71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen

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71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen
Zeitschrift der        Hessen
  für Erziehung, Bildung, Forschung

71. Jahr      Heft 4         April 2018
                         zum Inhaltsverzeichnis

                                                  Foto: H.Heibel, Hessischer Landtag

      TITELTHEMA
   Hessen vor der Wahl
71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen
IN DIESER HLZ                                                                                                                                  HLZ 4/2018         2

                                                                                                                          Zeitschrift der GEW Hessen
                                                                                                                          für Erziehung, Bildung, Forschung
                                                                                                                          ISSN 0935-0489

                                                                                                         I    M       P      R     E      S     S     U       M
                                                                                                         Herausgeber:
                                                                                                         Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
                                                                                                         Landesverband Hessen
                    Bis zur Landtagswahl in Hessen am 28.      analysieren die Arbeit der AfD-Abge-      Zimmerweg 12
                                                                                                         60325 Frankfurt/Main
                    Oktober 2018 ist noch gut ein halbes       ordneten im Landtag von Rheinland-        Telefon (0 69) 971 2930
                    Jahr. Doch schon jetzt zeichnen sich die   Pfalz und in niedersächsischen Kom-       Fax (0 69) 97 12 93 93
                    Schwerpunkte des Wahlkampfs deut-          munalparlamenten. (S. 16-17)              E-Mail: info@gew-hessen.de
                                                                                                         Homepage: www.gew-hessen.de
                    lich ab (HLZ S.3). Einen ersten Über-      Im nächsten halben Jahr wird die HLZ
                    blick über Themen und Positionen zur       in Einzelbeiträgen ausgewählte Aspekte    Verantwortlicher Redakteur:
                                                                                                         Harald Freiling
                    Wahl gibt die HLZ in dieser Ausgabe:       im Vorfeld der Wahl vorstellen. In den    Klingenberger Str. 13
                    • Professor Georg Fülberth beschreibt      Ausgaben unmittelbar vor der Wahl         60599 Frankfurt am Main
                                                                                                         Telefon (0 69) 636269
                    langfristige Trends und Veränderungen      werden wir die Arbeit der schwarz-grü-    Fax (069) 6313775
                    seit der Gründung des Landes Hessen        nen Koalition bilanzieren und die Par-    E-Mail: freiling.hlz@t-online.de
                    im Jahr 1945. (S. 6-7)                     teien zu wichtigen Themen der Wahl        Mitarbeit:
                    • Sascha Kristin Futh befasst sich mit     befragen.                                 Christoph Baumann (Bildung), Tobias Cepok (Hoch-
                    der hessischen Medienlandschaft und                                                  schule), Dr. Franziska Conrad (Aus- und Fortbildung),
                                                                                                         Holger Giebel, Angela Scheffels (Mitbestimmung),
                    ersten Umfragen im Wahljahr. (S. 8-9)
                                                                  Hessenwahl am 28. Oktober              Michael Köditz (Sozialpädagogik), Annette Loycke
                    • Die finanzpolitischen Spielräume                                                   (Recht), Andrea Gergen (Aus- und Fortbildung), Ka-
                    des Landes analysieren Kai Eicker-Wolf     Die GEW wird sich auch in diesen          rola Stötzel (Weiterbildung), Gerd Turk (Tarifpolitik
                                                                                                         und Gewerkschaften)
                    und Achim Truger. Ihr Ergebnis: Geld       Wahlkampf einmischen und ihre The-
                    für bessere Bildung ist da! (S. 10-11)     men und Forderungen einbringen.           Gestaltung: Harald Knöfel, Michael Heckert †
                    • Nach einer Umfrage des Meinungs-         Auch darüber wird die HLZ berichten.      Titelthema: Harald Freiling und Roman George
                    forschungsinstituts Forsa werden „der      Unter der Überschrift „Bildung braucht    Illustrationen: Thomas Plaßmann (S. 11, 13, 29, 33),
                    Lehrermangel, der Ausfall von Unter-       bessere Bedingungen“ plant die GEW        Dieter Tonn (S. 7, 9, 15), Ruth Ullenboom (S. 4)
                    richt und der schlechte bauliche Zu-       • regionale Aktionen in der Woche         Fotos, soweit nicht angegeben:
                    stand vieler Schulen als gravierendste     vom 23. bis 25. Mai                       H. Heibel, Hessischer Landtag (Titel), GEW (S. 3, 5
                                                                                                         23, 24, 34)
                    Probleme im Schulwesen ausgemacht“,        • regionale Konferenzen der Schul-
                    so die Frankfurter Rundschau am            personalräte und GEW-Vertrauensleu-       Verlag:
                    27. 2. 2018. Roman George vergleicht       te in der Zeit vom 21. bis 23. August     Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH
                                                                                                         Niederstedter Weg 5
                    die unterschiedlichen Prognosen zum        • einen zentralen Aktionstag am           61348 Bad Homburg
                    künftigen Lehrkräftebedarf. (S. 12-13)     Samstag, dem 22. September 2018.          Anzeigenverwaltung:
                    • In einem weiteren Beitrag reflektiert        Im Rahmen der Kampagne „Bildung       Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH
                    Roman George einen Aufsatz des hes-        braucht bessere Bedingungen“ kon-         Peter Vollrath-Kühne
                    sischen Kultusministers Alexander Lorz     frontiert die GEW Hessen die Partei-      Postfach 19 44
                                                                                                         61289 Bad Homburg
                    über die „anthropologischen Prämissen      en mit der Forderung nach einem „So-      Telefon (06172) 95 83-0, Fax: (06172) 9583-21
                    christlich-demokratischer Bildungspo-      fortprogramm für Bildung“ mit einem       E-Mail: mlverlag@wsth.de
                    litik“. (S. 14-15)                         Finanzierungsvolumen von 500 Milli-       Erfüllungsort und Gerichtsstand:
                    • Professor Benno Hafeneger und Stu-       onen Euro im Jahr, das die HLZ in ih-     Bad Homburg
                    dierende an der Universität Marburg        rer nächsten Ausgabe vorstellen wird.     Bezugspreis:
                                                                                                         Jahresabonnement 12,90 Euro (9 Ausgaben, ein-
                                                                                                         schließlich Porto); Einzelheft 1,50 Euro. Die Kosten
                                                                                                         sind für die Mitglieder der GEW Hessen im Beitrag
                                                                                                         enthalten.
   Aus dem Inhalt

                     Rubriken                                   19-22 lea-Fortbildungsprogramm           Zuschriften:
                                                                                                         Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder
                     4   Spot(t)light                                                                    wird keine Haftung übernommen. Im Falle einer Ver-
                                                                Einzelbeiträge
                     5   Meldungen                                                                       öffentlichung behält sich die Redaktion Kürzungen
                    34   Aus den Bezirksverbänden              18 Frieden geht: Staffellauf gegen Rüs-   vor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen
                                                                                                         nicht mit der Meinung der GEW oder der Redaktion
                    35   Aus dem Hauptpersonalrat                 tungsexporte auch durch Hessen         übereinstimmen.
                    36   Recht: Betreuung von Kindern          23 GEW-Fach- und Personengruppen:
                    37   Recht: Mutterschutz                      Die Landespersonengruppe Frauen        Redaktionsschluss:
                    38   Jubilarinnen und Jubilare             24 Gesetzgebung: Kindertagesstätten       Jeweils am 5. des Vormonats
                                                               25 Grundschule geht anders:
                     Titelthema: Hessen vor der Wahl              VERA 3, Quopp und Co.
                     6   Langfristige politische Trends        26 Privatschulboom in Hessen              Nachdruck:
                                                                                                         Fotomechanische Wiedergabe, sonstige Vervielfälti-
                     8   Meinungsbildung vor der Wahl          28 Landesrechnungshof ignoriert           gungen sowie Übersetzungen des Text- und Anzei-
                    10   Haushaltspolitik: Das Geld ist da!       Investitionsstau an Schulen            genteils, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher
                    12                                                                                   Genehmigung der Redaktion und des Verlages.
                         Lehrkräftemangel in Hessen            30 Gewerkschaften in Frankreich
                    14   Bildung: Fragen an Herrn Lorz         31 Algier: Konferenz gegen den Krieg      Druck:
                                                                                                         Druckerei und Verlag Gutenberg Riemann GmbH
                    16   Die AfD in den Parlamenten            32 Medien: Fake News – True News          Werner-Heisenberg-Str. 7, 34123 Kassel
71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen
3     HLZ 4/2018   zum Inhaltsverzeichnis                                                               KOMMENTAR

