MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG

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MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
Ausgabe 01 | 2020

                 Max Planck
                                                         Forschung

Kosmologie                     Alternsforschung            Verhaltensökonomie
Die Philosophin des Urpralls   Der Methusalem-Cocktail     Nur Geduld!

wirtschaft auf
dem grünen zweig
MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
F o t o: Ok a pi a
2

                                      E     igentlich sind Pflanzen
                                      viel zu schade, um sie, wie
                                      diesen Tabak hier, einfach
                                      in Rauch aufgehen zu lassen,
                                      denn sie binden große Mengen
                                      Kohlendioxid. Pflanzliche
                                      Produkte besitzen daher eine
                                      ausgeglichenere Kohlendio-
                                      xidbilanz als solche, die aus
                                      Erdöl erzeugt werden, und
                                      belasten das Klima deutlich
                                      weniger. Deshalb werden sie
                                      für eine nachhaltige Ökonomie
                                      unverzichtbar sein – sei es
                                      als Kraftstoffe oder sei es als
                                      Substanzen für die Medizin.

    Max Planck Forschung · 1 | 2020
MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser!

„Nichts ist so beständig wie der Wandel.“ Besser als mit diesem Satz des antiken
 Philosophen Heraklit könnte unsere heutige Gesellschaft kaum beschrieben werden.
 Dass auch die Wissenschaft einer permanenten Veränderung unterliegt, zeigt sich
 an der Corona-Pandemie – sie stellt ständig unerwartete und lebensentscheidende
 Aufgaben. Nicht nur in dieser Ausnahmesituation spielt die Kommunikation eine
 wichtige Rolle, die sich selbst unablässig den Umbrüchen in der Medienlandschaft
 anpassen und stets auf neue Herausforderungen reagieren muss.

In dieser bewegten Zeit kann ein Wissenschaftsmagazin nicht stillstehen. So halten      3
Sie heute eine Max Planck Forschung in den Händen, die sich verändert hat. Wir
möchten bei der Themenwahl verstärkt auf Aktualität und gesellschaftliche Relevanz
achten und Forschungsergebnisse in einen größeren Zusammenhang einbetten.
Zudem bündeln wir die umfassenderen Berichte nun unter Wissen aus. Meldungen
über Forschungspolitik und Wissenschaft vereinigen wir in Kurz notiert. Die Rubrik
Besuch bei stellt Ihnen Persönlichkeit, Biografie und Motivation von Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftlern vor. Und wie Sie sehen, haben wir passend zur inhalt-
lichen Neuorientierung eine luftigere Optik gewählt.

Veränderung steht auch im Fokus dieser Ausgabe. Denn globale Krisen, allen voran
der menschengemachte Klimawandel, bestimmen unser tägliches Leben. Nicht von
ungefähr ist Bioökonomie das Thema des Wissenschaftsjahres 2020. Die Forschen-
den der Max-Planck-Gesellschaft können dazu eine Menge beitragen. Sie zeigen,
dass eine „grüne Wirtschaft“ mehr Chancen bietet, als nur fossile Rohstoffe zu erset-
zen – und ganz neue Arten der chemischen Produktion ermöglicht. Wie aber kann der
ökonomische Wandel gelingen? Antworten geben die Beiträge in diesem Heft.

Viel Spaß beim Lesen!

                                 Max Planck Forschung · 1 | 2020
MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
F o t o s: sh u t t e r s t o c k ( l i n k s ob e n ); F r a n k V i n k e n ( r ec h ts ob e n, l i n k s u n t e n ); Wol f r a m S c h e i bl e ( r ec h ts u n t e n )
                                          38                                                                          48

                                          56                                                                          72

38    Folgenreich             48   Einfallsreich                       56           ErFolgreich   72    Variantenreich

Wir sind abhängiger           Anna Ijjas stellt das                    Ein Medikamenten-Mix       Synthetisches Elfenbein lässt
vom Rohstoff Kohle, als wir   Standardmodell Urknall                   hat bei Fliegen lebens-    sich in verschiedenen Farben
denken.                       infrage.                                 verlängernde Wirkung.      herstellen.

                                                  Max Planck Forschung · 1 | 2020
MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
Inhalt

03 | Editorial                                     48 | besuch bei
                                                  Anna Ijjas
                                                  Die Philosophin des Urpralls
06 | orte der forschung
Wissenschaftler nehmen Holz-
proben im brasilianischen Urwald.                  wissen aus

                                                   56 | Der Methusalem-Cocktail
08 | kurz notiert                                 Fruchtfliegen und Mäuse verraten
                                                  Wissenschaftlern ganz Erstaunliches
                                                  über das Älterwerden.
16 | ZUR SACHE
                                                   62 | Das Rätsel der himmlischen
Wohl keine andere körperliche                           Blitze
Erkrankung belastet so sehr wie Krebs.
Die Ursache der Krankheit wurde                    Ständig registrieren Radioteleskope
lange Zeit in der Persönlichkeit der               nur tausendstel Sekunden andauernde
Betroffenen gesucht. Ein fataler Irrtum.           Pulse. Woher stammen diese Fast
                                                   Radio Bursts?

                                                   66 | Nur Geduld!
iM FOKUS                                                                                                                                                                                                                             5
                                                  „Wer warten kann, hat mehr vom
Wirtschaft auf dem grünen Zweig                    Leben“, sagen Verhaltensökonomen
                                                   und untersuchen, wie sie die Ausdauer
22 | Sprit aus Stiel und Stängel                   von Kindern und Jugendlichen
Für Biokraftstoffe der zweiten                     fördern können.
Generation müssen keine Energiepflan-
zen auf Ackerflächen angebaut werden.              72 | Elfenbein aus dem                                                                                         BIOmax
So konkurrieren sie nicht mehr mit der                  Reagenzglas
                                                                                                      Genome Editing mit
Nahrungsmittelerzeugung.
                                                   Das synthetische Material soll im                      CRISPR-Cas9
                                                   großen Stil produziert werden,
30 | Fabriken auf dem Feld                         und das nicht nur für Pianotasten.      Neugierig Auf WisseNschAft

Die Produktionsanlagen der Zukunft                                                                                                                                                              Aus ga be 35 // W i nter 2019/2020

stehen auf dem Acker: Pflanzen sollen
in Zukunft Substanzen erzeugen,                    78 | Post aus ...
die bislang nur aufwendig herzustellen
sind.                                              Barbados, Karibik                                    Genome Editing mit CRISPR-Cas9
                                                                                                                                                               – was ist jetzt alles möglich?

                                                                                           Wer würde nicht gerne einmal einen Blick auf einen Drachen         vollständige sequenzierung des erbguts eines ausgestorbenen
                                                                                           werfen wollen? In ihrem gemeinsamen Buch „How to Build             Wollhaarmammuts gelungen ist und damit theoretisch der Zugriff
                                                                                           a Dragon or Die Trying“ erklären der US-amerikanische Bio-         auf die information für alle seine eigenschaften. Mehr als vier
                                                                                           loge und Schriftsteller Paul Knoepfler und seine 17-jährige        Milliarden DNA-Basen wurden dafür dekodiert (s. Biomax 33) .
                                                                                           Tochter Julie, wie sie ihren eigenen Drachen bauen würden

38 | Eine Inventur des fossilen
                                                                                           – dank einer der größten technologischen Innovationen              Das Mammut eignet sich wie kaum ein anderes ausgestorbe-
                                                                                           der jüngsten Zeit, der Genom-Editierung. Die beiden Auto-          nes Wirbeltier zur Analyse seines vorzeitlichen erbguts. Denn
                                                                                           ren schreiben: „Während wir über die coole Wissenschaft            die fossilien der eiszeitlichen elefanten stammen vorwiegend
                                                                                           staunten, die es schon gibt, wurde uns auch klar – inmitten        aus dem Permafrostboden sibiriens, wo sie relativ gut erhalten

                                                   80 | neu erschienen
                                                                                           unserer Drachenbau-Pläne […] –, dass die Dinge für uns             bleiben. Der nächste lebende Verwandte des Wollhaarmam-
                                                                                           katastrophal schieflaufen könnten.“ Das Buch liefert einen         muts ist der asiatische elefant. Nach erbgutanalysen von svante
                                                                                           satirischen Blick auf die aktuell bahnbrechendste Wissen-          Pääbo und seinem team vom Max-Planck-institut für evolutio-

     Zeitalters
                                                                                           schaft. Wir sollten uns jedoch fragen, was noch Satire und         näre Anthropologie haben sich der asiatische elefant und das
                                                                                           was schon Realität ist?                                            Wollhaarmammut vor etwa 4 40.000 Jahren in verschiedene
                                                                                                                                                              Arten aufgespalten. Das genom des Wollhaarmammuts und
                                                                                           Die fortschritte in der genomischen Biotechnologie bieten erst-    des asiatischen elefanten unterscheidet sich daher „nur“ um
                                                                                           mals vielleicht die Möglichkeit, lang ausgestorbene Arten – oder   etwa 1,4 Millionen Mutationen: ein asiatischer elefant besteht
                                                                                           zumindest „ersatz“-Arten mit Merkmalen und ökologischen funk-      also praktisch bereits zu 99,96 Prozent aus Wollhaarmammut.
                                                                                           tionen ähnlich wie die der ausgestorbenen Originale – zurückzu-
                                                                                           bringen. ein team unter der Leitung von george church an der       JURASSIc PARK – von DER FIKTIon ZUR REAlITäT?
                                                                                           harvard university versucht, bereits ausgestorbene Mammuts         Das harvard Woolly Mammoth revival-team hat 2015 zunächst

