MAX PLANCK FORSCHUNG - WIRTSCHAFT AUF DEM GRÜNEN ZWEIG
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Ausgabe 01 | 2020 Max Planck Forschung Kosmologie Alternsforschung Verhaltensökonomie Die Philosophin des Urpralls Der Methusalem-Cocktail Nur Geduld! wirtschaft auf dem grünen zweig
F o t o: Ok a pi a 2 E igentlich sind Pflanzen viel zu schade, um sie, wie diesen Tabak hier, einfach in Rauch aufgehen zu lassen, denn sie binden große Mengen Kohlendioxid. Pflanzliche Produkte besitzen daher eine ausgeglichenere Kohlendio- xidbilanz als solche, die aus Erdöl erzeugt werden, und belasten das Klima deutlich weniger. Deshalb werden sie für eine nachhaltige Ökonomie unverzichtbar sein – sei es als Kraftstoffe oder sei es als Substanzen für die Medizin. Max Planck Forschung · 1 | 2020
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser! „Nichts ist so beständig wie der Wandel.“ Besser als mit diesem Satz des antiken Philosophen Heraklit könnte unsere heutige Gesellschaft kaum beschrieben werden. Dass auch die Wissenschaft einer permanenten Veränderung unterliegt, zeigt sich an der Corona-Pandemie – sie stellt ständig unerwartete und lebensentscheidende Aufgaben. Nicht nur in dieser Ausnahmesituation spielt die Kommunikation eine wichtige Rolle, die sich selbst unablässig den Umbrüchen in der Medienlandschaft anpassen und stets auf neue Herausforderungen reagieren muss. In dieser bewegten Zeit kann ein Wissenschaftsmagazin nicht stillstehen. So halten 3 Sie heute eine Max Planck Forschung in den Händen, die sich verändert hat. Wir möchten bei der Themenwahl verstärkt auf Aktualität und gesellschaftliche Relevanz achten und Forschungsergebnisse in einen größeren Zusammenhang einbetten. Zudem bündeln wir die umfassenderen Berichte nun unter Wissen aus. Meldungen über Forschungspolitik und Wissenschaft vereinigen wir in Kurz notiert. Die Rubrik Besuch bei stellt Ihnen Persönlichkeit, Biografie und Motivation von Wissenschaft- lerinnen und Wissenschaftlern vor. Und wie Sie sehen, haben wir passend zur inhalt- lichen Neuorientierung eine luftigere Optik gewählt. Veränderung steht auch im Fokus dieser Ausgabe. Denn globale Krisen, allen voran der menschengemachte Klimawandel, bestimmen unser tägliches Leben. Nicht von ungefähr ist Bioökonomie das Thema des Wissenschaftsjahres 2020. Die Forschen- den der Max-Planck-Gesellschaft können dazu eine Menge beitragen. Sie zeigen, dass eine „grüne Wirtschaft“ mehr Chancen bietet, als nur fossile Rohstoffe zu erset- zen – und ganz neue Arten der chemischen Produktion ermöglicht. Wie aber kann der ökonomische Wandel gelingen? Antworten geben die Beiträge in diesem Heft. Viel Spaß beim Lesen! Max Planck Forschung · 1 | 2020
F o t o s: sh u t t e r s t o c k ( l i n k s ob e n ); F r a n k V i n k e n ( r ec h ts ob e n, l i n k s u n t e n ); Wol f r a m S c h e i bl e ( r ec h ts u n t e n ) 38 48 56 72 38 Folgenreich 48 Einfallsreich 56 ErFolgreich 72 Variantenreich Wir sind abhängiger Anna Ijjas stellt das Ein Medikamenten-Mix Synthetisches Elfenbein lässt vom Rohstoff Kohle, als wir Standardmodell Urknall hat bei Fliegen lebens- sich in verschiedenen Farben denken. infrage. verlängernde Wirkung. herstellen. Max Planck Forschung · 1 | 2020
Inhalt 03 | Editorial 48 | besuch bei Anna Ijjas Die Philosophin des Urpralls 06 | orte der forschung Wissenschaftler nehmen Holz- proben im brasilianischen Urwald. wissen aus 56 | Der Methusalem-Cocktail 08 | kurz notiert Fruchtfliegen und Mäuse verraten Wissenschaftlern ganz Erstaunliches über das Älterwerden. 16 | ZUR SACHE 62 | Das Rätsel der himmlischen Wohl keine andere körperliche Blitze Erkrankung belastet so sehr wie Krebs. Die Ursache der Krankheit wurde Ständig registrieren Radioteleskope lange Zeit in der Persönlichkeit der nur tausendstel Sekunden andauernde Betroffenen gesucht. Ein fataler Irrtum. Pulse. Woher stammen diese Fast Radio Bursts? 66 | Nur Geduld! iM FOKUS 5 „Wer warten kann, hat mehr vom Wirtschaft auf dem grünen Zweig Leben“, sagen Verhaltensökonomen und untersuchen, wie sie die Ausdauer 22 | Sprit aus Stiel und Stängel von Kindern und Jugendlichen Für Biokraftstoffe der zweiten fördern können. Generation müssen keine Energiepflan- zen auf Ackerflächen angebaut werden. 72 | Elfenbein aus dem BIOmax So konkurrieren sie nicht mehr mit der Reagenzglas Genome Editing mit Nahrungsmittelerzeugung. Das synthetische Material soll im CRISPR-Cas9 großen Stil produziert werden, 30 | Fabriken auf dem Feld und das nicht nur für Pianotasten. Neugierig Auf WisseNschAft Die Produktionsanlagen der Zukunft Aus ga be 35 // W i nter 2019/2020 stehen auf dem Acker: Pflanzen sollen in Zukunft Substanzen erzeugen, 78 | Post aus ... die bislang nur aufwendig herzustellen sind. Barbados, Karibik Genome Editing mit CRISPR-Cas9 – was ist jetzt alles möglich? Wer würde nicht gerne einmal einen Blick auf einen Drachen vollständige sequenzierung des erbguts eines ausgestorbenen werfen wollen? In ihrem gemeinsamen Buch „How to Build Wollhaarmammuts gelungen ist und damit theoretisch der Zugriff a Dragon or Die Trying“ erklären der US-amerikanische Bio- auf die information für alle seine eigenschaften. Mehr als vier loge und Schriftsteller Paul Knoepfler und seine 17-jährige Milliarden DNA-Basen wurden dafür dekodiert (s. Biomax 33) . Tochter Julie, wie sie ihren eigenen Drachen bauen würden 38 | Eine Inventur des fossilen – dank einer der größten technologischen Innovationen Das Mammut eignet sich wie kaum ein anderes ausgestorbe- der jüngsten Zeit, der Genom-Editierung. Die beiden Auto- nes Wirbeltier zur Analyse seines vorzeitlichen erbguts. Denn ren schreiben: „Während wir über die coole Wissenschaft die fossilien der eiszeitlichen elefanten stammen vorwiegend staunten, die es schon gibt, wurde uns auch klar – inmitten aus dem Permafrostboden sibiriens, wo sie relativ gut erhalten 80 | neu erschienen unserer Drachenbau-Pläne […] –, dass die Dinge für uns bleiben. Der nächste lebende Verwandte des Wollhaarmam- katastrophal schieflaufen könnten.