Erziehung & Wissenschaft 05/2021 - Neujustierung der beruflichen und akademischen Bildung - GEW
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Erziehung & Wissenschaft 05/2021 Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW Viele Wege führen zum Ziel Neujustierung der beruflichen und akademischen Bildung
2 GASTKOMMENTAR Foto: Volker Wiciok UWE ELSHOLZ Bildungspolitische Fortschritte Bei allen positiven Impulsen, die dem preußischen Gelehrten die erleichterte Hochschulzugangsberechtigung für beruflich Wilhelm von Humboldt zugeschrieben werden, ist auch ein Qualifizierte ohne Abitur ist mit Blick auf die jahrhundertealte Erbteil seiner Schriften im deutschen Bildungssystem an- Funktion des Abiturs zur Bildungsbegrenzung höchst bemer- gelegt, der zu einer Verfestigung von Bildungsungleichheit kenswert. beigetragen hat. Humboldt plädierte für eine Trennung beruf- Schließlich ist der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) licher und allgemeiner Bildung. Auch wenn er nicht die Aus- anzuführen, der explizit auch auf eine stärkere Durchlässig- grenzung der unteren Bevölkerungsschichten intendiert hat, keit zielt. Hier hat die auch von gewerkschaftlicher Seite – entwickelten sich im 19. Jahrhundert das dreigliedrige Schul- oft zu Recht – gescholtene neoliberale Bildungspolitik der system und ein vom allgemeinen Schul- und Hochschulsystem Europäischen Union (EU) einen nachhaltigen Modernisie- getrenntes Berufsbildungssystem. Beides prägt das deutsche rungsschub ausgelöst. Der DQR spricht von Gleichwertigkeit Bildungssystem bis heute. der Bildungsarten und ist – auch das ein Traditionsbruch – In der Folge konnten frühe Bildungsentscheidungen von bildungsbereichsübergreifend angelegt. Kindern und Jugendlichen nur schwer revidiert werden. Für Mit Blick auf die Ziele erhöhter Durchlässigkeit und Gleich- Lernende in der beruflichen Bildung, aber auch für Studieren- wertigkeit ist zu konstatieren, dass diese bei weitem noch de war es sehr mühsam, zwischen den Bildungssektoren zu nicht erreicht sind. So hat der DQR deutliche Mängel, besitzt wechseln. Anders als in der DDR war in der Bundesrepublik keine Rechtsverbindlichkeit und schließt auch explizit erwei- mangelnde soziale Durchlässigkeit charakteristisch für das terte Zugänge (beispielsweise mit dem Meister zum Master) Bildungssystem. aus. Dennoch kann das Dokument auch als Ausweis eines Trotz einer Vielzahl von Reformanstrengungen vor allem in bildungspolitischen Fortschritts verstanden werden. den 1970er-Jahren blieben die Grundstrukturen des Bildungs- Zudem sind mit Blick auf die Themen Anrechnung beruflich systems auch im Zuge der deutschen Einheit bis zum Ende des erworbener Kompetenzen und Verwirklichung des Hoch- 20. Jahrhunderts nahezu unverändert. Der Zweite Bildungs- schulzugangs für beruflich Qualifizierte noch uneingelöste weg wurde zwar eingeführt, blieb jedoch ein Sonderweg. Absichten zu beklagen. Eine über Jahrhunderte gewachsene Spätestens im Laufe der 2000er-Jahre hat jedoch eine gewis- Kultur der Trennung (und Abwertung) beruflicher Bildung se Wandlung eingesetzt, die nicht zuletzt mit dem Konzept ist eben nicht in kurzer Zeit durch wenige Verordnungen des lebenslangen Lernens in Verbindung steht. Ausgerech- zu verändern. Das verhindern der Habitus der Akteure und net die Hegemonie des Neoliberalismus und ökonomische die Tradition der Institutionen. Insofern ist das Glas je nach Motive haben zur – zumindest partiellen – Aufweichung der Perspektive halb voll oder halb leer. Es jedoch weiter zu füllen Trennung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung ge- und nicht nachzulassen in der Anstrengung für mehr Gleich- führt. Die Wirtschaft brauchte mehr akademisch Ausgebilde- wertigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung, te, Bildungsbegrenzungen waren volkswirtschaftlich schlicht bleibt gewerkschaftliche und gesellschaftliche Aufgabe. ineffizient. Zu nennen sind hier (mit öffentlichen Mitteln un- terstützte) Anstrengungen um eine verbesserte Anrechnung Uwe Elsholz, beruflich erworbener Kompetenzen auf ein Hochschulstudi- Professor an der Fernuniversität Hagen, um; neuerdings im Rahmen des Projekts hrk-modus.de. Auch Lerngebiet Lebenslanges Lernen Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
INHALT 3 Prämie Inhalt des Monat s Seite 5 IMPRESSUM Erziehung und Wissenschaft Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung · 73. Jg. Herausgeberin: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund Vorsitzende: Marlis Tepe Redaktionsleiter: Ulf Rödde Gastkommentar Redaktion: Jürgen Amendt Redaktionsassistentin: Katja Wenzel Bildungspolitische Fortschritte Seite 2 Postanschrift der Redaktion: Reifenberger Straße 21 60489 Frankfurt am Main Telefon 069 78973-0 Impressum Seite 3 Fax 069 78973-202 katja.wenzel@gew.de www.gew.de Auf einen Blick Seite 4 facebook.com/GEW.DieBildungsgewerkschaft twitter.com/gew_bund Redaktionsschluss ist in der Regel Prämie des Monats Seite 5 der 7. eines jeden Monats. Erziehung und Wissenschaft erscheint elfmal jährlich. Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und Internet Schwerpunkt: Neujustierung der beruflichen und akademischen Bildung sowie Vervielfältigung auf Datenträger der „Erziehung und Wissenschaft“ auch auszugweise nur nach vorheri- 1. Vom Studienabbruch zur Berufsausbildung: Über Umwege zum Ziel Seite 6 ger schriftlicher Genehmigung der Redaktion. 2. Neue Berufsfelder für Erzieherinnen und Erzieher: Erst die Arbeit – und dann? Seite 10 Die E&W finden Sie als PDF auf der GEW-Website unter: www.gew.de/eundw. 3. Berufliche Hochschule Hamburg: Ein Sonderweg mit Erfolgsaussicht Seite 13 Hier wird die E&W auch archiviert. Gestaltung: 4. Prof. Andrä Wolter zum Hochschulzugang ohne Abitur: Hohe Hürden Seite 14 Werbeagentur Zimmermann GmbH Kurhessenstraße 14 5. Braucht Deutschland mehr Akademikerinnen und Akademiker? Seite 16 60431 Frankfurt am Main Für die Mitglieder ist der Bezugspreis im Mitglieds- beitrag enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der Bildungspolitik Bezugspreis jährlich Euro 7,20 zuzüglich Euro 11,30 Zustellgebühr inkl. MwSt. Für die Mitglieder der 1. Infektionsschutzgesetz: 165 ist immer noch zu hoch Seite 18 Landesverbände Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, 2. Die Kunst des Geschichtenerzählens: Bilder im Kopf entstehen lassen Seite 30 Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen werden die jeweiligen Landeszeitungen der E&W beigelegt. Für un- 3. Studiengang Islamische Religionspädagogik: „Das ist eine große Aufgabe“ Seite 32 verlangt eingesandte Manuskripte und Rezensionsexem- plare wird keine Verantwortung übernommen. Die mit dem Namen des Verfassers gekennzeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder Schule der Herausgeberin dar. 1. Lehrerin und Metal-Fan Caro Blofeld: „Goethe würde Metal hören“ Seite 20 Verlag mit Anzeigenabteilung: Stamm Verlag GmbH 2. Bundesforum „Bildung in der digitalen Welt“: Konsens jenseits der Union Seite 22 Goldammerweg 16 45134 Essen 3. GEW-Kommentar von Marlis Tepe: Stotterbremse Seite 27 Verantwortlich für Anzeigen: Mathias Müller Telefon 0201 84300-0 4. Corona und Personalräte: „Wir müssen die Leute schützen“ Seite 28 Fax 0201 472590 anzeigen@stamm.de www.erziehungundwissenschaft.de gültige Anzeigenpreisliste Nr. 41 Dialog: Zeitschrift für Seniorinnen und Senioren Seite 23 vom 01.01.2019, Anzeigenschluss ca. am 5. des Vormonats Nutzungsrechte für digitale Pressespiegel erhalten Sie Internationales über die PMG Presse-Monitor GmbH unter www.presse-monitor.de Folgen der Corona-Pandemie für Perus Schulen: Hoffen auf die Impfung Seite 34 Erfüllungsort und Gerichtsstand: Frankfurt am Main Gewerkschaftstag 2021 Wahlvorschläge für den Geschäftsführenden Vorstand Seite 36 ISSN 0342-0671 e Mitgliederforum Seite 42 Die E&W wird auf 100 Prozent chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier gedruckt. emi d Pan a Diesmal - n on oro Seite 48 a r c o ur de/ C s z . nfo gew Titel: Werbeagentur Zimmermann I elle w. u Ak ww t
4 AUF EINEN BLICK Schule und Pandemie Weiterbildung in der Krise Gut ein Jahr dauert die Corona-Pandemie DDS Beiheft 16 Die Deutsche Schule Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik Mittelständische Firmen haben die Weiterbildungsangebote und pädagogische Praxis in Deutschland nun schon. In dieser Zeit ha- für ihre Beschäftigten in der Corona-Krise einer Studie zufolge Herausgegeben von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Detlef Fickermann, Benjamin Edelstein (Hrsg.) „Langsam vermisse ich die Schule ...“ ben die Schulschließungen, ihre Wiederöff- zusammengestrichen. Nach einer Mitte April veröffentlichten Schule während und nach der Corona-Pandemie nungen und der vielgestaltige Distanz- und Analyse der staatlichen Förderbank KfW reduzierten 38 Pro- Wechselunterricht für reichlich Diskussions- zent der kleinen und mittleren Firmen die Weiterbildungsak- stoff gesorgt: Was muss geschehen, damit tivitäten für ihre Belegschaft, gut jede zweite davon auf null, das Recht auf Bildung der Kinder und Ju- wie aus der Befragung im Rahmen des KfW-Mittelstandspa- gendlichen in der Pandemie nicht auf der Strecke bleibt? Was nels hervorgeht. Da weitere 29 Prozent im Jahr 2020 unverän- bedeutet die Krise für ohnehin schon benachteiligte Schülerin- dert keine Fortbildung anboten, lag die Weiterbildung damit nen und Schüler? Wie gehen Lehrkräfte, Lernende und Eltern bei gut der Hälfte der Mittelständler auf Eis. mit der Situation um? Die Unternehmen seien mehr als zuvor auf Unterstützung bei Diesen Fragen widmen sich zwei Beihefte der GEW-Zeitschrift der Weiterbildung angewiesen, erläuterte KfW-Chefvolkswir- „Die Deutsche Schule – Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, tin Fritzi Köhler-Geib. Hierzu könnte neben Förderkrediten Bildungspolitik und pädagogische Praxis“: „Langsam vermis- und Kostenerstattung auch eine steuerliche Förderung von se ich die Schule …“ und „Schule während der Pandemie“. Weiterbildungsausgaben gehören, regte die Ökonomin an. Beide stehen über www.waxmann.com/dds_beiheft_16 bzw. Auch die Unternehmen selbst sehen den Angaben zufolge www.waxmann.com/dds_beiheft_17 kostenlos zum Down- Weiterbildungsbedarf, besonders bei Digitalkompetenzen. load bereit. Knapp die Hälfte der Mittelständler (46 Prozent) hatte in die- sem Bereich zu Beginn dieses Jahres mittleren oder großen Mehr Studierende ohne Abitur Bedarf. Das ist den Angaben zufolge inzwischen mehr als bei Mit rund 64.000 nutzten im Jahr 2019 so viele Menschen wie den berufsfachlichen Kernkompetenzen (44 Prozent) oder noch nie in Deutschland die Möglichkeit, über ihre berufli- jedem anderen Thema. che Qualifikation einen Studienplatz zu erhalten. Darunter sind zunehmend mehr Frauen. Zu diesem Ergebnis kommt Eingliederung Geflüchteter das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) in einer aktu- Berufseingliederung und Weiterbildung verbessern bei ar- ellen Berechnung. Diese Studienanfängerinnen und -anfänger beitslosen Geflüchteten die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. sind im Schnitt zehn Jahre älter als ihre Kommilitoninnen und Das zeigt eine Anfang April veröffentlichte Studie des Instituts Kommilitonen mit Abitur. für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Da- 2019 lag die Zahl der Erstsemester ohne Abitur bei 14.700, nach hatten Geflüchtete, die an Maßnahmen zur Aktivierung was einem Anteil von 2,9 Prozent an allen Studienanfänge- und beruflichen Eingliederung bei einem Arbeitgeber teilnah- rinnen und -anfängern entspricht. Die Zahl der Hochschul- men, nach 21 Monaten eine um 20 Prozentpunkte höhere absolventinnen und -absolventen, die über den beruflichen Wahrscheinlichkeit, eine Beschäftigung zu bekommen, als Weg ins Studium gelangt sind, betrug 8.500 und hat sich seit vergleichbare Geflüchtete ohne diese Maßnahmen. Außer- 2013 fast verdoppelt. dem reduzierten diese die Wahrscheinlichkeit, Grundsiche- Die Situation in den einzelnen Bundesländern ist allerdings im- rung zu beziehen. „Ein wichtiger Grund dafür dürfte sein, dass mer noch sehr unterschiedlich. Beim Vergleich des jeweiligen Maßnahmen bei einem Arbeitgeber einen direkten Kontakt Anteils der Studienanfängerinnen und -anfänger ohne Abitur zu einem Betrieb ermöglichen, was Beschäftigungschancen an allen Erstsemestern führt aktuell Hamburg mit 5,3 Prozent, nach der Förderung eröffnen kann“, teilte das IAB mit. gefolgt von Thüringen und Bremen mit 4,9 bzw. 4,5 Prozent. Die Schlusslichter bilden Schleswig-Holstein und Baden-Würt- temberg mit jeweils rund 1,4 Prozent sowie das Saarland mit Hinweis einer Quote von 1,3 Prozent. Ein deutlicher Aufwärtstrend ist Vom 9. bis zum 11. Juni fin- dagegen in Brandenburg und Thüringen zu beobachten, die det in Leipzig der 29. ordent- sich im Ländervergleich gegenüber dem Vorjahr um vier bzw. liche Gewerkschaftstag der sogar sieben Plätze verbessert haben (siehe dazu auch den GEW statt, der erste in der Schwerpunkt in dieser E&W-Ausgabe, Seiten 6 bis 17). Geschichte der Bildungsge- werkschaft im Online-For- mat. Alle wichtigen Infos zum Ablauf, zu Anträgen und Korrektur Abstimmungen finden sich auf www.gew.de/gewtag21 In dem Interview „Impfstoff für alle“ (E&W 4/2021, S. 34 f.) mit der Politikwissenschaftlerin Anne Jung In eigener Sache von der Organisation medico international wurde ver- Die Drucklegung dieser Ausgabe der E&W erfolgte am sehentlich der Name des Interviewers mit Ansgar Jung 23. April 2021. Aktuelle Entwicklungen hinsichtlich der angegeben, er heißt jedoch Ansgar Warner. Wir bitten, Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie den Fehler zu entschuldigen. konnten daher nicht mehr berücksichtigt werden. Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