Der Klimawandel erfordert den
                                                                                           wieder zum Leben zu erwecken, indem es das erbgut seines           das erbgut eines Wollhaarmammuts analysiert und dann von
                                                                                           heute noch lebenden Verwandten, des asiatischen elefanten,         bestimmten Mammutgenen exakte Kopien künstlich hergestellt.
                                                                                           Buchstabe für Buchstabe umschreibt. Das ist möglich seit for-      Diese wurden erfolgreich in Fibroblasten-Zelllinien des asiati-
                                                                                           schern der Pennsylvania state university 2008 die erste nahezu     schen elefanten eingebaut. „Wir haben vor allem gene genom-

                                                                                                                                                                                                                       SEITE   1

Abschied von Erdöl und Kohle. Doch
                                                   82 | fünf fragen
von den fossilen Rohstoffen loszu-
kommen, wird nicht leicht werden.                  Zu Protestwahlen

                                                   83 | impressum
46 | infografik
Der Neandertaler in uns

                                           Max Planck Forschung · 1 | 2020
MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
Entnahme einer
                                                                                     baumprobe im
                                                                                     brasilianischen
                                                                                     Regenwald

    D    ie tropischen Regenwälder beherbergen rund zwei
    Drittel aller bekannten Tier- und Pflanzenarten, und ihre
    Bedeutung für das Klima der gesamten Erde steht außer
    Frage. Dass sie uns darüber hinaus auch viel über kulturelle
    Aspekte vergangener Zeiten erzählen können, wurde
6
    dagegen bisher weitgehend vernachlässigt.

    Die viele Jahrhunderte alten, riesigen Tropenbäume sind
    Zeitkapseln für den, der sie zu lesen weiß: Während ihrer
    Lebensspanne nehmen sie Kohlenstoff aus der Luft sowie
    Wasser und Mineralstoffe aus dem Boden auf und bauen
    sie in ihr Holz ein. Forschende der Max-Planck-Institute
    für Menschheitsgeschichte, Entwicklungsbiologie und
    Biogeochemie kombinieren moderne Analysemethoden wie
    Dendrochronologie, Radiokohlenstoffdatierung, Isotopen-
    und Genanalyse und können so Veränderungen in den
    Wachstumsbedingungen der Bäume rekonstruieren. Hier
    wird dazu gerade eine Probe aus einem mehrere Hundert
    Jahre alten Paranussbaum im Tefé-Nationalpark in Brasilien
    entnommen.

    Mit den Untersuchungen lassen sich auch die Auswirkungen
    menschlicher Aktivitäten auf das Ökosystem des Waldes
    nachvollziehen. Denn ganz im Gegenteil zur landläufigen
    Meinung bewirtschaften die Völker des Regenwaldes diesen
    bereits seit rund 10 000 Jahren. Einschneidende Ereignisse
    wie Kriege und Kolonialismus haben ebenso ihre Spuren im
    Baumarchiv hinterlassen wie Konsumentscheidungen auf
    dem Weltmarkt, zum Beispiel für Kautschuk oder Edelhölzer.

                                                   Max Planck Forschung · 1 | 2020
MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
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                  forschung

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                                  F o t o: V ic t or L . C a eta no A n dr a de

Max Planck Forschung · 1 | 2020
MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
kurz notiert

                                                                                                                                            Wie die meisten Insekten
                                                                                                                                            leiden auch Bienen
                                                                                                                                            unter Pestiziden und
                                                                                                                                            Klimaveränderungen.
             F o t o: sh u t t e r s t o c k

                                                                                                                                            Insekten
                                                                                                                                            im Klima-
                                                                                                                                            wandel
                                                                                                                                            Der menschliche Einfluss auf Klima
                                                                                                                                            und Ökosysteme wird immer deut-
                                                                                                                                            licher: Überall in Europa ist ein gra-
                                                                                                                                            vierender Rückgang der Insektenbio-
                                                                                                                                            masse zu beobachten. Während be-
                                                                                                                                            stäubende Insektenarten vom Aus-
                                                                                                                                            sterben bedroht sind, breiten sich
                                                                                                                                            jedoch bestimmte Schädlinge und
                                                                                                                                            Krankheiten übertragende Arten
                                                                                                                                            immer weiter aus. Um die Wechsel-
                                                                                                                                            wirkungen zwischen Insekten, Klima
    ausgezeichnet                                                                                                                           und Menschen genauer zu untersu-
                                                                                                                                            chen, bündeln das Max-Planck-Insti-
                                                                                                                                            tut für chemische Ökologie, die Uni-
                                                                                                                                            versität Lund und die Schwedische
    erin schuman                                                                                                                            Universität für Agrarwissenschaf-
                                                                                                                                            ten ihre Kräfte in einem neuen Zent-
8   Erin Schuman, Direktorin am Max-Planck-Institut
                                                                                                F o t o: M PI fü r Hi r n f or s c h u ng

                                                                                                                                            rum, dem Max Planck Center on next
    für Hirnforschung, erhält den Louis-Jeantet-Preis
                                                                                                                                            Generation Insect Chemical Ecology.
    für Medizin 2020 für ihre Arbeit zur lokalen
    Proteinsynthese an Synapsen. Diese bestimmen als                                                                                        Gemeinsam wollen die Partner vor
    Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen im Gehirn,                                                                                     allem untersuchen, wie sich höhere
    wie gut die Zellen kommunizieren können. Wie Erin                                                                                       Durchschnittstemperaturen, Treib-
    Schuman herausfand, werden viele Proteine, welche                                                                                       hausgase und die Luftverschmut-
    die Synapsen für die Kommunikation benötigen, lokal                                                                                     zung auf den Geruchssinn von Insek-
    in der Nähe der Synapsen produziert, sodass sie zur                                                                                     ten auswirken und wie sich die Tiere
    richtigen Zeit am richtigen Ort zur Verfügung stehen.
    Durch diese Entdeckung lässt sich die Funktionsweise
                                                                                                                                            an diese Veränderungen anpassen.
    von Synapsen besser verstehen, ebenso Störungen in                                                                                      Die Erkenntnisse können einen wich-
    der neuronalen Entwicklung. Die Louis-Jeantet-Preise                                                                                    tigen Beitrag zur Lösung globaler
    gehören mit 500 000 Euro zu den bestdotierten Aus-                                                                                      Probleme in Zusammenhang mit der
    zeichnungen Europas für biomedizinische Forschung.                                                                                      Klimakrise, der Welternährung und
    Das Geld unterstützt die Preisträger bei ihren weiteren                                                                                 sogar der Bekämpfung von Krank-
    Arbeiten.                                                                                                                               heiten liefern. Denn die steigenden
                                                                                                                                            Temperaturen begünstigen auch die
                                                                                                                                            Ausbreitung von Infektionen, die von
    Svante Pääbo                                                                                                                            Insekten übertragen werden, wie das
                                                                                                                                            West-Nil-Fieber oder Malaria. Ein
    Der Japan-Preis 2020 geht an Svante Pääbo, Direktor                                                                                     Ziel der Kooperation im Max Planck
    am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropolo-                                                                                     Center ist es daher, neue Methoden
                                                                                                  F o t o: K a r s t e n Möbi us

    gie. Er gilt als Begründer der Paläogenetik, einer Dis-                                                                                 zur Bekämpfung solcher Erkrankun-
    ziplin, die sich mit der Analyse genetischer Proben aus
    Fossilien und prähistorischen Funden befasst. Durch                                                                                     gen zu entwickeln. Offiziell gestartet
    Vergleiche von DNA-Sequenzen heute lebender                                                                                             ist das Gemeinschaftsprojekt im Ja-
    Menschen mit denen von Neandertalern und weiteren                                                                                       nuar 2020 im schwedischen Alnarp.
    menschlichen Vorfahren erforscht Pääbo, welche                                                                                                            www.mpg.de/14398598
    genetischen Veränderungen im Laufe der Evolutions-
    geschichte den modernen Menschen geprägt haben.
    Zu Pääbos großen wissenschaftlichen Erfolgen zählen
    die komplette Entschlüsselung der mitochondrialen
    DNA des Neandertalers 2008 sowie der Genom-
    sequenz des Neandertalers. Der Japan-Preis wird
    gerne als japanischer Nobelpreis bezeichnet und ist
    mit 50 Millionen Yen (etwa 490 000 Euro) dotiert.