    Vor der Wahl in Hessen:
    Bildung braucht bessere Bedingungen!
    Nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsfor-            Gesamtversorgung von 121 Prozent spricht, ist das
    schungsinstituts Forsa halten 79 Prozent der be-         nicht nur ein Rechentrick, sondern auch eine Ver-
    fragten Wahlberechtigten den Lehrermangel und den        höhnung der Kolleginnen und Kollegen, die offen-
    baulichen Zustand der Schulen für das größte landes-     sichtlich gar nicht wissen, „wie gut es ihnen geht“.
    politische Problem in Hessen. Die Themen „Bildung/       Die Überlastungsanzeigen der letzten Jahre zeigen,
    Schule/Ausbildung“ haben auch nach dem Hessen-           wie sehr das den Beschäftigten an den Schulen zu-
    trend des Hessischen Rundfunks anderen Problem-          setzt. Pädagogische Berufe werden so sys­tematisch
    feldern den Rang abgelaufen: Hier sagten im Janu-        abgewertet, besonders an Grundschulen.
    ar 41% der Befragten, dies sei das größte Problem.          Bis zur Landtagswahl am 28. Oktober ist es noch
    Ein Jahr vorher waren es nur 27%.                        ein gutes halbes Jahr. Die GEW wird diese Zeit nut-
       An der hessischen Landesregierung ist dies vor-       zen, ihre Forderung nach „besseren Bedingungen für
    beigegangen. Auch der Kultusminister redet sich die      gute Bildung“ verstärkt in die Öffentlichkeit zu tra-
    Situation weiterhin schön und negiert die Verant-        gen. Gute Bedingungen für Bildung und Arbeit müs-
    wortung der Landesregierung. Dass Lehrkräfte feh-        sen im Mittelpunkt der Politik stehen. Dazu gehören
    len und die „demografische Rendite“ in das Land der      zusätzliche Stellen in allen Bereichen, auch für In-
    Märchen gehört, hat die GEW bereits vor mehreren         klusion und Ganztag, und die Reduzierung der Ar-
    Jahren deutlich gesagt (HLZ S.12). Heute gibt es nie-    beitszeit. An A 13 für Grundschullehrkräfte darf
    manden mehr, der die Probleme leugnet. Überall läu-      kein Weg vorbeiführen. Viele Schulgebäude müssen
    ten die Alarmglocken, weil die Zahl der Schülerin-       saniert werden. Auch hier legt die GEW weiter den
    nen und Schüler steigt und dringend mehr Lehrkräfte      Finger in die Wunde! Das Geld dafür ist da, es muss
    benötigt werden. Doch diese sind jetzt nicht da, weil    nur anders verteilt werden. Erste kreative Aktionen
    in den letzten Jahren notwendige Schritte unterlas-      wird die GEW Hessen bei ihren Aktionstagen im Mai
    sen wurden. Schlechte Arbeitsbedingungen werden          durchführen. Für weitere Aktivitäten setzen wir auf
    weiter als „Begleiterscheinungen der Postmoderne“        das bewährte Bündnis mit den Schülervertretungen
    abgetan, die Zahl der Studienplätze wächst insbe-        und den Eltern. Es geht jetzt darum, laut zu werden
    sondere in den Studiengängen für Grundschulen und        und sich einzumischen. Gute Arbeitsbedingungen für
    Förderschulen nicht mit dem Bedarf.                      die Kolleginnen und Kollegen in den Bildungseinrich-
       Ein Anfang wäre es, das Schönreden zu beenden         tungen und gute Bildung für alle sind möglich. Die
    und sich den Fehlentwicklungen der Vergangenheit         Probleme müssen benannt und angegangen werden.
    zu stellen. Seit bald 20 Jahren wird Hessen von der      Dafür müssen wir gemeinsam aktiv werden!
    CDU allein oder in Koalitionen mit FDP oder GRÜ-
    NEN regiert. In diese Jahre fällt die „Operation Düs-
    tere Zukunft“ von Roland Koch, die die Beschäftigten     Birgit Koch und Maike Wiedwald
    des Landes zu Sündenböcken für die Haushaltssitua-       Vorsitzende der GEW Hessen
    tion erklärte und mit Gehaltskürzungen und Arbeits-
    zeitverlängerung bestrafte. In dieser Zeit wurde mehr
    als einmal der Grundsatz verletzt, dass Tarifergeb-
    nisse zeit- und inhaltsgleich auf die Beamtinnen und
    Beamten übertragen werden. Nicht vergessen ist aber
    vor allem die Politik der letzten Jahre, die den Druck
    auf Lehrkräfte und Schulleitungen enorm erhöht hat.
    Die Ressourcen, die für Inklusion und Ganztagsan-
    gebote zur Verfügung gestellt werden, sind viel zu
    gering. Wenn die Landesregierung von einer guten
71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen
SPOT(T)LIGHT                                                                                 zum Inhaltsverzeichnis        HLZ 4/2018      4

  Nichts leichter als das!
                                                                                               Tischgruppen sortiert, kreuz und quer
                                                                                               im Raum verteilt: toll. Schüler, die
                                                                                               aufgeregt mit Zetteln durchs Gebäude
                                                                                               rennen: wunderbar. Lebendige Schu-
                                                                                               le heißt z.B., dass alle Kinder auf dem
      Du wolltest eigentlich zum Feuilleton.     gefressenen Lehrern wird dir niemand          Fußboden herumkegeln und die Lehre-
      Oder wenigstens ins Sportressort. Aber     widersprechen.                                rin mittendrin sitzt. Begeistere dich für
      auf keinen Fall in die Bildungsredak­          Beginnen wir mit der richtigen Ter-       alles, was du aus deiner Schulzeit nicht
      tion. Die zuständige Kollegin ist jedoch   minologie. Willst du positiv über aus-        kennst: Wissensquiz auf dem Smart-
      schwanger und hat schon im zweiten         erwählte Leuchtturm-Anstalten schrei-         phone, Recherche im Internetraum (Was
      Monat das derzeit beliebte Beschäfti-      ben, streu unbedingt ein paar der             recherchieren sie da eigentlich? – Ach,
      gungsverbot ausgesprochen bekom-           folgenden Begriffe ein. Es ist dabei völ-     unwichtig), Gymnastik nach Zahlen,
      men. Zwei Jahre wirst du sie vertre-       lig egal, ob du dir darunter etwas Kon-       Grammatik als Zirkeltraining, Galerie­
      ten. Das kann deine große Chance sein.     kretes vorstellen kannst: Individualisie-     rundgänge, Brabbelphasen, Placemat,
      Das Einfallstor in die Politredaktion.     rung, Inklusion, Binnendifferenzierung,       Fish-Bowl. Wundere dich nicht, was
      Näher ran an den Textchef. Vielleicht      spielerisches Lernen, projekt-, kompe-        hinter diesen Begriffen oft an Banali-
      wird sogar das Fernsehen auf dich auf-     tenz- und erlebnisorientierter Unter-         täten steckt: Schüler reden miteinander
      merksam! Dort verdient man wesentlich      richt, junge Lehrer mit frischen Ideen,       oder zeigen sich was… Stell in deinen
      mehr als beim Zeilenschinden.              Erkenntnisse der modernen Hirnfor-            Texten Lehrkräfte als ganz besonders
          Du hast keine Ahnung von Schu-         schung, digitale Bildung. Wirf in deinen      heraus, die mit ihren Schülern auch
      le? Wie kannst du so was sagen! Jeder      Artikeln mit „Kompetenzen“ um dich            mal reden und sich um sie kümmern!
      Mensch – außer den fröhlichen Freiler-     (Medienkompetenz, Selbstkompetenz,                Gib grundsätzlich den Schülereltern
      nern – hat eine Schule besucht. Erinne-    Kulturkompetenz, Lebenskompetenz)             Recht, wenn es zu Beschwerden und
      re dich einfach an früher. Was hat dir     und denk dir jeden Monat ein neues            Prozessen kommt. Falls ein Richter aus-
      damals missfallen? Irgendein Rohrkre-      Fach aus, das die Schule ganz dringend        nahmsweise mal auf der Seite des an-
      pierer, irgendein menschlicher Deser-      vermitteln muss: sexuelle Vielfalt, Be-       geklagten Lehrers steht, kannst du das
      teur unter den Lehrkräften wird sich       nimmregeln, Steuererklärung ausfül-           irgendwann in einem Artikel erwäh-
      schon finden. Den nimmst du einfach        len, Kampfsport, Raumfahrt, Golf und          nen. Aber das musst du nicht. Es macht
      als Negativmuster für kritische Arti-      Börsengänge, Emotionen und Freizeit-          auch nichts, wenn du dich lauthals für
      kel. Denk an die Peinlichkeiten deiner     gestaltung. Oberstes Prinzip der mo-          „Reformen“ begeisterst, später aber
      Schulzeit. Theaterstücke mit verteilten    dernen Schule ist SPASS! Selbst beim          deine Meinung um 180 Grad änderst,
      Rollen lesen, Gedichte auswendig ler-      Vokabellernen. Obwohl alte Knaster            weil Evaluationsbeauftragte feststellen,
      nen, in dich gehen und Besinnungs-         behaupten, Sitzfleisch und mühsames           dass früheres Einschulen und verkürzte
      aufsätze schreiben: entsetzlich. An der    Üben sei effektiver als Spaß.                 Schulzeit die armen Kinder in großen
      Tafel Rechenaufgaben lösen: qualvoll.          Folgende Begriffe solltest du nur         Stress versetzen. Du hast dich für die
      Im Sportunterricht Mannschaften bil-       dann verwenden, wenn eine Schule bei          tolle Methode „Schreiben nach Gehör“
      den: demütigend. Das alles ist zwar eine   der Inspektion durchgefallen ist: Fron-       und die Rückkehr zur jahrgangsüber-
      Weile her, aber du kannst deine Erin-      talunterricht, Lehrervortrag, Beamten-        greifenden Dorfschule stark gemacht
      nerungen getrost auf die Schule von        status, Überalterung, Pensionierungs-         und jetzt kommen in der Bildungsland-
      heute übertragen. Außer ein paar an-       welle, Kreide, Tafel, „Bildung“ (statt        schaft Zweifel auf? Macht nichts. Kein
                                                 Kompetenzen).                                 Mensch merkt, dass du deine Meinung
                                                     Du wirst bei eventuellen Recher-          ständig irgendwelchen Trends anpasst.
                                                 chen schnell merken, dass Deutschland         Außer dieser einen missgelaunten Leh-
                                                 bei allen Vergleichstests miserabel ab-       rerin, die dich regelmäßig mit ihren
                                                 schneidet. Das kannst du selbst als Laie      Mails belästigt. Hat wohl nichts zu tun,
                                                 ganz leicht erklären: Kein Lehrer ist         die Frau.
                                                 auf heterogene Lerngruppen vorberei-              Du musst vor allem eins verinnerli-
                                                 tet. Und diese Querköpfe bilden sich          chen: Schule steht im wertfreien Raum
                                                 auch nicht entsprechend fort. Obwohl          und ist als Sündenbock für alle mögli-
                                                 es an den Hochschulen von praxiser-           chen Fehlentwicklungen hervorragend
                                                 fahrenen Experten mit wertvollen Tipps        geeignet. Es gibt keinen Zusammen-
                                                 nur so wimmelt!!! Statt sich fortzubil-       hang mit gesellschaftlichen Missstän-
                                                 den, verursachen und zementieren die          den, sozialer Spaltung oder gar mit „ka-
                                                 meisten Lehrkräfte soziale Unterschie-        pitalistischen Verwertungsprozessen“,
                                                 de. Die Ausbildung der älteren Leh-           wie manche Alt-68er es behaupten.
                                                 rer ist am 19. Jahrhundert ausgerich-         Hüte dich vor solchen Gedanken und
                                                 tet, aber nicht für die Welt von morgen       Formulierungen, forsche nicht nach
                                                 geeignet und schon gar nicht für das          übergreifenden Ursachen und stelle
                                                 „wahre Leben“.                                auf keinen Fall die Systemfrage! Sonst
                                                     Wenn du mal echte Schulen besu-           wird das später nichts mit der Nähe zur
                                                 chen solltest, achte darauf, wie die Kin-     Chefredaktion oder der eigenen Fern-
                                                 der sitzen. Frontal und vereinzelt an         seh-Talkshow!
                                                 Tischen: ganz schlecht. In Teams an                                 Gabriele Frydrych
71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen
5      HLZ 4/2018     zum Inhaltsverzeichnis                                                                                  MELDUNGEN

