gar keinen Fall finanzielle            der dauernden Rechtfertigung und Relativie-         das bitte mit Liberalismus zu tun, wenn man
Verpflichtungen eingehen. 2013 wurde mir              rung. Ich verstehe jene, die so systematisch        Menschen wegsperrt und ihre Schicksale
klar: Es müssen andere Saiten aufgezogen              gedemütigt und kaputtgemacht wurden,                ignoriert? Erst nachdem die Unterschriften
werden und andere Instrumente zum Ein-                dass sie ihr Leben lang keine Möglichkeit           für die Volksinitiative beisammen waren, hat
satz kommen. Es gilt, ein Druckmittel in              fanden, irgendwo neu zu beginnen. Diesen            sich auch die Politik bewegt.
die Hand zu bekommen und im grossen Stil              Menschen geschah Leid nicht nur dadurch,            Sogar eine Minderheit in der SVP...
und mit professioneller Unterstützung Öf-             dass man sie wegsperrte oder als billige Ar-        Ein Ständerat aus der Innerschweiz gehörte
fentlichkeitsarbeit zu betreiben.                     beitskraft oder sexuell missbraucht hat, nicht      anfänglich zu den Hardlinern, die von der
Dabei haben Sie wiederum auch mit                     nur dadurch, dass man Müttern ihre Kinder           ganzen Geschichte nichts wissen wollten.
Geld geholfen. Wie erklären Sie sich                  entrissen oder zwangsweise abgetrieben hat,         Er habe als Kind auch um 4 Uhr früh aus
eigentlich, dass Sie Ihrer Biografie trotz            dass man junge Frauen sterilisiert, dass man        den Federn müssen zum Melken, sagte er
schwieriger Startbedingungen eine Wende               Medikamente an Unwissenden getestet hat.            mir. Und für schlechte Schulnoten habe es
geben konnten, während andere in                      Nein, Leid geschah ihnen ein zweites Mal            zuhause ebenfalls Schläge abgesetzt. Es hat
ähnlicher Situation ihr Leben lang am Rand            dadurch, dass dieses Unrecht unentwegt              viele Stunden gebraucht, ihm klarzumachen,
geblieben sind.                                       geleugnet oder beschönigt oder kleingere-           dass wir hier von etwas anderem sprechen.
Nun, zum einen bin ich kein Schwerstbetrof-           det wurde. Gewiss kann kein Geld der Welt           Dass es um die systematische Ausbeutung
fener. Mein Schicksal ist nicht zu vergleichen        solche Wunden heilen. Trotzdem sind die So-         und die systematische Missachtung der
mit demjenigen etwa von Verdingkindern,               lidaritätsbeiträge, wie sie jetzt zu fliessen be-   Menschenwürde geht. Am Ende hat dieser
die das, was man Kindheit nennen könnte,              gonnen haben, ein unwahrscheinlich wichti-          Ständerat im Parlament den grünen Knopf
überhaupt nicht kennengelernt haben. Oder             ges Zeichen, zumal viele der Betroffenen ihr        gedrückt, als über den Gegenvorschlag ab-
mit demjenigen von zwangssterilisierten               Leben lang in Armut gelebt haben.                   gestimmt wurde, zu dessen Gunsten wir die
Frauen, die irreversibel für ihr ganzes Leben         Wie muss man sich die Lobbyarbeit                   Initiative zurückziehen konnten.
geschädigt wurden. Für mich war es nicht              konkret vorstellen, die Sie für die Initiative      Auch mit den Bauernvertretern und der
einfach. Aber ich habe das Glück, dass ich            geleistet haben?                                    Kirche, die beide ja in diese Zwangssysteme
nicht verbittert bin. Und: Ich habe nie die           Es hat sich gezeigt, dass in der Politik je-        eingebunden waren, dürfte es nicht einfach
Schuldfrage gestellt.                                 der Spass auf hört, sobald es um Geld geht.         gewesen sein.