                                                              Max Planck Forschung · 1 | 2020
MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
kurz notiert

                                                                                                                                                                        Kurz
                                                                                                                                                                      notiert
Bi l d: C D C / A l i s sa Ec k e rt, M S; Da n H ig gi ns , M A M S

                                                                                                                                                                       Spitzen-
                                                                                                                                                                       forschung
                                                                                                                                                                       in Polen
                                                                                                                                                                       Das von der Max-Planck-Gesell-
                                                                                                                                                                       schaft initiierte Dioscuri-Programm     9
                                                                                                                                                                       in Polen wird um drei Zentren er-
                                                                                                                                                                       weitert. Der Mathematiker Paweł
                                                                                                                                                                       Dłotko, der Biologe Gracjan Michlew-
                                                                                                                                                                       ski und der Physiker Bartłomiej
                                                                                                                                                                       Wacław werden die Zentren leiten
                                                                                                                                                                       und dort international wettbewerbs-
                                                                                                                                                                       fähige und innovative Forschungs-
                                                                                                                                 Wissenschaftler suchen nach einem     gruppen etablieren. Ziel des Dio-
                                                                                                                                   Impfstoff gegen das Coronavirus,    scuri-Programms ist es, Forsche-
                                                                       Immunschub                                                              hier im 3-D-Modell.     rinnen und Forscher von interna-
                                                                                                                                                                       tional renommierten Stationen in
                                                                       gegen Corona                                                                                    Westeuropa und den USA zu gewin-
                                                                                                                                                                       nen und beim Aufbau einer eige-
                                                                       Forschende des Max-Planck-Insti-        Gefahr schwerer Krankheitsver-                          nen Forschungsgruppe in ihrer Hei-
                                                                       tuts für Infektionsbiologie haben ei-   läufe, und die Todesrate sinkt. Der                     mat zu unterstützen. So trägt es dazu
                                                                       nen Impfstoffkandidaten gegen Tu-       bei Max-Planck neu entwickelte Tu-                      bei, das bestehende Leistungsge-
                                                                       berkulose entwickelt, der auch eine     berkulose-Impfstoff hat sich in den                     fälle zwischen West- und Osteuropa
                                                                       Infektion mit SARS-CoV-2 abmil-         bisherigen klinischen Studien als gut                   zu überwinden. Die ersten zwei Dio-
                                                                       dern könnte. Der Stoff basiert auf      verträglich und wirksamer als die                       scuri-Zentren haben 2019 ihre Arbeit
                                                                       dem Impfstoff BCG, der Anfang           Standardimpfung mit BCG erwie-                          aufgenommen.
                                                                       des 20. Jahrhunderts gegen Tuber-       sen. Das lässt hoffen, dass der neue                                     www.mpg.de/14308907
                                                                       kulose entdeckt wurde. Studien an       Impfstoff auch die Symptome einer
                                                                       Mäusen haben gezeigt, dass BCG          SARS-CoV-2-Infektion besser ein-
                                                                       die Folgen von Virusinfektionen der     dämmen kann. Seine Wirksamkeit
                                                                       Atemwege abschwächen kann. So           gegen Corona soll nun in einer groß
                                                                       weisen an Grippe erkrankte Mäuse        angelegten Studie in deutschen Kli-
                                                                       weniger Schädigungen an den Lun-        niken getestet werden. Als Betei-
                                                                       gen auf, wenn sie zuvor mit BCG         ligte sind vor allem Beschäftigte im
                                                                       geimpft wurden. Zudem gibt es Hin-      Gesundheitswesen und ältere Men-
                                                                       weise, dass die Impfung das Immun-      schen vorgesehen, die besonders von
                                                                       system gegen Virusinfektionen ak-       der Erkrankung bedroht sind.
                                                                       tiviert. Dadurch verringert sich die                     www.mpg.de/14608782

                                                                                                                                 Max Planck Forschung · 1 | 2020
MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
kurz notiert

                              Querschnitt
                           durch den Hip-
                          pocampus einer
                              Maus. Nach
                            der Gabe von
                           Erythropoietin
                          weisen die Tiere
                            mehr Nerven-
                           zellen in dieser
                          für Lernen und
                              Gedächtnis
                                 zentralen
                            Gehirnregion
                                        auf.

     Körpereige-
     nes Doping
     fürs Gehirn
     Erythropoietin, kurz Epo, steigert
     als berüchtigtes Dopingmittel die
     körperliche Leistungsfähigkeit, es
     wirkt aber auch als Wachstumsfak-
     tor für Nervenzellen. So verringert
     es nach einem Schlaganfall die Schä-
     den im Gehirn. Auch Patienten, de-
10   ren geistige Fähigkeiten durch eine
     Schizophrenie, Depression, bipolare
     Erkrankung oder multiple Sklerose
     eingeschränkt sind, werden mit Epo
     wieder leistungsfähiger. Forscher
     vom Max-Planck-Institut für expe-
     rimentelle Medizin in Göttingen
     haben nun herausgefunden, wie die
     Substanz im Gehirn wirkt: Demnach
     lösen geistige Herausforderungen in
     den Nervenzellen des Gehirns einen
     leichten Sauerstoffmangel aus. Da-
     durch wird mehr Epo mitsamt seinen
     Rezeptoren produziert. Der Wachs-
     tumsfaktor steigert anschließend die
     Aktivität dieser Nervenzellen, be-
     wirkt die Bildung neuer Nervenzel-
     len aus benachbarten Vorläuferzel-
     len und erhöht die Vernetzung der
     Neuronen. Eine Epo-Einnahme ver-
     stärkt diesen natürlichen Effekt: Die
     Versuchsergebnisse zeigen, dass er-
     wachsene Mäuse nach der Gabe des
     Wachstumsfaktors 20 Prozent mehr
     Nervenzellen in der Pyramiden-
     schicht des Hippocampus bilden, ei-
     ner für Lernen und Gedächtnis ent-
     scheidenden Hirnregion.
                      www.mpg.de/14569809
                                                                                 Bi l d: M PI fü r Ps yc h i at r i e

                                               Max Planck Forschung · 1 | 2020
kurz notiert

Das Denken
der
anderen

                                                                                                                                                              F o t o: NASA / J PL - C a lt ec h
Um zu verstehen, was andere denken,
und einzuschätzen, wie sie sich ver-
halten, entwickeln wir in der Kind-
heit die Fähigkeit, uns in die Perspek-
tive anderer hineinzudenken. Bislang
war die Forschung uneins darüber, ab
welchem Alter Kinder diese Fähig-
keit besitzen. Eine aktuelle Studie des
Max-Planck-Instituts für Kognitions-
und Neurowissenschaften zeigt, dass
erst Vierjährige wirklich in der Lage
sind zu verstehen, was andere denken,
und deren Handlungen zu antizipie-
ren. Wie die Forschenden mittels Eye-                Kundschafter auf dem Roten Planeten: InSight – hier eine Illustration der Sonde auf der
                                                     Oberfläche – liefert wertvolle Einblicke in das Innenleben des Mars.
tracking beobachteten, können zwar
schon jüngere Kinder die Handlun-
gen einer Comicfigur vorhersehen.
Werden sie aber danach gefragt, ge-                            der mars bebt
ben sie die falsche Antwort. Den
Grund dafür fanden die Forschenden                             Der Rote Planet ist durchaus unru-                  seismisch aktiv ist. Allerdings sind
bei Messungen der Hirnaktivität: Bei                           hig. Nicht weniger als 174 Marsbe-                  die Erschütterungen auf unserem
den beiden Entscheidungsprozessen –                            ben hat das Seismometer der Sonde                   Nachbarn im All lange nicht so hef-
der nonverbalen Variante, die sich im                          InSight in den ersten zehn Monaten                  tig wie auf der Erde: Keines der regis-
Blick äußert, und der verbalen in der                          seit seiner Inbetriebnahme Ende Fe-                 trierten Beben erreichte eine Stärke
Antwort – sind verschiedene Hirn-                              bruar 2019 gemessen. Das entspricht                 von mehr als 4. Bei 150 Beben waren
                                                               durchschnittlich etwas mehr als ei-                 nur Wellen zu messen, die sich in der                                                   11
strukturen beteiligt. Die Hirnregi-
onen, mit deren Hilfe wir wirklich                             nem Beben alle zwei Tage. Die Da-                   Kruste des Mars ausbreiteten. Hin-
verstehen, was andere denken, ist erst                         ten, die Wissenschaftler unter Be-                  gegen durchliefen die restlichen 24
im Alter von etwa vier Jahren so aus-                          teiligung des Max-Planck-Instituts                  Beben den Gesteinsmantel des Mars
gereift, dass wir das auch sprachlich                          für Sonnensystemforschung gewon-                    und wiesen ähnliche Charakteristika
ausdrücken können. In der frühen                               nen haben, liefern den ersten umfas-                auf wie irdische Beben.
Kindheit gibt es aber eine andere Ge-                          senden Beweis dafür, dass neben der                                   www.mpg.de/14506985
hirnfunktion, die es ermöglicht, zu-                           Erde und dem Mond auch der Mars
mindest den Blickwinkel des anderen
zu übernehmen.
                  www.mpg.de/14559563

                                                                                                                                                             M use e n z u B e r l i n – Pr euSSi s c h e r K u lt u r b e si t z
                                                                                                                                                             F o t o: R at hge n F or s c h u ngsl a b or , S ta at l ic h e

Von Hirten und Helices
„Die Anbetung der Hirten“ des ita-        hand der genauen Strukturdaten des
lienischen Bildhauers Giuseppe            wasserhaltigen Calciumacetats kön-
Torretti lässt nicht nur Liebhaber        nen Restauratoren das gleiche Korro-
 des Barock staunen, sondern auch         sionsprodukt auch an anderen Mar-
Chemiker. Denn ein durch Korro-           morarbeiten identifizieren und dann
 sion entstandenes Salz, das an dem       möglicherweise die Prozesse unter-
restaurierten Marmorrelief knub-          binden, in denen die Ausblühungen
belige Ausblühungen bildet, kris-         entstehen. Die anorganischen He-
tallisiert in der gleichen Dreifach-      lices könnten sich aber auch als Vor-
 spirale wie das Protein Kollagen.        lage verwenden lassen, um andere
Das haben Forschende am Stuttgar-         chemische Substanzen in diese Form „Die Anbetung der Hirten“ überstand den 2. Weltkrieg
ter Max-Planck-Institut für Festkör-      zu bringen.                           nur in Fragmenten (bräunliche Teile), hier kombiniert mit
perforschung herausgefunden. An-          www.mpg.de/14577597                                 einem Schwarz-Weiß-Foto des unversehrten Reliefs.