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6 NEUJUSTIERUNG DER BERUFLICHEN UND AKADEMISCHEN BILDUNG Über Umwege zum Ziel // Falsche Erwartungen, man- Doch dann stellte sie fest, dass sie von sonaldienstleistungskauffrau ausbilden gelnde Erfolge, vermisste Praxis- Semester zu Semester immer stärker lässt. „Ich habe gefunden, was mich bezüge: Es gibt viele Gründe, mit der Theorie haderte. Während ei- erfüllt und mir Spaß macht“, sagt sie ein Studium abzubrechen. nes Praxissemesters erlebte sie, wie viel heute. „Manchmal muss man Umwege Manchmal ist eine Ausbildung Spaß ihr die Arbeit im Personalwesen gehen, um zum Ziel zu kommen.“ Mo- die bessere Lösung für ein macht, gleichzeitig fiel sie auch noch mentan will sie zuerst die Ausbildung zufriedenes Berufsleben, wie die durch eine Prüfung. abschließen und dann, mit dem beruhi- folgenden Beispiele zeigen. // Plötzlich waren die inneren Zweifel genden Berufsabschluss in der Tasche, nicht mehr zu überhören. „Aber sich auch noch ihr Studium beenden. Für Kim Klochinski war immer klar, dass selbst einzugestehen, nicht glücklich zu sie nach dem Abitur studieren würde. sein und es nicht geschafft zu haben, ist Programm mit Vorbildcharakter „An eine Ausbildung habe ich gar nicht ein schwieriger Schritt“, meint Klochin- Der Wissenschaftsrat hat schon 2014 gedacht“, erzählt sie. „Vielleicht deswe- ski. In dieser Phase fand sie eine Rund- empfohlen, für die zukünftige Versor- gen, weil es Trend war, nach dem Abi mail vom Career Service Center (CSC) gung der Gesellschaft mit Fachkräften ein Studium zu beginnen. Das haben der Hochschule in ihrem Postfach, in eine „funktionale Balance zwischen be- alle so gemacht.“ Ein Fach, das sie inte- der ein neues Programm mit dem Titel ruflicher und akademischer Bildung“ her- ressiert, war schnell gefunden. Schon „Land in Sicht“ vorgestellt wurde. Es zustellen und dafür auch vielfältige Über- im Biologie-Leistungskurs hatte sie es stellt eine Sonderform des Dualen Stu- gangsmöglichkeiten in beide Richtungen immer spannend gefunden, sich mit Le- diums dar und bietet allen Bremerhave- zu schaffen (siehe S. 10 ff.). Eine solche bensmitteln zu beschäftigen – weil die ner Studierenden der Bachelorstudien- Übergangsmöglichkeit stellt die Hoch- täglich gebraucht werden und weil es gänge die Möglichkeit, ihr Studium mit schule Bremerhaven mit „Land in Sicht“ sich um eine zukunftsorientierte Bran- einer beruflichen Ausbildung zu kombi- bereit – und sieht sich damit bundesweit che handelt. Also schrieb sie sich an nieren. Für die gebürtige Bremerin ein als Vorreiterin. „Unseres Wissens bietet der Hochschule Bremerhaven für den Glücksfall: „Es war extrem hilfreich, mit keine andere Hochschule ein Rückkehr- Studiengang Lebensmitteltechnologie/ meinen Gedanken nicht mehr allein zu recht für Studierende an, die mehrere Lebensmittelwirtschaft ein. Der Start sein und eine qualifizierte Beratung und Jahre unterbrechen, um zunächst eine war auch durchaus vielversprechend: Unterstützung zu bekommen.“ Ausbildung zu machen“, berichtet Profes- „Ich hatte ursprünglich ein sehr gutes Mit Hilfe des CSC fand sie eine Lehr- sor Gerhard Feldmeier, ehemaliger Kon- Gefühl, die Vorbereitungskurse sind gut stelle bei einem Personalvermittlungs- rektor und Initiator des Programms. Aus- gelaufen“, erinnert sich die 25-Jährige. unternehmen, wo sie sich nun zur Per- löser sei die Erkenntnis gewesen, dass es gerade in den MINT-Studienfächern (Ma- thematik, Informatik, Naturwissenschaf- ten, Technik) Abbrecherquoten von zum Teil mehr als 50 Prozent gegeben habe. „Da haben wir nach Möglichkeiten ge- sucht, solchen Studienzweiflern Brücken in die Ausbildung zu bauen – über die sie dann später auch wieder zurückkommen und ihr Studium beenden können.“ Um das möglich zu machen, wurde ei- gens die Immatrikulationsordnung der Hochschule geändert. Mit Unterstüt- zung der Arbeitsagentur und der ört- lichen Industrie- und Handelskammer entstand ein Netzwerk von Partnern, Kim Klochinski war in ihrem Studium der Foto: PENSUM Bremen GmbH Lebensmitteltechnologie unglücklich. Mit Hilfe ihrer Hochschule fand sie eine Ausbildungsstelle als Personaldienst- leistungskauffrau. Nach dem Berufsab- schluss will sie ihr Studium beenden. Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
NEUJUSTIERUNG DER BERUF LICHEN UND AKADEMISCHEN BILDUNG 7 über das das CSC bei Bedarf direkten Berufsausbildung. Nicht wenige haben Kontakt zu ausbildungswilligen Betrie- darüber hinaus schon vor Aufnahme des ben herstellen kann. Die Rückmeldun- Studiums einen Berufsabschluss erwor- gen aus den Unternehmen seien durch- ben. Bei lediglich 9 Prozent zeichnen sich weg positiv, sagt Feldmeier. „Gegenüber zweieinhalb Jahre nach der Exmatrikula- jungen Leuten, die gerade aus der Schule tion noch keine klaren Tätigkeitsabsich- kommen, haben die Studierenden deut- ten ab: Sie wechseln häufig den Job oder liche Vorteile. Sie verfügen über mehr sind arbeitslos. „Das sind dann diejeni- Lebenserfahrung und haben bei uns gen, die eine intensivere Unterstützung schon gelernt, systematisch und zielori- brauchen als die bisher angebotenen entiert zu arbeiten.“ Für die Studieren- Instrumente“, meint Heublein. Ein Pro- den wiederum sei es sehr motivierend, blem sei, dass sich viele Studienabbre- dass sie keine Studienabbrecher seien, cherinnen und -abbrecher noch immer sondern lediglich temporäre Studien- stigmatisiert fühlen. „Dabei ist es doch unterbrecher. Wie viele von ihnen spä- wünschenswert, dass man sich in jeder ter tatsächlich noch ihren Abschluss an Bildungsphase fragt, ob man auf dem der Hochschule machen werden, lässt richtigen Weg ist – und sich im Zweifel sich derzeit nicht sagen, da das Projekt auch neu orientieren kann.“ Mit Blick erst seit zwei Jahren läuft. „Aber die, die auf die zu fördernde Durchlässigkeit zwi- nicht wiederkommen, hätten wir auch schen akademischer und beruflicher Bil- ohne das Programm verloren“, ist Feld- dung habe es in den vergangenen Jahren meier überzeugt. „Und wenn wir damit eine Reihe Programme und Initiativen einen Beitrag zur Bekämpfung des Fach- gegeben, die auf einen unkomplizier- kräftemangels leisten und junge Leute in ten Übergang von der beruflichen in die der Region behalten, haben wir schon hochschulische Bildung abzielten. Der Gutes getan.