“ Das Buch liefert einen muts ist der asiatische elefant. Nach erbgutanalysen von svante satirischen Blick auf die aktuell bahnbrechendste Wissen- Pääbo und seinem team vom Max-Planck-institut für evolutio- Zeitalters schaft. Wir sollten uns jedoch fragen, was noch Satire und näre Anthropologie haben sich der asiatische elefant und das was schon Realität ist? Wollhaarmammut vor etwa 4 40.000 Jahren in verschiedene Arten aufgespalten. Das genom des Wollhaarmammuts und Die fortschritte in der genomischen Biotechnologie bieten erst- des asiatischen elefanten unterscheidet sich daher „nur“ um mals vielleicht die Möglichkeit, lang ausgestorbene Arten – oder etwa 1,4 Millionen Mutationen: ein asiatischer elefant besteht zumindest „ersatz“-Arten mit Merkmalen und ökologischen funk- also praktisch bereits zu 99,96 Prozent aus Wollhaarmammut. tionen ähnlich wie die der ausgestorbenen Originale – zurückzu- bringen. ein team unter der Leitung von george church an der JURASSIc PARK – von DER FIKTIon ZUR REAlITäT? harvard university versucht, bereits ausgestorbene Mammuts Das harvard Woolly Mammoth revival-team hat 2015 zunächst Der Klimawandel erfordert den wieder zum Leben zu erwecken, indem es das erbgut seines das erbgut eines Wollhaarmammuts analysiert und dann von heute noch lebenden Verwandten, des asiatischen elefanten, bestimmten Mammutgenen exakte Kopien künstlich hergestellt. Buchstabe für Buchstabe umschreibt. Das ist möglich seit for- Diese wurden erfolgreich in Fibroblasten-Zelllinien des asiati- schern der Pennsylvania state university 2008 die erste nahezu schen elefanten eingebaut. „Wir haben vor allem gene genom- SEITE 1 Abschied von Erdöl und Kohle. Doch 82 | fünf fragen von den fossilen Rohstoffen loszu- kommen, wird nicht leicht werden. Zu Protestwahlen 83 | impressum 46 | infografik Der Neandertaler in uns Max Planck Forschung · 1 | 2020
Entnahme einer baumprobe im brasilianischen Regenwald D ie tropischen Regenwälder beherbergen rund zwei Drittel aller bekannten Tier- und Pflanzenarten, und ihre Bedeutung für das Klima der gesamten Erde steht außer Frage. Dass sie uns darüber hinaus auch viel über kulturelle Aspekte vergangener Zeiten erzählen können, wurde 6 dagegen bisher weitgehend vernachlässigt. Die viele Jahrhunderte alten, riesigen Tropenbäume sind Zeitkapseln für den, der sie zu lesen weiß: Während ihrer Lebensspanne nehmen sie Kohlenstoff aus der Luft sowie Wasser und Mineralstoffe aus dem Boden auf und bauen sie in ihr Holz ein. Forschende der Max-Planck-Institute für Menschheitsgeschichte, Entwicklungsbiologie und Biogeochemie kombinieren moderne Analysemethoden wie Dendrochronologie, Radiokohlenstoffdatierung, Isotopen- und Genanalyse und können so Veränderungen in den Wachstumsbedingungen der Bäume rekonstruieren. Hier wird dazu gerade eine Probe aus einem mehrere Hundert Jahre alten Paranussbaum im Tefé-Nationalpark in Brasilien entnommen. Mit den Untersuchungen lassen sich auch die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf das Ökosystem des Waldes nachvollziehen. Denn ganz im Gegenteil zur landläufigen Meinung bewirtschaften die Völker des Regenwaldes diesen bereits seit rund 10 000 Jahren. Einschneidende Ereignisse wie Kriege und Kolonialismus haben ebenso ihre Spuren im Baumarchiv hinterlassen wie Konsumentscheidungen auf dem Weltmarkt, zum Beispiel für Kautschuk oder Edelhölzer. Max Planck Forschung · 1 | 2020
kurz notiert Wie die meisten Insekten leiden auch Bienen unter Pestiziden und Klimaveränderungen. F o t o: sh u t t e r s t o c k Insekten im Klima- wandel Der menschliche Einfluss auf Klima und Ökosysteme wird immer deut- licher: Überall in Europa ist ein gra- vierender Rückgang der Insektenbio- masse zu beobachten. Während be- stäubende Insektenarten vom Aus- sterben bedroht sind, breiten sich jedoch bestimmte Schädlinge und Krankheiten übertragende Arten immer weiter aus. Um die Wechsel- wirkungen zwischen Insekten, Klima ausgezeichnet und Menschen genauer zu untersu- chen, bündeln das Max-Planck-Insti- tut für chemische Ökologie, die Uni- versität Lund und die Schwedische erin schuman Universität für Agrarwissenschaf- ten ihre Kräfte in einem neuen Zent- 8 Erin Schuman, Direktorin am Max-Planck-Institut F o t o: M PI fü r Hi r n f or s c h u ng rum, dem Max Planck Center on next für Hirnforschung, erhält den Louis-Jeantet-Preis Generation Insect Chemical Ecology. für Medizin 2020 für ihre Arbeit zur lokalen Proteinsynthese an Synapsen. Diese bestimmen als Gemeinsam wollen die Partner vor Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen im Gehirn, allem untersuchen, wie sich höhere wie gut die Zellen kommunizieren können. Wie Erin Durchschnittstemperaturen, Treib- Schuman herausfand, werden viele Proteine, welche hausgase und die Luftverschmut- die Synapsen für die Kommunikation benötigen, lokal zung auf den Geruchssinn von Insek- in der Nähe der Synapsen produziert, sodass sie zur ten auswirken und wie sich die Tiere richtigen Zeit am richtigen Ort zur Verfügung stehen. Durch diese Entdeckung lässt sich die Funktionsweise an diese Veränderungen anpassen. von Synapsen besser verstehen, ebenso Störungen in Die Erkenntnisse können einen wich- der neuronalen Entwicklung. Die Louis-Jeantet-Preise tigen Beitrag zur Lösung globaler gehören mit 500 000 Euro zu den bestdotierten Aus- Probleme in Zusammenhang mit der zeichnungen Europas für biomedizinische Forschung. Klimakrise, der Welternährung und Das Geld unterstützt die Preisträger bei ihren weiteren sogar der Bekämpfung von Krank- Arbeiten. heiten liefern. Denn die steigenden Temperaturen begünstigen auch die Ausbreitung von Infektionen, die von Svante Pääbo Insekten übertragen werden, wie das West-Nil-Fieber oder Malaria. Ein Der Japan-Preis 2020 geht an Svante Pääbo, Direktor Ziel der Kooperation im Max Planck am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropolo- Center ist es daher, neue Methoden F o t o: K a r s t e n Möbi us gie. Er gilt als Begründer der Paläogenetik, einer Dis- zur Bekämpfung solcher Erkrankun- ziplin, die sich mit der Analyse genetischer Proben aus Fossilien und prähistorischen Funden befasst. Durch gen zu entwickeln. Offiziell gestartet Vergleiche von DNA-Sequenzen heute lebender ist das Gemeinschaftsprojekt im Ja- Menschen mit denen von Neandertalern und weiteren nuar 2020 im schwedischen Alnarp. menschlichen Vorfahren erforscht Pääbo, welche www.mpg.de/14398598 genetischen Veränderungen im Laufe der Evolutions- geschichte den modernen Menschen geprägt haben. Zu Pääbos großen wissenschaftlichen Erfolgen zählen die komplette Entschlüsselung der mitochondrialen DNA des Neandertalers 2008 sowie der Genom- sequenz des Neandertalers. Der Japan-Preis wird gerne als japanischer Nobelpreis bezeichnet und ist mit 50 Millionen Yen (etwa 490 000 Euro) dotiert. Max Planck Forschung · 1 | 2020