                                                             Max Planck Forschung · 1 | 2020
kurz notiert

                                                                                                                                                                               Müllabfuhr
                                                                                                                                                                               für Corona-
                                                                                                                                                                               viren
                                                                                                                                                                                Wenn Zellen gestresst sind, entsor-
                                                                                                                                                                                gen sie verstärkt überflüssige oder
                                                                                                                                                                                beschädigte Zellteile. Durch die

                                                           Bi l d: S c i e nc e Pho t o Lib r a ry / M u rt i , Dr . G opa l
                                                                                                                                                                                zelleigene Müllabfuhr können sie
                                                                                                                                                                                auch Viren loswerden. Ein Team
                                                                                                                                                                                des Max-Planck-Instituts für Psy-
                                                                                                                                                                                chiatrie und des Uniklinikums Bonn
                                                                                                                                                                                ist auf ein Protein für die Beseiti-
                                                                                                                                                                                gung von Abfallstoffen gestoßen, das
                                                                                                                                                                                durch bereits auf dem Markt befind-
                                                                                                                                                                                liche Antibiotika und Medikamente
     Hilfsbereite                                                                                                                                                               gegen Darmwürmer verstärkt Vi-
                                                                                                                                                                                ren entsorgt. Zusammen mit Wis-
     Papageien                                                                                                                                                                  senschaftlern der Charité in Berlin
                                                                                                                                                                                haben die Forscher entdeckt, dass
     Papageien sind nicht nur außeror-                                                                                                                                          die Wirkstoffe die Vermehrung des
     dentlich intelligent, sie besitzen auch                                                                                                                                    MERS-Coronavirus, eines Ver-
     ein hohes Maß an Einfühlungsver-                                                                                                                                           wandten des neuen Coronavirus
     mögen und Hilfsbereitschaft. Dies                                                                                                                                          SARS-CoV-2, eindämmen können.
     ist das Ergebnis von Studien, die For-                                                                                                                                     Das MERS-Virus kann beim Men-
     scherinnen an der Außenstelle Tene-                                                                                                                                        schen eine schwere Lungenentzün-
     riffa des Max-Planck-Instituts für                                                                                                                                         dung auslösen, die bei jedem dritten
     Ornithologie in Seewiesen an Grau-                                                                                                                                         Infizierten tödlich verläuft. Gegen
     papageien durchgeführt haben. In                                                                                                                                           den Erreger gibt es wie gegen SARS-
     den Tests verteilten die Forschenden                                                                                                                                       CoV-2 bislang weder Medikamente
12   an einige Vögel aus einer Gruppe                                                                                                                     Elektronenmikroskop- noch einen Impfstoff. Ob die Wirk-
     Metallmarken, die diese gegen Futter                                                                                                                        Aufnahme von   stoffe die Beseitigung von Coronavi-
     eintauschen konnten. Dabei verhiel-                                                                                                                           Coronaviren. ren im Menschen ankurbeln, muss
     ten sich Papageien, die eine Marke                                                                                                                                         sich erst noch zeigen. Unterdessen
     bekommen hatten, in den meisten                                                                                                                                            untersuchen auch Wissenschaft-
     Fällen ausgesprochen selbstlos und                                                                                                                                         ler am Lead Discovery Center in
     reichten die Marke mit dem Schna-                                                                                                                                          Dortmund, einer Ausgründung der
     bel an ihren Nachbarn weiter, wenn                                                                                                                                         Max-Planck-Gesellschaft, andere
     dieser keine Marke erhielt. Papageien                                                                                                                                      Substanzen, die die Entsorgungsma-
     erkennen also offenbar, wann ein Art-                                                                                                                                      schinerie ankurbeln und zur Behand-
     genosse von ihrer Hilfe profitieren                                                                                                                                        lung eingesetzt werden können.
     kann und wann nicht. In weiteren                                                                                                                                           www.mpg.de/14642215
     Untersuchungen beobachteten die
     Forschenden zudem, dass Graupa-           In den Verhaltensexperimenten
     pageien nicht neidisch sind, wenn ein     erhalten die Papageien Metall-
     Artgenosse für die gleiche Leistung       marken, die sie dann gegen
     höher belohnt wird oder für die glei-     Futter eintauschen können.
     che Belohnung weniger hart arbeiten
     muss. Möglicherweise liegt dieses
     Verhalten nicht an einem mangeln-
     den Sinn für Fairness, sondern an ei-
                                                                                                                                                                                                 F o t o: C om pa r at iv e C o gn i t ion Grou p

     ner ausgeprägten Paarbindung. An-
     ders als Schimpansen, die eine solche
     Ungleichbehandlung nicht klaglos
     hinnehmen, leben Graupapageien in
     der Regel ein Leben lang mit einem
     Partner zusammen. Tiere mit dauer-
     haften Partnerschaften können wahr-
     scheinlich toleranter gegenüber Un-
     gleichheit sein als nicht monogame
     Arten, da sich die Großzügigkeit auf
     Dauer trotzdem auszahlt.
                       www.mpg.de/14319760

                                                                                                                               Max Planck Forschung · 1 | 2020
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                                                                                                                           F o t o: Wi m Hoe k / sh u t t e r s t o c k
                                                                                                                                                                          13

         Weibliche Mönchsgrasmücke.
Die Art ist in ihrem Zugverhalten sehr
     variabel: Je nach Herkunft fliegen
      die Vögel unterschiedlich weit in
ihre Überwinterungsgebiete. Manche
                                          Vögel ziehen bei jedem
          ziehen auch überhaupt nicht.
                                          Klima
                                           Kuckucke aus Kamtschatka flie-          ben im Mittel relativ konstant. An-
                                           gen zum Überwintern nach Angola         ders in Nord- und Südamerika: Dort
                                           – eine Strecke von etwa 14 000 Kilo-    gab es während der Eiszeit 20 Prozent
                                           metern. Wohin und wie weit die Vö-      weniger Zugvogel-Arten. Viele waren
                                           gel fliegen, wird vor allem vom Klima   während der Eiszeit offenbar Stand-
                                           bestimmt. Dieses hat sich jedoch über   vögel und wurden erst danach Zug-
                                           die letzten 50 000 Jahre immer wieder   vögel. Die Zugstrecken waren zudem
                                           stark gewandelt. Forscherinnen und      40 Prozent kürzer als heute. Der Vo-
                                           Forscher des Max Planck - Yale Cen-     gelzug hat also selbst starke Klima-
                                           ter for Biodiversity Movement and       veränderungen überdauert. Wie sich
                                           Global Change haben am Computer         der menschengemachte Klimawan-
                                           modelliert, wie sich der Vogelzug auf   del auf den Zug der Vögel auswirkt,
                                           der Erde während dieser Zeit entwi-     wissen die Forscher noch nicht. Er
                                           ckelt hat. Die Simulationen zeigen,     verläuft schneller als frühere Klima-
                                           dass Vögel auch während der letzten     veränderungen, zudem verschlech-
                                           Eiszeit zwischen Sommer- und Win-       tern sich die Lebensbedingungen für
                                           tergebieten hin- und herpendelten.      Vögel in vielerlei Hinsicht, zum Bei-
                                           Wie Zugvögel auf Klimaveränderun-       spiel durch den Verlust von Lebens-
                                           gen reagieren, unterscheidet sich der   raum und Nahrung. Das Computer-
                                           Berechnung zufolge allerdings regio-    modell kann nun helfen, die Folgen
                                           nal: So gab es in Europa, Asien und     dieser Veränderungen auf den Vogel-
                                           Afrika während der letzten Eiszeit      zug vorherzusagen.
                                           etwa gleich viele Zugvogel-Arten wie                     www.mpg.de/14473814
                                           heute. Auch die Flugdistanzen blie-

                                          Max Planck Forschung · 1 | 2020
kurz notiert

                                                                                          Krebsartiger Stoffwech-
                                                                                          sel lässt Gehirn wachsen
                                                                                          Die Größe des menschlichen Ge-            ganellen strömt. Dank der höheren
                                                                                          hirns hat im Laufe der Evolution          Kalziumkonzentration können die
                                                                                          erheblich zugenommen. Wissen-             Mitochondrien über den Stoffwech-
            Bi l d: M PI - C B G / Na m ba et a l .