“ umgekehrte Weg rücke erst jetzt zuneh- mend in den Fokus des bildungspoliti- Knapp 30 Prozent brechen ab schen Interesses. „Da bleibt auch bei der Insgesamt fast 30 Prozent der Bachelor- Mentalität derjenigen, die ihr Studium studierenden eines Jahrgangs brechen abbrechen, noch einiges zu tun“, sagt ihr Studium ab: Das geht aus aktuellen der Bildungsforscher. „Es ist immer noch Berechnungen des Deutschen Zentrums so, dass viele eine Berufsausbildung für Hochschul- und Wissenschaftsfor- nicht für gleichwertig halten.“ schung (DZHW) hervor. Besonders hoch Zu diesen gehörte auch Leon Seibert. sind die Abbruchquoten demnach an Obwohl der 24-Jährige aus Klingenberg den Universitäten in den Geisteswis- am Main sich schon immer handwerklich senschaften sowie in Mathematik und interessierte, war für ihn nach dem Abi- Naturwissenschaften. An den Fach- tur ein Studium die logische Konsequenz. hochschulen finden sich neben Mathe- „Am Gymnasium kam das Thema Ausbil- matik und Naturwissenschaften auch dung in der Berufsorientierung praktisch die Ingenieurwissenschaften ganz oben nicht vor“, erzählt er, „und auch meine in der Statistik. „Es gibt eine ganze Reihe Eltern wollten gerne, dass ich studiere.“ Ursachen, die zum Abbruch eines Studi- Da er in der Schule immer gut in Englisch ums führen“, erläutert Ulrich Heublein, war, schrieb er sich kurzerhand an der der sich am DZHW mit dem Themen- Uni Würzburg für Englisch auf Lehramt schwerpunkt Studienabbruch beschäf- ein – aber schon nach drei Semestern tigt. Als subjektive Gründe würden am hatte er jeglichen Spaß verloren und häufigsten zu hohe Leistungsanforde- besuchte keine Vorlesungen mehr. „Das Foto: Christoph Boeckheler rungen sowie Motivationsprobleme war mir alles zu theoretisch, und ich wegen zu geringer Identifizierung mit habe mich auch nicht wirklich als Lehrer dem gewählten Fach genannt, berichtet gesehen.“ So beschloss er, das Studium der Wissenschaftler. „Viele stellen auch abzubrechen und über die Arbeitsagen- fest, dass ein akademischer Bildungs- tur eine berufsvorbereitende Maßnah- weg nicht das Richtige für sie ist und sie me zu beginnen. Als er ein Praktikum Leon Seibert war schon immer handwerklich interes- lieber praktisch arbeiten wollen.“ bei einem technischen Modellbauer siert. Dennoch wollte er zunächst Lehrer werden. Die Rund zwei Drittel derer, die ihr Studium machte, wurde ihm klar: Das ist genau Entscheidung, in einen Handwerksberuf zu wechseln, abbrechen, starten anschließend eine das Richtige. Seibert begann in >>> hat der angehende Modellbauer nicht bereut. Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
8 NEUJUSTIERUNG DER BERUFLICHEN UN D AKADEMISCHEN BILDUNG >>> >>> dem Betrieb eine Ausbildung und liche und finanzielle Belastungen, da er steht seither morgens wieder gerne und wegen der großen Entfernungen Woh- motiviert auf: „Jedes Projekt braucht nungen in seinem Heimat-, seinem Ar- eine neue Lösung, das ist einfach ab- beits- und seinem Studienort brauchte. wechslungsreich und macht viel Spaß.“ „Da habe ich schon am Ende des ersten Ende vorigen Jahres musste sein Chef Semesters gemerkt: Das wird nichts.“ aufgrund der Folgen der Corona-Krise Weis kündigte seinen Vertrag, exmatri- Insolvenz anmelden, doch der 24-Jährige kulierte sich und überlegte, sich statt- fand mit Unterstützung der Handwerks- dessen für BWL einzuschreiben. „Davon kammer für Unterfranken einen ande- war ich aber auch nicht wirklich über- ren Betrieb, bei dem er seine Ausbildung zeugt, und darum habe ich schließlich nun fortsetzt. entschieden: Ich mache lieber eine Aus- bildung, dann habe ich schon mal einen Wissen, was wichtig ist Abschluss sicher.“ Seine Eltern betrei- Die Handwerkskammer hat Erfahrung ben eine eigene Bäckerei, und doch hat- mit jungen Menschen, die ihr Studium te er bis zu diesem Zeitpunkt noch nie abgebrochen haben oder darüber nach- darüber nachgedacht, sich zum Bäcker denken. 2012 startete sie ein mit öffent- ausbilden zu lassen. Obwohl er immer lichen Mitteln gefördertes Pilotprojekt gerne in der Backstube mitgeholfen mit dem Titel „Karriereprogramm Hand- habe, wie er sagt: „Aber ich habe die werk“, das sich mittlerweile in der Bera- gesellschaftliche Erwartung gespürt, tungsarbeit verstetigt hat und zahlreiche dass man studieren sollte, wenn man Nachahmer im gesamten Bundesgebiet schon das Abitur gemacht hat.“ Durch fand. „Die Situation war schon damals so, eigene Recherchen stieß er auf das dass es eine hohe Zahl Studienabbrecher Programm der Handwerkskammer für mit vielen Kompetenzen gab, während Unterfranken und war froh, hier eine unsere Mitgliedsbetriebe händeringend Karriereberaterin an die Seite gestellt nach Fach- und Führungskräften such- zu bekommen, die ihm bei der Ausbil- ten“, erläutert Andrea Sitzmann, Leiterin dungsplatzsuche half und auch sonst des Geschäftsbereichs Berufsbildung. mit Rat und Tat für ihn da war. Inzwi- „Da haben wir überlegt, wie wir die bei- schen ist Weis Bäckermeister und un- den Seiten zusammenbringen können.“ terrichtet als Fachlehrer an der Berufs- In den ersten sechs Jahren habe man schule. „Das ist der perfekte Job, den rund 100 Ex-Studierende aus allen mög- ich immer gesucht habe – ohne dass lichen Studienbereichen erfolgreich in ich es vorher gewusst hätte“, erzählt er. eine handwerkliche Ausbildung vermit- Die Dinge hätten sich glücklich gefügt. telt, berichtet Sitzmann. Dabei bewähre Die damaligen Verlockungen des Geldes sich, die Teilnehmenden an die Hand zu bewertet er heute anders: „Menschen nehmen und sie in der Phase der Neu- sind erfolgreicher, wenn sie etwas ma- orientierung und auch darüber hinaus zu chen, was sie gerne tun und was sie begleiten. nachhaltig zufrieden macht.“ Seinen Jan Weis war in der Anfangszeit einer Umweg bereue er nicht, im Gegenteil. der ersten Teilnehmer des „Karriere- „Manchmal hat man das Ziel am An- programms Handwerk“. Der heute fang vielleicht noch nicht so genau vor 27-jährige Unterfranke hatte schon in Augen. Durch meinen Weg ist mir klar- der 12. Klasse bei einem großen Auto- geworden, was mir wirklich wichtig ist.“ zulieferer einen Vertrag für ein duales Foto: Christoph Boeckheler Studium im Bereich Wirtschaftsinge- Anne-Katrin Wehrmann, nieurwesen unterschrieben. „Ich habe freie Journalistin das damals etwas blauäugig entschie- den, weil ich möglichst viel Geld ver- dienen wollte“, räumt er rückblickend Programm „Land in Sicht“ Jan Weis kommt aus einer Bäckerfamilie. Nach der Schule ein. Im Fach Wirtschaft habe er immer der Hochschule Bremerhaven: wollte er möglichst bald viel Geld verdienen und begann gute Schulnoten gehabt – er habe aber bit.ly/hsbhv-land-in-sicht ein duales Studium des Wirtschaftsingenieurwesens, verdrängt, dass er schlecht in Mathe ge- „Karriereprogramm Handwerk“ der das er aber nach einigen Semestern abbrach. Heute ist wesen sei. „Und das ist mir dann auf die Handwerkskammer für Unterfranken: er Bäckermeister und Fachlehrer an einer Berufsschule. Füße gefallen.“ Hinzu kamen große zeit- bit.ly/hwk-ufr-karriere-handwerk Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