          Pensionen an der Börse:
          Hochschulstreik in England
    Einem Streikaufruf der britischen Uni-
    versity and College Union (UCU), der
    Schwestergewerkschaft der GEW für
    Beschäftigte britischer Hochschulen,
    folgten vom 22. Februar bis 6. März
    2018 fast 100.000 Hochschulangehö-
    rige. Sie protestierten gegen die Pläne
    des Arbeitgeberverbandes der Univer-
    sitäten, die Pensionen der Beschäftig-
    ten zukünftig an der Börse zu handeln.
    Einbußen von bis 1.000 Pfund pro Mo-        Bei der zentralen Veranstaltung der GEW      nachteiligung überwinden!“ Danach sang
    nat und Person könnten die Folge sein.      Hessen zum Internationalen Frauentag dis-    und spielte das Musikkabarett „Konduetti-
    An der größten Demonstration am 28.         kutierten am 8. März Landtagsabgeordnete     na“. Auf dem Podium von links nach rechts:
    Februar in der Innenstadt von London        aller Fraktionen mit der stellvertretenden   Gabi Faulhaber (Die Linke), Manuela Stru-
    nahmen auch mehrere Mitglieder der          GEW-Vorsitzenden Karola Stötzel und dem      be (SPD), Karola Stötzel (GEW), Wiebke
    Fachgruppe Hochschule und Forschung         Publikum über das Thema „Pädagogische        Knell (FDP), Daniel May (Grüne) und Eva
    der GEW Hessen teil.                        Arbeit = Frauenarbeit? Strukturelle Be-      Kühne-Hörmann (CDU)
        Trotz Minustemperaturen und
    Schneefall beteiligten sich 3.500 Men-
    schen an der Demonstration, landesweit            GEW analysiert den                            lea-Tagung am 25. April:
    wurden 60 Hochschulen erfolgreich be-
    streikt. Örtliche „Picket Officers“ sorg-         Privatschulboom in Hessen                     200 Jahre Karl Marx
    ten für die Bestreikung „ihrer“ Ein-        Im Rahmen einer Landespressekonfe-           Am 5. Mai 1818 wurde Karl Marx in
    richtung. Der Arbeitgeberverband hat        renz stellte die GEW-Landesvorsitzende       Trier geboren. Mit seinem 200. Geburts-
    inzwischen Gespräche angeboten.             Birgit Koch gemeinsam mit der stellver-      tag beschäftigen sich neue Bücher, Ver-
    • Weitere Infos: https://www.gew.de/in-     tretenden Vorsitzenden Karola Stötzel        anstaltungen und Symposien. Bei einer
    ternationales
                                                und dem Referenten der GEW für fi-           Fachtagung von lea, dem Bildungswerk
                                                nanzpolitische Fragen Kai Eicker-Wolf        der GEW Hessen, referieren und disku-
                                                einen ausführlichen Bericht zur Ent-         tieren unter anderen Prof. Rainer Roth,
           Inklusion in Hessen:                 wicklung der Privatschulen in Hessen         Dr. Ingo Elbe, Prof. Freerk Huisken, Dr.
           Kurswechsel überfällig               vor. Die Zahlen belegen eine deutliche       Nadja Rakowitz und Günther Sandleben
                                                Zunahme der Zahl der Privatschulen           über das Thema „200 Jahre Karl Marx
    Eine internationale Tagung von meh-         und des Anteils der Kinder und Jugend-       – Revolution? Revolution!“ Die Veran-
    reren hundert Inklusionsforscherinnen       lichen, die eine Privatschule besuchen.      staltung findet am 25. April, von 9.30
    und -forschern an der Justus-Liebig-        Regional ist der Anstieg vor allem im        bis 17.30 Uhr in Frankfurt statt:
    Universität Gießen bestätigte in einer      Regierungsbezirk Darmstadt und hier          • Infos und Anmeldung: www.lea-bil-
    Resolution die Kritik der GEW am Kurs       wiederum in der Stadtregion Frankfurt        dung.de; anmeldung@lea-bildung.de; Tel.
    der hessischen Landesregierung. Die         festzustellen. Die von den Privatschu-       069-971293-27
    hessische Landesregierung nehme ihre        len erhobenen Schulgebühren von mo-
    „Verantwortung für die konsequente          natlich 300 Euro und mehr verstoßen
    Umsetzung der UN-Behindertenrechts-         aus Sicht der GEW gegen das „Sonde-                 5. Mai: Treffen der Studie-
    konvention auf der Ebene der landes-        rungsverbot“ des Grundgesetzes, das                 renden in der GEW Hessen
    politischen Steuerung von Schul- und        eine Auslese nach den Besitzverhält-
    Unterrichtsentwicklung, Aus-und Fort-       nissen der Eltern untersagt. Die GEW         Das Landesausschuss der Studentin-
    bildung“ nicht ausreichend wahr und         spricht dabei von „besorgniserregenden       nen und Studenten in der GEW Hessen
    fahre „die Inklusion an die Wand“. Die      Tendenzen“ und fragt, ob die Geneh-          (LASS) lädt am Samstag, dem 5. Mai
    stundenweise Abordnung von Son-             migung neuer Privatschulen und die           von 10.45 bis 16 Uhr zu einem Vernet-
    derpädagoginnen und Sonderpädago-           Schulaufsicht über bestehende Schulen        zungstreffen und einer offenen Mit-
    gen an Regelschulen führe „zu erheb-        „mit der gebotenen Sorgfalt gehand-          gliederversammlung der Studierenden
    lichen Reibungsverlusten in zeitlicher,     habt wird“. Es trage auch nicht zum Zu-      in die Geschäftsstelle der GEW Hessen
    inhaltlicher und organisatorischer Hin-     sammenhalt der Gesellschaft bei, wenn        in Frankfurt ein (Zimmerweg 12). Wer
    sicht“ und „regelmäßig wiederkehren-        sich wohlhabende Familien schon beim         an Hochschulpolitik und am Austausch
    den Auftrags- und Rollenklärungen“.         Schuleintritt ihrer Kinder „aus dem öf-      mit anderen Studierenden interessiert
    Auch das Assistenzsystem sei „kein          fentlichen Bildungssystem verabschie-        ist, ist herzlich eingeladen. Das Tref-
    Ersatz für qualifiziertes multiprofessi-    den“ können.                                 fen gibt einen Einblick in die Aktivitä-
    onelles Personal zur umfassenden Um-        • Ein ausführlicher Bericht erscheint in     ten des LASS. Außerdem steht die Wahl
    setzung des Bildungsanspruches aller        dieser HLZ auf Seite 26. Das Dossier der     des neuen LASS-Teams an.
    Kinder“.                                    GEW steht auf der Homepage der GEW           • Tagesordnung und Infos: www.gew-
    • Die Resolution im Wortlaut: www.gew-      als Download zur Verfügung: www.gew-         hessen.de/bildung/hochschule-und-for-
    hessen.de; http://bit.ly/2FGhDld            hessen.de oder http://bit.ly/2Hnq2Y3         schung/studierende/
71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen
TITELTHEMA: HESSEN VOR DER WAHL                                                           zum Inhaltsverzeichnis        HLZ 4/2018      6