                                                                                          schaftler am Max-Planck-Institut          selweg der Glutaminolyse Energie
                                                                                          für molekulare Zellbiologie und Ge-       erzeugen und die Hirnstammzellen
                                                                                          netik in Dresden haben herausge-          dazu bringen, sich stärker zu vermeh-
                                                                                          funden, dass sich die sogenannten         ren. Eine hohe Glutaminolyse-Rate
                                                                                          basalen Hirnstammzellen dank ei-          ist unter anderem typisch für Krebs-
                                                                                          nes als ARHGAP11B bezeichneten            zellen. Das menschliche Gehirn ist
                                                                                          Gens vermehren können. Dadurch            im Laufe der Evolution also offen-
                                                                                          werden mehr Nervenzellen gebildet.        bar auch deshalb so stark gewachsen,
                                                                                          Nun wissen die Forscher auch, wie         weil sich der menschliche Stoffwech-
                                                                                          das Gen funktioniert: Zusammen            sel so veränderte, dass er im Gehirn
                                                                                          mit einem weiteren Protein schließt       für einen begrenzten Zeitraum auf
                                                                                          es eine Pore in der Mitochondrien-        einen krebsartigen Stoffwechsel um-
                                                                                          membran der Stammzellen und ver-          schalten kann.
                                                                                          hindert so, dass Kalzium aus den Or-                        www.mpg.de/14323143

                                                      Das ARHGAP11B-Protein
                                                      (magenta) in einer basalen
                                                      Hirnstammzelle (blau: Zellkern).

                                                                                          Flotte Mikroschwimmer
                                                                                           Ein Mikroschwimmer aus dem               bildet sich in seinem Hohlraum eine
                                                                                           Max-Planck-Institut für Intelligente     Luftblase. Diese bringen die For-
14
                                                                                           Systeme in Stuttgart überholt seine      schenden mit Ultraschall zum Pul-
                                                                                           natürlichen Vorbilder. Ein Team          sieren, sodass der Mikroschwimmer
                                                                                           des Instituts hat einen Mikrorobo-       durch den Rückstoß vorwärtsgetrie-
                                                                                           ter entwickelt, der deutlich schneller   ben wird. Solche akustisch angetrie-
     Feedback,                                                                             schwimmt als Bakterien oder Algen.       benen Mini-U-Boote könnten künf-
                                                                                           Der winzige Schwimmkörper hat die        tig etwa in minimal-invasiven me-
     aber richtig                                                                          Form einer hohlen Halbkugel mit ei-      dizinischen Behandlungen zum
                                                                                           ner kleinen Öffnung am Boden. So-        Einsatz kommen.
     Feedback gilt als wichtiger Bestand-                                                  bald er in eine Flüssigkeit eintaucht,                     www.mpg.de/14420595
     teil einer erfolgreichen Unterneh-
     menskultur. Richtig eingesetzt, kann
     es die Arbeitsleistung und die Zu-
     sammenarbeit im Team stärken. In
     einem Experiment haben Wissen-
     schaftler des Max-Planck-Instituts                                                    Rauchen ohne Qualm
     für Bildungsforschung untersucht,
     welchen Einfluss die Art des Feed-                                                   Vor passivem Rauchen schützt selbst       tionen von 35 flüchtigen organischen
     backs auf das weitere Verhalten hat.                                                 das Rauchverbot in öffentlichen Ein-      Verbindungen, die im Zigaretten-
     Am besten für die Zusammenarbeit                                                     richtungen nicht. Mit Schadstoffen        rauch enthalten sind. Demnach at-
     war Feedback, das den Teilnehmen-                                                    wie etwa Nikotin und Feinstaub aus        men Zuschauer, die eine Stunde lang
                                                                                                                                                                             I l lus t r at ion: sh u t t e r s t o c k

     den die Leistung der Gruppe insge-                                                   dem Zigarettenrauch ist die Luft in       in dem Kinosaal sitzen, Schadstoff-
     samt widerspiegelte. Ranking-Feed-                                                   Räumen auch belastet, wenn sich           mengen von bis zu zehn passiv ge-
     back, also Informationen, welche die                                                 darin Personen aufhalten oder auf-        rauchten Zigaretten ein. Wie hoch
     eigene Leistung im Vergleich zu den                                                  gehalten haben, die vorher woan-          die Belastung durch die einzelnen
     anderen Teilnehmenden einstuften,                                                    ders geraucht haben. Denn deren           Schadstoffe ist, hängt unter anderem
     führte hingegen dazu, dass sich die                                                  Kleidung, Haut und Haare verströ-         von deren Flüchtigkeit ab. Im Fall des
     Probanden immer stärker als Kon-                                                     men die Stoffe. Das indirekte Pas-        krebserregenden Benzols entsprach
     kurrenten sahen. Das ging so weit,                                                   sivrauchen haben Forschende des           sie in einer Stunde zum Beispiel dem
     dass sie ihr Handeln nur noch darauf                                                 Max-Planck-Instituts für Chemie           Qualm von acht Zigaretten. In weni-
     ausrichteten, andere auszustechen,                                                   und der Yale University jetzt erst-       ger gut belüfteten Räumen als einem
     sogar wenn sie damit der Gruppe und                                                  mals mit Messungen bestätigt. Sie         Kinosaal dürfte die Belastung noch
     so letztlich auch sich selbst schadeten.                                             protokollierten in einem Kinosaal         größer sein.
                                                               www.mpg.de/14434978        über mehrere Tage die Konzentra-                           www.mpg.de/14558058

                                                                                         Max Planck Forschung · 1 | 2020
Exot mit elf Kilometer
Radius
Neutronensterne sind kompakte, ex-
trem dichte Überreste von Superno-
                                        narien aus, die zum einen zu den
                                        Gravitationswellen von GW170817
                                                                                                                                        für Chemie
va-Explosionen. Gelegentlich ver-
schmelzen zwei dieser exotischen
                                        passten und die zum anderen bei
                                        der Verschmelzung einen kurzle-                                                                 und Life Sciences
stellaren Kugeln – so wie beim Er-      bigen hypermassereichen Neutro-
eignis GW170817, das Astronomen         nenstern erzeugen. Drittens muss-
im August 2017 durch Gravitations-      ten die in Betracht gezogenen Mo-
wellen und im gesamten elektroma-       delle mit bekannten Obergrenzen                                                                 Von Chemikern für Chemiker –
gnetischen Spektrum beobachtet ha-      der Masse übereinstimmen, welche                                                                Nutzen Sie das Netzwerk
ben. Aus den Daten zu GW170817          die Astrophysiker aus elektromag-
und aus theoretischen Überlegungen      netischen Beobachtungen der Quelle                                                              der GDCh:
ermittelten die Forscher um Collin      von GW170817 ermittelt hatten. Das
Capano aus dem Max-Planck-Insti-        Ergebnis: Ein typischer Neutronen-                                                               Stellenmarkt – Online und in
tut für Gravitationsphysik den Ra-      stern mit der 1,4-fachen Masse unse-                                                              den Nachrichten aus der Chemie
dius typischer Neutronensterne, wie     rer Sonne hat einen Radius von etwa                                                              CheMento – das Mentoring
sie bei GW170817 kollidierten. Die      elf Kilometern.                                                                                   Programm der GDCh für chemische
Wissenschaftler wählten dabei Sze-                          www.mpg.de/14573502
                                                                                                                                          Nachwuchskräfte
                                                                                                                                         Publikationen rund um die Karriere
                                                                                                                                         Bewerbungsseminare und
                                                                                                                                          -workshops
                                                                                          Bi l d: ESO / L . C a l ç a da                 Jobbörsen und Vorträge

                                                                                                                           A nz e ige

                          Wunderkugel: Neutronensterne besitzen eine größere
                         Masse als die Sonne, in ihnen ist die Materie aber unvor-
                          stellbar dicht gepackt. Daher haben sie typischerweise
                                            einen Radius von nur elf Kilometern.

Die ersten Salmonellen
Der Beginn der Landwirtschaft war       ierten acht alte Genome des Krank-
ein Meilenstein in der Geschichte der   heitserregers Salmonella enterica.
Menschheit. Schon lange wird ver-       Ihre Analyse ergab, dass sie Vorläufer
mutet, dass durch den engen Kon-        des Bakterienstammes Paratyphi C
takt mit Tieren viele neue Krank-       waren – ein Stamm, der inzwischen
heiten beim Menschen, sogenannte        ausschließlich Menschen infiziert,
Zoonosen, aufkamen. Ein Team um         aber nur selten vorkommt. Die histo-
Wissenschaftler des Max-Planck-In-      rischen Salmonellen hingegen steck-
stituts für Menschheitsgeschichte hat   ten wahrscheinlich Tiere genauso an
nun Bakterien aus bis zu 6500 Jahre     wie Menschen. Das legt nahe, dass
alten Skeletten von Landwirten un-      die bäuerliche Lebensweise tatsäch-
tersucht und damit neues Licht in       lich die Entstehung neuer Krankhei-
die Entwicklung von Zoonosen ge-        ten begünstigte.
bracht. Die Forschenden rekonstru-                       www.mpg.de/14506291

                                                                                                                                        Gesellschaft Deutscher Chemiker

                                                            Max Planck Forschung · 1 | 2020
                                                                                                                                           www.gdch.de/karriere
ZWISCHEN SCHULD,
     ANGST UND HOFFNUNG

                           Die Diagnose Krebs ist ein Schock. Wohl
                   keine andere körperliche Erkrankung belastet die
                     Betroffenen so sehr. Die Ursache der Krankheit
                 wurde lange Zeit in der Persönlichkeit der Patienten
                      gesucht. Ein fataler Irrtum, wie unsere Autorin
16                        anhand der historischen Entwicklung zeigt.