Bernadette Gächter, zwangssterilisiert
«Die 1954 geborene Bernadette Gächter kam als Kleinkind zu einer streng
katholischen Pflegefamilie nach St. Margrethen. Mit 18 Jahren wurde sie
schwanger, was einen Skandal in der Pflegefamilie auslöste. In der Folge re-
agierten Vormund, Pfarrer und Hausarzt. Letzterer kam in einem Gutachten
zum Schluss, dass Bernadette Gächter ‹mit ihrer abnormen Veranlagung›
nicht in der Lage sei, ein Kind grosszuziehen, und empfahl neben einer
Abtreibung die Sterilisation. Pflegeeltern, Hausarzt und der Klinikdirektor
setzten sie so stark unter Druck, dass Bernadette Gächter schliesslich in den
Eingriff einwilligte. Später versuchte sie mit zwei Operationen erfolglos, die
Sterilisation rückgängig zu machen.»

12 Juli 2017
Dossier: Behördeneingriffe einst und heute

Das war ein langer Prozess, weil auch die        Zeitgenossen erkennbar sein musste, dass          das ist kein Hinderungsgrund für die Aus-
Angst vor Entschädigungsforderungen              etwas nicht korrekt läuft.                        zahlung. Für viele Opfer, für Menschen, die
im Raum stand. Man wolle kein Präjudiz           Man findet auch im Öffentlichen Dienst,           ihr Leben lang in Armut gelebt haben, ist
schaffen, hiess es. Es war ein Mammutjob,        der damaligen VPOD-Zeitung, einen Tonfall,        das sehr wertvoll. Sie können sich jetzt noch
die Gefühlslage der Opfer zu vermitteln.         der heute befremdend anmutet. Man habe            etwas Schönes leisten, eine Reise vielleicht.
Andererseits war auch die Arbeit mit den         Leute «aufgrund ihres liederlichen Lebens-        Noch höher zu veranschlagen ist der sym-
unterschiedlichen Opfergruppen nicht ein-        wandels» in Anstalten unterbringen                bolische Wert: Endlich wird offiziell aner-
fach. Da gab es teilweise unrealistische For-    «müssen», steht unkommentiert in einer            kannt, dass das, was ihnen widerfahren ist,
derungen. Es brauchte auch auf dieser Seite      Reportage über ein «Bürgerheim». Häufig           Unrecht ist.
Fingerspitzengefühl und viel Energie, die        kommt auch das Argument, es hätten es ja          Sie gehören auch zu den Mitbegründern der
unterschiedlichen Charaktere und Sicht-          nicht alle schlecht gehabt. Es gab auch Ver-      Kescha, der neuen Anlaufstelle Kindes- und
weisen einzubinden. Auch die Opferseite          dingkinder, die zu guten Leuten kamen.            Erwachsenenschutz. Damit sind wir in der
musste zugunsten der politischen Realisier-      Das ist ja auch nicht falsch. Es kam sogar vor,   Gegenwart und bei der Diskussion über die
barkeit einige Abstriche machen, was natür-      dass Bauernhöfe an Verdingbuben vererbt           Kesb, die seit einigen Jahren lautstark geführt
lich nicht allen gefallen hat. Aber in kleiner   wurden. Es hat auch nicht jedes Heimkind          wird. Häufig wird in der Debatte die heutige
Anpassung des Sprichworts muss man doch          zwangsläufig Unrecht erlitten. Aber das mil-      Kesb mit früheren fürsorgerischen Massnah-
sagen: Lieber die Taube in der Hand als den      dert den Schmerz jener, die gelitten haben,       men verglichen, von denen wir gesprochen
Adler auf dem Dach.                              kein bisschen: jener, die über Nacht in den       haben.
Von den Gegnerinnen und Gegnern                  Schweinestall gesperrt wurden, oder jener,        Dieser Vergleich ist absurd – absurder geht es
solcher Rehabilitierungsbestrebungen             die zu keiner rechten Schulbildung kamen,         nicht. Früher hat man Kinder auf dem Dorf-
wird immer wieder ins Feld geführt, man          weil sie immer arbeiten mussten. Eine Ge-         platz versteigert. Man besass überhaupt kein
könne nicht aus heutiger Warte über die          sellschaft kann nur dann in die Zukunft           Sensorium dafür, was eine Fremdplatzierung
Vergangenheit zu Gericht sitzen. Es seien        bauen, wenn sie sich den trüben Seiten ih-        für sie bedeutet. Diese Beurteilung – was be-
halt andere Zeiten gewesen.                      rer Vergangenheit stellt. Ich bin aus diesem      deutet eine Massnahme für ein Kind, was hat
Besonders enttäuschend fand ich das Votum        Grund froh, dass auch die historische For-        sie für Auswirkungen? – steht heute bei der
eines Nationalrats und Rechtsprofessors, der     schung Teil des neuen Gesetzes ist.               Kesb im Vordergrund. Das bedeutet nicht,
das Bestreben um Wiedergutmachung als            Seit einigen Monaten können Gesuche für           dass alles richtig läuft und dass alle Ent-
«Gesinnungsimperialismus» geisselte. Die         Solidaritätsbeiträge eingereicht werden.          scheide korrekt und angemessen sind. Aber
meisten Massnahmen seien damals rech-            Opfer erhalten einen Beitrag von rund             man muss dazu auch bemerken, dass es sich
tens gewesen. Und alles andere sei verjährt.     25 000 Franken. Dafür sind einige Angaben         häufig um Scheidungen und Trennungen
Diese Argumentation geht fehl: Der Verweis       notwendig; es reicht nicht aus, einfach auf       handelt, wo es aufgrund der Konfliktlage gar
auf damaliges Recht taugt nicht, wo Recht        einen Heimaufenthalt zu verweisen. Die Ge-        nicht möglich ist, eine Lösung zu finden, die
und Gerechtigkeit so drastisch voneinander       suche werden von Historikern auf ihre Plau-       von allen Parteien akzeptiert wird. Eine Be-
abweichen, wo die Menschenwürde systema-         sibilität hin überprüft, aber die Entscheide      hörde ist hier in einer sehr schwierigen Situ-
tisch verletzt wird. Und wo es schon für die     fallen grosszügig aus. Häufig fehlen Akten;       ation: Auf eine Gefährdungsmeldung richtig