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10 NEUJUSTIERUNG DER BERUFLICHEN UND AKADEMISCHEN BILDUNG Erst die Arbeit – und dann? // Ein Leben lang im erlernten Günthers Kommilitone Heiko Praetz stu- Ausbildungsberuf zu arbeiten, diert im vierten Semester in Lüneburg ist nicht immer erfüllend. In und arbeitet als stellvertretender Leiter Lüneburg bietet ein Studiengang im Bereich Obdach und Asyl bei einer Ge- Erzieherinnen und Erziehern die meindediakonie. Fachliches und rechtli- Möglichkeit, sich neben ihrem ches Hintergrundwissen der Sozialen Job für neue Berufsfelder zu Arbeit werde im Studium unglaublich qualifizieren. Die akademische gut und qualitativ hochwertig vermit- Bildung im Bereich der Sozialen telt, so Praetz. Ein Beispiel: „Menschen Arbeit ist für viele gerade des- im Asylbewerberleistungsbezug haben halb bereichernd, weil sie von Anspruch auf Dolmetscherkosten für ihren beruflichen Fähigkeiten Therapiebehandlungen, sobald sie aber profitieren. Ein Studium mitten in den Rechtsbereich Sozialgesetzbuch im Arbeitsleben zu meistern, (SGB) II wechseln, entfällt dieser. Das ist eine Herausforderung. Drei heißt, Therapien müssen abgebrochen Studierende berichten. // werden, weil keine Sprachvermittlung mehr da ist. Ein Riesendilemma!“, be- Gut zwei Jahrzehnte hat Manja Günther richtet Praetz aus seinem Arbeitsalltag. als ausgebildete Erzieherin gearbeitet, Für diese Lücke im System bekomme er davon 15 Jahre als stellvertretende Lei- im Studium Werkzeuge an die Hand, um terin einer Kindestagesstätte. Eigentlich etwa einstweiligen Rechtsschutz beim wollte sie gern ganz in die Leitungsar- Sozialgericht zu erwirken oder Kla- beit wechseln. „Aber mein Familienle- geverfahren einzuleiten. ben nahm mich zu sehr in Beschlag“, sagt die 48-Jährige. Ihr zweiter Sohn Kein leichter Spagat kam vor 18 Jahren mit einer Behin- Als Jugendlicher schlug Praetz derung zur Welt. Mittlerweile wohne seinen beruflichen Weg zu- er in einem Internat, und der Größe- nächst ins Zimmererhandwerk re studiere, so Günther. Nun habe sie ein, aber ein Sportunfall zwang ihn Zeit, sich in ihrem eigenen Berufsleben zum Umdenken. Er schnupperte in die nochmal weiterzuentwickeln – „be- Jugendarbeit hinein, fand Gefallen da vor ich 50 werde“, sagt sie und lacht. ran und machte eine zweite Ausbildung Coronabedingt läuft das Studium online, Durch eine Freundin wurde sie auf das zum Erzieher, mit der er gleichzeitig die „aber besser als gedacht“, berichtet berufsbegleitende Studium „Soziale Ar- Fachhochschulreife erlangte. Heute lebt Manja Günther. Die gelernte Erzieherin beit für Erzieherinnen und Erzieher“ an Praetz mit seiner Frau und seiner acht- will sich durch das berufsbegleitende der Leuphana Universität in Lüneburg jährigen Tochter in Lübeck. Damit der Studium „Soziale Arbeit für Erzieherin- aufmerksam und bewarb sich. Dort 44-Jährige das Studium neben der Fa- nen und Erzieher“ neu orientieren. studiert sie nun im zweiten Semester. milie und seinem Vollzeitjob absolvie- „Coronabedingt online, aber das läuft ren kann, hat sein Arbeitgeber ihn für besser als gedacht“, berichtet die Erzie- die Präsenzveranstaltungen freigestellt. und Positionen der Sozialen Arbeit be- herin. Ihre Kommilitoninnen und Kom- Dennoch fällt ihm der Spagat nicht leicht: rufstätig zu sein. „Wer darüber hinaus militonen seien hochmotiviert bei der „Man muss gut strukturiert sein und hoheitliche Aufgaben übernehmen und Sache, das sei schon daran zu spüren, einen Plan für sich haben – ohne den zum Beispiel bei Jugendämtern oder in wie interessiert die Vorlesungsthemen schafft man das nicht!“ Praetz motiviert der Jugendgerichtshilfe arbeiten will diskutiert würden, meint Günther. Ge- sein konkretes berufliches Ziel: Er wolle und eine Eingruppierung in den gehobe- rade beschäftige sie sich mit rassismus- seine fachlichen Fähigkeiten professiona- nen Dienst anstrebt, muss in der Regel kritischer Sozialarbeit. „Das finde ich lisieren, um Missstände besser aufzeigen die staatliche Anerkennung als Sozial- für meine Arbeit jetzt total wichtig und und mehr Bewegung in arbeitsbedingte arbeiter oder Sozialarbeiterin nachwei- rede mit meinen Kolleginnen und Kolle- Themen mit dem Schwerpunkt soziale sen“, sagt Studiengangsleiterin Angelika gen darüber, weil ich möchte, dass sich Gerechtigkeit hineinbringen zu können. Henschel. Das bereits in der Erzieheraus- da was ändert“, berichtet die Erziehe- Das Studium, das mit dem Bachelor ab- bildung absolvierte Anerkennungsjahr rin, die 15 Stunden pro Woche in einer geschlossen wird, qualifiziert die Absol- reiche hierfür nicht aus, so die Professo- Hamburger Grundschule arbeitet. venten dazu, in verschiedenen Feldern rin. Sie lege den Studierenden nahe, die Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
NEUJUSTIERUNG DER BERUFLICHEN UND AKADEMISCHEN BILDUNG 11 staatliche Anerkennung nach dem Stu- Zum Lehrplan gehören außerdem öko- drei Jahren Berufserfahrung werden dium durch ein entsprechendes Berufs- nomische und politische Bedingungen aufgrund ihrer beruflichen Qualifikati- praktikum, das vergütet werden muss, Sozialer Arbeit, methodisches Handeln on zwei Semester pauschal anerkannt. zu erlangen. In einigen Bundesländern oder soziologische, sozialpädagogische Das heißt, sie können ihr Studium in sei diese Anerkennung durch Praxispha- und -medizinische Aspekte der Sozi- sieben statt neun Semestern absolvie- sen in das Studium integriert, für die die alen Arbeit. Besonders hilfreich fand ren und müssen lediglich 140 der 180 Studierenden aber nicht bezahlt wür- Stankowski, dass durch Lehrende und Credit Points (CP) erbringen, die für ein den, so Henschel weiter. Im niedersäch- Studierende aus der Praxis ganz un- Bachelorstudium üblicherweise vorge- sischen Lüneburg kann die staatliche terschiedlich auf Themen geschaut schrieben sind. Darüber hinaus können Anerkennung auch zu einem späteren werden konnte. „Das kam immer be- beispielsweise absolvierte Fortbildun- Zeitpunkt erfolgen. Das heißt, innerhalb sonders zum Tragen, wenn wir in der gen oder ehrenamtliches Engagement von fünf Jahren nach Studienende muss Gruppe gearbeitet haben.