        Möglicherweise ist Ihnen das auch schon passiert. Ein guter Freund sagt
        unvermittelt: „Ich habe Krebs.“ Sie wissen im ersten Moment nicht, was
        Sie sagen sollen. Sie möchten ihn aufmuntern, optimistisch sein. Und da
        haben Sie es auch schon gesagt, bevor Sie recht darüber nachgedacht
        haben: „Du wirst das schaffen. Du bist doch so ein positiv denkender
        Mensch.“ Und wenn er es nicht „schafft“? Was haben Sie da eigentlich
        gesagt? Wenn Ihr Freund sterben sollte, liegt es dann daran, dass er
        nicht genug gekämpft, nicht ausreichend gehofft hat, seiner Krankheit
        gegenüber nicht positiv genug eingestellt war?

        Psychosomatik, Psychoonkologie und Psychoneuroimmunologie beschäf­
        tigen sich seit vielen Jahren mit der Frage, inwiefern die Psyche Einfluss
        auf den Körper hat. Die bisherigen Antworten aus der Forschung sehen
        komplexe und keineswegs eindeutige Zusammenhänge zwischen Körper
        und Gefühl bei der Entstehung und Heilung von Krankheiten. Dennoch
        begegnet man, wann immer das Gespräch im Alltag auf Krebs kommt,
        Einschätzungen dieser Art: Unterdrückte Gefühle machen Krebs, Stress
        und Angst schaden der Heilung, Hoffnung hilft. Solche Annahmen können
        dazu beitragen, einer Krebserkrankung aktiv zu begegnen – sie können
        aber auch als Schuldzuweisung an den Kranken verstanden werden und
        eine schwere Bürde darstellen. Wie stark sich hier wissenschaftliche
        Forschung und gesellschaftliche Wahrnehmung gegenseitig beeinflussen
        und den Umgang mit an Krebs erkrankten Menschen prägen, zeigt ein
        Blick in die Geschichte psychosomatischer Modelle der Krebsentstehung.

                          Max Planck Forschung · 1 | 2020
ZUR
                                                                    Sache

                                                                     Bettina
                                                                      Hitzer

                                                                                                              17
Bettina Hitzer hat in
Geschichte promoviert
und war von 2014 bis
Januar 2020 Leiterin einer
Minerva-Forschungsgruppe
am Max-Planck-Institut
für Bildungsforschung. Im
Jahr 2017 habilitierte sie sich
an der Freien Universität
Berlin, wo sie auch als
Privatdozentin tätig ist. Für
ihre vielseitigen Forschungs-
arbeiten wurde sie 2016 mit
dem Walter de Gruyter-Preis
der Berlin-Brandenburgi-
schen Akademie der
Wissenschaften ausgezeich-
net. Bettina Hitzer lebt mit
ihrer Familie in Berlin.
                                                                      I llust r ation: S ophie K ette r e r

                                  Max Planck Forschung · 1 | 2020
Bereits in der Antike wurde Melancholie mit der Entstehung von Krebs in
               Verbindung gebracht. Allerdings gerieten solche Vermutungen im Laufe
               des 19. Jahrhunderts immer mehr ins Abseits. Spätestens mit Rudolf
               Virchows Zellularpathologie (1858) wurde Krebs als Krankheit verstan­
                        den, die auf der zellulären Ebene ihren Ursprung nimmt – dass
                        Gefühle auf die nun im Mikroskop erkennbaren Zellen einen Ein­
       Die Studien      fluss haben könnten, erschien ausgeschlossen. Trotzdem haben
                        offenbar praktizierende Ärzte (und bald auch Ärztinnen) einen
          themati-      solchen Zusammenhang nicht ad acta gelegt. Ratgeber für Ärzte
       sierten das      warnten immer wieder davor, den Patienten eine Krebsdiagnose
                        mitzuteilen, weil eine solche Mitteilung sie in tiefe Hoffnungslosig­
       Verhältnis       keit und Verzweiflung stürzen würde. Dies sei auch medizinisch
                        schädlich, da die dadurch ausgelösten Angstgefühle die ohnehin
     der patientin      geringen Heilungschancen vermindern würden.
          zu ihrer      Die körperlichen Effekte von Angst zogen auch die Aufmerk­
       Sexualität        samkeit der Psychosomatik auf sich, die sich Anfang des
                        20. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit der gerade erst
                        entstandenen Psychoanalyse neu formierte. Angst firmierte als
               Krankheitsursache Nummer eins. Die meisten Psychosomatiker nahmen
               allerdings an, dass nur Krankheiten, die auf funktionellen, später chronifi­
18             zierten Störungen beruhen, durch Angst entstehen. Viktor von Weizsäcker,
               einer der Gründungsväter der deutschen Psychosomatik, gab noch 1947
               die Mehrheitsmeinung seiner Fachkollegen wieder, als er konstatierte, ­
               im Falle von Krebs scheitere eine psychosomatische Erklärung am „Granit
               des materiellen Vorganges“. Diese änderte sich jedoch schon bald nach
               Ende des Zweiten Weltkrieges. Verantwortlich dafür war ein komplexes
               Faktorenbündel.

               So ging die experimentelle Krebsforschung der 1930er- und 1940er-Jahre
               neue Wege und konzentrierte sich zunehmend auf physiologische Vor­
               gänge. Es wurde nicht mehr nach der einen Krebsursache gefahndet,
               sondern die Krebsentstehung als multifaktorielles Geschehen verstanden.
               Dass auch die Psyche daran beteiligt sein könnte, schien nun besser
               vorstellbar, zumal die Laborforschung und die konventionellen Therapien
               (Operation und Bestrahlung) bis zu diesem Zeitpunkt die Heilungschan­
               cen von Krebskranken kaum erhöht hatten.

               Bis Ende der 1930er-Jahre hatte sich die Psychosomatik in den USA ­
               so weit etabliert, dass sie Geltung als vollwertige medizinische Disziplin
               beanspruchte. Sie stand in enger Verbindung mit der Psychiatrie und
               bediente sich auf ihrem Weg zur wissenschaftlichen Anerkennung frühzei­
               tig psychometrischer Verfahren. Dazu gehörten Persönlichkeitstests wie
               der nach seinem Schweizer Erfinder benannte Rorschachtest, der Ende
               der 1930er-Jahre gerade seinen kometenhaften Aufstieg zum jahrzehnte­
               lang am häufigsten benutzten psychologischen Testverfahren begann. Bei
               diesem Test müssen die Probanden benennen, welche Lebewesen oder
               Dinge sie in einer Reihe von Tintenklecksbildern erkennen. Dieser Test

                                  Max Planck Forschung · 1 | 2020
Zur
                                                                                        Sache

           wurde zu Beginn der 1950er-Jahre auch Krebspatienten und -patientinnen
           vorgelegt. Ziel war es zu ergründen, ob spezifische Persönlichkeitszüge
           oder -konflikte als Krebsursache infrage kamen.

           Anfangs konzentrierten sich diese Studien fast ausschließlich auf Krebs­
           patientinnen mit Brust- oder Gebärmutterhalskrebs. Begründet wurde die
           Auswahl mit dem Verweis darauf, dass dies die häufigsten Krebserkran-
           kungen amerikanischer Frauen waren. Aber warum wurden nicht auch
           Männer mit Magen- oder Lungenkrebs untersucht – die unter Männern
           damals am weitesten verbreiteten Krebserkrankungen? Dass hier gesell-
                    schaftliche Auseinandersetzungen über die Rolle der Frau das
                    Studiendesign beeinflussten, ist offenkundig. Und tatsächlich
 Gab es nicht       thematisierten die Studienergebnisse überwiegend zwei Aspekte
                    der Persönlichkeit: die Beziehung einer Patientin zu ihrer Mutter
   auffällige       und ihrer eigenen Mütterlichkeit sowie ihr Verhältnis zur eigenen
  Parallelen        Sexualität. Ebendiese beiden Aspekte von Weiblichkeit waren
                    zeitgenössisch hoch umstritten und im Wandel begriffen.
zwischen dem
                     Im Zeichen der Bindungspsychologie der frühen Nachkriegszeit
 SpieSSbürger        wurde in den USA die gefühlskalte, bindungsunfähige oder dem
                     Kind in ambivalenter Weise zugewandte Mutter problematisiert.
      und der        Dies traf sowohl für die Diskussion um Schizophrenie als auch              19

 Krebspersön-        für die psychosomatische Krebsforschung zu. In diesem Sinne
                     wurde Krebs oft auch als eine Form der Organpsychose verstan-
     lichkeit?       den, das heißt als eine ins Körperliche verlagerte pathologische
                     Parallelentwicklung zur Schizophrenie. Eine gefühlskalte Mutter
                     prägte – so die Annahme – den Umgang der Töchter mit Gefüh-
           len. Die Töchter lernten nicht, unangenehme und sozial wenig akzeptierte
           Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Sie „funktionierten“ um den
           Preis der Verdrängung und Selbstentfremdung, latent depressiv, aber
           nicht in der Lage, mit späteren Verlusterfahrungen umzugehen.

