Das doppelte Leid der Opfer - Die Gewerkschaft - Vpod
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Juli 2017 Das VPOD-Magazin erscheint 10-mal pro Jahr Die Gewerkschaft Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste Das doppelte Leid der Opfer Der Blick zurück auf Zwangsversorgung, Entmündigung und Entrechtung Wiedergutmachung und die Kesb – ein Interview mit Guido Fluri
Thomas Gächter Professor Universität Zürich und SCHWEIGEPFLICHT Stiftungsrat BVK IM STIFTUNGSRAT Maulkorb für Stiftungsräte? 3. Oktober 2017, Bern Jorge Serra PK-Netz Vizepräsident, VPOD-Finanzchef und Mitglied in Wenn die Pensionskassen-Stiftungsräte diversen Stiftungsräten ihren eigenen Arbeitgebern und Arbeitneh- merorganisationen nicht berichten dürfen, was für konkrete Änderungen verhandelt werden, steht die sozialpartnerschaftlich geführte berufliche Vorsorge auf dem Spiel. Mit einer auffallend strengen Auslegung Kurt Pärli der Schweigepflicht hat die BVK eine Professor Verunsicherung ausgelöst. Um Klarheit Universität Basel für die Stiftungsräte zu schaffen, bietet das PK-Netz eine Präzisierung zu dieser Frage an. Wir präsentieren ein neues juristisches Gutachten von Professor Kurt Pärli und eine kontroverse Debatte Markus Hübscher mit wichtigen Exponenten zu diesem Geschäftsführer Thema. Pensionskasse SBB Weitere Informationen und Anmeldungen: www.pk-netz.ch Eine Tagung der Sa 09.09.17 von 9.30 bis 17.30 Uhr Hotel Bern SGB-Gewerkschaftsjugend Zeughausgasse 9 3011 Bern zum Thema Digitalisierung Samstag, 9. September 2017 von 9.30 bis 17.30 Uhr Hotel Bern, Zeughausgasse 9, 3011 Bern Referate von Andreas Walker (Swissfuture) und Markus Hudritsch (BFH) Virtual-Reality-Demo – VR-Brillen selber testen! Workshops mit Luca Cirigliano (SGB) und Laura Perret Ducommun (SGB) Simultanübersetzung Deutsch, Französisch und Italienisch. Teilnahme für VPOD-Mitglieder gratis (inkl. Mittagessen) Anmelden bis 18. August 2017: www.gewerkschaftsjugend.ch
Editorial und Inhalt | VPOD Themen des Monats 5 «Finger von der Wäsche!» Erfolgreicher Streik in der Spitalwäscherei Freiburg 6 Hausaufgaben für die Schweiz ILO-Konferenz in Genf diskutiert über soziale Globalisierung und grüne Wirtschaft 7 Linksherum wandern Christoph Schlatter ist Redaktor des VPOD-Magazins Neue Zusammenarbeit mit den Naturfreunden Schweiz 8 Sieg der Auf klärung Neandertaler Die «Altersvorsorge 2020» sichert die AHV Trump ein Neandertaler? Konnte man da und dort lesen oder gezeich- net sehen. Weil er so ein primitiver Sack sei. Oder weil er mitsamt 9 Zettelwirtschaft seiner Spezies kurz vorm Aussterben steht. – Jedenfalls: Von der Wis- Ein schönes Buch feiert «100 Jahre Zentralbibliothek» senschaft will der US-Präsident nichts wissen. Der Klimawandel ist eine Lüge. Und Impfen befördert Autismus. 11–16 Dossier: Behördeneingriffe einst und heute Neu ist das alles freilich nicht. Auch hierzulande machen Impfgeg- Fürsorgerischer Behördenzwang bis 1981 ner mobil, und neuerdings kennt Heilpraktikerin Zita Schwyter aus Wie Guido Fluri mit einer Volksinitiative Druck machte Uznach die Folgen genau: Schlafstörung, Legasthenie, Stottern, Hirn- Verdingwesen einst, Kesb heute: Absurder Vergleich! tumor. Und Masturbation. Dieser Zusammenhang ist noch nicht mal Neue historische Arbeiten bringen Licht ins Dunkel ganz falsch. Till Raether hat das im Magazin der Süddeutschen überzeu- gend dargelegt: Geimpfte werden nachweislich seltener krank. Und wer gesund ist, hat mehr Zeit und Lust zu Handarbeiten aller Art. Schon länger unter Druck steht Darwins Evolutionslehre. Kann man dran glauben, muss man nicht, so der Tenor. In den USA denken 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung, dass die Lebewesen seit Anbeginn in Rubriken ihrer heutigen Form existieren. In mehreren Bundesstaaten steht der Kreationismus auf dem Lehrplan oder zumindest «Intelligentes De- 4 Gewerkschaftsnachrichten sign» – alle Lebewesen sind nach Plan gefertigt. Und bei uns? Neulich sass ich im Zug neben einem jungen Mann, der in einem «Lehrbuch» 10 Aus den Regionen und Sektionen las. Darin war bildkräftig erläutert, warum die Feder des Vogels sich auf gar keinen Fall aus den Schuppen des Reptils entwickelt haben 17 Susi Stühlinger: Die grosse Leere könne. Ich muss aber zugeben, dass auch mich manchmal Zweifel pa- cken, ob Johann Schneider-Ammann und Albert Rösti tatsächlich das 18 Wirtschaftslektion: Mehrwertsteuer für die AHV = sozial! Resultat eines gnadenlosen Selektionsprozesses sind. Apropos Evolution: Jüngst hat die Wissenschaft – oder sind es Welt- 19 Wettbewerb: Schöne Künste verschwörer? – herausgefunden, dass mehr vom Neandertaler in uns steckt, als wir jemals dachten. Jedenfalls in Menschen eurasischer 20 VPOD aktuell und nordafrikanischer Abstammung. Offensichtlich kam es nicht nur vereinzelt zu Begegnungen zwischen Herrn Neandertaler und 21 Hier half der VPOD: Bruchrechnen Frau Sapiens und vice versa. Sondern häufig. Und es blieb nicht beim Händchenhalten am Höhleneingang. 22 Solidar Suisse: Syrische Flüchtlinge im Libanon – Was haben wir davon? Die Tendenz zu Nikotinsucht, Allergie und De- «Wohin sollen sie auch gehen?» pression scheint, gemäss Stand der Forschung, Neandertaler-Erbe zu sein. Der Neandertaler war also nicht der kerngesunde, keulenschwin- 23 Menschen im VPOD: Dimitri Moretti ist der einzige gende Haudrauf, als der er immer dargestellt wurde, etwa in dem schö- SP-Regierungsrat der ganzen Zentralschweiz nen Hanne-Wieder-Chanson aus den 1960ern («Der nicht Zeitung liest, wenn man mit ihm bei Tisch ist, / Der, wie ich, ein Stück von Be- Redaktion /Administration: ckett nicht begreift / Der auch ohne Frischzellenkuren immer frisch ist Postfach 8279, 8036 Zürich / Und mich nachts am Schopf in seine Höhle schleift.»). Oh nein. Viel- Telefon 044 266 52 52, Telefax 044 266 52 53 mehr ein netter, nachdenklicher, fast zu sensibler Zeitgenosse. Insofern Nr. 6, Juli 2017 kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen E-Mail: redaktion@vpod-ssp.ch | www.vpod.ch werden, dass Trump einer ist. (Der wurde vielmehr unter Umgehung Erscheint 10-mal pro Jahr der Evolution direkt nach Gottes Schöpfungsplan erschaffen.) Juli 2017 3