kurz notiert Kurz notiert Bi l d: C D C / A l i s sa Ec k e rt, M S; Da n H ig gi ns , M A M S Spitzen- forschung in Polen Das von der Max-Planck-Gesell- schaft initiierte Dioscuri-Programm 9 in Polen wird um drei Zentren er- weitert. Der Mathematiker Paweł Dłotko, der Biologe Gracjan Michlew- ski und der Physiker Bartłomiej Wacław werden die Zentren leiten und dort international wettbewerbs- fähige und innovative Forschungs- Wissenschaftler suchen nach einem gruppen etablieren. Ziel des Dio- Impfstoff gegen das Coronavirus, scuri-Programms ist es, Forsche- Immunschub hier im 3-D-Modell. rinnen und Forscher von interna- tional renommierten Stationen in gegen Corona Westeuropa und den USA zu gewin- nen und beim Aufbau einer eige- Forschende des Max-Planck-Insti- Gefahr schwerer Krankheitsver- nen Forschungsgruppe in ihrer Hei- tuts für Infektionsbiologie haben ei- läufe, und die Todesrate sinkt. Der mat zu unterstützen. So trägt es dazu nen Impfstoffkandidaten gegen Tu- bei Max-Planck neu entwickelte Tu- bei, das bestehende Leistungsge- berkulose entwickelt, der auch eine berkulose-Impfstoff hat sich in den fälle zwischen West- und Osteuropa Infektion mit SARS-CoV-2 abmil- bisherigen klinischen Studien als gut zu überwinden. Die ersten zwei Dio- dern könnte. Der Stoff basiert auf verträglich und wirksamer als die scuri-Zentren haben 2019 ihre Arbeit dem Impfstoff BCG, der Anfang Standardimpfung mit BCG erwie- aufgenommen. des 20. Jahrhunderts gegen Tuber- sen. Das lässt hoffen, dass der neue www.mpg.de/14308907 kulose entdeckt wurde. Studien an Impfstoff auch die Symptome einer Mäusen haben gezeigt, dass BCG SARS-CoV-2-Infektion besser ein- die Folgen von Virusinfektionen der dämmen kann. Seine Wirksamkeit Atemwege abschwächen kann. So gegen Corona soll nun in einer groß weisen an Grippe erkrankte Mäuse angelegten Studie in deutschen Kli- weniger Schädigungen an den Lun- niken getestet werden. Als Betei- gen auf, wenn sie zuvor mit BCG ligte sind vor allem Beschäftigte im geimpft wurden. Zudem gibt es Hin- Gesundheitswesen und ältere Men- weise, dass die Impfung das Immun- schen vorgesehen, die besonders von system gegen Virusinfektionen ak- der Erkrankung bedroht sind. tiviert. Dadurch verringert sich die www.mpg.de/14608782 Max Planck Forschung · 1 | 2020
kurz notiert Querschnitt durch den Hip- pocampus einer Maus. Nach der Gabe von Erythropoietin weisen die Tiere mehr Nerven- zellen in dieser für Lernen und Gedächtnis zentralen Gehirnregion auf. Körpereige- nes Doping fürs Gehirn Erythropoietin, kurz Epo, steigert als berüchtigtes Dopingmittel die körperliche Leistungsfähigkeit, es wirkt aber auch als Wachstumsfak- tor für Nervenzellen. So verringert es nach einem Schlaganfall die Schä- den im Gehirn. Auch Patienten, de- 10 ren geistige Fähigkeiten durch eine Schizophrenie, Depression, bipolare Erkrankung oder multiple Sklerose eingeschränkt sind, werden mit Epo wieder leistungsfähiger. Forscher vom Max-Planck-Institut für expe- rimentelle Medizin in Göttingen haben nun herausgefunden, wie die Substanz im Gehirn wirkt: Demnach lösen geistige Herausforderungen in den Nervenzellen des Gehirns einen leichten Sauerstoffmangel aus. Da- durch wird mehr Epo mitsamt seinen Rezeptoren produziert. Der Wachs- tumsfaktor steigert anschließend die Aktivität dieser Nervenzellen, be- wirkt die Bildung neuer Nervenzel- len aus benachbarten Vorläuferzel- len und erhöht die Vernetzung der Neuronen. Eine Epo-Einnahme ver- stärkt diesen natürlichen Effekt: Die Versuchsergebnisse zeigen, dass er- wachsene Mäuse nach der Gabe des Wachstumsfaktors 20 Prozent mehr Nervenzellen in der Pyramiden- schicht des Hippocampus bilden, ei- ner für Lernen und Gedächtnis ent- scheidenden Hirnregion. www.mpg.de/14569809 Bi l d: M PI fü r Ps yc h i at r i e Max Planck Forschung · 1 | 2020
kurz notiert Das Denken der anderen F o t o: NASA / J PL - C a lt ec h Um zu verstehen, was andere denken, und einzuschätzen, wie sie sich ver- halten, entwickeln wir in der Kind- heit die Fähigkeit, uns in die Perspek- tive anderer hineinzudenken. Bislang war die Forschung uneins darüber, ab welchem Alter Kinder diese Fähig- keit besitzen. Eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften zeigt, dass erst Vierjährige wirklich in der Lage sind zu verstehen, was andere denken, und deren Handlungen zu antizipie- ren. Wie die Forschenden mittels Eye- Kundschafter auf dem Roten Planeten: InSight – hier eine Illustration der Sonde auf der Oberfläche – liefert wertvolle Einblicke in das Innenleben des Mars. tracking beobachteten, können zwar schon jüngere Kinder die Handlun- gen einer Comicfigur vorhersehen. Werden sie aber danach gefragt, ge- der mars bebt ben sie die falsche Antwort. Den Grund dafür fanden die Forschenden Der Rote Planet ist durchaus unru- seismisch aktiv ist. Allerdings sind bei Messungen der Hirnaktivität: Bei hig. Nicht weniger als 174 Marsbe- die Erschütterungen auf unserem den beiden Entscheidungsprozessen – ben hat das Seismometer der Sonde Nachbarn im All lange nicht so hef- der nonverbalen Variante, die sich im InSight in den ersten zehn Monaten tig wie auf der Erde: Keines der regis- Blick äußert, und der verbalen in der seit seiner Inbetriebnahme Ende Fe- trierten Beben erreichte eine Stärke Antwort – sind verschiedene Hirn- bruar 2019 gemessen. Das entspricht von mehr als 4. Bei 150 Beben waren durchschnittlich etwas mehr als ei- nur Wellen zu messen, die sich in der 11 strukturen beteiligt. Die Hirnregi- onen, mit deren Hilfe wir wirklich nem Beben alle zwei Tage. Die Da- Kruste des Mars ausbreiteten. Hin- verstehen, was andere denken, ist erst ten, die Wissenschaftler unter Be- gegen durchliefen die restlichen 24 im Alter von etwa vier Jahren so aus- teiligung des Max-Planck-Instituts Beben den Gesteinsmantel des Mars gereift, dass wir das auch sprachlich für Sonnensystemforschung gewon- und wiesen ähnliche Charakteristika ausdrücken können. In der frühen nen haben, liefern den ersten umfas- auf wie irdische Beben. Kindheit gibt es aber eine andere Ge- senden Beweis dafür, dass neben der www.mpg.de/14506985 hirnfunktion, die es ermöglicht, zu- Erde und dem Mond auch der Mars mindest den Blickwinkel des anderen zu übernehmen. www.mpg.de/14559563 M use e n z u B e r l i n – Pr euSSi s c h e r K u lt u r b e si t z F o t o: R at hge n F or s c h u ngsl a b or , S ta at l ic h e Von Hirten und Helices „Die Anbetung der Hirten“ des ita- hand der genauen Strukturdaten des lienischen Bildhauers Giuseppe wasserhaltigen Calciumacetats kön- Torretti lässt nicht nur Liebhaber nen Restauratoren das gleiche Korro- des Barock staunen, sondern auch sionsprodukt auch an anderen Mar- Chemiker. Denn ein durch Korro- morarbeiten identifizieren und dann sion entstandenes Salz, das an dem möglicherweise die Prozesse unter- restaurierten Marmorrelief knub- binden, in denen die Ausblühungen belige Ausblühungen bildet, kris- entstehen. Die anorganischen He- tallisiert in der gleichen Dreifach- lices könnten sich aber auch als Vor- spirale wie das Protein Kollagen. lage verwenden lassen, um andere Das haben Forschende am Stuttgar- chemische Substanzen in diese Form „Die Anbetung der Hirten“ überstand den 2. Weltkrieg ter Max-Planck-Institut für Festkör- zu bringen. nur in Fragmenten (bräunliche Teile), hier kombiniert mit perforschung herausgefunden. An- www.mpg.de/14577597 einem Schwarz-Weiß-Foto des unversehrten Reliefs. Max Planck Forschung · 1 | 2020