          Dieses Persönlichkeitsbild galt zunächst als (eine) spezifische Ursache
          für Brust- und Gebärmutterhalskrebserkrankungen. Doch gegen Ende der
          1950er-Jahre wurden auch Frauen mit anderen Krebserkrankungen sowie
          männliche Krebspatienten in Persönlichkeitsstudien einbezogen. Die
          Idee einer für alle Krebserkrankungen ursächlichen oder disponierenden
          Persönlichkeitsstruktur begann Gestalt anzunehmen. Sie verbreitete sich
          umso mehr, als nun auch laborexperimentelle Studien als Argument für die
          Existenz einer Krebspersönlichkeit ins Feld geführt werden konnten.

           Voraussetzung war der Siegeszug des Stressbegriffs um die Mitte des
           20. Jahrhunderts. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Physiologie,
           wurde nun aber auch als psychologisches Phänomen begriffen. Nun ließ
           sich im Tierexperiment erforschen, ob durch frühe Separation von den
           Muttertieren emotional vernachlässigte oder durch Elektroschocks miss-
           handelte Ratten tumoranfälliger waren als ihre weniger gestressten
           Artgenossen. Mehr noch: Psychosomatische Forschung ließ sich mit der

                             Max Planck Forschung · 1 | 2020
Erforschung karzinogener Substanzen verbinden. Waren gut umsorgte
               Ratten oder Mäuse vielleicht weniger anfällig für die karzinogene Wirkung
               von Teer als verängstigte und isoliert gehaltene Versuchstiere? Manche
                       Testreihen schienen solche Annahmen zu rechtfertigen und
                        wurden als weiterer wissenschaftlicher Beweis für die Ergebnisse
          Ratgeber      der psychosomatischen Krebsforschung herangezogen.
        empfehlen,      Diese Resultate, verdichtet und vereinfacht zur Idee einer Krebs­
      die Diagnose      persönlichkeit, stießen Ende der 1960er-Jahre auf eine erstaun­
                        lich große mediale Resonanz. Sie wurden in den Kreisen der
        als Wende-      Studentenbewegung aufgegriffen und politisiert. In der Bundes­
                        republik wurde am Modell der Krebspersönlichkeit exemplarisch
        punkt und       diskutiert, ob bestimmte Gefühlshaltungen und Beziehungsfor­
     Neubeginn zu       men pathologisch seien – und zwar sowohl auf individueller als
                        auch auf gesellschaftlicher Ebene. Gab es nicht auffällige Pa-
         begreifen      rallelen zwischen dem Spießbürger und der Krebspersönlichkeit:
                        die freundliche Fassade, hinter der negative Gefühle versteckt
                        und verdrängt wurden, die im Namen der Wohlanständigkeit
               vollzogene Selbstentfremdung, Konfliktscheu und damit einher­gehende
               Autoritätshörigkeit?

20             Solche Fragen stellte sich der Zürcher Industriellensohn Fritz Angst, der
               unter dem Pseudonym Fritz Zorn die Autobiografie Mars publizierte, eines
               der Kultbücher der späten 1970er- und der 1980er-Jahre. Er verstand
               seine Krebserkrankung als Folge seiner vielen verschluckten Tränen, so
               wie es ihm seine bürgerlich-kalte Erziehung abverlangt habe. Insofern –
               und das war eine neue Wendung – sei der Krebs auch etwas Positives,
               ein Weckruf, der ihm die Krankheit seiner Seele bewusst gemacht habe.
               Darum eröffne die Krebsdiagnose die Möglichkeit, sein Leben radikal
               umzugestalten, es überhaupt erst richtig und „authentisch“ zu leben –
               selbst wenn ihm dafür nur kurze Zeit bliebe.

               Fritz Angst-Zorn starb im November 1976, kurz bevor sein Buch veröffent­
               licht wurde. Seine Deutung der Krebskrankheit wurde von vielen geteilt.
               Immer zahlreicher wurden die Ratgeberbücher, die die Diagnose Krebs als
               Wendepunkt und Neubeginn eines wahrhaftigeren Lebens begriffen. Ein
               veränderter Umgang mit sich selbst sollte aber auch größere Chancen auf
               Heilung versprechen.

               Doch solche psychosomatischen Deutungen der Krebskrankheit blieben
               nicht unwidersprochen. Weite Verbreitung fand die pointierte Kritik der
               amerikanischen Intellektuellen Susan Sontag. Als ehemalige Brustkrebs­
               patientin verurteilte Sontag psychosomatische Krankheitsdeutungen, weil
               sie damit eine Schuldzuweisung an die Adresse der Erkrankten einherge­
               hen sah. Als ihr Essay Illness as Metaphor 1978 erschien, war das Modell
               Krebspersönlichkeit allerdings bereits innerhalb der Psycho­somatik
               umstritten. Welchen Aufschluss über die ursprüngliche Persönlichkeits­
               struktur konnten Studien geben, deren Teilnehmerinnen nicht nur den

                                 Max Planck Forschung · 1 | 2020
Zur
                                                                                             Sache

                 Schock einer Krebsdiagnose erlebt hatten, sondern schwerkrank waren
                 und unter dem Einfluss von Schmerzmitteln standen, so lautete etwa ein
                 Vorwurf.

                 Trotz methodischer Innovationen ließen sich viele Einwände nicht überzeu­
                 gend ausräumen, sodass immer mehr Psychosomatiker davon absahen,
                 nach krankheitsverursachenden Persönlichkeitsfaktoren zu suchen. Die
                 professionelle Aufmerksamkeit richtete sich stattdessen auf die psychi­
                 schen Begleit- und Folgeerscheinungen einer Krebserkrankung. Diese
                 Fragen gewannen mit der in den 1970er-Jahren etablierten Chemothera­
                 pie an Gewicht.

                 Anders als Operation und Bestrahlung dauerte diese Behandlung
                 Wochen oder Monate. Damit die Patientinnen und Patienten die schwer
                 erträglichen Nebenwirkungen überhaupt durchstanden und die Therapie
                 nicht abbrachen, erschien es nun auch Medizinern, die mit Psychosomatik
                                zuvor wenig anzufangen wussten, sinnvoll, psychosoziale
                                Unterstützung zu organisieren. So entstand die Psycho-
                                onkologie mit dem Ziel, Wohlbefinden und Lebensqualität
                                von Patientinnen und Patienten zu verbessern und
                                dadurch vielleicht auch die Heilungschancen zu steigern.
                                In der Bevölkerung ist die Idee der „Krebspersönlichkeit“            21
                                jedoch nach wie vor verbreitet und trägt – oft unerkannt –
                                das „Gepäck“ der hier erzählten Geschichte mit sich.

                                In der medizinischen Forschung stellt die in den 1970er-
                                Jahren entstandene Psychoneuroimmunologie die Frage
                                nach der Rolle der Psyche in neuer Weise. Es geht darum
                                herauszufinden, wie das Zusammenspiel zwischen Psyche,
                                Nervensystem und Immunsystem(en) funktioniert. Dass
                                solche Zusammenhänge den Verlauf – möglicherweise
das buch                        sogar die Entstehung – von Krebserkrankungen beein-
                                flussen können, erscheint denkbar.
Bettina Hitzer
Krebs fühlen
Eine Emotionsgeschichte des     Dieser Ansatz trifft sich hier mit der allgemeinen
20. Jahrhunderts                Krebsforschung, die derzeit intensiv untersucht, wie das
Klett-Cotta, Stuttgart 2020
540 Seiten, 28,00 Euro
                                körpereigene Immunsystem für die Therapie von Krebser­
                                krankungen gezielt aktiviert oder durch die Gabe spezifi­
Ausgezeichnet mit               scher Antikörper ergänzt werden kann. Erste Medikamente
dem Preis der
Leipziger Buchmesse             dieser Art sind bereits zugelassen worden. Ob dieser
                                Weg langfristig Erfolg haben wird, ist noch vollkommen
                                offen. Doch dies ist keine Frage, die die Geschichte be-
                                antworten kann. Aus ihr lässt sich vielmehr lernen, wie
                                gesellschaftliche Diskussionen, Körper- und Rollenbilder
                 die Forschung beeinflussen und wie die von der Medizin entworfenen
                 Krankheitskonzepte wiederum nicht nur Therapien hervorbringen, sondern
                 auch die Wahrnehmung von und den Umgang mit kranken Menschen
                 weitreichend prägen.