VPOD | Gewerkschaftsnachrichten Kein Schiff wird kommen: Streik auf dem Lago Maggiore. Kein Licht ins Dunkel? Schwarzarbeit in der Schweiz. Unterschiede hinsichtlich Kontrolle, Sanktion und Berichterstattung verschwinden. Für den Aufenthalt von Sans-Papiers hat Genf mit dem Projekt «Papyrus» einen Weg aufgezeigt, der helfen wird, Schwarzarbeit einzudämmen. | sgb/slt (Foto: judigrafie/photocase.de) Gleichstellungsgesetz: Gut gemeint . . . Ein Bericht des Bundes zeigt, dass das Gleichstellungsgesetz (GlG) nach wie vor mangelhaft umgesetzt wird. Bereits 2005 hatte eine Evaluation einen solchen Befund erbracht. Inzwischen stehen die Chancen für die klagende – arbeitnehmende – Partei noch schlechter. 42 Prozent der Ur- teile fielen damals zu ihren Gunsten aus, seither nur noch 37,5 Prozent. Zu gewinnen gibt es also mit einer Klage nach GlG wenig. Gross ist da- gegen die Chance, zu verlieren. Und zwar den Job. In 84 Prozent der un- tersuchten Fälle besteht das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt der Urteils- verkündigung nicht mehr. Zwar sind Rachekündigungen verboten, doch die Klage dagegen bleibt meist erfolglos. Für den SGB ist es daher Zeit für einen Paradigmenwechsel: Es braucht Lohntransparenz und eine offizielle Behörde, die über die Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes wacht! | sgb 24-Stunden-Pflege steht im Regen Der Bundesrat hat entschieden, die 24-Stunden-Betreuung der Regelung E la nave non va! durch die Kantone zu überantworten und lässt damit die betroffenen Auf der Schweizer Seite des Lago Maggiore fährt kein Schiff. Der 34-köp- Care-Arbeiterinnen im Regen stehen. Der VPOD hatte für eine nationale fige Schweizer Teil der Belegschaft der Navigazione Lago Maggiore pro- Regulierung plädiert, welche die 24-Stunden-Betreuerinnen – meist Pen- testiert mit dem Streik gegen seine Entlassung: Die dem italienischen delmigrantinnen aus Mittel- und Osteuropa – dem Arbeitsgesetz unter- Staat gehörende Schifffahrtsgesellschaft hat sämtlichen Beschäftigten stellt. Auch gemäss der seit 2015 gültigen ILO-Konvention 189 über men- der Schweizer Seite per Ende Jahr gekündigt. Gemäss Mitteilung der Ge- schenwürdige Arbeit für Hausangestellte dürfen letztere arbeitsrechtlich werkschaft SEV stösst der Streik bei Passagierinnen und Touristen auf nicht schlechter gestellt werden als alle übrigen Beschäftigten. Schätzun- grosses Verständnis; viele hätten sich in das Solidaritätsbuch eingetragen. gen zufolge arbeiten in der Schweiz rund 10 000 Frauen in der Rund-um- Auch die lokale Bevölkerung ist aufgerufen, sich an den Aktionen an der die-Uhr-Betreuung von Betagten, wo sie häufig der Willkür ihrer Arbeit- Schifflände Locarno zu beteiligen. Die Verkehrsminister Italiens und der geber schutzlos ausgeliefert sind. Mit seinem Netzwerk Respekt@vpod Schweiz hatten sich erst jüngst auf die Aufwertung der Schifffahrt auf den unterstützt der VPOD die Betroffenen bereits seit 2013. | vpod beiden Grenzseen verständigt; der Bund hatte die entsprechende Konzes- sion für den Lago Maggiore erneuert und eine Zusammenarbeit mit der Poststellen: Gelber Riese ohne Strategie von der Schweiz aus betriebenen Luganersee-Schifffahrt angedacht. Al- Kanton um Kanton, Gemeinde um Gemeinde wird der Bevölkerung klar, lerdings steht Italien seit der Finanzkrise 2008 unter starkem Spardruck. wie der von der Post geplante Abbau bei den Poststellen konkret aussehen Die Streikenden bekräftigen ihren Willen zum Dialog, aber auch ihre wird. Überall regt sich Widerstand gegen die Ausdünnung des Netzes. Kampfbereitschaft. | slt (Foto: TiPress) Inzwischen hat die Post eine Reorganisation von Poststellen und Verkauf vorgestellt; der neue Name «PostNetz» ist aber auch schon die grösste Schwarzarbeit: Es braucht schmerzhafte Bussen Innovation gegenüber den bisherigen Plänen. Weiterhin werden abge- Schwarzarbeit in der Schweiz: 2016 gab es zwar mehr Verdachtsfälle, aber magerte Zugangspunkte als Projekte der Zukunft präsentiert, während weniger Kontrollen. Das Missverhältnis zeigt, dass die Politik offenbar die Weiterentwicklung des Serviceangebots nebulös bleibt. Die Syndicom nicht gewillt ist, Schwarzarbeit ernsthaft und effizient zu bekämpfen. Der wird den Kahlschlag weiterhin bekämpfen. Auch die Motion, die im Nati- SGB fordert Bussen, die so bemessen sind, dass sie wirklich abschrecken onalrat mit 173 zu 13 Stimmen überwiesen wurde und die eine Neuformu- – also gleich hohe wie bei Verstössen gegen die flankierenden Massnah- lierung der gesetzlichen Vorgaben will, sollte der Postführung zu denken men. Zudem muss der Bund dafür sorgen, dass die grossen kantonalen geben. | syndicom/slt 4 Juli 2017
Arbeitskampf | VPOD Streik gegen die Privatisierung der Spitalwäscherei Freiburg: Erfolg in zwei Tagen «Finger von der Wäsche!» Zwei Tage lang standen die Maschinen in der Wäscherei des Freiburger Spitals HFR still. Am dritten Tag hat der Verwaltungsrat den Streikenden und dem VPOD zugesichert, dass die Beibehaltung der Wäscherei geprüft wird. Die Gewerkschaft bestreitet, dass mit einer Auslagerung Geld gespart wird. | Text: VPOD (Fotos: Eric Roset) Auslagerung in Etappen? Die Wäsche des Freiburger Spitals HFR wird heute lediglich noch in Freiburg und Tafers «selber» gewa- schen; an den übrigen Standorten sind Dritte mit der Aufgabe betraut. Trotzdem war es für die verbliebenen 30 Angestellten ein Schock, als sie erfuhren, dass der Verwaltungsrat nun die vollständige Privatisierung der Wä- schereien anstrebt. Begründung: In Tafers falle zu wenig Wäsche an, in Freiburg müsse der Maschinenpark modernisiert werden, was das Spital nicht zu leisten vermöge. Die- sen «Grundsatzentscheid» zugunsten einer Auslagerung quittierten die Beschäftigten und der VPOD mit einem Streik. Am dritten Tag der Arbeitsniederlegung lenkte der Ver- waltungsrat ein. Ebenbürtige Stelle zugesichert Demnach wird, wie verlangt, eine Studie erstellt, welche die Möglichkeit einer zentra- «Finger von der Wäsche!»: Die Beibehaltung der Spitalwäscherei Freiburg wird len Wäscherei in Freiburg für alle Standorte jetzt ernsthaft geprüft – ein Erfolg des zweitägigen Streiks der Beschäftigten. des HFR auf die Sicht von 10 Jahren hinaus evaluiert. Der Entscheid pro Privatisierung ist damit aufgehoben. Die Untersuchung unabhängig vom Resultat der Studie alle des HFR. Trotzdem, so betonte der VPOD, soll sowohl finanzielle als auch technische Beschäftigten der Wäscherei innerhalb des würde die öffentliche Hand durch die Aus- und logistische Aspekte beleuchten; sobald HFR eine ebenbürtige Stelle angeboten be- lagerung nicht einen Rappen sparen. Das sie – in drei Monaten – vorliegt, muss neu kommen. Geld, das bei den Löhnen der Arbeiterinnen verhandelt werden. Bereits jetzt ist, eben- Die Monatslöhne in privaten Wäschereien abgeknapst wird, fliesst dann einfach in Ma- falls aufgrund des Streiks, zugesichert, dass liegen über 1000 Franken unter dem Niveau nagementaufgaben wie Schnittstellenbewirt- schaftung, Qualitätskontrolle, Ausschrei- bungswesen. Der zweitägige Streik wurde begleitet durch eine Unterstützungsdemo. Auf den Trans- parenten hiess es etwa «Touche pas à ma lingerie» («Geh mir nicht an die Wäsche»), und es wurde der Abba-Song «Money money money», leicht umgetextet, intoniert. Der po- sitive Ausgang zeigt: Privatisierung ist kein unabwendbares Schicksal. Der VPOD beharrt darauf, dass Spitäler Dienstleistungen aus ei- ner Hand erbringen: Um Kranke und Verletz- te gesund zu machen, braucht es Ärzte und Reinigungskräfte, Köchinnen und Pflegeper- sonal, Wäscherinnen und Techniker. Sie alle sollen bei einem Arbeitgeber angestellt sein. Juli 2017 5