                                                                          Hugo Zingg, ehemaliger Verdingbub
                                                                          «In der Schweiz wurden bis weit ins 20. Jahrhundert Kinder auf Dorfplätzen
                                                                          versteigert und verdingt. Jährlich wurden Zehntausende Kinder vorwiegend
                                                                          aus verarmten Familien oder aus Waisenhäusern von den Behörden abge-
                                                                          holt und auf Bauernhöfe verteilt. Dort wurden viele zur Kinderarbeit ge-
                                                                          zwungen, als Dienstmagd oder Verdingbub ausgebeutet, teilweise schwer
                                                                          misshandelt oder sexuell missbraucht. Viele Kinder starben aufgrund der
                                                                          körperlichen Anstrengungen und Missbräuche.»

                                                                          (Fotos: Remo Neuhaus/Guido-Fluri-Stiftung; Texte aus einem Vortrag, den
                                                                          Guido Fluri am 11. Mai 2017 im Rahmen der Otto-Karrer-Vorlesung in der
                                                                          Jesuitenkirche Luzern gehalten hat)

                                                                                                                                        Juli 2017 13
Dossier: Behördeneingriffe einst und heute

und zum richtigen Zeitpunkt zu reagieren,            auf, dass ihnen Wege vermittelt werden, wie      übersteht, hat keine Berechtigung. Insofern
ist heikel. Vielleicht unternimmt die Kesb da        sie die Situation zu ihren Gunsten verändern     bin ich froh, dass jüngst auch die Anti-Kesb-
manchmal auch einen Schritt zu viel oder ei-         können, wie sie allfällige persönliche Prob-     Initiative im Kanton Schwyz abgelehnt wur-
nen zu früh – aber wehe, sie tut es nicht, und       leme – Beispiel: Suchtproblematik – in den       de – auch wenn die Abstimmung knapp aus-
es passiert etwas . . . Ich bin nicht der Ansicht,   Griff bekommen können. In diese Richtung         gegangen ist.
dass man der Kesb juristische Fehler im              soll die Kescha wirken – bis zu dem Punkt,       Wobei auch die Medien ihren Beitrag zur
grossen Stil vorhalten kann. Ihr Problem, an         wo es sie nicht mehr brauchen wird, weil die     Eskalation leisten, zuletzt das Schweizer
dem sie selbst nicht ganz unschuldig ist, ist        Kesb ihrerseits genügend Sensibilität für die-   Fernsehen mit «Arena/Reporter», wo ein
ein anderes: die mangelnde Kommunikation,            se Fragen entwickelt haben wird.                 sehr extremer Fall sehr extrem dargestellt und
die manchmal unzureichende Begleitung                Und die Kesb zeigt sich dazu bereit?             von sehr extremen Exponenten kommentiert
der Betroffenen. Häufig fühlen sich diese            Wir sind überall auf offene Türen gestossen,     wurde.
ohnmächtig, sehen sich einem undurchsich-            konnten beispielsweise unsere Broschüre          Ich freue mich über jeden Journalisten, der