                                   Max Planck Forschung · 1 | 2020
IM FOKUS
Wirtschaft auf dem grünen Zweig
22 |	 Sprit aus Stiel und Stängel
30 |	 Pflanzen als Bioreaktoren
38 |	 Eine Inventur des fossilen Zeitalters

                                                                              Futter für Teller und Tank: Während die Körner von
                                                                           Gerste und anderen Getreidesorten zu Nahrungsmitteln
                                                                            verarbeitet werden, lassen sich aus dem Stroh Biokraft­
                                                                                           stoffe der zweiten Generation gewinnen.
            F o t o: i S t o c k

                                               Max Planck Forschung · 1 | 2020
IM FOKUS

                                                         Sprit
                                                     aus Stiel
                                                          und
                                                      Stängel
                                                            Text: r alph dier m ann

                                                                                      23

Biokraftstoffe der zweiten Generation könnten den Tank-
Teller-Konflikt lösen. Denn für sie werden nicht eigens
Energiepflanzen auf Ackerflächen angebaut, die dann nicht
mehr für die Nahrungsmittelproduktion verfügbar sind.
Weltweit arbeiten Forschende, unter ihnen auch Ferdi Schüth,
Direktor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung, und
Walter Leitner, Direktor am Max-Planck-Institut für chemische
Energiekonversion, daran, Biotreibstoffe wirtschaftlich
konkurrenzfähig zu machen – und emissionsärmer.

                          Max Planck Forschung · 1 | 2020
im fokus

     Millionen Jahre hat die Natur gebraucht, um den Roh­                                                 Treibstoff aus Biomasse
       stoff zu schaffen, der uns eine nahezu grenzenlose
       Mobilität ermöglicht – Erdöl, entstanden aus abge­
       storbenen Meeresorganismen, die unter Sediment­
                                                                                                                   Biomasse
       gestein begraben wurden. Dort waren sie über einen
       sehr langen Zeitraum hohem Druck und ho­
       her Temperatur ausgesetzt. Kraftstoffe wie Ben­
       zin oder Diesel sind also ein Gruß aus der fernen
       Erdgeschichte.

     Doch es geht auch wesentlich schneller: Raffinerien pro­                                                      Rohstoff-
       duzieren aus Raps, Getreide, Mais, Zuckerrüben                                                             aufbereitung

       oder -rohr hochwertige Biokraftstoffe, die Benzin
       und Diesel ähneln. Sie können deshalb in moder-
       nen Verbrennungsmotoren eingesetzt werden, ohne
       dass diese dafür grundlegend verändert werden müs­
       sen. Biokraftstoffe lassen sich über das bestehende                                           H 2O
                                                                                                                                 Schlacke
       Tankstellennetz verteilen. Ihre Energiedichte ist na­                                                       vergasung
                                                                                                                                 asche
                                                                                                     O2
       hezu so hoch wie die fossiler Treibstoffe, Autofahrer
       kommen mit einer Tankfüllung also ähnlich weit. Vor
       allem aber sind sie wesentlich klimafreundlicher als
       ihre fossilen Gegenstücke, da bei ihrer Verbrennung
       im Motor nur so viel Kohlendioxid freigesetzt wird,
       wie die Pflanzen zuvor aufgenommen haben. Klima­                                                                          Staub
                                                                                                                                 störstoffe
       neutral ist der Biosprit allerdings nicht, weil beim                                          H 2o         gasreinigung
       Anbau und bei der Verarbeitung der Pflanzen Treib-                                                                        co 2

       hausgase entstehen.

24         Bioöl für Sprit und chemische
                                Rohstoffe                                                                          synthese

     Wer heute alternative Kraftstoffe wie Biodiesel oder Bio­
       ethanol zapft – sei es pur oder als Beimischung zu
       Benzin („E10“) und Diesel –, füllt sich sogenannte
       Biotreibstoffe der ersten Generation in den Tank. Sie
       werden aus Früchten und Samen von Pflanzen her­                                                              produkt-     neben-
                                                                                                      h2
       gestellt. Damit stehen diese Biokraftstoffe jedoch in                                                      aufbereitung   produkte
       direkter Konkurrenz zur Produktion von Lebens­
        mitteln. So lässt sich etwa aus Rapssamen nicht nur
       ein Kraftstoff, sondern auch ein gesundes Speiseöl
       herstellen. In Deutschland werden heute auf 800 000
       Hektar Energiepflanzen für Treibstoffe angebaut, hat
       die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe (FNR)                                                                 Btl-
                                                                                           Um aus Stroh oder
       ermittelt. Das entspricht immerhin sieben Prozent                                Holzabfällen flüssige     kraftstoff
       der gesamten Ackerfläche der Bundesrepublik.                                 Treibstoffe zu gewinnen,
       Angesichts der stetig wachsenden Weltbevölkerung                                wird Biomasse zerklei­
       und der knappen landwirtschaftlich nutzbaren Flä­                                  nert und getrocknet.
                                                                                       Anschließend wird sie
       che auf der Erde entsteht mit den Biokraftstoffen der                          mithilfe von Sauerstoff
       ­ersten Generation ein Tank-Teller-Konflikt.                                     in Synthesegas umge­
                                                                                     wandelt, das hauptsäch­
     Ein guter Grund für Forschende weltweit – darunter                             lich aus Kohlenmonoxid
                                                                                     und Wasserstoff besteht.
        auch Wissenschaftler an Max-Planck-Instituten –,                               Nachdem Verunreini­
        an Biokraftstoffen zu arbeiten, die sich aus anderen,                         gungen daraus entfernt
        nicht für die Ernährung geeigneten organischen                                 wurden, entstehen bei
        Materialien herstellen lassen. Ziel ist, das Biomasse-                           der Synthese flüssige
                                                                                     Kohlenwasserstoffe, die
       Angebot für klimafreundliche Kraftstoffe zu erwei­                             nach der Aufbereitung
        tern, um dadurch den Konflikt zwischen Nahrungs­                                    als Treibstoffe zur
        mittel- und Treibstoffproduktion zu entschärfen.                                    Verfügung stehen.

                                                                 Max Planck Forschung · 1 | 2020
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F o t o: F r a n k V i n ke n | dwb

                                                                                                                                                                        25

                                        Rohstoff Sägespäne: Holz besteht im Wesentlichen aus Lignocellulose, aus der sich sowohl Biosprit als auch Ausgangsstoffe
                                                                                                                    für die chemische Industrie gewinnen lassen.

                                      Dabei haben es die Forscher darauf abgesehen, mög­                       aber auch aus Schwefel- und Stickstoffverbindungen
                                      lichst viele Bestandteile der Biomasse zu nutzen. Im                     besteht. Letztere müssen entfernt werden, da sie den
                                      Fokus steht dabei die Lignocellulose, die aus Cellu­                     weiteren Prozess behindern. Das Synthesegas wird
                                      lose, Hemi­cellulose und Lignin besteht und das Ge­                      anschließend zu flüssigen Kohlenwasserstoffen verar­
                                      rüst von Pflanzen bildet. Mit ihren hohen Anteilen                       beitet – zum Beispiel im Fischer-Tropsch-Verfahren,
                                      an Kohlen- und Wasserstoff ist sie ein attraktiver                       das bereits vor fast hundert Jahren entwickelt wurde,
                                      Rohstoff für Alternativen zu Benzin und Diesel,                          um Kohle zu verflüssigen. Schließlich wird das
                                      die nichts anderes sind als Kohlenwasserstoffe. Aus                      entstandene Gemisch verschiedener Kohlen­
                                      ihnen lassen sich aber auch Substanzen gewinnen,                         wasserstoffe mit Prozessen aus der Raffination von
                                      aus denen chemische Erzeugnisse wie Kunststoffe                          Erdöl zu Biokraftstoffen verarbeitet. „Mit diesem
                                      hergestellt werden können. Für beide Anwendun­                           Verfahren ist es möglich, sogenannte Drop-in Fuels
                                      gen kommen als Ausgangsmaterial etwa Stroh                               herzustellen, die sich problemlos in den heutigen
                                      oder die Abfälle von Baumpflegearbeiten infrage.                         Verbrennungsmotoren einsetzen lassen“, erklärt
                                      Allein mit der in Deutschland jährlich anfallenden                       Ferdi Schüth, Direktor am Max-Planck-Institut für
                                      Strohmenge ließen sich theoretisch gut drei Prozent                      Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr. Außer­
                                      des heimischen Primärenergiebedarfs decken.                              dem eignet sich der BtL-Prozess für nahezu alle
                                                                                                               Arten von Biomasse.
Biokraftstoffe der zweiten Generation lassen sich auf
   verschiedenen Wegen herstellen. Im sogenannten                                                            Allerdings bringt das Verfahren eine logistische Heraus­
   BtL-Verfahren (Biomass to Liquids) wird aus der                                                              forderung mit sich: Wegen des, gemessen am Volu­
   Biomasse unter Hitze zunächst Synthesegas erzeugt,                                                           men, recht geringen Energiegehalts der Biomasse sind
   das vor allem aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid,                                                             gewaltige Mengen davon nötig, um eine Anlage aus­

                                                                           Max Planck Forschung · 1 | 2020
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