VPOD | Internationales Die ILO-Konferenz in Genf diskutiert über soziale Globalisierung und grüne Wirtschaft Hausaufgaben für die Schweiz An der 106. Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation ILO wurde die Schweiz in den Expertenausschuss für Vereinigungsfreiheit gewählt, obwohl sie in dieser Frage selbst noch Hausaufgaben hat. Freihandel und Umwelt waren weitere Themen. | Text: SGB (Foto: Laurent Gillieron/Keystone) völkerrechtskonformen Kündigungsschutz sorgen. Wie will man auf der Weltbühne für Ordnung sorgen, wenn man in der eigenen Stube nicht aufwischt? 2006 hatte das CFA in der Behandlung einer Klage des SGB festgehalten, dass der Kündi- gungsschutz in der Schweiz nicht dem Völ- kerrecht entspricht. Es bemängelte, dass bei missbräuchlicher Entlassung aufgrund der Ausübung von Grundrechten keine Wieder- einstellung möglich sei. Das CFA wertet dies als Verletzung der ILO-Konventionen 87 und 98 sowie der Europäischen Menschenrechts- konvention (EMRK). Ein kürzlich publizier- tes Gutachten der Universität Neuenburg kommt zum gleichen Schluss. Nur die ILO kann’s Weitere Themen der ILO-Konferenz waren ILO-Konferenz Nummer 106: Generaldirektor Guy Ryder plädiert der ökologische Umbau der Wirtschaft (siehe vor bunten Fahnen und hinter weissen Blumen für eine grüne Wirtschaft. Kasten) und ein sozial gestalteter Freihandel. Keine andere Organisation vermag in diesen Fragen in ähnlicher Weise Impulse zu geben Das Problem: In der Schweiz sind gewerk- Expertenausschuss für Vereinigungsfrei- wie die ILO. Namentlich beim Freihandel schaftlich Aktive und Whistleblower nur heit (Committee on Freedom of Association, fehlt es bei anderen Akteuren (WTO, IMF, unzureichend gegen antigewerkschaftliche CFA) hat wählen lassen. Dieses Gremium G8) am Know-how oder am Willen. Ein Be- Kündigung geschützt. Sie können wegen prüft Beschwerden gegen Staaten hinsicht- weis für das Gewicht der ILO ist die Integ- Teilnahme an GAV-Verhandlungen, gewerk- lich Verletzung der Gewerkschaftsfreiheit. ration ihrer Forderungen in die 17 Ziele für schaftlichen Aktivitäten oder gar wegen un- Die Schweiz wird von Seco-Mitarbeiterin nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 bequemen Fragen entlassen werden. Selbst Valérie Berset-Bircher vertreten. Das ist eine der Uno. Deren Ziel Nr. 8 verlangt menschen- wenn ein Gericht später feststellt, dass die Ehre, aber vor allem auch eine Verpflichtung: würdige Arbeit, die Respektierung der Ge- Entlassung missbräuchlich war, hilft das Der Bundesrat muss jetzt endlich für einen werkschaftsfreiheit und Vollbeschäftigung. den Geschassten wenig: Das Opfer kann mit maximal 6 Monatslöhnen als Entschädigung rechnen. In der Praxis sind es zumeist nur Prelicz-Huber für grüne Wirtschaft 2 bis 3 Monatslöhne. Damit sind die ILO- VPOD-Präsidentin Katharina Prelicz-Huber hat treiben lassen.» In der Energiepolitik etwa füh- Empfehlungen für Vereinigungsfreiheit und an der ILO-Konferenz klargemacht, dass eine re kein Weg an der Umstellung auf erneuerbare das Recht auf Kollektivverhandlungen in der sozialere Welt ohne ökologische Nachhaltigkeit Quellen vorbei. Die Idee, dass ökologische Nach- Schweiz nicht respektiert. nicht zu erreichen ist. In ihrer Rede zum Bericht haltigkeit im Widerspruch zu Wachstum und Ent- von Generaldirektor Guy Ryder über «Arbeit in wicklung stünden, ist laut Prelicz-Huber obsolet. Auf der Weltbühne aufwischen? Zeiten des Klimawandels» signalisierte Prelicz- «Es mutet zynisch an, Arbeitsplätze erhalten zu Darauf hat auch der SGB an der 106. Kon- Huber, dass die Schweizer Gewerkschaften diese wollen, die über kurz oder lang mehr schaden ferenz der Internationalen Arbeitsorgani- «grüne Initiative» unterstützen: «Es kann nicht als nützen.» Daher gelte es, die Umstellung auf sation ILO, die Anfang Juni in Genf statt- sein, dass wir wider besseres Wissen aufgrund eine grüne Wirtschaft voranzutreiben und sie mit fand, hingewiesen. Zumal angesichts der kurzfristiger Gewinnaussichten unseren Planeten der Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze Tatsache, dass sich die Schweiz dort in den und die Menschheit weiter in die Katastrophe zu verschränken. | vpod 6 Juli 2017
Verbände | VPOD Zusammenarbeit mit den Naturfreunden Schweiz: VPOD-Mitglieder erhalten Rabatt Linksherum wandern Die Naturfreunde Schweiz (NFS) haben einen neuen Präsidenten: Urs Wüthrich-Pelloli. Die Jüngeren kennen den Kollegen als ehemaligen Baselbieter SP-Regierungsrat, die Älteren erinnern sich noch an den VPOD-Zentralsekretär. | (schriftliches) Interview: slt (Foto: zVg) VPOD-Magazin: Urs Wüthrich-Pelloli, Urs Wüthrich-Pelloli, ehema- du bist der neue Präsident der Naturfreunde liger VPOD-Sekretär, dann Schweiz und kennst auch den VPOD sehr Baselbieter Regierungsrat, ist neuer Präsident der Natur- gut. Wo siehst du die Gemeinsamkeiten der freunde Schweiz und will die beiden Organisationen – abgesehen vom Organisation wieder Gründungsjahr 1905? «politischer» machen. Neben der Tatsache, dass die Naturfreunde- bewegung – parallel zu SP, Gewerkschaften und Genossenschaften – ihre Wurzeln in der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung hat, verstehen sich beide Verbände als Selbst- hilfeorganisationen, die nur dank grossem ehrenamtlichen Engagement funktionieren können. Gemeinsam ist uns die internatio- nale Vernetzung. Hohe Übereinstimmung besteht auch bei den Werten, für die wir einstehen. Als NFS bekennen wir uns aus- drücklich zu nachhaltiger Entwicklung, To- leranz, demokratischen Werten sowie zu den haben die Naturfreunde Schweiz in den verständlich. Ist der Vereinsname – der nur Grundrechten von Mensch und Natur. letzten Jahrzehnten auf eine politische Posi- die männliche Form nennt – noch nie unter Du hättest dich nach 12 Jahren Regierungs- tionierung verzichtet. Ich habe im Hinblick feministischen Beschuss geraten? tätigkeit in den wohlverdienten Ruhestand auf meine Wahl klargestellt, dass ich diese Persönlich wurde ich noch nicht mit dieser zurückziehen können. Was treibt dich an, Entwicklung für verhängnisvoll halte, weil Kritik konfrontiert, und der «Markenname» nochmals ein neues Amt anzupacken? sie Verlust von Identität, Profil und Allein- steht nicht zur Diskussion. Da ich in Sachen Welche persönliche Verbundenheit gibt es? stellungsmerkmal bedeutet. Weil ich nicht Gleichstellung in meiner VPOD-Zeit klar Selbstverständlich schätze ich einen deutlich will, dass unsere Leitideen und Werte Wort- geprägt wurde, spreche ich in Briefen, Be- langsameren Rhythmus und mehr Möglich- hülsen und wirkungslose Absichtserklärun- richten und Reden aber konsequent die Na- keiten, freie Zeit zu geniessen. Gleichzeitig gen bleiben, hat für mich die inhaltliche und turfreundinnen und Naturfreunde an – im finde ich herausfordernde Aufgaben unver- politische Positionierung unserer Bewegung Unterschied zu diesem Interview, in dem ändert spannend und auch unverzichtbar für einen hohen Stellenwert. ich den Begriff «Naturfreundebewegung» meine geistige Fitness. Konsequenterweise Der gleichberechtigte Einbezug der weiblichen verwende. engagiere ich mich in verschiedenen Projek- Mitgliedschaft ist für die Naturfreunde selbst- Warum sind die Naturfreunde – trotz ihres