                                                                                             Hessen vorn?
                        Langfristige politische Trends in Hessen
     Am 28. Oktober wird in Hessen ein neuer Landtag gewählt. Der       wurden Anstrengungen zur Milderung des Süd-Nord-Ge-
     Landtagswahlkampf wirft seine ersten Schatten voraus – mit der     fälles unternommen. Dabei half der bundesweite ökonomi-
     Aufstellung der Kandidatinnen und Kandidaten in den Wahlkrei-      sche Aufschwung. 1957 errichtete der Volkswagen-Konzern
     sen, mit Parteitagen und ersten Meinungsumfragen zu Wahlaus-       ein großes Werk in Baunatal. In den Folgejahren gelang der
     sichten und Themen. Die aktuellen Themen dieses Wahlkampfs         Übergang von der traditionellen kleinen Montanindustrie in
     sind jedoch eng mit langfristigen Entwicklungen der Landes-        Mittelhessen zu verarbeitendem Gewerbe, oft auch für die
     politik verbunden. Georg Fülberth, von 1972 bis 2004 Profes-       überregionale Zulieferung an rasch expandierende Automo-
     sor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg, gibt ei-   bilhersteller. Mit Bundes- und Landesmitteln wurde in Ost­
     nen Überblick über die langfristigen politischen Trends seit der   hessen das so genannte Zonenrandgebiet gefördert.
     Gründung des modernen Bundesstaats Hessens im Jahr 1945.               Seit Anfang der siebziger Jahre erfolgte der Ausbau der
     Beginnen wir 1945, im Gründungsjahr des modernen Hessen.           Universitäten in Gießen und Marburg und der Technischen
     Wenn man so will, könnte man von einer Wiedergründung              Hochschule Darmstadt, deren Bausubstanz durch den Bom-
     sprechen. Es wurden Gebiete zusammengefasst, die schon in          benkrieg schwer geschädigt worden war. Gießen hatte zu-
     der frühen Neuzeit einen Territorialstaat gebildet hatten, in      nächst keinen Universitätsstatus mehr, sondern existierte ab
     den folgenden Jahrhunderten aber zersplittert und wieder           1946 zunächst als Hochschule für Landwirtschaft und Vete-
     teilweise vereinigt wurden. 1918 blieben davon in Nordhes-         rinärmedizin und darauf bezogene Naturwissenschaften. Ab
     sen eine preußische Provinz und im Süden der „Volksstaat“          1957 wurde es wieder Voll-Universität.
     Hessen übrig. Aus ihnen wurde 1945 „Groß-Hessen“ unter                 Auf diese Phase der Rekonstruktion folgte in ganz Hes-
     US-amerikanischer Besatzung. Seit 1946 ist „Hessen“ der of-        sen – zumindest baulich bereits vor 1968 einsetzend – an-
     fizielle Name. Rheinhessen, das einst zum „Volksstaat“ ge-         gesichts steigender Studierendenzahlen eine Periode der
     hörte, kam zu Rheinland-Pfalz.                                     Expansion. 1971 wurde die Gesamthochschule Kassel ge-
         Das neue Land war wirtschaftlich und sozialstrukturell         gründet. Die Lehrerausbildung auch für Grund- und Real-
     uneinheitlich. Der Norden war noch stark agrarisch geprägt.        schulen ist aus den bisherigen Pädagogischen Seminaren
     Eine Ausnahme bildete Kassel mit Maschinenbau und Rüs-             bzw. Abteilungen für Erziehungswissenschaften jetzt voll
     tungsindustrie, die aber nun zunächst entfiel. Nordhessen          in die Universitäten integriert. Der Verbesserung der statio-
     galt teilweise als eine Art Notstandsgebiet. Als die Westalli-     nären medizinischen Versorgung in der Fläche dienten die
     ierten 1949/1950 dem widerstrebenden Bundeswirtschafts-            neu errichteten Hessenkliniken. Bürger- und Dorfgemein-
     minister Ludwig Erhard ein kurzfristiges Arbeitsbeschaf-           schaftshäuser verbesserten die lokale Infrastruktur vor al-
     fungsprogramm vor allem für unterentwickelte Regionen              lem auf dem Lande.
     aufzwangen, kam es auch diesem Gebiet zugute. Anders sah               Diese dynamische Infrastrukturpolitik folgte langfristig
     es in Südhessen mit seiner Chemie- und Automobilindus-             angelegten konzeptionellen Vorstellungen, Mitte der sech-
     trie aus. Die ehemaligen Residenzstädte Darmstadt und Kas-         ziger Jahre niedergelegt im „Großen Hessenplan für die Ent-
     sel waren schwer zerbombt. Deshalb kam die Landesregie-            wicklung des Landes Hessen bis 1975“, weitergeführt 1970
     rung nach Wiesbaden.                                               im „Landesentwicklungsplan Hessen 80“.
                                                                            Die Bildungspolitik erhielt zwischen 1969 und 1974 neue
               Hessen: Ein deutsches Schweden?                          Impulse unter Kultusminister Ludwig von Friedeburg: Auf die
                                                                        Ordinarien-Universität folgte – wie in anderen SPD-regierten
     Die ersten Jahre waren durch die Erfordernisse des Wieder-         Ländern – die Gruppenuniversität. Das überkommene drei-
     aufbaus geprägt, darunter vorrangig die Beschaffung von            gliedrige Schulsystem wurde durch Gesamtschulen in Frage
     Wohnraum für die Ausgebombten und Flüchtlinge. Dies                gestellt. Überregionale Aufmerksamkeit lösten die Auseinan-
     prägte im Grunde bis heute das Gesicht der zerstörten Städ-        dersetzungen um die Versuche des Kultusministeriums aus,
     te, nicht nur Darmstadts und Kassels, sondern z.B. auch Gie-       die Lehrpläne durch Rahmenrichtlinien zu erneuern.
     ßens. Errichtet wurden Wohnblocks in ihren Zentren, bald
     spielte die so genannte „(individual-)verkehrsgerechte“ Stadt-
     planung eine Rolle. Eine große Bedeutung hatte der sozia-
                                                                                  Umbruch in den siebziger Jahren
     le Wohnungsbau der Kommunen und von gemeinnützigen                 Mitte der siebziger Jahre bahnte sich ein Umbruch an. Ein
     Genossenschaften, auf dem Land auch der subventionierte            bundesweiter und weltwirtschaftlicher konjunktureller Ein-
     Eigenheimbau.                                                      bruch und die darauf folgende Verlangsamung der ökono-
         „Hessen vorn!“ und „Eins – zwei – drei – in Hessen schul-      mischen Entwicklung bremste die expansive Reformpolitik.
     geldfrei!“ – mit solchen Losungen wurden in den fünfziger          Hinzu kamen regionale und sozialstrukturelle Verschiebun-
     Jahren Wahlkämpfe der regierenden SPD geführt. Das war             gen: Der tertiäre Sektor (Dienstleistungen) dehnte sich ne-
     kein leeres Eigenlob. Hessen war in den fünfziger und sech-        ben dem sekundären (Industrie) aus. Frankfurt am Main
     ziger Jahren eine Art deutsches Schweden. Als erstes Bun-          entwickelte sich zu einer Global City: ein Finanzdienstleis-
     desland schaffte es die Gebühren für den Besuch weiter-            tungs- und Verkehrszentrum mit wachsender Bedeutung des
     führender Schulen ab. Wirtschafts- und regionalpolitisch           Rhein-Main-Flughafens. Neben der traditionellen Indus-
     Foto: Sven Teschke (CC BY-SA 3.0)
71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen
7     HLZ 4/2018      zum Inhaltsverzeichnis                                                                             TITELTHEMA