“ individuell anerkannt werden. dafür ein entsprechendes zwölfmona- Das Studium neben dem Beruf zu meis- Berufsbegleitend zu studieren, heißt tiges Berufspraktikum absolviert wer- tern, ist dennoch eine Herausforde- in Lüneburg einmal pro Monat Freitag den. Nicht alle Studierenden sehen sich rung. „Wenn ich Kinder zu versorgen und Samstag Präsenzveranstaltungen finanziell dazu in der Lage, ihre Existenz hätte, könnte ich das so nicht packen“, zu besuchen. Darüber hinaus finden ein Jahr lang von einer Praktikantenver- sagt Stankowski, die aufgrund ihrer Ar- drei Präsenzwochen statt, die als Bil- gütung zu sichern. „Bei entsprechender beitssituation in Vollzeit weiterarbei- dungsurlaubswochen geltend gemacht Qualifizierung durch Berufserfahrung ten musste. Finanzieren konnte sie das werden können. Um das Studium in der im Feld der Sozialarbeit können sie das Studium mit einem Aufstiegsstipendi- Regelstudienzeit zu schaffen, wird den Anerkennungsjahr verkürzen“, hält die um des Bundes. Die 2008 eingeführte Studierenden empfohlen, währenddes- Professorin dagegen. Förderung erfolgt einkommensunab- sen in Teilzeit zu arbeiten. Insgesamt sei hängig – Studierende in einem berufs- der Stundenaufwand durch die Struktur Großer Fachkräftemangel begleitenden Studiengang erhalten mit Credit Points gut kalkulierbar, meint „Das Praktikantengehalt lässt sich auch jährlich 2.700 Euro für die gesamte Dau- Studiengangsleiterin Henschel. Zur Fi- verhandeln“, sagt Antje Stankowski. er. Damit kann Stankowski ihre Studien- nanzierung empfiehlt sie, sich für ein Sie studiert im letzten Semester an der gebühren bezahlen: Pro Semester fallen Stipendium zu bewerben. In manchen Leuphana Universität und weist auf 1.160 Euro an, hinzu kommen Semes- Fällen würden auch Arbeitgeber das den Fachkräftemangel im Bereich der terbeiträge von jeweils rund 200 Euro. Studium finanziell unterstützen, so Hen- Sozialen Arbeit hin, der einen guten Den staatlich anerkannten Erziehe- schel. Die meisten Studierenden zahlen Verhandlungsspielraum ermögliche. rinnen und Erziehern mit mindestens das Studium aber aus eigener Tasche. „Es >>> Sie möchte das Berufspraktikum nut- zen, um in einem neuen Arbeitsbereich Fuß zu fassen. Seit April 2019 leitet die Erzieherin eine Montessori-Kita in Lü- neburg. Dort könne sie das Praktikum für die staatliche Anerkennung nicht machen, weil es niemanden mit ent- sprechender sozialpädagogischer Qua- lifikation gebe, der sie anleiten könne. Das sieht die 38-Jährige als Chance: „Nach der Ausbildung habe ich bereits gewusst, dass ich zwischen verschie- denen Berufsfeldern wechseln möch- te.“ Mit 27 hat Stankowski ihre Aus- bildung zur Erzieherin abgeschlossen und danach neun Jahre lang im Krip- penbereich gearbeitet. Schon vor ihrer Ausbildung habe sie über ein Studium nachgedacht. „Ich hatte immer den Wunsch, mein Wissen zu vertiefen und Fotos: Frauke Janßen habe deshalb bereits verschiedene Weiterbildungen gemacht.“ Auch die Inhalte des Studiengangs empfindet sie als großen Zugewinn – zum Beispiel entwicklungspsychologische Themen Heiko Praetz kam auf Umwegen in den sozialen Bereich. Ein Sportunfall zwang den gelernten wie das der Lernpsychologie. Zimmermann zur Umschulung zum Erzieher. Jetzt studiert er im vierten Semester in Lüneburg. Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
12 NEUJUSTIERUNG DER BERUFLICHEN UND AKADEMISCHEN BILDUNG >>> wäre begrüßenswert, die Unterstützung verbessern, hat der Wissenschaftsrat notwendig.“ Zusammengefasst bedeu- auszubauen“, sagt die Professorin und 2014 eine Empfehlung herausgegeben. te das: Wie können Universitäten Stu- führt aus: „Ich halte Aufstiegsqualifizie- „Sie war als ein Appell dahingehend diengänge für Menschen attraktiv ma- rung insbesondere in typischen Frauen- gemeint, dass es durchlässige Karrie- chen, die nicht das Abitur haben? berufen aus Gleichstellungsaspekten für rewege braucht, das heißt, dass der enorm wichtig: Unsere Gesellschaft ist Wechsel von einer Seite zur anderen Niedrige Abbrecherquote nicht nur zunehmend durch Individuali- selbstverständlich sein sollte“, erläutert Für den Studiengang in Lüneburg wurde sierung und Pluralisierung von Lebens- Manfred Prenzel, Leiter des Zentrums beispielsweise zusätzlich ein Brücken- stilen gekennzeichnet, sondern auch für Lehrerinnen- und Lehrerbildung an kurs entwickelt, der nun auch Menschen durch einen sich ständig verändernden der Universität Wien. Der Professor hat aus anderen Berufszweigen wie Ergo- Wissenszuwachs in der Arbeit in ver- die Empfehlung mit herausgegeben und therapeutinnen, Sozialassistenten oder schiedensten Sektoren. Gleichzeitig trifft den Wissenschaftsrat zwischen 2014 Heilerziehungspflegerinnen einen Hoch- der demografische Wandel den Bereich und 2017 geleitet. Auch wenn sich die schulzugang ermöglichen soll. So können der Sozialen Arbeit besonders massiv, Durchlässigkeit sehr verbessert habe, die Teilnehmenden nicht nur heraus- was einen großen Fachkräftemangel zur müsse transparenter gemacht werden, finden, ob sie sich dem akademischen Folge hat. Schon um dem entgegenzu- was ein Studium für Berufstätige be- Studium gewachsen fühlen, sondern wirken, muss es Menschen ermöglicht deute, so Prenzel. Er macht deutlich: zugleich eine Zugangsberechtigung er- werden, sich durch einen akademischen „Universitäten sollten einerseits schau- langen: Wer den Brückenkurs erfolgreich Aufstieg aus beruflichen Sackgassen he- en: Welche Module müssen beruflich absolviert, bekommt damit die notwen- raus weiterzuentwickeln.“ Qualifizierte nicht mehr machen und digen 40 CP, um sich für das Bachelorstu- Um die Durchlässigkeit zwischen beruf- andersherum: Welche Zusatzmodule dium Soziale Arbeit zu bewerben. licher und akademischer Ausbildung zu sind für den Anschluss an das Studium Henschel hat den Studiengang im Rah- men der Bundesförderrichtlinie „Auf- stieg durch Bildung“ gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen kontinuier- lich weiterentwickelt. Sie lehrt auch in grundständigen Studiengängen und hat die Erfahrung gemacht, dass die Studie- renden in den berufsbegleitenden Stu- diengängen besonders motiviert und zielgerichtet durch die akademische Ausbildung gehen. Entsprechend nied- rig ist die Abbrecherquote. Von den 40 Studierenden, die sich jedes Jahr für das Bachelorstudium Soziale Arbeit in Lü- neburg einschreiben können, brechen durchschnittlich drei bis vier vorzeitig ab. Seit der Studiengang 2011 an den Start ging, ist er immer ausgebucht. Studentin Günther absolviert gerade ihr Orientierungspraktikum, das zu den Inhalten des zweiten Semesters gehört, in einer staatlich geförderten unabhän- gigen Teilhabeberatung. Damit hat die gelernte Erzieherin neben ihrer jahrelan- gen Arbeitserfahrung auch die beson- dere Verantwortung für ihren Sohn mit in den Beruf nehmen können: Sie berät Menschen mit Behinderung und deren Angehörige – ein Aufgabenfeld, in dem Foto: Frauke Janßen sie nach dem Studium arbeiten möchte. Frauke Janßen, freie Journalistin Antje Stankowski hat schon vor ihrer Ausbildung zur Erzieherin über ein Studium nachgedacht. Durch das Angebot an der Leuphana Universität in Lüneburg kann sie sich diesen Wunsch nun erfüllen. bit.ly/leuphana-berufsbegl-sozstudium Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