ten. Weil ich vom Sinn der Naturfreundebe- biblischen Alters – noch wegung überzeugt bin und meine Erfahrung VPOD-Mitglieder profitieren von einer Direktmitgliedschaft zeitgemäss? für die Führung dieses Verbandes mit seinen zum halben Preis im ersten Jahr. Die Naturfreunde Schweiz Wandern ist mit grossem vielfältigen Interessen und Anspruchsgrup- (NFS) sind ein Freizeitverband für Umweltschutz, sanften Abstand der beliebteste Brei- pen sicher nützlich ist, habe ich diese Her- Tourismus, Sport und Kultur mit rund 15 000 Mitgliedern tensport in der Schweiz. Ge- ausforderung gerne angenommen. in 136 Sektionen sowie 70 Naturfreundehäusern. In der meinsame Naturerlebnisse Die Naturfreunde sind, wie du geschildert hast, Naturfreundebewegung begegnen sich gesundheits-, natur- und stärken den gesellschaftli- aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen. kulturinteressierte Menschen aller Altersgruppen. Naturfreunde- chen Zusammenhalt. En- Ist diese Herkunft heute noch spürbar? Mitglieder profitieren von Aktivitäten und Kursen im Bereich gagement für eine intakte Das ist je nach Sektion und Altersstruktur un- Naturkunde und Sport. Die Naturfreundehäuser liegen an Umwelt bedeutet Zukunfts- terschiedlich. Im Gegensatz zu Deutschland, wunderschönen Orten, mitten in Wander- und Skigebieten. Das sicherung. Wir sorgen für wo man sich mit «Genossin»/«Genosse» Magazin Naturfreund informiert 4-mal jährlich in attraktiver Bewegung und Begegnung anspricht und sich in den Statuten dem Form über die Themen Freizeit, Umwelt und Gesundheit. und sind darum aktuell und demokratischen Sozialismus verpf lichtet, www.mitgliedschaft.naturfreunde.ch – Gutscheincode: VPOD17 zukunftsfähig. Juli 2017 7
VPOD | Politik Die Fronten rund um die «Altersvorsorge 2020» klären sich, die Pro-Kampagne läuft Sieg der Aufklärung Die Fronten klären sich: Das Ja-Lager zur «Altersvorsorge 2020» umfasst inzwischen auch fortschrittliche Bür- gerliche – und sämtliche Altersorganisationen. Auch die Frauendachverbände heissen die Reform gut. Derweil geben die Verordnungsentwürfe Antwort auf wichtige Fragen. | Text: SGB/VPOD Der SGB begrüsst die Eröffnung des Ver- sen Zeitpunkt hin greift auch die Besitzstand- sind auch die Ja-Parolen der wichtigsten nehmlassungsverfahrens über die Verord- garantie für die Übergangsgeneration. Für Frauen- (Alliance F, Landfrauen, Katholi- nungen zur «Altersvorsorge 2020». Damit den SGB ist klar, dass auch Versicherte davon scher Frauenbund, Evangelische Frauen) wird Klarheit darüber geschaffen, wie die profitieren sollen, die sich vor dem Referenz- und Altersorganisationen (Vasos, Senioren- Gesamtlösung konkret umgesetzt werden alter 65 pensionieren lassen. Eine Ungleich- rat und Pro Senectute). Überall setzte sich soll. Für die Versicherten wichtige Fragen behandlung würde vor allem die körperlich bei der Gesamtbetrachtung die Erkenntnis werden beantwortet: Die AHV-Verbesserun- streng Arbeitenden bestrafen und dem Willen durch, dass die Vorlage das derzeit erhältli- gen etwa werden ab 1. Januar 2019 ausbe- des Gesetzgebers zuwiderlaufen. che Optimum verkörpert. zahlt, und zwar an all jene, die ab 2018 das Jetzt zeichnet sich auch ab, dass es am Auch die Delegiertenversammlung des VPOD Referenzalter erreichen. Damit können auch 24. September ein doppeltes Ja brauchen hatte sich nochmals mit der Altersvorsorge jene Frauen, die 2018 bereits eine Erhöhung wird, denn das Referendum gegen die «Al- 2020 zu beschäftigen, weil die Frauenkom- ihres Rentenalters um 3 Monate hinnehmen tersvorsorge 2020» ist deponiert. Es wäre mission den für die Pro-Kampagne vorgese- müssen, auf den Zuschlag zählen. nicht nötig gewesen, da die Vorlagen ohne- henen Zusatzbeitrag an den SGB (2 Franken hin über Kreuz miteinander gekoppelt sind. pro Mitglied) verweigern wollte. Der Antrag Sorgfältiger Übergang Derweil wächst der Kreis der Unterstützen- unterlag. Der Abstimmungskampf ist inzwi- Auch die Anpassung des Mindestumwand- den immer weiter; er umfasst inzwischen schen angelaufen, da der Urnengang gefühlt lungssatzes in der obligatorischen beruf- auch kompromissorientierte Bürgerliche (in direkt nach den Sommerferien stattfindet. lichen Vorsorge tritt per 1. Januar 2019 in einem Komitee um die Aargauer Alt-Stände- Tenor: Mit der «Altersvorsorge 2020» werden Kraft. Dadurch erhalten die Pensionskassen rätin Christine Egerszegi) und fortschrittli- die Renten gestärkt, und die AHV-Finanzie- Zeit, ihre Reglemente anzupassen. Auf die- che Patrons der Westschweiz. Von Belang rung wird bis gegen 2030 gesichert. Otto Piller: Als Grossvater die erste AHV bekam VPOD-Kollege Otto Piller war Ständerat und Gesellschaft und Wirtschaft haben sich seither langjähriger Direktor des Bundesamts für So- verändert. Die Lebenserwartung ist stark gestie- zialversicherungen. Hier sagt er, warum er die gen. Ebenso erfreulich: Die Gleichstellung von AHV mit Süssigkeiten in Verbindung bringt. Und Frau und Mann kommt voran, wenn auch zu lang- warum es die Reform braucht. sam. Die dritte Veränderung ist weniger positiv: Seit einigen Jahren stottert der Motor der zweiten Im Januar 1948 erhielt mein Grossvater erst- Säule. All das verlangt natürlich Anpassungen. mals die AHV. Es waren rund 40 Franken. Er Die Abstimmungsvorlage bringt sie. Sie sichert war überglücklich und wollte uns Grosskinder das Vorsorgeziel von 60 Prozent des letzten Loh- an seiner Freude teilhaben lassen. So kaufte er nes. Und sie ist ausgewogen. Alle mussten etwas uns im Dorfladen Süssigkeiten. Ich war 6 Jah- geben. Aber letztlich profitieren auch alle – aus- re alt – und die AHV blieb mir lange eine süsse ser die Reichen und die Superreichen, die den Überraschung. Sozialstaat nicht brauchen und ihn bei jeder Gele- Die Einführung der AHV in der Schweiz war al- genheit bekämpfen. Die gleichen Kreise aus Poli- les andere als süss. Es war ein langer politischer tik und Wirtschaft sind schon 1947 gegen die AHV Kampf notwendig, bis sie 1947 gutgeheissen wur- Sturm gelaufen. Allerdings ist die Schweiz seither de. 1972 beschloss das Stimmvolk das Dreisäulen- zu einem der reichsten Länder der Welt aufgestie- prinzip für die Altersvorsorge; 1985 trat das BVG gen. Wir können uns den Sozialstaat heute viel in Kraft. Im Grundsatz wurde festgelegt, dass besser leisten als damals. Deshalb: Erteilen wir AHV und berufliche Vorsorge zusammen eine Al- diesen Kreisen im kommenden September einen tersrente von mindestens 60 Prozent des letzten Denkzettel! Stimmen wir massiv Ja! | Otto Piller «Mister AHV»: Otto Piller. Lohnes ergeben sollten. (Foto: zVg) 8 Juli 2017