kurz notiert Müllabfuhr für Corona- viren Wenn Zellen gestresst sind, entsor- gen sie verstärkt überflüssige oder beschädigte Zellteile. Durch die Bi l d: S c i e nc e Pho t o Lib r a ry / M u rt i , Dr . G opa l zelleigene Müllabfuhr können sie auch Viren loswerden. Ein Team des Max-Planck-Instituts für Psy- chiatrie und des Uniklinikums Bonn ist auf ein Protein für die Beseiti- gung von Abfallstoffen gestoßen, das durch bereits auf dem Markt befind- liche Antibiotika und Medikamente Hilfsbereite gegen Darmwürmer verstärkt Vi- ren entsorgt. Zusammen mit Wis- Papageien senschaftlern der Charité in Berlin haben die Forscher entdeckt, dass Papageien sind nicht nur außeror- die Wirkstoffe die Vermehrung des dentlich intelligent, sie besitzen auch MERS-Coronavirus, eines Ver- ein hohes Maß an Einfühlungsver- wandten des neuen Coronavirus mögen und Hilfsbereitschaft. Dies SARS-CoV-2, eindämmen können. ist das Ergebnis von Studien, die For- Das MERS-Virus kann beim Men- scherinnen an der Außenstelle Tene- schen eine schwere Lungenentzün- riffa des Max-Planck-Instituts für dung auslösen, die bei jedem dritten Ornithologie in Seewiesen an Grau- Infizierten tödlich verläuft. Gegen papageien durchgeführt haben. In den Erreger gibt es wie gegen SARS- den Tests verteilten die Forschenden CoV-2 bislang weder Medikamente 12 an einige Vögel aus einer Gruppe Elektronenmikroskop- noch einen Impfstoff. Ob die Wirk- Metallmarken, die diese gegen Futter Aufnahme von stoffe die Beseitigung von Coronavi- eintauschen konnten. Dabei verhiel- Coronaviren. ren im Menschen ankurbeln, muss ten sich Papageien, die eine Marke sich erst noch zeigen. Unterdessen bekommen hatten, in den meisten untersuchen auch Wissenschaft- Fällen ausgesprochen selbstlos und ler am Lead Discovery Center in reichten die Marke mit dem Schna- Dortmund, einer Ausgründung der bel an ihren Nachbarn weiter, wenn Max-Planck-Gesellschaft, andere dieser keine Marke erhielt. Papageien Substanzen, die die Entsorgungsma- erkennen also offenbar, wann ein Art- schinerie ankurbeln und zur Behand- genosse von ihrer Hilfe profitieren lung eingesetzt werden können. kann und wann nicht. In weiteren www.mpg.de/14642215 Untersuchungen beobachteten die Forschenden zudem, dass Graupa- In den Verhaltensexperimenten pageien nicht neidisch sind, wenn ein erhalten die Papageien Metall- Artgenosse für die gleiche Leistung marken, die sie dann gegen höher belohnt wird oder für die glei- Futter eintauschen können. che Belohnung weniger hart arbeiten muss. Möglicherweise liegt dieses Verhalten nicht an einem mangeln- den Sinn für Fairness, sondern an ei- F o t o: C om pa r at iv e C o gn i t ion Grou p ner ausgeprägten Paarbindung. An- ders als Schimpansen, die eine solche Ungleichbehandlung nicht klaglos hinnehmen, leben Graupapageien in der Regel ein Leben lang mit einem Partner zusammen. Tiere mit dauer- haften Partnerschaften können wahr- scheinlich toleranter gegenüber Un- gleichheit sein als nicht monogame Arten, da sich die Großzügigkeit auf Dauer trotzdem auszahlt. www.mpg.de/14319760 Max Planck Forschung · 1 | 2020
kurz notiert F o t o: Wi m Hoe k / sh u t t e r s t o c k 13 Weibliche Mönchsgrasmücke. Die Art ist in ihrem Zugverhalten sehr variabel: Je nach Herkunft fliegen die Vögel unterschiedlich weit in ihre Überwinterungsgebiete. Manche Vögel ziehen bei jedem ziehen auch überhaupt nicht. Klima Kuckucke aus Kamtschatka flie- ben im Mittel relativ konstant. An- gen zum Überwintern nach Angola ders in Nord- und Südamerika: Dort – eine Strecke von etwa 14 000 Kilo- gab es während der Eiszeit 20 Prozent metern. Wohin und wie weit die Vö- weniger Zugvogel-Arten. Viele waren gel fliegen, wird vor allem vom Klima während der Eiszeit offenbar Stand- bestimmt. Dieses hat sich jedoch über vögel und wurden erst danach Zug- die letzten 50 000 Jahre immer wieder vögel. Die Zugstrecken waren zudem stark gewandelt. Forscherinnen und 40 Prozent kürzer als heute. Der Vo- Forscher des Max Planck - Yale Cen- gelzug hat also selbst starke Klima- ter for Biodiversity Movement and veränderungen überdauert. Wie sich Global Change haben am Computer der menschengemachte Klimawan- modelliert, wie sich der Vogelzug auf del auf den Zug der Vögel auswirkt, der Erde während dieser Zeit entwi- wissen die Forscher noch nicht. Er ckelt hat. Die Simulationen zeigen, verläuft schneller als frühere Klima- dass Vögel auch während der letzten veränderungen, zudem verschlech- Eiszeit zwischen Sommer- und Win- tern sich die Lebensbedingungen für tergebieten hin- und herpendelten. Vögel in vielerlei Hinsicht, zum Bei- Wie Zugvögel auf Klimaveränderun- spiel durch den Verlust von Lebens- gen reagieren, unterscheidet sich der raum und Nahrung. Das Computer- Berechnung zufolge allerdings regio- modell kann nun helfen, die Folgen nal: So gab es in Europa, Asien und dieser Veränderungen auf den Vogel- Afrika während der letzten Eiszeit zug vorherzusagen. etwa gleich viele Zugvogel-Arten wie www.mpg.de/14473814 heute. Auch die Flugdistanzen blie- Max Planck Forschung · 1 | 2020
kurz notiert Krebsartiger Stoffwech- sel lässt Gehirn wachsen Die Größe des menschlichen Ge- ganellen strömt. Dank der höheren hirns hat im Laufe der Evolution Kalziumkonzentration können die erheblich zugenommen. Wissen- Mitochondrien über den Stoffwech- Bi l d: M PI - C B G / Na m ba et a l . schaftler am Max-Planck-Institut selweg der Glutaminolyse Energie für molekulare Zellbiologie und Ge- erzeugen und die Hirnstammzellen netik in Dresden haben herausge- dazu bringen, sich stärker zu vermeh- funden, dass sich die sogenannten ren. Eine hohe Glutaminolyse-Rate basalen Hirnstammzellen dank ei- ist unter anderem typisch für Krebs- nes als ARHGAP11B bezeichneten zellen. Das menschliche Gehirn ist Gens vermehren können. Dadurch im Laufe der Evolution also offen- werden mehr Nervenzellen gebildet. bar auch deshalb so stark gewachsen, Nun wissen die Forscher auch, wie weil sich der menschliche Stoffwech- das Gen funktioniert: Zusammen sel so veränderte, dass er im Gehirn mit einem weiteren Protein schließt für einen begrenzten Zeitraum auf es eine Pore in der Mitochondrien- einen krebsartigen Stoffwechsel um- membran der Stammzellen und ver- schalten kann. hindert so, dass Kalzium aus den Or- www.mpg.de/14323143 Das