Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die transkulturelle Archipelisierung von Insel-Welten

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Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die transkulturelle Archipelisierung von Insel-Welten
Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die
­transkulturelle Archipelisierung von Insel-Welten
Vielleicht haben Sie schon einmal vom Begriff „Transkulturalität“ und von
„transkulturellen Prozessen“ gehört; und vielleicht haben Sie selbst schon dieses
Konzept angewandt. Aber wissen Sie auch, woher es stammt?
     Verfolgt man hierzulande die diesbezügliche Diskussion und konsultiert etwa
einschlägige Reader von Wolfgang Welsch und anderen, so könnte man den Ein-
druck gewinnen, dass dieses Konzept – wie so oft – aus den USA kommt. Aber –
wie so oft – stellt man bei genauerem Hinsehen fest, dass es dort unter Weglassung
des Namens seines eigentlichen Urhebers nur verbreitet wurde, ohne die tatsäch-
liche Komplexität tatsächlich berücksichtigt zu haben, die es seit seiner Geburt
besaß. Zudem sollten wir nicht den leichtsinnigen Fehler begehen, „transkultu-
rell“ mit „interkulturell“ zu verwechseln und das Präfix „inter-“ einfach durch das
schickere „trans-“ zu ersetzen, ohne die Hintergründe für diese Begriffsbildung
zu kennen. Deshalb machen wir jetzt einen kleinen historischen Ausflug in eine
Region, die spätestens seit den dreißiger Jahren zu einer der wichtigsten Areas
weltweiter Theoriebildung avancierte und bis heute nichts von ihrer Faszinations-
kraft verloren hat.
     Wir schreiben das Jahr 1940. In diesem Jahr legte der kubanische Anthro-
pologe, Historiker und Kulturtheoretiker Fernando Ortiz sein nicht nur theo-
retisch, sondern auch literarisch ausgefeiltes Meisterwerk Contrapunteo cubano
del tabaco y el azúcar1 vor, das eine neue Deutung kubanischer Geschichte aus
der Bewegung, der Vektorisierung aller Lebensbezüge vorschlug. Diese Akzent-
verlagerung weg von einer eher statischen Raum-, hin zu einer überaus mobilen
und weltweit konzipierten Bewegungsgeschichte deutete sich in vielen Passagen
dieses literarisch-theoretischen Grundlagenwerks an und war nicht nur für die
‚Erfindung‘ des Begriffs „Transkulturalität“, sondern auch für einen veränderten
Blickwinkel in Hinsicht auf Fragen des Territorialen bahnbrechend geworden. So
heißt es bei Ortiz in seinem Kubanischen Kontrapunkt:

     Es gab für die Kubanität keine transzendenteren menschlichen Faktoren als diese kon-
     tinuierlichen, radikalen und kontrastierenden geographischen, wirtschaftlichen und sozia-
     len Transmigrationen der Kolonisten, als diese beständige Vergänglichkeit an Vorhaben und
     als dieses Leben immer aus der Entwurzelung von der bewohnten Erde, in einem ständigen
     Auseinanderklaffen gegenüber der aufrecht erhaltenen Gesellschaft. Menschen, Ökono-

1 Vgl. Ortiz, Fernando: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar. Prólogo y Cronología Julio Le
Riverend. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1978.

  Open Access. © 2021 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter.         Dieses Werk ist lizensiert
unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 4.0
International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110703450-032
742          Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung

      mien, Kulturen und Sehnsüchte, alles fühlte sich hier fremd, provisorisch, veränderlich an,
      wie „Zugvögel“ über dem Land, an seiner Küste, stets seinem Willen und Wollen entgegen.
      Mit den Weißen kamen die Schwarzen, zuerst aus Spanien, dann in einer Ausbreitung
      von Guinea- und Kongosklaven, schließlich aus ganz Nigritien. Mit ihnen kamen ihre ver-
      schiedenartigen Kulturen, einige so wild wie die der Siboneyes, andere von fortgeschrittener
      Barbarei wie die der Tainos, einige aus größerer wirtschaftlicher und sozialer Komplexität
      wie etwa die Mandingas, die Woloffs, Haussas, Dahomeys und Yorubas, andere wieder
      mit Ackerbau, Sklaven, Geld, Märkten, Außenhandel sowie zentralisierten und effizienten
      Regierungsmächten über Territorien und Ansiedlungen, die so groß wie Kuba waren; Kul-
      turen, die in der Mitte zwischen denen der Tainos und der Azteken lagen; schon mit Metal-
      len, aber noch ohne Schrift.2

                             Abb. 113: Fernando Ortiz (Havanna, Kuba, 1881 – ebda., 1969).

Der Versuch des Anthropologen, das zu bestimmen und abzugrenzen, was in der
zeitgenössischen kubanischen Diskussion als „cubanidad“ bezeichnet wurde,
zielt – anders als bei alternativen Entwürfen – nicht auf Herstellung einer fest-
gefügten und festgestellten nationalen und territorialen Identität des Inselstaates.
Ortiz erkannte sehr deutlich die ungeheure kulturelle Diversität all jener Men-
schen, die auf der Antilleninsel zusammenlebten und an unterschiedlichen Orten
in verschiedenartige Sklaverei-Systeme und Wirtschaftsweisen eingebunden
und eingezwängt waren. Daher wird in seinem Entwurf die „Kubanität“ gerade
aus den Bewegungen und Querungen sehr unterschiedlicher Kulturen vektoriell
bestimmt, wobei die ursprüngliche Herkunft des Kulturhistorikers aus der mit
der italienischen Philologie in enger Beziehung stehenden Kriminologie Cesare
Lombrosos bei seiner Evaluierung der unterschiedlichen Kulturen ebenso durch-
scheint wie eine rassistische Unterströmung, die gerade Ortizʼ frühe Arbeiten
noch gekennzeichnet hatte. Fernando Ortiz brauchte Jahrzehnte, um sich von
dieser Kriminologie und ihren Grundlagen und Einflüssen Stück für Stück zu
emanzipieren und in seinen wissenschaftlichen Schriften eigenständige Konzep-
tionen zu entwickeln, welche dann aber nicht statisch, sondern dynamisch und
in ständiger Bewegung waren.