Neue Bücher | VPOD Ein schön gemachtes Buch feiert das Jubiläum einer Zürcher Institution – «Wissen im Zentrum: 100 Jahre Zentralbibliothek» Zettelwirtschaft Die Zentralbibliothek Zürich feiert ihr 100-jähriges Bestehen. Der schöne Jubiläumsband schält wesentliche Entwicklungen heraus, etwa jene von der Zettel- zur Datenwirtschaft. Auch die Arbeitsbedingungen und die Organisation des Personals kommen zur Sprache. | Text: Christoph Schlatter (Foto: Béla A. Polyvás, aus dem besprochenen Buch) Vor 100 Jahren wurden in Zürich die Stadt- und die Kantonsbibliothek in einem Neubau vereinigt. Der Band, der dieses Jubiläum feiert, ist eine Augenweide. Die Geschichte und damit die Bestände der Vorläuferinsti- tutionen reichen ja viel weiter zurück. Davon zeugen die Bilder: Die drei Stadtheiligen tra- gen ihre Köpfe unterm Arm in einem Gebet- buch aus dem 15. Jahrhundert. Aus dem 16. Jahrhundert stammt ein Mini-Koran. Land- karten und Stadtpläne finden sich. Der frühe Globi von 1939. Und ein alter Globus aus St. Gallen, Objekt eines interkantonalen Kul- turgüterstreits, der sich von 1712 bis 2009 erstreckte ... VPOD seit 1959 vor Ort Jugendstil ade: Der alte Lesesaal der Zentralbibliothek Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk von fünf ist mit dem Umbau 1900–1994 abgebrochen worden. Autorinnen und Autoren. Der Gewerkschaf- ter stürzt sich naturgemäss zunächst auf den Beitrag von Adrian Knoepfli, der das Perso- tallationen auf Schreibtischen – bis die An- Zentralkatalog – 8316 Schubladen, 2,4 Mil- nal in den Mittelpunkt stellt. Zu Beginn wa- schaffung einer ersten zentralen Mövenpick- lionen Katalogzettel, Stock aus Nussbaum, ren die Arbeitsbedingungen vergleichsweise Kaffeemaschine für Entspannung sorgte. Schubladen aus Ahorn oder Obstholz, Be- komfortabel, zumal für die Bibliothekare. Die schläge aus vernickeltem Messing – stand bis ihnen gewährte 40-Stunden-Woche und die «Einer ist eingeschlafen» 2016 im Katalogsaal. Er wies die Bestände 4 Wochen Ferien waren allerdings mit der Er- Mit dem Erweiterungs- und Umbau Anfang der Bibliothek nach zweierlei Logik nach. Ein- wartung verknüpft, «dass sie ausserhalb ihrer der 1990er Jahre hatte die nach Nutzerzahl mal nach der Autorschaft, und dann, eben- Amtszeit wissenschaftlicher Arbeit obliegen». und Ausleihen grösste Bibliothek der Schweiz falls alphabetisch, nach Schlagworten, was Der Hauswart hatte 1961 um 6.45 Uhr inof- eine besondere Herausforderung zu bewälti- eine Konzession ans Laienpublikum darstell- fiziell und um 8 Uhr offiziell Arbeitsbeginn gen. In kürzester Zeit mussten 2 Millionen te und einst von vielen Gelehrten abgelehnt – und einen 11-Stunden-Tag. Bücher gezügelt und mehrere Provisorien in wurde, die darin den Beginn der Beliebigkeit Seit 1959, so ist bei Knoepfli zu lesen, gibt es Betrieb genommen werden. Nicht alles klapp- erblickten. Sie ahnten nichts von der Umwäl- eine VPOD-Gruppe an der Zentralbibliothek. te einwandfrei. Im Interimsquartier «Zeug- zung und Unordnung, die Automatisierung Sie kümmerte sich namentlich um Fragen haus 3» fehlte jegliche Heizung, was das Per- und Digitalisierung über die Büchereien die- der Einstufung: So wollten etwa die Ange- sonal («in einer Viertelstunde durchgefroren») ser Welt bringen sollten. stellten der Bücherausgabe 1959 nicht länger nicht hinnehmen wollte. Bei einem Regalein- Und wie sieht die Bibliothek der Zukunft mit Maurerpolieren und Kochberaterinnen sturz gab es glücklicherweise bloss Eselsoh- aus? Implodiert die Institution im Internet die Lohnstufe teilen. Für 1973 ist ein Konflikt ren. Nostalgische Seelen hatten derweil den – oder ist sie als Kuratorin und Ordnungsstif- um die Pausengestaltung geschildert: Der Abriss des alten Jugendstil-Lesesaals hinzu- terin erst recht gefragt? So ganz genau weiss Direktor sorgte sich um das Image seiner nehmen; Rea Brändle schildert die Atmosphä- es auch Mario König nicht, der den Ausblick Einrichtung angesichts der Tatsache, dass re im neuen: «Selbst das Lesen hat verschiede- wagt und vor allem die soziale Bedeutung der seine Angestellten zu Pausenzeiten in Scha- ne Nuancen, viele büffeln mit Leuchtstiften, Einrichtung unterstreicht. ren die umliegenden Cafés bevölkerten. Das andere räkeln sich mit ihrer Lektüre in der Rea Brändle, Markus Brühlmeier, Adrian Knoepfli, Mario Verbot zum Verlassen des Hauses stiess auf Lounge, einer ist eingeschlafen.» König, Verena Rothenbühler: Wissen im Zentrum. 100 Jahre Widerstand und führte zur Inbetriebnahme Die Zentralbibliothek war ein Jahrhundert Zentralbibliothek Zürich, Zürich (Chronos) 2017. 303 Sei- von zahllosen Tauchsiedern und anderen Ins- lang eine Zettelwirtschaft. Der Alphabetische ten, zahlreiche Abbildungen; ca. 59 Franken. Juli 2017 9
VPOD | Aus den Regionen und Sektionen Gefahr am Theater Basel: Gemäss Vertrag mit Baselland droht Abbau. Erfolg bei der BVK-Wahl: Irene Willi, Stefan Giger, Calista Fischer. ist erst vorläufig. «Wir wollen eine definitive Zusage für die definitive Organisation», sagt VPOD-Sekretärin Bettina Dauwalder. Die Pflege ist eine der Kerndisziplinen eines Spitals; sie auf der strategischen Ebene zu ignorieren, wäre ein verhängnisvoller Fehler. | slt Basel soll TISA-freie Zone werden Mit 42 zu 39 Stimmen hat der Basler Grosse Rat beschlossen, ein Postulat – in Basel «Anzug» genannt – für eine TISA-freie Zone Basel aufrechtzuerhalten. Damit ist die Regierung aufgefordert, ihr «Spiel auf Zeit» aufzugeben und endlich aktiv zu werden. Zürich, Bern, Genf und Lausanne sind bereits TISA-frei. | slt Bundespersonal: Ortszulage gerettet Der Bundesrat hat Änderungen am Lohnsystem beschlossen, aber auf massive Eingriffe verzichtet. Für die Geringverdienenden innerhalb des Bundespersonals ist die Ortszulage besonders wichtig, gerade an- gesichts der Mietzinsentwicklung. Dem VPOD ist es gelungen, ihre Abschaffung zu verhindern. Die Verhandlungsgemeinschaft Bun- despersonal hält darüber hinaus fest, dass sich beim Lohnsystem des Bundes keine Änderungen aufdrängen. Dennoch schraubt der Bun- Basel: Gefährliches Pokerspiel um Uni und Kultur desrat dauernd daran herum. Neu sollen Beschäftigte, deren Lohn Der Uni- und Kulturvertrag wird in der Form, wie er von den Regie- noch nicht dem Funktionslohn entspricht, geringere Prämien für rungen der beiden Basel vorgelegt wurde, aufs Schärfste verurteilt. ausserordentliche Leistungen erhalten. Der Spielraum für eine höhere Der VPOD nennt ihn ein «gefährliches Pokerspiel». Zum einen ist Einstufung von gefragten Fachkräften wird ebenfalls eingeengt. | vpod unverständlich, dass Baselland sich aus der finanziellen Verantwor- tung für Institutionen stehlen kann, die auch von seiner Bevölkerung BVK-Wahl: VPOD stark! genutzt werden. Und zweitens gefährden die Vereinbarungen die Der VPOD ist erfreut über das gute Abschneiden seiner Liste «Starke Universitäten und die Kultureinrichtungen (Theater und Orchester) Stimmen in die BVK». 