ARHGAP11B-Protein (magenta) in einer basalen Hirnstammzelle (blau: Zellkern). Flotte Mikroschwimmer Ein Mikroschwimmer aus dem bildet sich in seinem Hohlraum eine Max-Planck-Institut für Intelligente Luftblase. Diese bringen die For- 14 Systeme in Stuttgart überholt seine schenden mit Ultraschall zum Pul- natürlichen Vorbilder. Ein Team sieren, sodass der Mikroschwimmer des Instituts hat einen Mikrorobo- durch den Rückstoß vorwärtsgetrie- ter entwickelt, der deutlich schneller ben wird. Solche akustisch angetrie- Feedback, schwimmt als Bakterien oder Algen. benen Mini-U-Boote könnten künf- Der winzige Schwimmkörper hat die tig etwa in minimal-invasiven me- aber richtig Form einer hohlen Halbkugel mit ei- dizinischen Behandlungen zum ner kleinen Öffnung am Boden. So- Einsatz kommen. Feedback gilt als wichtiger Bestand- bald er in eine Flüssigkeit eintaucht, www.mpg.de/14420595 teil einer erfolgreichen Unterneh- menskultur. Richtig eingesetzt, kann es die Arbeitsleistung und die Zu- sammenarbeit im Team stärken. In einem Experiment haben Wissen- schaftler des Max-Planck-Instituts Rauchen ohne Qualm für Bildungsforschung untersucht, welchen Einfluss die Art des Feed- Vor passivem Rauchen schützt selbst tionen von 35 flüchtigen organischen backs auf das weitere Verhalten hat. das Rauchverbot in öffentlichen Ein- Verbindungen, die im Zigaretten- Am besten für die Zusammenarbeit richtungen nicht. Mit Schadstoffen rauch enthalten sind. Demnach at- war Feedback, das den Teilnehmen- wie etwa Nikotin und Feinstaub aus men Zuschauer, die eine Stunde lang I l lus t r at ion: sh u t t e r s t o c k den die Leistung der Gruppe insge- dem Zigarettenrauch ist die Luft in in dem Kinosaal sitzen, Schadstoff- samt widerspiegelte. Ranking-Feed- Räumen auch belastet, wenn sich mengen von bis zu zehn passiv ge- back, also Informationen, welche die darin Personen aufhalten oder auf- rauchten Zigaretten ein. Wie hoch eigene Leistung im Vergleich zu den gehalten haben, die vorher woan- die Belastung durch die einzelnen anderen Teilnehmenden einstuften, ders geraucht haben. Denn deren Schadstoffe ist, hängt unter anderem führte hingegen dazu, dass sich die Kleidung, Haut und Haare verströ- von deren Flüchtigkeit ab. Im Fall des Probanden immer stärker als Kon- men die Stoffe. Das indirekte Pas- krebserregenden Benzols entsprach kurrenten sahen. Das ging so weit, sivrauchen haben Forschende des sie in einer Stunde zum Beispiel dem dass sie ihr Handeln nur noch darauf Max-Planck-Instituts für Chemie Qualm von acht Zigaretten. In weni- ausrichteten, andere auszustechen, und der Yale University jetzt erst- ger gut belüfteten Räumen als einem sogar wenn sie damit der Gruppe und mals mit Messungen bestätigt. Sie Kinosaal dürfte die Belastung noch so letztlich auch sich selbst schadeten. protokollierten in einem Kinosaal größer sein. www.mpg.de/14434978 über mehrere Tage die Konzentra- www.mpg.de/14558058 Max Planck Forschung · 1 | 2020
Exot mit elf Kilometer Radius Neutronensterne sind kompakte, ex- trem dichte Überreste von Superno- narien aus, die zum einen zu den Gravitationswellen von GW170817 für Chemie va-Explosionen. Gelegentlich ver- schmelzen zwei dieser exotischen passten und die zum anderen bei der Verschmelzung einen kurzle- und Life Sciences stellaren Kugeln – so wie beim Er- bigen hypermassereichen Neutro- eignis GW170817, das Astronomen nenstern erzeugen. Drittens muss- im August 2017 durch Gravitations- ten die in Betracht gezogenen Mo- wellen und im gesamten elektroma- delle mit bekannten Obergrenzen Von Chemikern für Chemiker – gnetischen Spektrum beobachtet ha- der Masse übereinstimmen, welche Nutzen Sie das Netzwerk ben. Aus den Daten zu GW170817 die Astrophysiker aus elektromag- und aus theoretischen Überlegungen netischen Beobachtungen der Quelle der GDCh: ermittelten die Forscher um Collin von GW170817 ermittelt hatten. Das Capano aus dem Max-Planck-Insti- Ergebnis: Ein typischer Neutronen- Stellenmarkt – Online und in tut für Gravitationsphysik den Ra- stern mit der 1,4-fachen Masse unse- den Nachrichten aus der Chemie dius typischer Neutronensterne, wie rer Sonne hat einen Radius von etwa CheMento – das Mentoring sie bei GW170817 kollidierten. Die elf Kilometern. Programm der GDCh für chemische Wissenschaftler wählten dabei Sze- www.mpg.de/14573502 Nachwuchskräfte Publikationen rund um die Karriere Bewerbungsseminare und -workshops Bi l d: ESO / L . C a l ç a da Jobbörsen und Vorträge A nz e ige Wunderkugel: Neutronensterne besitzen eine größere Masse als die Sonne, in ihnen ist die Materie aber unvor- stellbar dicht gepackt. Daher haben sie typischerweise einen Radius von nur elf Kilometern. Die ersten Salmonellen Der Beginn der Landwirtschaft war ierten acht alte Genome des Krank- ein Meilenstein in der Geschichte der heitserregers Salmonella enterica. Menschheit. Schon lange wird ver- Ihre Analyse ergab, dass sie Vorläufer mutet, dass durch den engen Kon- des Bakterienstammes Paratyphi C takt mit Tieren viele neue Krank- waren – ein Stamm, der inzwischen heiten beim Menschen, sogenannte ausschließlich Menschen infiziert, Zoonosen, aufkamen. Ein Team um aber nur selten vorkommt. Die histo- Wissenschaftler des Max-Planck-In- rischen Salmonellen hingegen steck- stituts für Menschheitsgeschichte hat ten wahrscheinlich Tiere genauso an nun Bakterien aus bis zu 6500 Jahre wie Menschen. Das legt nahe, dass alten Skeletten von Landwirten un- die bäuerliche Lebensweise tatsäch- tersucht und damit neues Licht in lich die Entstehung neuer Krankhei- die Entwicklung von Zoonosen ge- ten begünstigte. bracht. Die Forschenden rekonstru- www.mpg.de/14506291 Gesellschaft Deutscher Chemiker Max Planck Forschung · 1 | 2020 www.gdch.de/karriere