    triearbeiterschaft und den Beamten und Angestellten des
    öffentlichen Dienstes traten nun neue Gruppen von Lohn-
    und Gehaltsabhängigen und auch Selbstständigen vor allem
    in Intellektuellenberufen stärker hervor.
        Das bis zum Anfang der siebziger Jahre andauernde Wirt-
    schaftswachstum hatte den einzelnen Ländern Gestaltungs-
    spielräume eröffnet, die in Hessen betont sozialstaatlich und
    egalitär genutzt worden waren. Diese Möglichkeiten vereng-
    ten sich nun. Jetzt ging es eher um Bestandserhaltung. Die
    Auswirkungen auf die politische Kultur wurden erst allmäh-
    lich sichtbar.
        Parteipolitisch gab es in Hessen seit der ersten Wahl ei-
    nes Ministerpräsidenten 1946 Jahrzehnte lang eine Hegemo-
    nie der SPD, getragen von einer starken und gewerkschaft-
    lich gut organisierten Industrie- und Bauarbeiterschaft, im
    Lauf der langen Zeit zusätzlich von Beschäftigten des Öffent-
    lichen Dienstes in Landes- und Gemeindeverwaltungen, die
    oft auch SPD-Mitglieder waren. Die erfolgreiche Integration
    der Vertriebenen in den fünfziger Jahren hatte diese Domi-
    nanz noch zusätzlich gefördert: Ihre politische Interessen-
    vertretung, der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechte-
    ten, koalierte in den fünfziger Jahren mit der SPD, der sich
    nach seiner Auflösung einige seiner Funktionsträger vor al-
    lem auf der unteren Ebene anschlossen.
        Unter den neuen Bedingungen verschob sich das regiona-
    le Parteienspektrum. Die CDU, die sich seit Anfang der fünf-
    ziger Jahre in der untergeordneten Stellung als Daueroppo-
    sition eingerichtet hatte, war bereits seit 1967 unter ihrem
    neuen Vorsitzenden Alfred Dregger zu einem Kurs des offen-
    siven Kampfes um die Führung übergegangen, zunächst noch
    erfolglos. Immerhin gelang es ihr, am rechten Rand Wähler
    wieder zu binden, die 1968 der NPD für vier Jahre zum Ein-
    zug in den Landtag verholfen hatten.
                                                                     Die 2011 in der Hessischen Verfassung verankerte „Schul-
         Veränderungen in der Parteienlandschaft                     denbremse“ ist für Georg Fülberth Ausdruck einer Politik
                                                                     der „Standortsicherung“, die insbesondere nach dem Re-
    1970 verlor die SPD die absolute Mehrheit im Landtag und
                                                                     gierungswechsel im Jahr 1999 „das sozialstaatlich und eher
    koalierte mit der FDP. Diese, zunächst sozialliberal, ging
                                                                     egalitär geprägte hessische Modell durch ein eher markt­
    Anfang der achtziger Jahre auf einen marktradikalen Kurs.
                                                                     liberales ersetzt“.               (Illustration: Dieter Tonn)
    Nachdem der (auch dank sozialdemokratischer Bildungsre-
    formen mögliche) Aufstieg der Intelligenz zu einer Massen-
    schicht politisch in die Gründung der Partei „Die Grünen“            Ökonomisch steht Hessen im Vergleich der Bundesländer
    mündete, hatte die SPD noch einmal eine Koalitionspart-          nicht schlecht da: Hinter Baden-Württemberg und Bayern
    nerin. 1987 gewann die CDU zum ersten Mal das Amt des            nimmt es den dritten Platz in der Pro-Kopf-Entwicklung des
    Ministerpräsidenten. Nach einer weiteren rotgrünen Regie-        Brutto-Inlandsprodukts ein. Die sozialpolitische Bilanz sieht
    rungszeit (ab 1991) setzte sie sich 1999 langfristig in wech-    anders aus. Auch in Hessen hat die Ungleichheit zugenom-
    selnden Kombinationen – mit der FDP, mit absoluter Mehr-         men. Für neue Herausforderungen, unter anderem für den ge-
    heit, schließlich zusammen mit den Grünen – durch.               stiegenen Pflegebedarf einer alternden Bevölkerung, wurden
        Nunmehr wurde das sozialstaatlich und eher egalitär ge-      bislang keine ausreichenden Konzepte gefunden. Die Nach-
    prägte hessische Modell durch ein eher marktliberales er-        frage nach bezahlbarem Wohnraum in den Ballungsgebieten
    setzt. Zentrales Ziel war die Stärkung des Wirtschaftsstand-     des Landes ist offenbar privatwirtschaftlich nicht zu decken.
    orts. Die Ausgabenentwicklung im Landeshaushalt fällt in             Wirtschaftspolitisch stößt die hessische Variante des
    der Tendenz restriktiv aus. 2011 wurde die Schuldenbremse        Marktliberalismus mittlerweile an Grenzen. Mit dem Kauf
    ohne steuerpolitische Kompensation nicht nur im Grundge-         des landeseigenen Universitätsklinikums Gießen-Marburg
    setz, sondern auch in der Hessischen Verfassung verankert.       2006 hat sich der Rhön-Konzern so verhoben, dass eine sol-
        Da die erforderlichen Investitionsausgaben im Bereich der    che Privatisierung der Hochschulmedizin andernorts keine
    öffentlichen Infrastruktur nicht mehr ausreichend mit öf-        Nachahmung gefunden hat.
    fentlichen Mitteln getätigt werden konnten, setzte man das           Wie der Verfall der öffentlichen Infrastruktur ohne steu-
    Mittel der Privatisierungen ein: von Kliniken, 2005 zumin-       erpolitische Korrektur in Hessen und im Bund aufgehalten
    dest teilweise auch einer Strafvollzugsanstalt in Hünfeld. Der   werden soll, ist unerfindlich. Mit Spannung kann deshalb
    Technischen Universität Darmstadt wurde partielle finanzi-       der Auseinandersetzung um die weitere Entwicklung dieses
    elle Autonomie eingeräumt, die unter anderem zu besonders        Bundeslandes entgegengesehen werden.
    enger Kooperation mit der Industrie genutzt werden kann.                                                       Georg Fülberth
71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen
TITELTHEMA                                                                                zum Inhaltsverzeichnis         HLZ 4/2018      8