3 der 9 Kandidierenden wurden in den Stif- ganz direkt. | vpod (Foto: Andreas Praefcke) tungsrat der kantonalzürcherischen Pensionskasse gewählt, nämlich Irene Willi (im Wahlkreis Schulen), Stefan Giger (im Wahlkreis Ge- Neuenburg: Referenden gegen GAV-Aushöhlung sundheitsinstitutionen) und Calista Fischer (im Wahlkreis Bildungsin- Der Neuenburger Kantonsrat will den bisher im kantonalen Gesund- stitutionen). Abgewählt wurde der vom VPOD nicht mehr unterstützte heitswesen gültigen GAV «Santé 21» zergliedern. Künftig soll es zwei Ernst Joss, während der andere einstige VPOD-Vertreter, Guido Suter, Verträge geben – einen für das pflegende Personal und einen für die die Wiederwahl schaffte. Erschreckend tief war die Stimmbeteiligung: Übrigen. Der VPOD wehrt sich gegen diese Deregulierung; er hat das 9,1 Prozent! Nach einem mit harten Bandagen geführten Wahlkampf Referendum ergriffen. Die Unterschriften sind beisammen, so dass gilt es nun, im Interesse der Versicherten zu einer konstruktiven und die Kantonsbevölkerung entscheiden kann, ob sie die Spitäler so für transparenten Arbeit zurückzukehren. | slt (Fotos: Nick Spoerri) internationale Gesundheitskonzerne übernahmereif machen will. | slt Lugano: Leistungslohn ist diskriminierend Inselspital: Pflege bleibt in der Leitung In Lugano wehrt sich der VPOD weiter gegen den Leistungslohn für Der VPOD hat mit einer Petition am Berner Inselspital zumindest die Beschäftigten der Stadt. Er verlangt, dass dieser Punkt aus der Re- einen Etappensieg für das Personal errungen. Wie die Spitalgruppe vision des Personalreglements entfernt wird, weil ein adäquates Beur- mitteilt, werden die Berufsgruppen der Pflege und der Medizintech- teilungssystem fehlt. Eine faire Bewertung der Leistung ist aus Sicht nik und -therapie auch weiterhin in der obersten Leitung der Spital- des VPOD ohnehin unmöglich; zumindest müssen die Angestellten gruppe vertreten sein – entgegen den ursprünglichen Plänen. Das aber gegen Beurteilungen vorgehen können, die sie als ungerecht Bündnis «Zäme geit’s» ist aber noch nicht zufrieden, denn die Zusage empfinden, so wie das auf kantonaler Ebene geregelt ist. | vpod 10 Juli 2017
Dossier: Behördeneingriffe einst und heute Interview mit Guido Fluri, Unternehmer, Begründer der Wiedergutmachungsinitiative, Wegbereiter der Aufarbeitung von Behördenunrecht «Den Opfern geschah doppeltes Leid» Guido Fluri zählt sich selbst nicht zu den «schweren Fällen» – trotz einer Kindheit zwischen Fremdplatzierung und schizophrener Mutter. Das VPOD-Magazin traf den Begründer der Wiedergutmachungsinitiative zum Gespräch über «Wohltätigkeit» und über Behördenzwang einst. Auch die heutige Kesb war Thema. | Interview: Christoph Schlatter (Foto: zVg) VPOD-Magazin: Guido Fluri, bestimmt haben ich eine Spenglerlehre und brach sie wieder Sie Ihre Geschichte schon oft erzählt. Können ab. Später konnte ich immerhin noch eine Sie das für uns ein weiteres Mal tun? zweijährige Tankwart-Ausbildung machen – Guido Fluri: Gern. Denn aus meiner Bio- «Autoservicemann» hiess dieser Beruf, der grafie erwächst für mich die Motivation für inzwischen «ausgestorben» ist. mein heutiges Engagement in zahlreichen Damals hätte wohl niemand vermutet, Stiftungen und Initiativen. Ich bin als un- dass Sie es einmal zu Reichtum und Ansehen eheliches Kind geboren und weiss bis heu- bringen. te nicht, wer mein Vater ist. Die Mutter war Ich habe mit 20 ein erstes Immobilienge- knapp 17, als ich geboren wurde, und ist schäft erfolgreich abschliessen können, das kurz danach an Schizophrenie erkrankt. Die die Basis für weitere Erfolge und einen ge- Kindheit verbrachte ich zu einem Teil bei wissen Wohlstand gelegt hat. Glauben Sie der Mutter, was aufgrund ihrer Krankheit mir: Ich bin kein «Geldmensch» und auch und deren Stigmatisierung (eine «Geistes- kein «Zocker». Ausschlaggebend war, so kranke», eine «von der Rosegg», wie es im glaube ich, vielmehr das Streben nach finan- Solothurnischen damals hiess) sehr schwie- zieller Sicherheit. Die ärmlichen Verhältnis- rig war. Schlechte Erinnerungen habe ich se meiner Kindheit haben mich geprägt. Ich auch an das Kinderheim Mümliswil, wo man weiss noch, dass es mir immer peinlich war, mich dann platzierte. Kurz vor Schuleintritt wenn ich auf Geheiss der Mutter im Dorf- kam ich zu den Grosseltern. Aber dann star- laden anschreiben lassen musste. Und noch ben kurz nacheinander der Grossvater und peinlicher, als es dort hiess, jetzt sei der Kre- ein Onkel, an dem ich mich zu orientieren dit aufgebraucht, jetzt wolle man Geld sehen! begonnen hatte. Traumatische Erfahrun- Mit Ihren Tätigkeiten, auch mit den gen für einen Zehnjährigen. Ich erinnere Stiftungen, die Sie ins Leben gerufen haben, Guido Fluri ist trotz schwieriger mich noch heute an die Särge in der Stube. bearbeiten Sie sozusagen die Probleme Kindheitsjahre nicht verbittert. Und an den Duft der Blumen. In der Schu- Ihrer Kindheit und Jugend. le konnte ich nicht mithalten – ich war ein Ja, meine persönliche Geschichte spiegelt schlechter Schüler. Nach der Schule begann sich in meinen Engagements, die ich dank meiner Holding dann auch eigenständig fi- nanzieren konnte – ein Drittel des Ertrags fliesst in gemeinnützige Projekte. So habe ich das Kinderheim Mümliswil, in dem ich Seit 1. April gilt das Bundesgesetz über die Auf- voran. In kürzester Zeit waren die Unterschriften selbst gesessen und gelitten habe, gekauft arbeitung der fürsorgerischen Zwangsmass- für die «Wiedergutmachungsinitiative» beisam- und in eine nationale Gedenkstätte für nahmen und Fremdplatzierungen. Nicht nur der men, dank deren Druck Bundesbern sofort einen Heim- und Verdingkinder umgewandelt. Name, auch die Vorgeschichte ist kompliziert. Gegenvorschlag vorlegte. Dieser erlaubte, weil Die Erkrankung meiner Mutter wurde zum Seit dem Millennium wurde die Stimme einsti- er die wesentlichen Forderungen enthielt, den Ausgangspunkt für die Plattform «Mit Schi- ger Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen Rückzug der Initiative. Auch die Mehrheit in den zophrenie leben». Dass ich vor einiger Zeit bis 1981 immer lauter. Auch die Politik wurde, Räten hatte – nicht ganz von selber – gedreht. an einem Hirntumor erkrankte, der geheilt wenn auch langsam, aufmerksam. An einem Das folgende Dossier befasst sich mit dem Be- werden konnte, motivierte mich, etwas für Runden Tisch tauschten sich der Bund und Ver- hördenunrecht bis 1981, das beispielsweise in die entsprechende Forschung zu tun. Bei le- tretungen der Betroffenenverbände aus; die Zwangsversorgung in Anstalten ohne Gerichts- bensbedrohlichen Tumoren haben wir auch Bundesrätinnen Eveline Widmer-Schlumpf und urteil und ohne Rechtsmittel bestand. Im Inter- schon mehrfach Patienten aus einfachen Simonetta Sommaruga formulierten Entschul- view mit Guido Fluri wird der Weg zur Rehabi- Verhältnissen zur Operation in die Schweiz digungen. Doch erst als der Zuger Unternehmer litierung der Opfer nachgezeichnet, aber auch geholt. Guido Fluri, selbst Heimkind aus schwierigen gefragt, inwiefern die heutige Kesb-Debatte sich Diese Art Wohltätigkeit scheint wie aus einer Verhältnissen, sich der Sache annahm, ging es an diese Fragestellungen anschliesst. anderen Zeit zu kommen... Am meisten Juli 2017 11