NEUJUSTIERUNG DER BERUFLICHEN UND AKADEMISCHEN BILDUNG 13 Ein Sonderweg mit Erfolgsaussicht // Duale Studiengänge, die einen akademischen Noch sind die Vorbereitungen für den Studienbetrieb allerdings Abschluss mit berufspraktischer Erfahrung kombi- nicht abgeschlossen. Das Gründungspräsidium und der Grün- nieren, gibt es mittlerweile viele in Deutschland. Die dungskanzler Christian Scherf haben mittlerweile ihre Arbeit Berufliche Hochschule Hamburg (BHH) geht einen aufgenommen, neben einer Berufungsordnung wurde bereits Schritt weiter. Hier kann man in einem studienin- eine Immatrikulationsordnung beschlossen. In Arbeit sind un- tegrierenden Modell sowohl ein Bachelorstudium ter anderem die Entwicklung von Curricula, eine Studien- und absolvieren als auch einen Abschluss des dualen Prüfungsordnung sowie die vorläufige Grundordnung der BHH, beruflichen Systems erwerben (s. E&W 9/2020). // zurzeit laufen mehrere Berufungsverfahren, um die Professuren für die Startphase des Studienbetriebs zu besetzen. Schwierig- Im Herbst werden die ersten Studierenden an der BHH ihr keiten beim Start in das erste Semester könnten allerdings die Studium beginnen. Der Hamburger Senat beschreibt die zum Auswirkungen der Corona-Pandemie bereiten. Das gilt vor allem 1. Januar vergangenen Jahres gegründete Errichtung der BHH für das quantitative Angebot, aber auch für die zu erwartende im Kontext von Durchlässigkeit, Anerkennung und Anrechnung Nachfrage nach Ausbildungs- beziehungsweise Studienplätzen. beruflicher Qualifikationen sowie einer Gleichrangigkeit aka- Aus gewerkschaftlicher Sicht sind duale Studiengänge hin- demischer und beruflicher Bildung. Während bislang in Ham- sichtlich des Zugangs, der Studierbarkeit und der möglichen burg mehr als 40 Prozent der Auszubildenden über eine Hoch- Konkurrenz gegenüber dem Ausbildungssystem problema- schulreife verfügen und viele Absolventen des dualen Systems tisch. Bei der BHH sind bislang – auch dank der Besetzung mit Abitur ihre Unternehmen nach der Ausbildung verlassen, einer Arbeitnehmervertretung im Gründungsrat – einzelne um zu studieren, fehlt es bislang an kombinierten Bildungsan- Grundannahmen und Entscheidungen getroffen worden, die geboten einer Berufsausbildung und eines Bachelorstudiums, den Qualitäts- und Durchlässigkeitskriterien entsprechen, die nicht mit stark verdichtetem Lern- und Arbeitsaufkommen wie sie der GEW-Gewerkschaftstag 2017 mit dem Beschluss sowie mit Studiengebühren verbunden sind. Der Senat will die- „Duales Studium“ als Anforderungen gefasst hat. Es bleibt zu ser Entwicklung mit einer studienintegrierenden Ausbildung hoffen, dass dieser Weg, Qualitätsanforderungen zu erfüllen, begegnen, die innerhalb von vier Jahren sowohl eine duale weiterhin beschritten wird und die BHH kein Sonderfall bleibt. Ausbildung als auch ein Bachelorstudium und damit zwei be- Mittelfristig sollte sich die BHH auch der Verbindung von Aus- rufsqualifizierende Abschlüsse ermöglicht. Dabei werden die bildung und Studium in den zukunftsträchtigen vollzeitschuli- Leistungen an den drei Lernorten Betrieb, Berufsschule sowie schen Berufen des Gesundheits-, Sozial- und Erziehungswesens Hochschule gegenseitig anerkannt und somit inhaltliche Dop- widmen. Generell ist die Entscheidung Hamburgs begrüßens- pelungen reduziert. Für Unternehmen ist das attraktiv, weil wert, eine öffentliche berufliche Hochschule als Alternative zu sie nicht nur leistungsstarke Auszubildende und Studierende der in der jüngeren Vergangenheit häufig zu beobachtenden gewinnen, sondern auch dauerhaft qualifizierte Fachkräfte be- Einrichtung privater Hochschulen zu gründen. ziehungsweise Spezialisten binden. Als neuer Hochschultypus soll die BHH zudem ein eigenstän- Ansgar Klinger, diges Forschungsprofil erhalten, das die zugrunde liegende GEW-Vorstandsmitglied Berufliche Bildung und Weiterbildung. Verzahnung von Hochschule und Praxis nutzt. Der Autor gehört dem Gründungsrat der BHH an. Berufsabschluss Berufs- und Studienabschluss Abschluss Bachelor gegebenenfalls 4. Jahr Fortbildung Studium mit Ausbildungs- und Praxisbezug Abschluss Duale Ausbildung 3. Jahr Grafik: zplusz · Quelle: FHH 2019, S. 6 Duale Ausbildung Studienintegrierende Ausbildung 2. Jahr Zwischenprüfung und Entscheidung 1. Jahr Studienintegrierende Ausbildung – Grundstufe – Modell der studienintegrierenden Ausbildung Betriebe Berufsschule Hochschule an der Beruflichen Hochschule Hamburg Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
14 NEUJUSTIERUNG DER BERUFLICHEN UND AKADEMISCHEN BILDUNG Hohe Hürden // Wer studieren will und eine abgeschlossene Berufsaus- abschluss nur in einem Fach studieren, das affin zu seiner Berufsausbildung ist: E&W: Sind diese Vorbehalte begrün- det? bildung, aber kein Abitur hat, Ein Elektriker darf Elektrotechnik oder Wolter: Das erste Argument ist ein dem wird die Aufnahme eines ein Kaufmann Betriebswirtschaft stu- bisschen absurd, weil die Zahlen nicht Studiums erschwert. E&W hat dieren. Das ist problematisch, weil wir so groß sind, dass die Hochschulen das mit Andrä Wolter, Professor für viele Ausbildungsberufe in Deutschland nicht bewältigen könnten. Die Öffnung Hochschulforschung, über die haben, die nicht mit einem Studienfach des Hochschulzugangs für beruflich nach wie vor mangelhafte Durch- korrespondieren, und umgekehrt viele qualifizierte Bewerberinnen und Be- lässigkeit beim Hochschulzugang Studiengänge, für die es keine Ausbil- werber ohne Abitur wird sicher nicht gesprochen. // dungsberufe gibt. dazu führen, dass deren Studienanteil E&W: Warum tun wir uns so schwer exorbitant steigt. Wer einen Fortbil- E&W: Die Bildungspolitik befasst sich damit, berufliche und akademische Bil- dungsabschluss wie einen Meister oder seit vielen Jahren mit der Durchlässig- dung als gleichwertig anzusehen? Techniker macht, erwirbt den in keit zwischen beruflicher und akademi- Wolter: Die Widerstände gehen eher der Regel, um scher Bildung. Eigentlich müssten wir von der hochschulischen als von der be- hier also doch ganz gut abschneiden? ruflichen Bildung aus. Prof. Andrä Wolter: Bildungsrechtlich Zwar unterstützen betrachtet hat diese Durchlässigkeit in Stellungnahmen der den vergangenen Jahren zugenommen. Hochschulrektoren- Die Öffnung des Hochschulzugangs konferenz (HRK) und für beruflich qualifizierte Bewerberin- des Wissenschaftsra- nen und Bewerber ohne traditionelle tes eine Öffnung des schulische Hochschulreife ist seit dem Hochschulzugangs, und sich Beschluss der Kultusministerkonferenz einige Hochschulen sind selbstständig zu machen (KMK) im Jahr 2009 größer geworden: in dem Bereich auch aktiv und oder im Betrieb aufzusteigen, Inhaberinnen und Inhabern von Ab- engagiert. Andere Hochschulen nicht um zu studieren. Das zweite schlüssen wie Meister, Techniker oder sind dagegen noch zurückhaltend. Argument