2 Ebda., S. 95.
Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung   743

     Entscheidend für unsere Fragestellung aber ist weniger Ortizʼ punktuelle
Rückbeziehung auf eurozentrisches Rassedenken, als vielmehr eine neue Hori-
zontlinie, die dieser komplexe, zwischen Literatur und Wissenschaft oszillierende
Text des Jahres 1940 freizulegen vermochte. Denn das scheinbar Statische erweist
sich aus dieser Perspektivik als hochgradig mobil, ständigen Veränderungen und
Verwerfungen, Transfers und Transformationen unterworfen. „Transkulturali-
tät“ erscheint hier als Bewegungskonzept und damit als Teil einer Bewegungs-
geschichte der Kulturen, die es immer noch zu schreiben gilt. Aber ist ein Territo-
rium nicht ein Territorium, ein Raum nicht ein Raum?
     Nun, das Territorium konstituiert sich nicht aus einer ein für alle Mal gege-
benen Geo- und Topographie, sondern entsteht durch all jene Querungen und
Migrationen, die diesen Raum durchlaufen und ihn dabei herausbilden. Natio-
nale Identität wird nicht als etwas Essentielles, Intrinsisches in Szene gesetzt,
sondern erweist sich als grundlegend prekäres Zusammenleben unterschied-
lichster Kulturen, die auf den verschiedensten ‚Stufen‘ stehend in einen wahren
Wirbel der Transkulturalität miteinbezogen werden. Nichts ist wesenhaft, nichts
wird essentialisiert gedacht. Die Frage der Konvivenz wird im Spannungsfeld
kolonialer wie postkolonialer Bewegungen, Migrationen und Deportationen von
entscheidender Bedeutung für das (Über-)Leben des jungen Staatsgebildes Kuba
sein, das damals von einer Krise in die nächste taumelte. Kuba hatte eine lange
Phase seiner Herausbildung als Kulturnation hinter sich, aber erst wenige Jahr-
zehnte formeller politischer Unabhängigkeit erfahren, stets in direkter postkolo-
nialer Abhängigkeit von den übermächtigen USA.
     Verstehen wir den kubanischen Anthropologen präzise und korrekt: Die
Beziehung zu Territorium und Nation verschwindet bei Fernando Ortiz keines-
wegs, wird aber fundamental anders strukturiert und perspektiviert! Im Vorder-
grund stehen in seiner gesellschaftlichen Vision und anthropologischen Analyse
die Zugvögel, Einwanderer, Migranten, die aus Afrika verschleppten Sklaven und
ihre Nachfahren – all jene Dislokationen, die auch und gerade das Zusammen-
leben prägen. Kein Bild eines auf Vereinigung angelegten „mestizaje“ – wie es
noch die Konzeptionen José Martís im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gekenn-
zeichnet hatten – charakterisiert das Gemeinwesen, kein Bild einer Fusion oder
eines „melting pot“, wie es selbst noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
im Zeichen anzustrebender nationaler Homogenität propagiert wurde. Vielmehr
werden Territorium, Nation und Identität gleichsam zu Bewegungsbegriffen
umdefiniert und damit in komplexe Bewegungsbilder integriert, die sich weder
auf eine homogene Logik noch auf eine Logik des Homogenen reduzieren lassen.
Fernando Ortiz setzte Kubas komplexe Geschichte von Migrationen und Trans-
migrationen einfach in Bewegung.
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     Dabei beschränkte sich sein Blickfeld durchaus nicht auf die größte der Antil-
leninseln oder den zirkumkaribischen Raum. Innerhalb des von Fernando Ortiz
aufgespannten, transatlantisches Spannungsfeldes zwischen Europa, Afrika und
Amerika werden alle Räume zu Bewegungs-Räumen, die durch das Queren der
Zugvögel geschaffen werden: jener „aves de paso“, die letztlich für ein Leben ohne
Verwurzelung stehen, für eine „vida siempre en desarraigo de la tierra habitada“.
Sie repräsentieren ein Leben ohne festen Wohnsitz, das in jeden begrenzten Raum
die Koordinaten der Welt einträgt und damit zugleich ein LebensWissen und Über-
LebensWissen einbringt, das nicht von einem einzigen Ort aus gedacht werden
kann. Wer die Geschichte Kubas verstehen will, so der Verfasser des Contrapunteo
cubano del tabaco y el azúcar, der muss sich nicht nur in der Geschichte Kubas,
Spaniens und Europas auskennen, sondern muss die komplexe Geschichte des
afrikanischen Kontinents und seiner Kulturen hinzunehmen, um sie im Rahmen
einer Weltgeschichte zu denken, die sich in Kuba faszinierend verkörpert und dort
lebendig ist.
     Diese neue Deutung der Geschichte Kubas – aber auch Amerikas insgesamt –
wird von Fernando Ortiz sehr bewusst mit dem Schicksal des von ihm geschaffe-
nen Neologismus der „Transkulturation“ verknüpft. Er soll jene neue Sichtweise
des Transits, der Transmigration und des Transitorischen eröffnen, die nach
Ansicht des kubanischen Kulturtheoretikers alle Erscheinungsformen kubani-
schen Lebens beherrschen – von der Arbeit über das Essen bis hin zum Wohnen.
Alle Ausdrucksformen kubanischen Alltagslebens, aber auch von Kunst und
Literatur sind ohne den Hintergrund dieser umfassenden und fortbestehenden
Transkulturation nicht adäquat zu denken. So heißt es am Ende des der „trans-
culturación“ gewidmeten Kapitels seines Contrapunteo cubano:

      Diese Fragen der soziologischen Nomenklatur sind für ein besseres Begreifen der sozialen
      Phänomene nicht trivial, und dies noch weniger in Kuba, wo wie in jedwedem Volke in
      Amerika die Geschichte eine überaus intensive, komplexe und unaufhörliche Transkultura-
      tion verschiedener Menschenmassen ist, welche allesamt im Übergang begriffen sind. Das
      Konzept der Transkulturation ist kardinal und auf elementare Weise unverzichtbar, um die
      Geschichte Kubas und, aus analogen Gründen, die Geschichte generell von ganz Amerika
      zu begreifen.3

Wo Fernando Ortiz auf die Geschichte seiner Heimatinsel und auf diejenige Ame-
rikas blickt, da ist letztlich weltumspannende Geschichte gemeint. Denn diese
innovative Interpretation der Geschichte Amerikas führt die Notwendigkeit vor
Augen, auch die Historie anderer Weltteile mit verändertem Blick aus der Per-

3 Ebda., S. 97.
Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung   745

spektive einer Bewegungsgeschichte zu betrachten. Zeigt nicht der Mythos von
Europa selbst die ganze Spannung auf zwischen Verführung und Entführung,
Verpflanzung und Fortpflanzung, Verbringung und Vergewaltigung, zwischen
kontinentaler Herkunft und insularer Zukunft: eingebettet in die Unmöglichkeit,
Europa außerhalb seiner zirkum-mediterranen wie globalen, außereuropäischen
Kontexte zu verstehen?
     Das Beispiel Kubas, aber gerade auch Europas und jeder einzelnen seiner
in ständiger Bewegung befindlichen Nationen zeigt mit aller Deutlichkeit die
Dringlichkeit auf, die simple Gegenüberstellung von Nation und Welt, National-
kultur und Weltkultur, Nationalliteratur und Weltliteratur aufzugeben zugunsten
einer Sichtweise, in der Transfer-Bewegungen und damit einhergehender Trans-
formation, Versetzung und damit einhergehender Übersetzung entscheidende
Bedeutung zukommt. Es geht um die Entfaltung einer fundamentalen Poetik der
Bewegung, welche sich aus dem halb wissenschaftlichen, halb literarischen Con-
trapunteo cubano ableiten lässt. Denn das Literarische in diesem Band ist nicht
weniger als das Wissenschaftliche eine fundamentale Untersuchung – und Fer-
nando Ortiz wusste sich an diesem Punkte ganz mit dem von ihm bewunderten
und studierten Alexander von Humboldt im Einklang, der im Vorwort zu seinen
Ansichten der Natur aus gutem Grund die Verbindung zwischen „einem literari-
schen und einem rein szientifischen Zweck“ betont hatte. Doch hier ist nicht der
Ort, auf die strukturellen Parallelen der Werke des kubanischen und des preußi-
schen Kulturforschers einzugehen!
     Vielmehr möchte ich im weiteren Fortgang eine vielfältige intertextuelle Ver-
bindung verfolgen, die sich zunächst innerhalb der kubanischen Welt zwischen
zwei kubanischen Zeitgenossen entwickelte, deren Werke jeweils für wichtige
Aspekte eines Schreiben im Zeichen der Postmoderne verantwortlich zeich-
nen. Für den Bereich der Literatur, aber auch der Kultur im allgemeinen hat
wohl kein anderer früher als der kubanische Dichter und Romancier José
Lezama Lima aus dem literarisch-wissenschaftlichen Schreiben des Fernando
Ortiz wichtige und wegweisende Konsequenzen gezogen. Der als großer Poet
hochgeschätzte, aber als Kulturtheoretiker bis heute unterschätzte Autor hat in
seinem faszinierenden literarischen Essay La expresión americana die archipe-
lische Strukturierung von fünf Vorträgen zusammengefasst, die er am 16., 18.,
22., 23. und 26. Januar 1957 in Havanna im Centro de Altos Estudios des Instituto
Nacional de Cultura gehalten hatte. Sehen wir uns diese Amerikanische Aus-
druckswelt einmal näher an!
     Auch José Lezama Limas Ansatz ist von einer Betrachtung Kubas im Weltmaß-
stab geprägt, eine Tradition, die ihn und Fernando Ortiz mit dem kubanischen
Modernisten José Martí verbindet. Man könnte in dem Versuch des mit der euro-
päischen, insbesondere der spanischen und deutschen Philologie bestens ver-
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trauten kubanischen Schriftstellers, die kulturelle Ausdruckswelt der Amerikas
aus ihren weltweiten Wechselbezügen zu erhellen, zugleich einen wohldurch-
dachten Beitrag dazu erblicken, die Literaturen Amerikas jenseits des Nationalen
und diesseits des Weltliterarischen neu zu begreifen. La expresión americana
stellt aus dieser Perspektive eine mit den Mitteln der Literatur durchgeführte
Untersuchung und Erkundungsreise dar, welche die Räume zwischen Nationa-
lem und Globalem auf neue Weise als Bewegungsräume zu verstehen gibt. Nicht
umsonst bilden Ausdrucksformen des sich Entziehenden, Entschwindenden, des
sich Transformierenden und durch Metamorphose Umbildenden die entscheiden-
den Konfigurationen, welche die Lyrik des eigentlichen Kopfes der legendären
Zeitschrift Orígenes auszeichnen. Auch an dieser Stelle ergibt sich somit eine
deutliche Parallele zu Fernando Ortizʼ Werk.
     Gleich zu Beginn des ersten Vortrags erscheint unter dem Titel „Mitos y
cansancio clásico“ die für Lezama Limas Denken so charakteristische „forma en
devenir“,4 jene nicht nur ihre Herkünfte, sondern auch ihre Zukünfte enthal-
tende „Form im Werden“, die gleichsam die Bewegungsbahnen ihrer vektoriellen
Zeichenhaftigkeit in sich versammelt und vereinigt. Die vektorielle Verfasstheit
dieser Form-in-ständigem-Werden umfasst daher nicht nur retrospektive, sondern
zugleich – und vor allem – auch prospektive Dimensionen einer kulturellen Land-
schaft, die sich bei Lezama Lima leicht mit der offenen Strukturierung des kuba-
nischen wie des karibischen Archipels verbindet.5 Von Beginn an kommt dabei
transarealen Konfigurationen eine überragende Bedeutung zu: Nichts wird aus
einem statischen Raum, nichts aus einer fixierten Territorialität heraus perspekti-
viert, sondern vielmehr in vektorielle Bahnungen integriert, die wenig mit einer
Raumgeschichte, viel aber mit einer Bewegungsgeschichte zu tun haben. Fer-
nando Ortizʼ Denken ist folglich auch auf Ebene der Gesamtkonstruktion deutlich
spürbar.
     In seinem abschließenden, am 26. Januar 1957 gehaltenen und unter dem
Titel „Sumas críticas del americano“ als letztes Kapitel in La expresión americana
einmontierten Vortrag macht sich der kubanische Essayist über alle Versuche
lustig, unterschiedlichste Formen der Kunst zu territorialisieren und damit auf
einen einzigen Herkunftsort zu reduzieren. Es ist dabei aufschlussreich, wie er
Kunst und Künstler der historischen Avantgarden miteinbezieht:

4 Lezama Lima, José: La expresión americana. Madrid: Alianza Editorial 1969, S. 9.
5 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Weltsichten Amerikas. Hemisphärische Konstruktionen in José Le-
zama Limas „La expresión americana“. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte /
Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXXVI, 1–2 (2012), S. 175–208.
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     Picasso wollte man bezüglich seiner ersten Äußerungsformen herausnehmen aus der fran-
     zösischen Tradition in dieser Säkularisierung, aus der Ära des Experimentierens und der
     Mutationen, um ihn nach seinem eigenen Geschmack als zeitgenössischer Luchs an die
     spanische Tradition zu kleben, die weniger risikofreudig mit geringerem Tempo vorrückt
     und eben darum widerständiger ist gegenüber den Anforderungen jeglichen Unwetters.
     (Man vergaß jene maliziöse Tradition, der zufolge ebenso El Greco wie Goya sich der his-
     torischen Synthese und nicht den Erzeugnissen des Indigenismus verdankten).6

Dies ist eine deutliche Absage an jeglichen Versuch, bestimmte Künstler in ein
nationales Schema zu pressen. Die Rückführung ebenso des Künstlers wie seiner
Kunst auf eine wie auch immer geartete nationale Tradition und Bestimmung wird
in den „Sumas críticas del americano“ von Lezama Lima ad absurdum geführt,
eben weil für den kubanischen Essayisten Kunst aus der Perspektive einer ame-
rikanischen Ausdruckswelt nicht auf ein Nationales reduzierbar ist. Zugleich aber
wird auch deutlich, dass in La expresión americana die weltweite Vielverbunden-
heit jeglicher kulturellen Hervorbringungen Kubas, der Karibik oder der Amerikas
gerade nicht dazu führen darf, alles im Globalen, gleichsam in der Weltkultur oder
der Weltliteratur, aufgehen zu lassen und auflösen zu wollen. Denn dies wäre die
falsche Folgerung aus einer Sichtweise jenseits nationaler (und nationalistischer)
Grenzziehungen.
     Was in den TransArea Studies7 aus einer Episteme der Bewegungsgeschichte
heraus als Transit und Translation, Transfer und Transformation zwischen ver-
schiedenen Areas neu perspektiviert wird, um die Abgeschlossenheit und Exklu-
sionslogik der Area Studies kritisch zu überwinden, ist in La expresión americana
bereits deutlich angelegt. Und dies gerade aus den stets wechselnden Blickpunk-
ten eines amerikanischen Schriftstellers, der wie Jorge Luis Borges in El escritor
argentino y la tradición nicht nach der territorialen Verwurzelung einer Kultur
fragt, sondern den Traditionsbegriff selbst ent-essentialisiert und von ‚seinem‘
Territorium abtrennt. Wie bei Fernando Ortiz befindet sich alles in Bewegung, ist
nichts in territoriale Grenzen eingezwängt. Tradition und Territorialität werden
aber nicht einfach ausgeblendet, sondern in einen bewegungsgeschichtlichen
Zusammenhang gebracht: Gerade das scheinbar Statische verwandelt sich so
unter den Augen der Leserschaft in einen Bewegungsbegriff, in welchem jegliche
festgefügte, unbewegliche Identität zum Absterben verurteilt ist.
     So verweist José Lezama Lima auch darauf, dass es die synthetisierende Kraft
der Goethezeit von zeitgenössischen Formen künstlerischer beziehungsweise lite-

6 Lezama Lima, José: La expresión americana, S. 159.
7 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: TransArea. Une histoire littéraire de la mondialisation. Traduction de
Chloé Chaudet. Préface de Jean-Marc Moura. Paris: Classiques Garnier 2019.
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rarischer Synthese abzugrenzen gelte. Vergessen wir dabei nicht, dass die künst-
lerische Erfahrung der historischen Avantgarden zu diesem Zeitpunkt noch sehr
frisch ist:

      Die großen Figuren der zeitgenössischen Kunst haben Regionen entdeckt, die überspült zu
      sein schienen, Formen des Ausdrucks oder der Erkenntnis, die man nicht länger gepflegt
      hatte, die aber schöpferisch blieben. Joyces Kenntnis des Neuthomismus, mag sie auch
      dilettantisch sein, war kein spätes Echo auf die Scholastik, sondern eine mittelalterliche
      Welt, welche – wieder in Kontakt mit ihm gekommen – seltsam schöpferisch wurde. Die
      Berührung von Strawinsky mit Pergolesi war keine neuklassische Schlauheit, sondern die
      Notwendigkeit, einen Faden in jener Tradition zu finden, welche dem Geheimnis der Mystik,
      dem Kanon der Schöpfung, der Festheit in den Mutationen, dem Rhythmus der Rückkehr
      so nahe gekommen war. Die große Ausnahme eines Leonardo oder eines Goethe verwan-
      delte sich in unserer Epoche in die signierte Ausnahme, welche eine intuitive und schnelle
      Kenntnis der vorangegangenen Stile erforderte, Antlitze dessen, was auch weiterhin, nach
      so vielen Schiffbrüchen und einer passenden Situation innerhalb der zeitgenössischen
      Polemik, schöpferisch geblieben ist, am Kreuzungspunkt dessen, was sich in den Schatten
      zurückzieht, und des Wasserstrahls, der aus den Wassern springt.
      Wenn Picasso vom Dorischen zum Eritreischen, von Chardin zum Provenzalischen sprang,
      so erschien uns dies als ein optimales Zeichen der Zeiten, aber wenn ein Amerikaner Picasso
      studierte und assimilierte: horror referens.8

In diesem Zitat wird eine Landschaft der Theorie aufgespannt, die mit ihren Was-
serflächen, ihren versunkenen Stellen und ihren Schiffbrüchen unverkennbar
archipelisch strukturiert und entworfen ist. Dem „sumergido“, dem Überspül-
ten und Überfluteten, kommt eine große Bedeutung zu, denn es ist noch immer
erreichbar und künstlerisch abrufbar, nur nicht mehr sichtbar an der Wasser-
oberfläche. Der Sprung und nicht die kontinuierliche (kontinentale) Bewegung,
das Hinabtauchen zum Überfluteten, Untergegangenen, avancieren zu jenen
Bewegungsformen, aus denen die Künste im 20. Jahrhundert – Literatur, Malerei,
Musik – neue Normen ihres Verstehens formen: im Bewusstsein der unmittelba-
ren Verfügungsgewalt über das historisch Gewordene. Das Moderne an dieser Auf-
fassung ist die Dimension der Tiefe, also all dessen, was unter der Wasseroberflä-
che schlummert und an die Oberfläche des aktuellen Kunstwerkes geholt werden
kann.9 Dies ist im Begriff des Archipels selbst schon mitgedacht, spricht dieses
doch metaphorisch nicht die Inseln, sondern die Wasserflächen zwischen ihnen
an. Das Postmoderne an diesen Auffassungen besteht wiederum in der freien Ver-

8 Lezama Lima, José: La expresión americana, S. 162 f.
9 Vgl. zu dieser Dimension der Tiefe Ette, Ottmar / Müller, Gesine (Hg.): Paisajes sumergidos,
Paisajes invisibles. Formas y normas de convivencia en las literaturas y culturas del Caribe. Berlin:
Verlag Walter Frey – edition tranvía 2015.
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fügbarkeit, im zwanglosen Rückgriff auf Elemente einer Tradition, die fruchtbar
gemacht werden können und die aus ihrer jeweiligen Tradition herausgerissen
werden, weil sie noch immer schöpferisch wirken. La expresión americana situiert
sich am Kreuzungspunkt moderner und postmoderner Auffassungen.
     Diskontinuität und Relationalität erscheinen in der angeführten Passage, aber
auch im gesamten Essayband Lezama Limas aus einer gleichsam aquatischen Per-
spektive, welche die Formen oberhalb, aber auch unterhalb der Wasseroberfläche
im Blick hat, wodurch das Sichtbare und das gemeinhin Unsichtbare miteinander
in Verbindung gebracht werden. Das Gegenargument, dass bereits Leonardo und
Goethe „diesen Typus von Kultur gebildet aus großen lebendigen Synthesen“10
bewerkstelligt hätten, lässt Lezama Lima nicht gelten. Denn dem Goetheʼschen
Modell von Kontinuitäten – und wohl auch seinem Modell von Weltliteratur –
setzt er eine Akzentuierung der Diskontinuitäten, der gleichsam unterseeischen
Verbindungen entgegen, die bisweilen dort auftauchen, wo man sie – wie im Fall
Joyce – am wenigsten erwartet. In einem Archipel zählen bekanntlich nicht allein
die Inseln und Felsen oberhalb der Wasseroberfläche, sondern all das, was diese
Inseln unterhalb der Wasseroberfläche aus dem Meer hebt. Es ist Diskontinuier-
lich-Relationale, das eine andere Bildung und Formung von Traditionen erlaubt.
     Nicht die lebendige und gelebte Synthese des Mannigfaltigen steht in diesen
Überlegungen im Vordergrund, sondern die (nicht weniger gelebte) Feier des Ver-
schiedenen, der verschiedenartigen Logiken, die in keine Kontinuität und Kon-
tinentalität mehr überführt zu werden brauchen. Die Künste sind nicht länger
auf eine Form, eine Norm, zu reduzieren: Es gilt, die Welt und auch die Welt der
Künste wie die der Literaturen von den Inseln und nicht länger vom Kontinent
aus zu betrachten und zu denken. Die „Sumas críticas del americano“ zielen nicht
auf Addition kultureller Elemente, sondern auf eine offene und kritische Gesamt-
heit relationaler Logiken. Und sie sind sich aus einer Perspektive der fünfziger
Jahre fortdauernder Hierarchien im transatlantischen Spannungsfeld mehr als
bewusst.
     Die in obiger Passage aus La expresión americana umschriebene Suche von
Kunst und Literatur in untergetauchten Räumen und versunkenen Zeiten legt
nicht die kontinuierlichen Spuren alter Traditionen frei, sondern bringt auf über-
raschende Weise das miteinander in Verbindung, was auf den ersten Blick nicht
zusammenzugehören scheint und damit keiner durchgängigen Logik unterzuord-
nen ist. Diese neue Strukturierung geht zunächst einmal von einer allgemeinen
Verfügbarkeit für den gegenwärtigen Künstler, die aktuelle Literatin, von histo-