                                                   Politische Meinungsbildung
                     Vor der Wahl: Die Medien in Hessen
     Die hessische Bevölkerung widmet Landtagswahlen nicht              das Mittel, über das die Bevölkerung von Landespolitik er-
     mehr die Aufmerksamkeit wie Wahlen im Bund. Erzielten              fährt, über das Meinungen zu landespolitischen Themen und
     Landtagswahlen in Hessen bis in die 1980er Jahre eine Be-          zu den politischen Akteuren gebildet werden und das dafür
     teiligung von über 80 %, lag sie Ende der 2000er Jahre ge-         sorgt, dass repräsentative Umfragen zur Stimmung im Bun-
     rade noch bei 60 %. Die hohe Wahlbeteiligung von 73,2 %            desland erhoben werden.
     bei der letzten Landtagswahl war der Tatsache geschuldet,              Doch Landespolitik ist im Vergleich zu Bundespolitik in
     dass sie zeitgleich mit der Bundestagswahl stattfand. Seit den     doppelter Hinsicht benachteiligt: Es existieren einerseits we-
     1990er Jahren beträgt der Abstand bei der Beteiligung an           niger Medien, die über Landespolitik berichten, und anderer-
     beiden Wahlen in der Regel mehr als 10 %. Dies hängt einer-        seits ist der Umfang, der innerhalb der Medien der Landes-
     seits mit Entscheidungsbefugnissen der Landesebene, ande-          politik eingeräumt wird, geringer. Medien, die ausführlich
     rerseits mit der höheren Bedeutungszuschreibung der Bun-           über Landespolitik berichten und von der gesamten hessi-
     despolitik durch die Bevölkerung zusammen.                         schen Bevölkerung konsumiert werden können, sind rar. Im
         Die Ergebnisse der zeitgleichen Wahlen am 22. September        Rundfunk berichten einzig das hr-fernsehen und der Hör-
     2013 zeigen, dass die Hessinnen und Hessen durchaus zwi-           funksender hr-info regelmäßig umfassend über Landespoli-
     schen der Politik in Bund und Land differenzieren. CDU und         tik, daneben wurde den beiden bundesweit stärksten privaten
     Linke schnitten bei der Landtagswahl jeweils um 3 % schlech-       Fernsehsendern RTL und Sat1 staatlich auferlegt, 30-minüti-
     ter, die SPD um 5 % und die Grünen um fast 3 % besser ab.          ge Fensterprogramme zur Darstellung von politischen, wirt-
     Es stellt sich jedoch die Frage, auf welcher Grundlage diese       schaftlichen, sozialen und kulturellen Ereignissen in jedem
     Unterschiede zustande kamen. Bundespolitik ist stets in al-        Bundesland zu senden. Im Printwesen ist einzig die Frank-
     ler Munde: Aktuelle Debatten und Entscheidungen werden             furter Rundschau (FR) mit ihrer landespolitischen Bericht-
     täglich auf mehreren Hörfunk- und Fernsehsendern dar-              erstattung in ganz Hessen erhältlich. Die Frankfurter Allge-
     gestellt, eine Vielzahl an Printmedien berichtet täglich auf       meine (FAZ) erscheint dagegen nur in Südhessen mit dem
     mehreren Seiten und diverse Umfrageinstitute fragen alle           Rhein-Main-Teil, in dem auch über Landespolitik berichtet
     paar Tage die Stimmung sowie die beabsichtigte Wahlent-            wird. Zudem existieren elf Regionalzeitungen, die jeweils in
     scheidung der Bevölkerung ab. Landespolitik hingegen fin-          einem begrenzten Gebiet Hessens verfügbar sind und über
     det eher leise in einer begrenzten Anzahl von Medien statt.        Landespolitik berichten.
     Umfragen zur Stimmung im Bundesland gibt es im Durch-
     schnitt zwei Mal im Jahr.
                                                                                 Konzentration bei den Printmedien
                                                                        Die geografische Verteilung der Regionalzeitungen zeigt, dass
                   Wählertraditionen zerfallen
                                                                        über 30 % der Hessen nur eine Regionalzeitung zur Auswahl
     Das soziale Umfeld spielt nach wie vor eine entscheidende          haben. Der Zugang zu Informationen und die Meinungsbil-
     Rolle für die Wahlentscheidung der Menschen. So existieren         dung ganzer Gebiete, insbesondere in Nordhessen, ist häufig
     in Hessen sozialstrukturelle Wählertraditionen: Die Region         nur durch eine Zeitung geprägt. Darüber hinaus gehören ei-
     Frankfurt ist traditionell eine Hochburg der FDP und auch          nige hessische Zeitungen gleichen Verlagen an und die Ver-
     die CDU schneidet überdurchschnittlich ab, während die SPD         lagskooperation und -konzentration nimmt weiter zu. Da-
     unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. In industriell ge-      durch werden Artikel zwischen Zeitungen ausgetauscht und
     prägten Regionen oder ländlich protestantischen Gegenden           es findet eine Konzentration auf einen gemeinsamen Korre-
     wie Nordhessen erzielt die SPD überdurchschnittliche Ergeb-        spondenten in Wiesbaden statt. Dies hat zur Folge, dass über
     nisse. Katholische Gebiete in Osthessen sind ebenso wie länd-      die hessischen Medien immer weniger verschiedene Meinun-
     lich-agrarisch geprägte Gebiete traditionell Hochburgen der        gen über Landespolitik transportiert werden. Die politische
     CDU. Verwaltungs- und Dienstleistungsstädte wie Wiesbaden,         Bandbreite der Berichterstattung über hessische Landespoli-
     Frankfurt oder Kassel sind eher Hochburgen der Grünen (1).         tik ist im Vergleich zu anderen Bundesländern jedoch breit
         Sozialstrukturelle Wählertraditionen zerfallen jedoch im-      aufgestellt. Die hessische Bevölkerung profitiert davon, dass
     mer mehr, sodass insbesondere Themen und Personen für              in Hessen zwei Qualitätsmedien mit gesamtdeutscher Bedeu-
     die Wahlentscheidung zentraler werden. Finden Debatten             tung beheimatet sind: die FAZ mit einem liberal-konserva-
     über Kommunalpolitik häufig vor Ort statt, spielen die Me-         tiven Profil und – mit sinkender Auflage – die FR, die eher
     dien für Landespolitik eine entscheidendere Rolle. Sie sind        linksliberale Positionen vertritt.
                                                                            Darüber hinaus gewährleistet der Hessische Rundfunk
        Das Ergebnis der Landtagswahl am 22.9.2013                      (HR), dass umfassend und länger als bei den Privatsendern
                                                                        über Landespolitik berichtet wird. Der HR hat mit Abstand
     Die Landtagswahl am 22.9.2013, die zeitgleich mit der Bundes-      die meisten Korrespondentinnen und Korrespondenten in
     tagswahl stattfand, erbrachte folgendes Ergebnis: CDU 38,3 %       Wiesbaden. Dadurch verfügt er über ausreichend Kapazitä-
     (47 Sitze), SPD 30,7 % (37), Grüne 11,1 % (14), Linke 5,2 % (6),   ten, um eine umfassende Berichterstattung bereit zu stellen.
     FDP 5,0 % (6) und AfD 4,1 % (-).                                   Dagegen sind die Korrespondentinnen und Korrespondenten
71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen
9     HLZ 4/2018      zum Inhaltsverzeichnis                                                                                  TITELTHEMA