kann die Studie „Nicht- Fachwirt wurde damit der Hochschul- Einige haben zum Beispiel Kontin- traditionelle Studierende“ der zugang eröffnet. Die berufliche Fortbil- gente für beruflich qualifizierte Humboldt-Universität und des dung wurde praktisch mit dem Abitur Studienbewerber eingeführt. Deutschen Zentrums für Hoch- gleichgestellt. Trotzdem ist die Durch- E&W: Welche Befürchtungen ha- schul- und Wissenschaftsfor- lässigkeit an der Schwelle des Hoch- ben diese Hochschulen? schung* widerlegen: Wir stellen schulzugangs immer noch bescheiden. Wolter: Die Zurückhaltung, die wir zwar fest, dass die Abbruchquo- Die Hürden für Bewerberinnen und oft beobachten, hängt mit zwei te dieser Gruppe etwas höher Bewerber aus der betrieblichen Berufs- Argumenten zusammen. Das eine ist als im Durchschnitt. Aber die ausbildung oder dem Schulberufssys- ist die Sorge, dass es einen mas- Notenunterschiede zwischen den tem sind weiter hoch, mit Unterschie- siven Zustrom geben könnte. Die beruflich Qualifizierten und den den zwischen den Ländern. Hochschulen haben ohnehin schon Abiturienten liegen im Komma- E&W: Der KMK-Beschluss ist also nur Kapazitätsengpässe, die will man bereich. begrenzt wirksam? nicht verstärken. Die andere Be- Wolter: Vor 2009 lag der Anteil der nicht sorgnis hängt damit zusammen, traditionell Studierenden, also derje- dass die Meinung immer noch weit nigen ohne Abitur, weit unter einem verbreitet ist, berufliche Bildung Prozent. Jetzt pendelt er um die 3 Pro- führe nicht zur Studierfähigkeit. zent. Das ist zumindest ein kleiner Fort- schritt. Wenn man mehr erreichen will, muss man vor allem die Anerkennung der betrieblichen Berufsausbildung beim Hochschulzugang verbessern. Bisher darf jemand ohne Fortbildungs- Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
NEUJUSTIERUNG DER BERUFLICHEN UND AKADEMISCHEN BILDUNG 15 E&W: Haben Sie analysiert, warum es in Erfahrung mit Wissenschaftskompetenz dieser Gruppe etwas mehr Abbrecher auszeichnen. Wenn eine gelernte Kran- gibt? kenschwester Medizin studiert, dann ist Wolter: Viele beruflich qualifizierte Stu- das ein besonderes Profil. Die Öffnung dierende haben Zeitmanagement-Pro- des Hochschulzugangs wird den Mangel bleme, weil sie parallel ihre Erwerbstä- bei Fachkräften mit Hochschulabschluss tigkeit fortsetzen und – wenn sie älter wegen der relativ niedrigen Zahlen der sind – in vielen Fällen Familien und Kin- nicht traditionell Studierenden aber der haben. Dagegen könnte man etwas nicht beseitigen können. tun, indem zum Beispiel Teilzeitstudi- E&W: Der Wissenschaftsrat empfahl engänge an den Hochschulen ausge- 2014 auch einen Ausbau hybrider For- Foto: privat baut würden. Bei anderen ergeben sich mate. schlicht neue Karriereperspektiven, Wolter: Hybride Angebote wie duale etwa der Aufstieg im Betrieb. Wichtigs- Studiengänge sind ganz wichtig. Ihre Andrä Wolter ist Professor (i. R.) für Hochschulforschung an ter Aspekt sind indes Leistungsgründe Einführung hat sich als Erfolgsmodell der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2004 bis 2018 war und Fehlentscheidungen. Hier sind die herausgestellt und ist hochgradig at- er Mitglied der Autorengruppe des Nationalen Bildungsbe- Hochschulen gefordert, ihre Informa- traktiv sowohl für Unternehmen als richts. Er ist Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung und tions- und Bera- auch für Studierende. Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften. Aber es trägt nur wenig zur Durchlässigkeit bei, weil die große Mehrzahl Gleichwertigkeit weit weg ist. Natürlich der Studierenden dort kann es sein, dass jemand, der einen be- mit dem Abitur an die ruflichen Fortbildungsabschluss hat und Hochschule kommt und ein erfolgreiches Unternehmen gründet, der Öffnungseffekt gering ist. mehr verdient als eine Absolventin oder E&W: Wir haben viel über Verbes- ein Absolvent aus einem Studienfach tungsangebote für serungsbedarf gesprochen: Was mit prekären Arbeitsmarktaussichten. beruflich qualifizierte Studie- läuft denn gut? Aber insgesamt ist es so, dass Hoch- rende sowie die Unterstützung Wolter: Neben einer im Vergleich zu schulabsolventen mit Blick auf mone- vor und nach Studienaufnahme den vergangenen Jahren größeren täre Bildungserträge im statistischen noch auszubauen. Offenheit Nicht-Abiturienten gegen- Durchschnitt weit von dem einer beruf- E&W: Die Forderung nach mehr über und einigen engagierten Hoch- lichen Ausbildung entfernt sind. Durchlässigkeit wird auch vor schulen sehen wir deutliche Fort- E&W: Könnte mit mehr Durchlässig- dem Hintergrund des Fachkräfte- schritte in einem anderen Sektor: Das keit von beruflicher und akademischer mangels erhoben. betrifft die Anrechnung beruflicher Bildung die hohe soziale Abhängigkeit Wolter: Der Arbeitsmarkt spielt Qualifikationen auf Studiengänge. Das des schulischen Bildungswegs korrigiert eine Rolle, weil hochqualifi- war vor 20 Jahren noch kein Thema, werden? zierte Fachkräfte ausgebildet inzwischen bemühen sich viele Hoch- Wolter: Ein bisschen. Wir haben in un- werden können, die sich durch schulen um die Entwicklung spezieller serer Studie die Bildungsherkunft aller das besondere Profil der Ver- Verfahren. Es gibt auch mehr berufs- Gruppen verglichen und festgestellt, bindung von Berufsabschluss, orientierte Studienangebote, die ein dass kein Zugangsweg zur Hochschule k.adobe.com beruflicher Qualifikation und spezielles Angebot für beruflich qualifi- sozial so offen ist wie der für beruflich zierte Studierende darstellen. Hier hat qualifizierte Studierende ohne Abitur. Foto: beermedia – stoc der Bund-Länder-Wettbewerb „Offene Aber eine Korrektur der sozialen Un- Hochschulen“ einiges bewirkt. gleichheit in der Beteiligung an Hoch- E&W: Wie wichtig ist auch die gleiche schulbildung auf diesem Weg zu errei- gesellschaftliche Wertschätzung für chen, ist schwierig. Ein Anteil von rund beide Bildungsbereiche? 3 Prozent ist zu wenig, um die massive Wolter: Die politische Formu- Ungleichheit auf den anderen Zugangs- lierung ist immer die der Gleich- wegen aufzuheben. Dazu müsste man Die Durchlässigkeit zwischen wertigkeit beruflicher und hoch- im Schulsystem ansetzen. den Systemen der beruflichen und schulischer Bildung. Das ist auch akademischen Bildung ist in Deutsch- ein wichtiges Ziel, wenn es um Interview: Nadine Emmerich, land zwar größer geworden, der Anteil die Anerkennung der Leistung der be- freie Journalistin von Nicht-Abiturienten unter den Stu- ruflichen Bildung geht. Aber es ist eine dierenden ist allerdings nach wie vor gewisse rhetorische Formel, weil unsere mit rund 3 Prozent relativ gering. empirische Realität von einer solchen *bit.ly/nichttraditionell-studierende Erziehung und Wissenschaft | 05/2021
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