10 Lezama Lima, José: La expresión americana, S. 162: „ese tipo de cultura, hecho de grandes
síntesis vivientes.“
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risch akkumulierten Kunstwerken und Stilen aus, die angeeignet werden können.
Längst konnten die Amerikaner – und damit sind weder bei Lezama Lima noch
in dieser Vorlesung die US-Amerikaner, sondern alle Bewohner des Kontinents
gemeint – mit guten Gründen Anspruch darauf erheben, das Wissen anderer
Breitengrade und des kulturellen Meridians eines damals europäischen Zentrums
nicht nur zu delokalisieren, mithin an einen anderen (peripheren) Ort zu ver-
bringen. Sie waren auch in der Lage, es in der Tat so zu translokalisieren, dass
es von verschiedenen Logiken aus neu denkbar, schreibbar und lebbar werden
konnte. Im europäisch-amerikanischen Bewegungsraum impliziert jeder Transfer
seine Transformation, jeder Transit schließt auch seine Translatio in sich ein: Das
Übersetzen bedingt das Übersetzen – zwischen Kontinenten und Inseln, Sprachen
und Stilen, zwischen den Künsten und Literaturen der Welt.
     Am Ende von La expresión americana wird unmissverständlich auf die Absur-
dität einer Vorstellung aufmerksam gemacht, die davon ausgeht, dass Ideen,
Entwürfe und Innovationen nur von einem einzigen Ort aus gedacht und ver-
breitet werden könnten, während sich die Orte abseits des zentrierenden Meri-
dians immer nur nachahmend bemühen müssten, den ästhetischen Abstand,
den „écart“, möglichst zu verringern und gering zu halten. Wie könnte sich eine
Welt mit und in ihren Differenzen, aus unterschiedlichen Blickwinkeln friedlich
entfalten, wenn ein derartiges Zwangsregime der einen Logik, der einen Literatur
vorherrschte?
     Daher die Widerständigkeit von Lezama Limas ästhetischer Praxis gegenüber
jeglichem Versuch, den Weg eines einzigen Geschichtsverlaufes, einer einzigen
Moderne zu zelebrieren. Schon die Vorstellung einer einzigen Moderne wäre dem
Kubaner als gänzlich abstrus erschienen. Daher auch das abgründige und souve-
räne Lachen, mit dem der kubanische Intellektuelle Georg Friedrich Wilhelm Hegel
und dessen sich verselbständigenden europäischen Konzeptionen – mit dem ein-
gestandenen „Vorhaben ihn zu verspotten“, dem „propósito de burlarlo“11 – den
amerikanischen Spiegel entgegenhält, jenen Spiegel des nicht allein mit euro-
päischen Traditionen vertrauten Amerikaners. Und dies nicht allein mit Blick
auf die Amerikas. Hegel habe in seiner Philosophie der Weltgeschichte allein den
weißen Kreolen noch geachtet,12 den „continente negro“, den „schwarzen Kon-
tinent“, aber vollständig verachtet, da er ihn jeglichen Fortschritts und jeglicher
Bildung für unfähig gehalten habe.13 Und mit Hegel greift Lezama Lima keinen
Geringeren als den eigentlichen Gewährsmann für den philosophischen Diskurs

11 Ebda., S. 177.
12 Ebda., S. 178.
13 Ebda., S. 179.
Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung    751

der Moderne14 an – der einen Moderne, folglich einer Moderne im Sinne, Dienste
und Interesse Europas.
     Derart vereinheitlichende Vorstellungen und Ansprüche wischte der Kubaner
in seiner kritischen Bilanz mit Verweis auf die offenen Landschaften der amerika-
nischen Ausdrucksweise hinweg. In La expresión americana stoßen wir immer
wieder auf den Stolz des Kubaners und Amerikaners auf die eigenen transarealen
Traditionen, die sich weit jenseits europäischer Hegemonialfiktionen hegeliani-
scher wie nachhegelianischer Provenienz in ihrem Eigen-Leben entwickelt haben
und eine glänzende Zukunft versprachen. Eine Weltliteratur, die sich nach einem
einzigen Meridian, einem Zentrum richtet und sich nach einer vorgegebenen Zeit
der Moderne zu entwickeln habe, wäre für ihn eine absurde Vorstellung geblie-
ben: Das Wissen der Literatur und ihr – wie es im abschließenden Satz des Bandes
heißt – „gnostischer Raum“, ihr „espacio gnóstico“15 waren keiner singulären
Logik zu unterwerfen, gleich welchen Breitengrades.
     Lezama Lima gelang in La expresión americana der prospektive Entwurf
einer künftigen Welt, einer – wie er es nannte – „era imaginaria“, die sich in
seiner Landschaft der Theorie bereits präfiguriert: einer Welt als Archipel. Diese
generiert aus Vielfalt und Eigen-Sinn ihrer Inseln jene neuen und sich stets ver-
ändernden Kombinatoriken, die von einem einzigen Ort aus weder erdacht noch
beherrscht werden können. Eine weltweite Relationalität der Literaturen der
Amerikas reduziert ihre lebendigen Formen nicht auf Normen einer Weltliteratur,
deren Spielregeln einer einzigen (kulturellen) Logik gehorchen. Gerade weil ihr
diese Logik bestens bekannt ist, wird sie nicht von dieser Logik gebannt.
     Doch noch sind wir nicht so weit, uns mit der Problematik des Gegensatzes
zwischen einer Konzeption von Weltliteratur und dem Konzept der Literaturen
der Welt auseinanderzusetzen! Denn zunächst sollten wir uns noch mit anderen
Schriften José Lezama Limas, danach mit dem brasilianischen Autor João Guima-
rães Rosa und der Frage einer Archipelisierung – nicht allein der Karibik, sondern
auch eines Kontinents – auseinandersetzen, bevor wir den Faden des ‚Weltliterari-
schen‘ wieder aufnehmen. Beschäftigen wir uns zuvor mit einigen Biographemen
José Lezama Limas, die ich Ihnen bislang vorenthalten hatte, nun aber nachholen
möchte!
     José Lezama Lima wurde am 19. Dezember 1910 In La Habana als Sohn eines
Offiziers im Militärlager von Columbia in der Nähe der kubanischen Hauptstadt
geboren und starb am 9. August 1976 in jener Stadt, die er zeit seines Lebens nur