ZWISCHEN SCHULD, ANGST UND HOFFNUNG Die Diagnose Krebs ist ein Schock. Wohl keine andere körperliche Erkrankung belastet die Betroffenen so sehr. Die Ursache der Krankheit wurde lange Zeit in der Persönlichkeit der Patienten gesucht. Ein fataler Irrtum, wie unsere Autorin 16 anhand der historischen Entwicklung zeigt. Möglicherweise ist Ihnen das auch schon passiert. Ein guter Freund sagt unvermittelt: „Ich habe Krebs.“ Sie wissen im ersten Moment nicht, was Sie sagen sollen. Sie möchten ihn aufmuntern, optimistisch sein. Und da haben Sie es auch schon gesagt, bevor Sie recht darüber nachgedacht haben: „Du wirst das schaffen. Du bist doch so ein positiv denkender Mensch.“ Und wenn er es nicht „schafft“? Was haben Sie da eigentlich gesagt? Wenn Ihr Freund sterben sollte, liegt es dann daran, dass er nicht genug gekämpft, nicht ausreichend gehofft hat, seiner Krankheit gegenüber nicht positiv genug eingestellt war? Psychosomatik, Psychoonkologie und Psychoneuroimmunologie beschäf tigen sich seit vielen Jahren mit der Frage, inwiefern die Psyche Einfluss auf den Körper hat. Die bisherigen Antworten aus der Forschung sehen komplexe und keineswegs eindeutige Zusammenhänge zwischen Körper und Gefühl bei der Entstehung und Heilung von Krankheiten. Dennoch begegnet man, wann immer das Gespräch im Alltag auf Krebs kommt, Einschätzungen dieser Art: Unterdrückte Gefühle machen Krebs, Stress und Angst schaden der Heilung, Hoffnung hilft. Solche Annahmen können dazu beitragen, einer Krebserkrankung aktiv zu begegnen – sie können aber auch als Schuldzuweisung an den Kranken verstanden werden und eine schwere Bürde darstellen. Wie stark sich hier wissenschaftliche Forschung und gesellschaftliche Wahrnehmung gegenseitig beeinflussen und den Umgang mit an Krebs erkrankten Menschen prägen, zeigt ein Blick in die Geschichte psychosomatischer Modelle der Krebsentstehung. Max Planck Forschung · 1 | 2020
ZUR Sache Bettina Hitzer 17 Bettina Hitzer hat in Geschichte promoviert und war von 2014 bis Januar 2020 Leiterin einer Minerva-Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Im Jahr 2017 habilitierte sie sich an der Freien Universität Berlin, wo sie auch als Privatdozentin tätig ist. Für ihre vielseitigen Forschungs- arbeiten wurde sie 2016 mit dem Walter de Gruyter-Preis der Berlin-Brandenburgi- schen Akademie der Wissenschaften ausgezeich- net. Bettina Hitzer lebt mit ihrer Familie in Berlin. I llust r ation: S ophie K ette r e r Max Planck Forschung · 1 | 2020
Bereits in der Antike wurde Melancholie mit der Entstehung von Krebs in Verbindung gebracht. Allerdings gerieten solche Vermutungen im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr ins Abseits. Spätestens mit Rudolf Virchows Zellularpathologie (1858) wurde Krebs als Krankheit verstan den, die auf der zellulären Ebene ihren Ursprung nimmt – dass Gefühle auf die nun im Mikroskop erkennbaren Zellen einen Ein Die Studien fluss haben könnten, erschien ausgeschlossen. Trotzdem haben offenbar praktizierende Ärzte (und bald auch Ärztinnen) einen themati- solchen Zusammenhang nicht ad acta gelegt. Ratgeber für Ärzte sierten das warnten immer wieder davor, den Patienten eine Krebsdiagnose mitzuteilen, weil eine solche Mitteilung sie in tiefe Hoffnungslosig Verhältnis keit und Verzweiflung stürzen würde. Dies sei auch medizinisch schädlich, da die dadurch ausgelösten Angstgefühle die ohnehin der patientin geringen Heilungschancen vermindern würden. zu ihrer Die körperlichen Effekte von Angst zogen auch die Aufmerk Sexualität samkeit der Psychosomatik auf sich, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit der gerade erst entstandenen Psychoanalyse neu formierte. Angst firmierte als Krankheitsursache Nummer eins. Die meisten Psychosomatiker nahmen allerdings an, dass nur Krankheiten, die auf funktionellen, später chronifi 18 zierten Störungen beruhen, durch Angst entstehen. Viktor von Weizsäcker, einer der Gründungsväter der deutschen Psychosomatik, gab noch 1947 die Mehrheitsmeinung seiner Fachkollegen wieder, als er konstatierte, im Falle von Krebs scheitere eine psychosomatische Erklärung am „Granit des materiellen Vorganges“. Diese änderte sich jedoch schon bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Verantwortlich dafür war ein komplexes Faktorenbündel. So ging die experimentelle Krebsforschung der 1930er- und 1940er-Jahre neue Wege und konzentrierte sich zunehmend auf physiologische Vor gänge. Es wurde nicht mehr nach der einen Krebsursache gefahndet, sondern die Krebsentstehung als multifaktorielles Geschehen verstanden. Dass auch die Psyche daran beteiligt sein könnte, schien nun besser vorstellbar, zumal die Laborforschung und die konventionellen Therapien (Operation und Bestrahlung) bis zu diesem Zeitpunkt die Heilungschan cen von Krebskranken kaum erhöht hatten. Bis Ende der 1930er-Jahre hatte sich die Psychosomatik in den USA so weit etabliert, dass sie Geltung als vollwertige medizinische Disziplin beanspruchte. Sie stand in enger Verbindung mit der Psychiatrie und bediente sich auf ihrem Weg zur wissenschaftlichen Anerkennung frühzei tig psychometrischer Verfahren. Dazu gehörten Persönlichkeitstests wie der nach seinem Schweizer Erfinder benannte Rorschachtest, der Ende der 1930er-Jahre gerade seinen kometenhaften Aufstieg zum jahrzehnte lang am häufigsten benutzten psychologischen Testverfahren begann. Bei diesem Test müssen die Probanden benennen, welche Lebewesen oder Dinge sie in einer Reihe von Tintenklecksbildern erkennen. Dieser Test Max Planck Forschung · 1 | 2020
Zur Sache wurde zu Beginn der 1950er-Jahre auch Krebspatienten und -patientinnen vorgelegt. Ziel war es zu ergründen, ob spezifische Persönlichkeitszüge oder -konflikte als Krebsursache infrage kamen. Anfangs konzentrierten sich diese Studien fast ausschließlich auf Krebs patientinnen mit Brust- oder Gebärmutterhalskrebs. Begründet wurde die Auswahl mit dem Verweis darauf, dass dies die häufigsten Krebserkran- kungen amerikanischer Frauen waren. Aber warum wurden nicht auch Männer mit Magen- oder Lungenkrebs untersucht – die unter Männern damals am weitesten verbreiteten Krebserkrankungen? Dass hier gesell- schaftliche Auseinandersetzungen über die Rolle der Frau das Studiendesign beeinflussten, ist offenkundig. Und tatsächlich Gab es nicht thematisierten die Studienergebnisse überwiegend zwei Aspekte der Persönlichkeit: die Beziehung einer Patientin zu ihrer Mutter auffällige und ihrer eigenen Mütterlichkeit sowie ihr Verhältnis zur eigenen Parallelen Sexualität. Ebendiese beiden Aspekte von Weiblichkeit waren zeitgenössisch hoch umstritten und im Wandel begriffen. zwischen dem Im Zeichen der Bindungspsychologie der frühen Nachkriegszeit SpieSSbürger wurde in den USA die gefühlskalte, bindungsunfähige oder dem Kind in ambivalenter Weise zugewandte Mutter problematisiert. und der Dies traf sowohl für die Diskussion um Schizophrenie als auch 19 Krebspersön- für die psychosomatische Krebsforschung zu. In diesem Sinne wurde Krebs oft auch als eine Form der Organpsychose verstan- lichkeit? den, das heißt als eine ins Körperliche verlagerte pathologische Parallelentwicklung zur Schizophrenie. Eine gefühlskalte Mutter prägte – so die Annahme – den Umgang der Töchter mit Gefüh- len. Die Töchter lernten nicht, unangenehme und sozial wenig akzeptierte Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Sie „funktionierten“ um den Preis der Verdrängung und Selbstentfremdung, latent depressiv, aber nicht in der Lage, mit späteren Verlusterfahrungen umzugehen. Dieses Persönlichkeitsbild galt zunächst als (eine) spezifische