    der Zeitungen nicht zuletzt aufgrund der wachsenden wirt-
    schaftlichen Probleme des Printwesens immer schlechter ge-
    stellt oder werden immer häufiger aus Wiesbaden abgezogen.
        Eine geringer werdende Anzahl an Korrespondentinnen
    und Korrespondenten führt in der Tendenz dazu, dass im-
    mer weniger direkt aus Wiesbaden berichtet wird und Agen-
    turmeldungen an Bedeutung gewinnen. Parallel nimmt die
    Bedeutung von Internetangeboten zu. So können Landtags-
    debatten in einem Video-Archiv auf Youtube und die Bericht-
    erstattung über Landespolitik auf den Internetauftritten der
    Medien verfolgt werden. Das Internet bietet damit die Mög-
    lichkeit, Medien zu konsumieren, die vor Ort nicht erwor-
    ben werden können. (2)
        Neben der Berichterstattung über Landespolitik bieten
    Umfragen zu landespolitischen Themen und Wahlabsichten
    Orientierung für Wählerinnen und Wähler. So können gute
    Umfrageergebnisse für Parteien dazu führen, dass Wählerin-
    nen und Wähler eher den gewünschten Koalitionspartner un-
    terstützen oder zu Hause bleiben, da sie davon ausgehen, dass
    ihre Stimme nicht benötigt wird. Zugleich schaffen Umfra-
    gen Aufmerksamkeit für kleine Parteien. Erreichen Parteien
    mehr als 3 % in Umfragen, werden sie bei der Ergebnisprä-
    sentation abgebildet, erreichen sie diese Schwelle nicht, wird
    in den Ereignissen ihre Existenz verschwiegen. Dies kann
    dazu führen, dass solche Parteien weniger gewählt werden.
    Werte zwischen 3 % und 5 % sind dagegen eher Antrieb, sie
    zu unterstützen.
        Dass es den Wählerinnen und Wählern in Hessen möglich
    ist, sich an Umfragen zu orientieren, wird maßgeblich durch
    die hessischen Medien ermöglicht. Der HR gibt einmal im
    Jahr eine Umfrage bei Infratest dimap in Auftrag, die Frank-     Mit der Landtagswahl am 28. Oktober 2018 geht die 19.
    furter Neue Presse sowie zuletzt RTL und die FR bei Forsa.       Legislaturperiode des Hessischen Landtags zu Ende. Seit
    Darüber hinaus hat der Landesverband Hessen der CDU in           2003 wird der Landtag alle fünf Jahre neu gewählt. Nach
    den letzten Jahren regelmäßig Umfragen bei dimap in Auf-         der Landtagswahl 2013 wurde in Hessen die erste schwarz-
    trag gegeben und zuletzt auch der Landesverband der FDP          grüne Landesregierung gebildet. In dieser und in den nächs-
    bei Allensbach. Erfahrungsgemäß bündeln sich die Umfra-          ten Ausgaben widmet die HLZ der Bilanz der Koalition von
    gen kurz vor Landtagswahlen.                                     CDU und Bündnis 90/Die Grünen, den Themen des Wahl-
                                                                     kampfs und den Positionen der Parteien im Wahlkampf
                                                                     besondere Aufmerksamkeit. Außerdem wird die GEW ihre
                   Umfragen zur Landtagswahl                         Forderungen an die Parteien und den nächsten Landtag
    Zu Beginn des Jahres 2018 wurden drei Umfragen, allerdings       darstellen und begründen.
    mit unterschiedlichen Inhalten, veröffentlicht: am 19. 1. 2018
    im Auftrag des HR von Infratest dimap, am 25. 2. 2018 im         hat. Laut Infratest dimap würden sich 45 % der Befragten für
    Auftrag von RTL und der FR von Forsa und am 2.3.2018 im          Bouffier und 40 % für Schäfer-Gümbel entscheiden. Bildung
    Auftrag des Landesverbands Hessen der FDP von Allensbach.        wird laut Infratest dimap- und Allensbach-Umfrage als das
    Üblicherweise differieren die Ergebnisse je nach Umfragein-      wichtigste Problem in Hessen eingeschätzt. Zugleich wird
    stitut, doch alle drei Umfragen zeigen, dass die CDU gegen-      der SPD in der Infratest dimap-Befragung mehr Kompetenz
    über der letzten Landtagswahl von 38 auf 31 bis 33 % verlo-      zugeschrieben, eine gute Schul- und Bildungspolitik zu be-
    ren hat. Gleiches gilt für die SPD, die von 30 auf 23 bis 26 %   treiben. Es wird somit entscheidend darauf ankommen, wie
    abgerutscht ist. Die Grünen legen leicht zu von 11 auf 12 bis    sich die Parteien für die Landtagswahl 2018 aufstellen und
    14 %, ebenso die FDP von 5 auf 8 bis 9 % und die Linke von       ihre Positionen gegenüber der Bevölkerung kommunizieren.
    5 auf 7 bis 8 %. Zudem wäre laut Sonntagsfrage die AfD mit                                                   Sascha Kristin Futh
    10 bis 12 % im Landtag vertreten.
                                                                     Die Autorin war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich
        Die Ergebnisse zeigen, dass über ein halbes Jahr vor der     Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel und arbeitet
    Landtagswahl Schwarz-Grün keine Mehrheit mehr besitzt.           inzwischen für den Hauptvorstand der IG Metall.
    Die derzeit einzig denkbaren Koalitionen wären eine Große
    Koalition oder ein Jamaika-Bündnis. Es wird deutlich, dass       (1) vgl. Arijana Neumann, 2016: Parteiensystem und Wählermilieus
    sich die SPD in Hessen von den Umfragen im Bund bei ak-          in Hessen, in: Wolfgang Schroeder und Arijana Neumann (Hrsg.):
                                                                     Politik und Regieren in Hessen, Wiesbaden, S. 229-247.
    tuell 16 bis 18 % abkoppeln kann. Die Grünen schneiden et-       (2) Eine ausführliche Darstellung und Bewertung der Medienland-
    was besser ab und Linke sowie AfD haben schlechtere Umfra-       schaft Hessens findet sich in: Sascha Kristin Futh, 2016: Politische
    gewerte. Zugleich zeigt sich, dass Thorsten Schäfer-Gümbel       Medienlandschaft in Hessen, in: Wolfgang Schroeder und Arija-
    (SPD) in der Frage der Direktwahl des Ministerpräsidenten        na Neumann (Hrsg.): Politik und Regieren in Hessen, Wiesbaden,
    gegenüber Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) aufgeholt      S. 207-228.
71.Jahr Heft4 April 2018 - GEW Hessen
TITELTHEMA                                                                                  zum Inhaltsverzeichnis        HLZ 4/2018      10

                      Hessen: Mehr Geld für Bildung
                          Finanzpolitische Spielräume nutzen und erweitern
     Vor allem aufgrund der unerwartet guten und anhaltenden              Euro zusätzlich zur Verfügung stellen: 0,5 Milliarden Euro im
     Konjunkturerholung nach der internationalen Finanz- und              Jahr 2019, eine Milliarde Euro im Jahr 2020 und zwei Mil-
     Wirtschaftskrise seit 2010 ergaben sich auch für die Finanz-         liarden Euro im Jahr 2021. Legt man aus Gründen der Ver-
     politik in Hessen immer wieder positive Überraschungen               einfachung den Anteil der hessischen Bevölkerung an der
     durch stärker als erwartet steigende Steuereinnahmen. Da-            deutschen Gesamtbevölkerung von 7,5 Prozent zugrunde,
     durch konnte das Land sein Haushaltsdefizit immer wei-               stehen für die hessischen Kitas knapp 38 Millionen Euro im
     ter verkleinern und in den letzten beiden Jahren sogar               Jahr 2019, 75 Millionen Euro 2020 und 150 Millionen Euro
     Überschüsse erzielen, ohne eine rigorose Sparpolitik fahren          im Jahr 2021 zur Verfügung.
     oder gegen die Schuldenbremse verstoßen zu müssen. Das                   Weitere zwei Milliarden Euro sieht der Koalitionsvertrag
     bedeutet aber nicht, dass dem Land nun mehr Geld zur Ver-            für die Ganztagsbetreuung in den Jahren 2018 bis 2021 vor.
     fügung stünde, als eigentlich gebraucht würde: Insbesonde-           Auf Hessen würden hiervon etwa 150 Millionen Euro entfal-
     re der Bildungsbereich in Hessen muss als chronisch unterfi-         len, das wären pro Jahr rund 38 Millionen Euro. Als Nach-
     nanziert angesehen werden. Dies gilt sowohl für das Personal         folgemittel für den Hochschulpakt sind ab 2021 insgesamt
     als auch für die Infrastruktur auf der Landes- und auf der           600 Millionen Euro vorgesehen.
     Gemeindeebene. Da das Konjunkturglück nicht ewig anhal-                  Allerdings kommen auf den Landeshaushalt auch Min-
     ten wird, muss die Finanzierung der Ausgabenbedarfe lang-            dereinnahmen zu. Zwar sind Länder und Kommunen nicht
     fristig bundespolitisch durch eine strukturelle Verbesserung         von der geplanten teilweisen Abschaffung des Solidaritäts-
     der Steuereinnahmen sichergestellt werden. Angesichts der            zuschlags betroffen, aber bei den Ländern werden die Er-
     Versäumnisse der Vergangenheit und der gestiegenen ge-               höhung des Kindergeldes und der Kinderfreibeträge – dies
     sellschaftlichen Anforderungen gerade an die Bildungspoli-           ist in zwei Schritten geplant – die Steuereinnahmen schmä-
     tik lässt sich dies auch gut rechtfertigen.                          lern. Das Gleiche gilt für die steuerliche Förderung von mehr
                                                                          Wohneigentum. Für die Jahre 2019 und 2020 ist hier in Hes-
                                                                          sen nach einer Überschlagsrechnung mit einem Minus von
     Bildungsinvestitionen: Die Versprechen der GroKo
                                                                          jeweils rund 100 Millionen Euro und im Jahr 2021 mit rund
     Aber auch kurz- bis mittelfristig finden sich auf Basis der          300 Millionen Euro zu rechnen.
     Mittelfristigen Finanzplanung des Landes noch einige Spiel-
     räume für eine moderate, aber spürbare Erhöhung der Bil-
                                                                                 Mittelfristige Finanzplanung in Hessen
     dungsausgaben. Und auch die im Koalitionsvertrag auf Bun-
     desebene vorgesehenen Maßnahmen haben Auswirkungen                   Die aktuelle Mittelfristige Finanzplanung (MifriFi) für Hes-
     auf den hessischen Landeshaushalt und die Mittel, die für            sen für die Jahre 2017 bis 2021 stammt aus dem Septem-
     die frühkindliche Bildung, für Schulen und für Hochschulen           ber 2017 (1). Die Planung sieht für die Jahre 2018 bis 2021
     ausgegeben werden können.                                            Haushaltsüberschüsse und jeweils eine deutliche Übererfül-
         Im Koalitionsvertrag sind elf Milliarden Euro mehr für           lung der Kreditaufnahmegrenzen der Schuldenbremse von
     Bildung vorgesehen. Hiervon entfällt ein Teil auch auf Be-           jeweils über 400 Millionen Euro pro Jahr vor. Zudem sind in
     reiche, die in der Verantwortung der Länder oder Kommunen            der Planung für die Jahre 2020 und 2021 vorsorglich so ge-
     liegen. Zum Ausbau des Kita-Angebots und zur Steigerung              nannte „globale Mindereinnahmen“ in Höhe von 423 Milli-
     der Qualität will die neue Bundesregierung 3,5 Milliarden            onen Euro bzw. 740 Millionen Euro enthalten. Damit woll-
                                                                          te die Landesregierung laut eigener Aussage Vorsorge für
                                                                          bestehende Haushaltsrisiken treffen, unter anderem für die
      Investitionsbedarf zur Sanierung maroder Schulen                    Auswirkungen einer möglichen Steuerreform nach der Bun-
                                                                          destagswahl 2017.
     Genaue Zahlen, wie viel Geld für die Baumaßnahmen im
                                                                             Die vom Jahr 2019 bis zum Jahr 2021 vorgesehenen spür-
     Schulbereich in den einzelnen Bundesländern und damit auch
     in Hessen erforderlich ist, gibt es nicht. In Hessen gibt es         baren Haushaltsüberschüsse sollen für die Tilgung von Lan-
     solche Zahlen für die Städte Frankfurt (rund eine Milliarde          desschulden verwendet werden: 100 Millionen Euro im Jahr
     Euro) und Wiesbaden (mindestens 400 Millionen Euro) und              2019 und jeweils 200 Millionen Euro in den Jahren 2020
     für die Landkreise Marburg-Biedenkopf (170 Millionen Euro)           und 2021. Dies wird unter anderem mit der „finanzpoliti-
     und Bergstraße (150 Millionen Euro). Der Kämmerer der Stadt          schen Verantwortung für künftige Generationen“ begründet.
     Kassel sprach schon im Jahr 2013 von 155 Millionen Euro,             Angesicht des Tatsache, dass die Schuldenstandsquote, das
     die eigentlich in Baumaßnahmen an den Schulen in seiner              Verhältnis von Schulden und Bruttoinlandsprodukt, ohnehin
     Stadt fließen müssten. Eine möglichst genaue Erhebung des            im Laufe der nächsten Jahre kontinuierlich sinken wird, sind
     kommunalen Investitionsstaus in Hessen wäre schon deshalb            solche Tilgungen angesichts erheblicher Ausgabenbedarfe
     wichtig, um die Auswirkungen von Investitionsfördermaßnah-           zu Gunsten zukünftiger Generationen gerade im Bildungs-
     men durch Bund und Land abschätzen zu können. Neueren                bereich unsinnig. Denn eine sinkende Schuldenstandsquote
     Datums sind die beiden Kommunalen Investitionsprogramme              bedeutet, dass sich die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung
     I und II (KIP I und II), die sich jetzt in der Umsetzung befinden.   entsprechend kontinuierlich erhöhen wird.
11     HLZ 4/2018      zum Inhaltsverzeichnis                                                                                 TITELTHEMA