Dossier: Behördeneingriffe einst und heute Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit Auch die «Wiedergutmachungsinitiative» Ich war ja viele, viele Male im Bundeshaus haben Sie aber mit der «Wiedergutmachungs- fokussiert nicht auf die Frage der Schuld. und habe mit zahlreichen Politikern gespro- initiative» erlangt. Wie kam es zu diesem Trotz des Titels ist natürlich allen klar: Man chen. Bei einigen von ihnen bin ich auf ein Engagement? kann diese schlimmen Dinge nicht unge- erstaunliches Mass an Hartherzigkeit ge- Ich war schon viele Jahre mit zahlreichen schehen machen. Und es geht nicht darum, stossen. Empathie mit den Opfern? Null! Betroffenengruppen in Verbindung, die sich Schuldige zu benennen und zu bezichtigen. Ich selbst bin parteilos, aber von liberaler um Rehabilitierung und Wiedergutmachung Es geht um Anerkennung. Um das Einge- Gesinnung. Doch Sie glauben nicht, was des Behördenunrechts bis 1981 bemühten. ständnis einer Gesellschaft, dass Leid über das für eine Übung war, bis ich die Mehr- Die Politik bewegte sich nur sehr zaghaft diese Menschen gekommen ist. Um ein Ende heit der Bürgerlichen im Boot hatte. Was hat und wollte auf gar keinen Fall finanzielle der dauernden Rechtfertigung und Relativie- das bitte mit Liberalismus zu tun, wenn man Verpflichtungen eingehen. 2013 wurde mir rung. Ich verstehe jene, die so systematisch Menschen wegsperrt und ihre Schicksale klar: Es müssen andere Saiten aufgezogen gedemütigt und kaputtgemacht wurden, ignoriert? Erst nachdem die Unterschriften werden und andere Instrumente zum Ein- dass sie ihr Leben lang keine Möglichkeit für die Volksinitiative beisammen waren, hat satz kommen. Es gilt, ein Druckmittel in fanden, irgendwo neu zu beginnen. Diesen sich auch die Politik bewegt. die Hand zu bekommen und im grossen Stil Menschen geschah Leid nicht nur dadurch, Sogar eine Minderheit in der SVP... und mit professioneller Unterstützung Öf- dass man sie wegsperrte oder als billige Ar- Ein Ständerat aus der Innerschweiz gehörte fentlichkeitsarbeit zu betreiben. beitskraft oder sexuell missbraucht hat, nicht anfänglich zu den Hardlinern, die von der Dabei haben Sie wiederum auch mit nur dadurch, dass man Müttern ihre Kinder ganzen Geschichte nichts wissen wollten. Geld geholfen. Wie erklären Sie sich entrissen oder zwangsweise abgetrieben hat, Er habe als Kind auch um 4 Uhr früh aus eigentlich, dass Sie Ihrer Biografie trotz dass man junge Frauen sterilisiert, dass man den Federn müssen zum Melken, sagte er schwieriger Startbedingungen eine Wende Medikamente an Unwissenden getestet hat. mir. Und für schlechte Schulnoten habe es geben konnten, während andere in Nein, Leid geschah ihnen ein zweites Mal zuhause ebenfalls Schläge abgesetzt. Es hat ähnlicher Situation ihr Leben lang am Rand dadurch, dass dieses Unrecht unentwegt viele Stunden gebraucht, ihm klarzumachen, geblieben sind. geleugnet oder beschönigt oder kleingere- dass wir hier von etwas anderem sprechen. Nun, zum einen bin ich kein Schwerstbetrof- det wurde. Gewiss kann kein Geld der Welt Dass es um die systematische Ausbeutung fener. Mein Schicksal ist nicht zu vergleichen solche Wunden heilen. Trotzdem sind die So- und die systematische Missachtung der mit demjenigen etwa von Verdingkindern, lidaritätsbeiträge, wie sie jetzt zu fliessen be- Menschenwürde geht. Am Ende hat dieser die das, was man Kindheit nennen könnte, gonnen haben, ein unwahrscheinlich wichti- Ständerat im Parlament den grünen Knopf überhaupt nicht kennengelernt haben. Oder ges Zeichen, zumal viele der Betroffenen ihr gedrückt, als über den Gegenvorschlag ab- mit demjenigen von zwangssterilisierten Leben lang in Armut gelebt haben. gestimmt wurde, zu dessen Gunsten wir die Frauen, die irreversibel für ihr ganzes Leben Wie muss man sich die Lobbyarbeit Initiative zurückziehen konnten. geschädigt wurden. Für mich war es nicht konkret vorstellen, die Sie für die Initiative Auch mit den Bauernvertretern und der einfach. Aber ich habe das Glück, dass ich geleistet haben? Kirche, die beide ja in diese Zwangssysteme nicht verbittert bin. Und: Ich habe nie die Es hat sich gezeigt, dass in der Politik je- eingebunden waren, dürfte es nicht einfach Schuldfrage gestellt. der Spass auf hört, sobald es um Geld geht. gewesen sein. Bernadette Gächter, zwangssterilisiert «Die 1954 geborene Bernadette Gächter kam als Kleinkind zu einer streng katholischen Pflegefamilie nach St. Margrethen. Mit 18 Jahren wurde sie schwanger, was einen Skandal in der Pflegefamilie auslöste. In der Folge re- agierten Vormund, Pfarrer und Hausarzt. Letzterer kam in einem Gutachten zum Schluss, dass Bernadette Gächter ‹mit ihrer abnormen Veranlagung› nicht in der Lage sei, ein Kind grosszuziehen, und empfahl neben einer Abtreibung die Sterilisation. Pflegeeltern, Hausarzt und der Klinikdirektor setzten sie so stark unter Druck, dass Bernadette Gächter schliesslich in den Eingriff einwilligte. Später versuchte sie mit zwei Operationen erfolglos, die Sterilisation rückgängig zu machen.» 12 Juli 2017
Dossier: Behördeneingriffe einst und heute Das war ein langer Prozess, weil auch die Zeitgenossen erkennbar sein musste, dass das ist kein Hinderungsgrund für die Aus- Angst vor Entschädigungsforderungen etwas nicht korrekt läuft. zahlung. Für viele Opfer, für Menschen, die im Raum stand. Man wolle kein Präjudiz Man findet auch im Öffentlichen Dienst, ihr Leben lang in Armut gelebt haben, ist schaffen, hiess es. Es war ein Mammutjob, der damaligen VPOD-Zeitung, einen Tonfall, das sehr wertvoll. Sie können sich jetzt noch die Gefühlslage der Opfer zu vermitteln. der heute befremdend anmutet. Man habe etwas Schönes leisten, eine Reise vielleicht. Andererseits war auch die Arbeit mit den Leute «aufgrund ihres liederlichen Lebens- Noch höher zu veranschlagen ist der sym- unterschiedlichen Opfergruppen nicht ein- wandels» in Anstalten unterbringen bolische Wert: Endlich wird offiziell aner- fach. Da gab es teilweise unrealistische For- «müssen», steht unkommentiert in einer kannt, dass das, was ihnen widerfahren ist, derungen. Es brauchte auch auf dieser Seite Reportage über ein «Bürgerheim». Häufig Unrecht ist. Fingerspitzengefühl und viel Energie, die kommt auch das Argument, es hätten es ja Sie gehören auch zu den Mitbegründern der unterschiedlichen Charaktere und Sicht- nicht alle schlecht gehabt. Es gab auch Ver- Kescha, der neuen Anlaufstelle Kindes- und weisen einzubinden. Auch die Opferseite dingkinder, die zu guten Leuten kamen. Erwachsenenschutz. Damit sind wir in der musste zugunsten der politischen Realisier- Das ist ja auch nicht falsch. Es kam sogar vor, Gegenwart und bei der Diskussion über die barkeit einige Abstriche machen, was natür- dass Bauernhöfe an Verdingbuben vererbt Kesb, die seit einigen Jahren lautstark geführt lich nicht allen gefallen hat. Aber in kleiner wurden. Es hat auch nicht jedes Heimkind wird. Häufig wird in der Debatte die heutige Anpassung des Sprichworts muss man doch zwangsläufig Unrecht erlitten. Aber das mil- Kesb mit früheren fürsorgerischen Massnah- sagen: Lieber die Taube in der Hand als den dert den Schmerz jener, die gelitten haben, men verglichen, von denen wir gesprochen Adler auf dem Dach. kein bisschen: jener, die über Nacht in den haben. Von den