Ursache für Brust- und Gebärmutterhalskrebserkrankungen. Doch gegen Ende der 1950er-Jahre wurden auch Frauen mit anderen Krebserkrankungen sowie männliche Krebspatienten in Persönlichkeitsstudien einbezogen. Die Idee einer für alle Krebserkrankungen ursächlichen oder disponierenden Persönlichkeitsstruktur begann Gestalt anzunehmen. Sie verbreitete sich umso mehr, als nun auch laborexperimentelle Studien als Argument für die Existenz einer Krebspersönlichkeit ins Feld geführt werden konnten. Voraussetzung war der Siegeszug des Stressbegriffs um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Physiologie, wurde nun aber auch als psychologisches Phänomen begriffen. Nun ließ sich im Tierexperiment erforschen, ob durch frühe Separation von den Muttertieren emotional vernachlässigte oder durch Elektroschocks miss- handelte Ratten tumoranfälliger waren als ihre weniger gestressten Artgenossen. Mehr noch: Psychosomatische Forschung ließ sich mit der Max Planck Forschung · 1 | 2020
Erforschung karzinogener Substanzen verbinden. Waren gut umsorgte Ratten oder Mäuse vielleicht weniger anfällig für die karzinogene Wirkung von Teer als verängstigte und isoliert gehaltene Versuchstiere? Manche Testreihen schienen solche Annahmen zu rechtfertigen und wurden als weiterer wissenschaftlicher Beweis für die Ergebnisse Ratgeber der psychosomatischen Krebsforschung herangezogen. empfehlen, Diese Resultate, verdichtet und vereinfacht zur Idee einer Krebs die Diagnose persönlichkeit, stießen Ende der 1960er-Jahre auf eine erstaun lich große mediale Resonanz. Sie wurden in den Kreisen der als Wende- Studentenbewegung aufgegriffen und politisiert. In der Bundes republik wurde am Modell der Krebspersönlichkeit exemplarisch punkt und diskutiert, ob bestimmte Gefühlshaltungen und Beziehungsfor Neubeginn zu men pathologisch seien – und zwar sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Gab es nicht auffällige Pa- begreifen rallelen zwischen dem Spießbürger und der Krebspersönlichkeit: die freundliche Fassade, hinter der negative Gefühle versteckt und verdrängt wurden, die im Namen der Wohlanständigkeit vollzogene Selbstentfremdung, Konfliktscheu und damit einhergehende Autoritätshörigkeit? 20 Solche Fragen stellte sich der Zürcher Industriellensohn Fritz Angst, der unter dem Pseudonym Fritz Zorn die Autobiografie Mars publizierte, eines der Kultbücher der späten 1970er- und der 1980er-Jahre. Er verstand seine Krebserkrankung als Folge seiner vielen verschluckten Tränen, so wie es ihm seine bürgerlich-kalte Erziehung abverlangt habe. Insofern – und das war eine neue Wendung – sei der Krebs auch etwas Positives, ein Weckruf, der ihm die Krankheit seiner Seele bewusst gemacht habe. Darum eröffne die Krebsdiagnose die Möglichkeit, sein Leben radikal umzugestalten, es überhaupt erst richtig und „authentisch“ zu leben – selbst wenn ihm dafür nur kurze Zeit bliebe. Fritz Angst-Zorn starb im November 1976, kurz bevor sein Buch veröffent licht wurde. Seine Deutung der Krebskrankheit wurde von vielen geteilt. Immer zahlreicher wurden die Ratgeberbücher, die die Diagnose Krebs als Wendepunkt und Neubeginn eines wahrhaftigeren Lebens begriffen. Ein veränderter Umgang mit sich selbst sollte aber auch größere Chancen auf Heilung versprechen. Doch solche psychosomatischen Deutungen der Krebskrankheit blieben nicht unwidersprochen. Weite Verbreitung fand die pointierte Kritik der amerikanischen Intellektuellen Susan Sontag. Als ehemalige Brustkrebs patientin verurteilte Sontag psychosomatische Krankheitsdeutungen, weil sie damit eine Schuldzuweisung an die Adresse der Erkrankten einherge hen sah. Als ihr Essay Illness as Metaphor 1978 erschien, war das Modell Krebspersönlichkeit allerdings bereits innerhalb der Psychosomatik umstritten. Welchen Aufschluss über die ursprüngliche Persönlichkeits struktur konnten Studien geben, deren Teilnehmerinnen nicht nur den Max Planck Forschung · 1 | 2020
Zur Sache Schock einer Krebsdiagnose erlebt hatten, sondern schwerkrank waren und unter dem Einfluss von Schmerzmitteln standen, so lautete etwa ein Vorwurf. Trotz methodischer Innovationen ließen sich viele Einwände nicht überzeu gend ausräumen, sodass immer mehr Psychosomatiker davon absahen, nach krankheitsverursachenden Persönlichkeitsfaktoren zu suchen. Die professionelle Aufmerksamkeit richtete sich stattdessen auf die psychi schen Begleit- und Folgeerscheinungen einer Krebserkrankung. Diese Fragen gewannen mit der in den 1970er-Jahren etablierten Chemothera pie an Gewicht. Anders als Operation und Bestrahlung dauerte diese Behandlung Wochen oder Monate. Damit die Patientinnen und Patienten die schwer erträglichen Nebenwirkungen überhaupt durchstanden und die Therapie nicht abbrachen, erschien es nun auch Medizinern, die mit Psychosomatik zuvor wenig anzufangen wussten, sinnvoll, psychosoziale Unterstützung zu organisieren. So entstand die Psycho- onkologie mit dem Ziel, Wohlbefinden und Lebensqualität von Patientinnen und Patienten zu verbessern und dadurch vielleicht auch die Heilungschancen zu steigern. In der Bevölkerung ist die Idee der „Krebspersönlichkeit“ 21 jedoch nach wie vor verbreitet und trägt – oft unerkannt – das „Gepäck“ der hier erzählten Geschichte mit sich. In der medizinischen Forschung stellt die in den 1970er- Jahren entstandene Psychoneuroimmunologie die Frage nach der Rolle der Psyche in neuer Weise. Es geht darum herauszufinden, wie das Zusammenspiel zwischen Psyche, Nervensystem und Immunsystem(en) funktioniert. Dass solche Zusammenhänge den Verlauf – möglicherweise das buch sogar die Entstehung – von Krebserkrankungen beein- flussen können, erscheint denkbar. Bettina Hitzer Krebs fühlen Eine Emotionsgeschichte des Dieser Ansatz trifft sich hier mit der allgemeinen 20. Jahrhunderts Krebsforschung, die derzeit intensiv untersucht, wie das Klett-Cotta, Stuttgart 2020 540 Seiten, 28,00 Euro körpereigene Immunsystem für die Therapie von Krebser krankungen gezielt aktiviert oder durch die Gabe spezifi Ausgezeichnet mit scher Antikörper ergänzt werden kann. Erste Medikamente dem Preis der Leipziger Buchmesse dieser Art sind bereits zugelassen worden. Ob dieser Weg langfristig Erfolg haben wird, ist noch vollkommen offen. Doch dies ist keine Frage, die die Geschichte be- antworten kann. Aus ihr lässt sich vielmehr lernen, wie gesellschaftliche Diskussionen, Körper- und Rollenbilder die Forschung beeinflussen und wie die von der Medizin entworfenen Krankheitskonzepte wiederum nicht nur Therapien hervorbringen, sondern auch die Wahrnehmung von und den Umgang mit kranken Menschen weitreichend prägen. Max Planck Forschung · 1 | 2020