tigen Apparat gegenüber und mit unver-               bei der Kesb überall auf legen. Die Unter-       wie Sie das Thema auf differenzierte Weise
ständlichem Juristendeutsch zugetextet. An           stützung durch Fachverbände und die wis-         anpackt. Das öffentlich-rechtliche Fernse-
dieser Stelle wären die Beistände gefragt, die       senschaftliche Begleitung garantieren, dass      hen hat hier seinen Auftrag nicht erfüllt:
aber häufig dazu nicht in der Lage sind, weil        die Erkenntnisse der neuen Anlaufstelle in       Im Vorfeld einer Initiative solchen Extrem-
sie für viel mehr Personen zuständig sind,           die Behörden zurückfliessen. Es gibt keine       positionen eine Plattform zu geben, ist nicht
als zu bewältigen ist.                               Alternative zur Kesb – gerade mit Blick auf      förderlich. Nötig ist eine sorgfältige Betrach-
Was bezweckt denn die neue Anlaufstelle?             die Vorgeschichte, die wir zuvor besprochen      tung, die berücksichtigt, dass die Fälle kom-
In erster Linie soll sie helfen, Eskalation zu       haben. Daher soll die Behörde gestärkt, aber     plex sind und sich nicht über einen Kamm
vermeiden. Es geht dabei nicht um juristi-           auch sehr kritisch begleitet werden. Es wird     scheren lassen. Und die eben auch in den
sche Fragen, sondern darum, dass man die             trotzdem nicht ohne Konflikte abgehen; das       Rückspiegel schaut und die Lehren aus der
Betroffenen «abholen» und begleiten muss.            liegt in der Natur der Sache. Aber das gene-     Vergangenheit zieht. Ein «Zurück» darf es in
Sie haben das Recht darauf – und auch dar-           relle Misstrauen, dem die Kesb heute gegen-      dieser Frage auf keinen Fall geben.

Michel Wieilly, ehemaliges Heimkind
«In staatlichen, kirchlichen und privaten Heimen wurden Tausende
Kinder systematisch gedemütigt, gezüchtigt, körperlich misshandelt
und teilweise auch sexuell missbraucht. Auf Kosten der Schulbildung
wurden viele Heimkinder zur Kinderarbeit gezwungen und ausgebeu-
tet. Weil es an konsequenten staatlichen Kontrollen fehlte, waren die
Kinder in diesen geschlossenen Institutionen ihrem Schicksal schutzlos
ausgeliefert. Die Missbrauchsfälle wurden in den meisten Fällen nicht
geahndet.»

                                                                                  Rolf Horst Seiler, wurde administrativ versorgt
                                                                                  «Bis Anfang der 1980er Jahre wurden Jugendliche und Erwachsene oh-
                                                                                  ne Schuldspruch und Gerichtsurteil administrativ versorgt. Die jungen
                                                                                  Männer und Frauen wurden zur ‹Arbeitserziehung› in geschlossene
                                                                                  Anstalten und Gefängnisse eingewiesen, weil sie ein angeblich ‹lieder-
                                                                                  liches Leben› führten oder als ‹arbeitsscheu› eingestuft wurden. Auch
                                                                                  Frauen, denen man beispielsweise einen ‹lasterhaften Lebenswandel›
                                                                                  unterstellte, wurden wie Schwerverbrecher weggesperrt.»

14 Juli 2017
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