Gegnerinnen und Gegnern Schweinestall gesperrt wurden, oder jener, Dieser Vergleich ist absurd – absurder geht es solcher Rehabilitierungsbestrebungen die zu keiner rechten Schulbildung kamen, nicht. Früher hat man Kinder auf dem Dorf- wird immer wieder ins Feld geführt, man weil sie immer arbeiten mussten. Eine Ge- platz versteigert. Man besass überhaupt kein könne nicht aus heutiger Warte über die sellschaft kann nur dann in die Zukunft Sensorium dafür, was eine Fremdplatzierung Vergangenheit zu Gericht sitzen. Es seien bauen, wenn sie sich den trüben Seiten ih- für sie bedeutet. Diese Beurteilung – was be- halt andere Zeiten gewesen. rer Vergangenheit stellt. Ich bin aus diesem deutet eine Massnahme für ein Kind, was hat Besonders enttäuschend fand ich das Votum Grund froh, dass auch die historische For- sie für Auswirkungen? – steht heute bei der eines Nationalrats und Rechtsprofessors, der schung Teil des neuen Gesetzes ist. Kesb im Vordergrund. Das bedeutet nicht, das Bestreben um Wiedergutmachung als Seit einigen Monaten können Gesuche für dass alles richtig läuft und dass alle Ent- «Gesinnungsimperialismus» geisselte. Die Solidaritätsbeiträge eingereicht werden. scheide korrekt und angemessen sind. Aber meisten Massnahmen seien damals rech- Opfer erhalten einen Beitrag von rund man muss dazu auch bemerken, dass es sich tens gewesen. Und alles andere sei verjährt. 25 000 Franken. Dafür sind einige Angaben häufig um Scheidungen und Trennungen Diese Argumentation geht fehl: Der Verweis notwendig; es reicht nicht aus, einfach auf handelt, wo es aufgrund der Konfliktlage gar auf damaliges Recht taugt nicht, wo Recht einen Heimaufenthalt zu verweisen. Die Ge- nicht möglich ist, eine Lösung zu finden, die und Gerechtigkeit so drastisch voneinander suche werden von Historikern auf ihre Plau- von allen Parteien akzeptiert wird. Eine Be- abweichen, wo die Menschenwürde systema- sibilität hin überprüft, aber die Entscheide hörde ist hier in einer sehr schwierigen Situ- tisch verletzt wird. Und wo es schon für die fallen grosszügig aus. Häufig fehlen Akten; ation: Auf eine Gefährdungsmeldung richtig Hugo Zingg, ehemaliger Verdingbub «In der Schweiz wurden bis weit ins 20. Jahrhundert Kinder auf Dorfplätzen versteigert und verdingt. Jährlich wurden Zehntausende Kinder vorwiegend aus verarmten Familien oder aus Waisenhäusern von den Behörden abge- holt und auf Bauernhöfe verteilt. Dort wurden viele zur Kinderarbeit ge- zwungen, als Dienstmagd oder Verdingbub ausgebeutet, teilweise schwer misshandelt oder sexuell missbraucht. Viele Kinder starben aufgrund der körperlichen Anstrengungen und Missbräuche.» (Fotos: Remo Neuhaus/Guido-Fluri-Stiftung; Texte aus einem Vortrag, den Guido Fluri am 11. Mai 2017 im Rahmen der Otto-Karrer-Vorlesung in der Jesuitenkirche Luzern gehalten hat) Juli 2017 13
Dossier: Behördeneingriffe einst und heute und zum richtigen Zeitpunkt zu reagieren, auf, dass ihnen Wege vermittelt werden, wie übersteht, hat keine Berechtigung. Insofern ist heikel. Vielleicht unternimmt die Kesb da sie die Situation zu ihren Gunsten verändern bin ich froh, dass jüngst auch die Anti-Kesb- manchmal auch einen Schritt zu viel oder ei- können, wie sie allfällige persönliche Prob- Initiative im Kanton Schwyz abgelehnt wur- nen zu früh – aber wehe, sie tut es nicht, und leme – Beispiel: Suchtproblematik – in den de – auch wenn die Abstimmung knapp aus- es passiert etwas . . . Ich bin nicht der Ansicht, Griff bekommen können. In diese Richtung gegangen ist. dass man der Kesb juristische Fehler im soll die Kescha wirken – bis zu dem Punkt, Wobei auch die Medien ihren Beitrag zur grossen Stil vorhalten kann. Ihr Problem, an wo es sie nicht mehr brauchen wird, weil die Eskalation leisten, zuletzt das Schweizer dem sie selbst nicht ganz unschuldig ist, ist Kesb ihrerseits genügend Sensibilität für die- Fernsehen mit «Arena/Reporter», wo ein ein anderes: die mangelnde Kommunikation, se Fragen entwickelt haben wird. sehr extremer Fall sehr extrem dargestellt und die manchmal unzureichende Begleitung Und die Kesb zeigt sich dazu bereit? von sehr extremen Exponenten kommentiert der Betroffenen. Häufig fühlen sich diese Wir sind überall auf offene Türen gestossen, wurde. ohnmächtig, sehen sich einem undurchsich- konnten beispielsweise unsere Broschüre Ich freue mich über jeden Journalisten, der tigen Apparat gegenüber und mit unver- bei der Kesb überall auf legen. Die Unter- wie Sie das Thema auf differenzierte Weise ständlichem Juristendeutsch zugetextet. An stützung durch Fachverbände und die wis- anpackt. Das öffentlich-rechtliche Fernse- dieser Stelle wären die Beistände gefragt, die senschaftliche Begleitung garantieren, dass hen hat hier seinen Auftrag nicht erfüllt: aber häufig dazu nicht in der Lage sind, weil die Erkenntnisse der neuen Anlaufstelle in Im Vorfeld einer Initiative solchen Extrem- sie für viel mehr Personen zuständig sind, die Behörden zurückfliessen. Es gibt keine positionen eine Plattform zu geben, ist nicht als zu bewältigen ist. Alternative zur Kesb – gerade mit Blick auf förderlich. Nötig ist eine sorgfältige Betrach- Was bezweckt denn die neue Anlaufstelle? die Vorgeschichte, die wir zuvor besprochen tung, die berücksichtigt, dass die Fälle kom- In erster Linie soll sie helfen, Eskalation zu haben. Daher soll die Behörde gestärkt, aber plex sind und sich nicht über einen Kamm vermeiden. Es geht dabei nicht um juristi- auch sehr kritisch begleitet werden. Es wird scheren lassen. Und die eben auch in den sche Fragen, sondern darum, dass man die trotzdem nicht ohne Konflikte abgehen; das Rückspiegel schaut und die Lehren aus der Betroffenen «abholen» und begleiten muss. liegt in der Natur der Sache. Aber das gene- Vergangenheit zieht. Ein «Zurück» darf es in Sie haben das Recht darauf – und auch dar- relle Misstrauen, dem die Kesb heute gegen- dieser Frage auf keinen Fall geben. Michel Wieilly, ehemaliges Heimkind «In staatlichen, kirchlichen und privaten Heimen wurden Tausende Kinder systematisch gedemütigt, gezüchtigt, körperlich misshandelt und teilweise auch sexuell missbraucht. Auf Kosten der Schulbildung wurden viele Heimkinder zur Kinderarbeit gezwungen und ausgebeu- tet. Weil es an konsequenten staatlichen Kontrollen fehlte, waren die Kinder in diesen geschlossenen Institutionen ihrem Schicksal schutzlos ausgeliefert. Die Missbrauchsfälle wurden in den meisten Fällen nicht geahndet.» Rolf Horst Seiler, wurde administrativ versorgt «Bis Anfang der 1980er Jahre wurden Jugendliche und Erwachsene oh- ne Schuldspruch und Gerichtsurteil administrativ versorgt. Die jungen Männer und Frauen wurden zur ‹Arbeitserziehung› in geschlossene Anstalten und Gefängnisse eingewiesen, weil sie ein angeblich ‹lieder- liches Leben› führten oder als ‹arbeitsscheu› eingestuft wurden. Auch Frauen, denen man beispielsweise einen ‹lasterhaften Lebenswandel› unterstellte, wurden wie Schwerverbrecher weggesperrt.» 14 Juli 2017
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