IM FOKUS Wirtschaft auf dem grünen Zweig 22 | Sprit aus Stiel und Stängel 30 | Pflanzen als Bioreaktoren 38 | Eine Inventur des fossilen Zeitalters Futter für Teller und Tank: Während die Körner von Gerste und anderen Getreidesorten zu Nahrungsmitteln verarbeitet werden, lassen sich aus dem Stroh Biokraft stoffe der zweiten Generation gewinnen. F o t o: i S t o c k Max Planck Forschung · 1 | 2020
IM FOKUS Sprit aus Stiel und Stängel Text: r alph dier m ann 23 Biokraftstoffe der zweiten Generation könnten den Tank- Teller-Konflikt lösen. Denn für sie werden nicht eigens Energiepflanzen auf Ackerflächen angebaut, die dann nicht mehr für die Nahrungsmittelproduktion verfügbar sind. Weltweit arbeiten Forschende, unter ihnen auch Ferdi Schüth, Direktor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung, und Walter Leitner, Direktor am Max-Planck-Institut für chemische Energiekonversion, daran, Biotreibstoffe wirtschaftlich konkurrenzfähig zu machen – und emissionsärmer. Max Planck Forschung · 1 | 2020
im fokus Millionen Jahre hat die Natur gebraucht, um den Roh Treibstoff aus Biomasse stoff zu schaffen, der uns eine nahezu grenzenlose Mobilität ermöglicht – Erdöl, entstanden aus abge storbenen Meeresorganismen, die unter Sediment Biomasse gestein begraben wurden. Dort waren sie über einen sehr langen Zeitraum hohem Druck und ho her Temperatur ausgesetzt. Kraftstoffe wie Ben zin oder Diesel sind also ein Gruß aus der fernen Erdgeschichte. Doch es geht auch wesentlich schneller: Raffinerien pro Rohstoff- duzieren aus Raps, Getreide, Mais, Zuckerrüben aufbereitung oder -rohr hochwertige Biokraftstoffe, die Benzin und Diesel ähneln. Sie können deshalb in moder- nen Verbrennungsmotoren eingesetzt werden, ohne dass diese dafür grundlegend verändert werden müs sen. Biokraftstoffe lassen sich über das bestehende H 2O Schlacke Tankstellennetz verteilen. Ihre Energiedichte ist na vergasung asche O2 hezu so hoch wie die fossiler Treibstoffe, Autofahrer kommen mit einer Tankfüllung also ähnlich weit. Vor allem aber sind sie wesentlich klimafreundlicher als ihre fossilen Gegenstücke, da bei ihrer Verbrennung im Motor nur so viel Kohlendioxid freigesetzt wird, wie die Pflanzen zuvor aufgenommen haben. Klima Staub störstoffe neutral ist der Biosprit allerdings nicht, weil beim H 2o gasreinigung Anbau und bei der Verarbeitung der Pflanzen Treib- co 2 hausgase entstehen. 24 Bioöl für Sprit und chemische Rohstoffe synthese Wer heute alternative Kraftstoffe wie Biodiesel oder Bio ethanol zapft – sei es pur oder als Beimischung zu Benzin („E10“) und Diesel –, füllt sich sogenannte Biotreibstoffe der ersten Generation in den Tank. Sie werden aus Früchten und Samen von Pflanzen her produkt- neben- h2 gestellt. Damit stehen diese Biokraftstoffe jedoch in aufbereitung produkte direkter Konkurrenz zur Produktion von Lebens mitteln. So lässt sich etwa aus Rapssamen nicht nur ein Kraftstoff, sondern auch ein gesundes Speiseöl herstellen. In Deutschland werden heute auf 800 000 Hektar Energiepflanzen für Treibstoffe angebaut, hat die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe (FNR) Btl- Um aus Stroh oder ermittelt. Das entspricht immerhin sieben Prozent Holzabfällen flüssige kraftstoff der gesamten Ackerfläche der Bundesrepublik. Treibstoffe zu gewinnen, Angesichts der stetig wachsenden Weltbevölkerung wird Biomasse zerklei und der knappen landwirtschaftlich nutzbaren Flä nert und getrocknet. Anschließend wird sie che auf der Erde entsteht mit den Biokraftstoffen der mithilfe von Sauerstoff ersten Generation ein Tank-Teller-Konflikt. in Synthesegas umge wandelt, das hauptsäch Ein guter Grund für Forschende weltweit – darunter lich aus Kohlenmonoxid und Wasserstoff besteht. auch Wissenschaftler an Max-Planck-Instituten –, Nachdem Verunreini an Biokraftstoffen zu arbeiten, die sich aus anderen, gungen daraus entfernt nicht für die Ernährung geeigneten organischen wurden, entstehen bei Materialien herstellen lassen. Ziel ist, das Biomasse- der Synthese flüssige Kohlenwasserstoffe, die Angebot für klimafreundliche Kraftstoffe zu erwei nach der Aufbereitung tern, um dadurch den Konflikt zwischen Nahrungs als Treibstoffe zur mittel- und Treibstoffproduktion zu entschärfen. Verfügung stehen. Max Planck Forschung · 1 | 2020
IM FOKUS F o t o: F r a n k V i n ke n | dwb 25 Rohstoff Sägespäne: Holz besteht im Wesentlichen aus Lignocellulose, aus der sich sowohl Biosprit als auch Ausgangsstoffe für die chemische Industrie gewinnen lassen. Dabei haben es die Forscher darauf abgesehen, mög aber auch aus Schwefel- und Stickstoffverbindungen lichst viele Bestandteile der Biomasse zu nutzen. Im besteht. Letztere müssen entfernt werden, da sie den Fokus steht dabei die Lignocellulose, die aus Cellu weiteren Prozess behindern. Das Synthesegas wird lose, Hemicellulose und Lignin besteht und das Ge anschließend zu flüssigen Kohlenwasserstoffen verar rüst von Pflanzen bildet. Mit ihren hohen Anteilen beitet – zum Beispiel im Fischer-Tropsch-Verfahren, an Kohlen- und Wasserstoff ist sie ein attraktiver das bereits vor fast hundert Jahren entwickelt wurde, Rohstoff für Alternativen zu Benzin und Diesel, um Kohle zu verflüssigen. Schließlich wird das die nichts anderes sind als Kohlenwasserstoffe. Aus entstandene Gemisch verschiedener Kohlen ihnen lassen sich aber auch Substanzen gewinnen, wasserstoffe mit Prozessen aus der Raffination von aus denen chemische Erzeugnisse wie Kunststoffe Erdöl zu Biokraftstoffen verarbeitet. „Mit diesem hergestellt werden können. Für beide Anwendun Verfahren ist es möglich, sogenannte Drop-in Fuels gen kommen als Ausgangsmaterial etwa Stroh herzustellen, die sich problemlos in den heutigen oder die Abfälle von Baumpflegearbeiten infrage. Verbrennungsmotoren einsetzen lassen“, erklärt Allein mit der in Deutschland jährlich anfallenden Ferdi Schüth, Direktor am Max-Planck-Institut für Strohmenge ließen sich theoretisch gut drei Prozent Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr. Außer des heimischen Primärenergiebedarfs decken. dem eignet sich der BtL-Prozess für nahezu alle Arten von Biomasse. Biokraftstoffe der zweiten Generation lassen sich auf verschiedenen Wegen herstellen. Im sogenannten Allerdings bringt das Verfahren eine logistische Heraus BtL-Verfahren (Biomass to Liquids) wird aus der forderung mit sich: Wegen des, gemessen am Volu Biomasse unter Hitze zunächst Synthesegas erzeugt, men, recht geringen Energiegehalts der Biomasse sind das vor allem aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid, gewaltige Mengen davon nötig, um eine Anlage aus Max Planck Forschung · 1 | 2020
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