       Zusätzliche Bildungsausgaben sind finanzierbar
     Der auf Basis der MifriFi ableitbare Ausgabenspielraum wür-
     de vom Jahr 2020 an bei mindestens etwa 500 Millionen Euro
     pro Jahr liegen – und zwar unter Berücksichtigung der Min-
     dereinnahmen aufgrund der geplanten Maßnahmen im Ko-
     alitionsvertrag der Großen Koalition im Bund. Im Jahr 2020
     würde ein Verzicht auf die Tilgung mit 200 Millionen Euro zu
     Buche schlagen. Die getroffene Vorsorge gegen steuerpoliti-
     sche Maßnahmen auf Bundesebene von 423 Millionen Euro
     übersteigt die aufgrund des Koalitionsvertrages tatsächlich zu
     erwartenden Mindereinnahmen um 323 Millionen Euro. Im
     Jahr 2021 lägen die entsprechenden Beträge bei ebenfalls 200
     Millionen Euro aus dem Verzicht auf die Tilgung und sogar
     440 Millionen Euro aus den globalen Mindereinnahmen (740
     Millionen minus 300 Millionen). Wenn Mehrausgaben von
     500 Millionen Euro in zentralen Zukunftsbereichen geleistet
     würden, bliebe dennoch ein Sicherheitsabstand von jeweils
     über 200 Millionen Euro zu den Grenzen der Schuldenbrem-
     se. Hinzu kommt, dass auf Basis der aktuelleren Steuerschät-
     zung vom November 2017 die Gesamtheit der Bundesländer
     2018 und 2019 jeweils mit Mehreinnahmen gegenüber der
     vorherigen Schätzung von knapp 3 Milliarden Euro rech-
     nen kann (2). Auf Hessen entfielen davon gut 200 Millionen
     Euro, die zum Beispiel zur Speisung eines Vorsorgefonds für
     die Folgejahre genutzt werden könnten, sollte es etwa auf-
     grund des Wegfalls der erhöhten Gewerbesteuerumlage für
     das Land zu Netto-Mehrbelastungen kommen.
         Der Ausgabenspielraum könnte gezielt für eine Steigerung
     der Bildungsausgaben vom Jahr 2020 an um 500 Millionen
     Euro pro Jahr eingesetzt werden. So könnten den Kommunen
     etwa 100 Millionen Euro pro Jahr zusätzlich zu den Bundes-
     mitteln für den Kita-Bereich zur Verfügung gestellt werden.
     Auf dieser Basis wäre es möglich – ausgehend von den ak-
     tuellen Personalschlüsseln – über 4.000 Erzieherinnen und        kenhäuser in einem sachgerechten Zustand zu halten oder
     Erzieher einzustellen. Damit würde sich Hessen deutlich an       gestiegenen Bedarfen anzupassen.
     die in der pädagogischen Forschung empfohlenen Personal-             Dabei steht dem Verfall des öffentlichen Vermögens ein
     schlüssel annähern (3).                                          steigendes privates (Netto-)Vermögen in Höhe von rund 9 Bil-
                                                                      lionen Euro gegenüber. Hiervon konzentrieren sich mehr als
     Spielräume durch gerechte Steuerpolitik erweitern                60 Prozent bei den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung.
                                                                      Diese extrem ungleiche Vermögensverteilung sollte durch die
     Für den Schulbereich könnten 250 Millionen Euro zusätzlich       Steuerpolitik korrigiert werden. Zu denken ist hier in erster
     verwendet werden, unter anderem um auch Grundschullehr-          Linie an die Wiedererhebung der Vermögensteuer, aber auch
     kräfte nach A13 zu besolden. Dies wäre ein wichtiger Schritt,    an eine höhere Besteuerung von hohen Erbschaften. Das Auf-
     um der für die nächsten Jahre prognostizierten Personalnot       kommen sowohl aus der Vermögen- als auch der Erbschaft-
     im Grundschulbereich zu begegnen (HLZ S.12). Dies wür-           steuer fließt in die Kassen der Bundesländer. Auf Grundla-
     de das Land nach Aussagen von Kultusminister Alexander           ge der so zu erzielenden Mehreinnahmen könnte dann auch
     Lorz vom August 2017 70 Millionen Euro kosten. Außerdem          der erhebliche Investitionsstau im Bereich der öffentlichen
     könnte das Land zusätzlich zu den Bundesmitteln Geld für         Infrastruktur aufgelöst werden.
     den Ausbau des Ganztagschulangebots und die inklusive Be-        Kai Eicker-Wolf und Achim Truger
     schulung zur Verfügung stellen. Auch im Hochschulbereich
     wären angesichts einer schlechten Betreuungssituation ge-        Kai Eicker-Wolf ist finanzpolitischer Referent der GEW Hessen.
     rade in Hessen zusätzliche Mittel zur Verbesserung der Per-      Achim Truger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hoch-
     sonalausstattung sinnvoll (4).                                   schule für Wirtschaft und Recht in Berlin.
        Tatsächlich besteht im Bildungsbereich ein deutlich
     höherer Bedarf, als durch die vorgeschlagenen zusätzlichen       (1) Finanzplan des Landes Hessen für die Jahre 2017 bis 2021 (Stand
     Mittel in Höhe von 500 Millionen Euro gedeckt werden kann.       September 2017), Wiesbaden 2017.
     Zu denken ist etwa an den Investitionsstau im Bereich der        (2) Bundesministerium der Finanzen, Ergebnis der 152. Sitzung des
                                                                      Arbeitskreises „Steuerschätzungen“ vom 7. bis 9. November 2017
     Bildungsinfrastruktur. Dabei ist es um die gesamte öffentli-     in Braunschweig, Berlin 2017.
     che Infrastruktur in Deutschland nicht gut bestellt. Aufgrund    (3) Kathrin Bock-Famulla, Eva Strunz und Anna Löhle: Länderreport
     der Schuldenbremse und wegen einer unzureichenden Be-            Frühkindliche Bildungssysteme 2017, Gütersloh 2017.
     steuerung hoher Einkommen und Vermögen fehlten der öf-           (4) Tobias Cepok und Roman George: Hessen hinten. Zur Betreu-
     fentlichen Hand die Mittel, um Straßen, Schulen oder Kran-       ungssituation der Studierenden in Hessen, HLZ 12/2016.
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