14 Vgl. hierzu Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985.
15 Lezama Lima, José: La expresión americana, S. 189.
752       Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung

selten verließ. Nach dem frühen Tod seines Vaters 1919 und dem Ende einer glück-
lichen Kindheit, die er in seinem Roman Paradiso beschrieb, studierte er Jura,
verfolgte daneben eine Ausbildung zum Lehrer und promovierte 1938 zum Doktor
der Rechte. Bereits 1930 beteiligte er sich am studentischen Aufstand gegen den
damaligen kubanischen Diktator Machado. Nach Abschluss seines Studiums
arbeitete er zunächst als Rechtsanwalt, ab 1945 dann als leitender Beamter in der
Kulturabteilung des kubanischen Erziehungsministeriums unter wechselnden
Regierungen und Diktaturen.

                                Abb. 114: José Lezama Lima (Havanna, Kuba, 1910 –
                                ebda., 1976).

Nicht zuletzt unter dem Einfluss eines Kuba-Besuchs des spanischen Dichters
Juan Ramón Jiménez wandte er sich der Lyrik zu und wurde zu einer der großen
Dichterfiguren des 20. Jahrhunderts. 1937 erschien sein erster Gedichtband
Muerte de Narciso, mit dem Lezama Lima den dichten Reigen seiner bilderrei-
chen und bewusst schwierigen, verschlüsselten Sprache eröffnete, in welche er
zahlreiche Elemente des spanischen Barock aus einer kubanischen und latein-
amerikanischen Perspektive mit Elementen von Vicente Huidobros Creacionismo
sowie Fragmenten des französischen Surrealismus verband. Jene Ästhetik, die
Lezama in La expresión americana – wie Sie sahen – in einer ebenfalls bilderrei-
chen Sprache beschrieb, hatte er also längst als Lyriker selbst angewandt und in
literarische Schöpfung verwandelt.
     Durch Herausgabe wichtiger Literaturzeitschriften wie Verbum (1937), Espuela
de Plata (1939–41) und Nadie parecía (1942–44), deren Gipfelpunkt zweifellos die
Zeitschrift Orígenes (1944 – 1956) mit der um sie versammelten gleichnamigen
Dichtergruppe war, wurde er zum einflussreichsten Impulsgeber der kubanischen
Literatur von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart. Die kuba-
nische Literatur des vergangenen Jahrhunderts, ebenso jene der Insel wie des
Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung   753

vielgestaltigen Exils, lässt sich ohne Lezama Lima nicht denken. Seine Reisen
1949 nach Jamaika und 1950 nach Mexiko prägten entscheidend seine Vorstel-
lungen einer neobarocken Kunst und der künftigen Entwicklung im literarischen
Bereich. Ansonsten aber genügten ihm die eigenen, durchaus engen vier Wände
seines Hauses in der Altstadt von Havanna, die als mythischer Dichterort zu
einem wahren Pilgerziel für alle an Literatur Interessierten wurde. Noch heute
besitzt der Name Lezama Lima auf den verschiedenen Inseln Kubas einen gera-
dezu mythischen Klang.
     Nach dem Sieg der Kubanischen Revolution am 1. Januar 1959, mit der er
anfangs sympathisierte, wurde er Publikationsdirektor im Nationalen Kulturrat
und ab 1962 Vizepräsident des kubanischen Schriftsteller- und Künstlerverban-
des. Doch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ging Lezama angesichts einer
zunehmend autoritären Orientierung der sozialistischen Revolution auf kritische
Distanz zum Regime und zog sich, bedingt durch sein schweres Asthma-Leiden,
langsam aus der kubanischen Öffentlichkeit zurück. Als sein großer Roman Para-
diso, der 1971 in Frankreich mit dem Prix Médicis für das beste fremdsprachige
Buch ausgezeichnet wurde, 1966 erschien, gab es zunehmend Anfeindungen von
offiziellen kubanischen Stellen, die den neobarocken Schreibstil des homosexuel-
len Dichters und Romanciers attackierten. Doch der politische Hagel feindlicher
Geschosse traf ihn nicht: Für ihn sprachen sein überragendes literarisches Werk
und seine über jeden Zweifel erhabene Unbestechlichkeit.
     Für viele nicht nur kubanische Künstler und Schriftsteller blieben die fast
sakrale Hingabe Lezamas an die Literatur und seine universale Bildung zusam-
men mit dem von ihm geprägten stilistischen Ausdrucksvermögen exemplarisch
und vorbildhaft. Der mit Dantes drittem Teil der Commedia spielende Band Para-
diso zählt zu den weltweit herausragenden Romanen und sorgte für die interna-
tionale Berühmtheit des kubanischen Dichters, der ebenso autobiographische
wie autofiktionale Elemente sowie dichtungstheoretische Figuren in seine
romaneske Fiktion aufnahm. Der Fragment gebliebene und postum erschienene
Roman Oppiano Licario führt die Prosa Lezama Limas an eine dichterische Grenze
und erweitert zusätzlich die Romanwelt von Paradiso in der lyrischen Imagination
des in La Habana verwurzelten Schriftstellers, dessen Haus in der Calle Trocadero
er mit seiner an Süßspeisen und anderen Leckereien gemästeten Leibesfülle wie
seinem homerischen Lachen erfüllte.
     Für das gesamte dichterische, essayistische und romaneske Schaffen José
Lezama Limas können jene Eingangssätze aus La expresión americana wie ein
allem vorangestelltes Motto gelten, kommt in ihnen doch das Schwierige, aber
auch in ständiger Bewegung Befindliche in hoher ästhetischer Verdichtung bil-
derreich zum Ausdruck. Es sind Sätze, welche all diejenigen, die sich mit Latein-
amerika beschäftigen, zumindest einmal in ihrem Leben gelesen haben sollten:
754          Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung

      Allein das Schwierige stimuliert; allein die uns herausfordernde Widerständigkeit ist in der
      Lage, unsere Potenz der Erkenntnis heraufzuführen, zu erwecken und aufrechtzuerhalten,
      aber in Wirklichkeit: Was ist das Schwierige? Allein das Überspülte, in den mütterlichen
      Wassern des Dunklen? Das Originäre ohne Kausalität, Antithese oder Logos? Es ist die Form
      im Werden, in der eine Landschaft einem Sinn entgegen geht, eine Interpretation oder eine
      einfache Hermeneutik, um danach ihrer Rekonstruktion zuzustreben, welche definitiv ihre
      Effizienz oder ihren Nichtgebrauch, ihre zuchtmeisterliche Kraft oder ihr verklungenes
      Echo markiert, das ihre historische Vision ist.16

Das Schwierige wird so in den Mittelpunkt eines Werks gestellt, das auf eine
Widerständigkeit der Erkenntnis setzt, welche es zu erringen gilt, um dauerhaft
und schöpferisch zugleich wirken zu können. Die Schwierigkeit von Ver- und
Entschlüsselung bedeutet Herausforderung des Intellekts, erhält aber auch seine
beständige Kraft, eine im steten Wandel befindliche Landschaft, eine Form im
Werden, zu erkennen, zu deuten und zu verstehen. Es handelt sich dabei nicht nur
um einen Intellekt, der sich mit dem Einfachen und Eingänglichen nicht zufrie-
den gibt, sondern Kenntnis und Erkenntnis dessen anstrebt, was allein durch
intensive Beschäftigung mit einem Gegenstand erreicht werden kann. Allein das
Schwierige also stimuliert!
     Wir haben gesehen, dass José Lezama Lima das Amerikanische umschreibt,
indem er sich gerade nicht auf das Amerikanische beschränkt. Ebenso die abend-
ländische wie die amerikanische Antike, ebenso die griechische wie die fernöstli-
che Philosophie, ebenso die europäischen Avantgarden wie ihre amerikanischen
Mit- und Gegenspieler sind in den asiatischen wie den inkaischen Vorstellungs-
welten vereinigt. Es ist gerade diese weltumspannende Dimension, welche das
Amerikanische im Sinne Lezama Limas ausmacht. Das inkaische „Pachakuti“ wie
die konfuzianische Menschlichkeit, die im Hinduismus wurzelnde Erotik wie die
nietzscheanische Leibhaftigkeit gerinnen zu einer kulturellen Konfiguration, in
der Buddha und Quetzalcóatl miteinander kommunizieren. Das Amerikanische
im Sinne des Kubaners versteht nur, wer die Verknüpfungen des Amerikanischen
mit dem Europäischen, dem Afrikanischen und Asiatischen erhellt. Das Amerika-
nische? Das ist jene Echokammer, in welcher Klänge und Worte unterschiedlichs-
ter Kulturen miteinander verbunden sind, ohne miteinander zu verschmelzen,
das ist jener borgesianische „Aleph“, in welchem Bilder aller Zeiten kopräsent
und gegenwärtig sind, ohne doch zusammenzufallen und eine einzige Einheit zu
bilden. Es ist genau diese Seite von José Lezama Limas Ästhetik, die den großen
kubanischen Dichter mit den Ästhetiken der Postmoderne verbindet – jedenfalls
dann, wenn man sie weltumspannend ernst nimmt. Julia Kristevas Rede vom

16 Ebda., S. 9.
Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung        755

Fremden im Eigenen: Hier bei Lezama ist dieses Fremde, sind diese Fremden Teile
des Eigenen geworden und bilden eine bewegliche Vielgestaltigkeit aus, welche
sich keiner Norm und Identitätsvorgabe beugt.
     Es geht José Lezama Lima nicht um historische Fakten, die er bewusst als
gewusst voraussetzt. Vielmehr geht es ihm um „eras imaginarias“, Bilder des
Seins, eines gnostischen Wissens, das sich in Spiegelungen von Spiegelungen
weiß und sich in deren Reflexen erkennt. Die Poetik des Bildes, die Ästhetik der
Brechung, des Widerstandes und der gebrochenen Linie findet sich in diesen,
wie auch in vielen anderen Formulierungen, ohne dass dadurch das Historische
als solches ausgeblendet würde. Es erscheint nur in einer anderen Spiegelung,
die der Geschichte den evolutiven, kausalen, der Kausalität und dem Logos ver-
pflichteten Charakter nimmt und sie in ein neues Licht poetischer Imagination
taucht, die alles überstrahlt. Wenn wir diese Bewegung verstanden haben, dann
können wir gerade auch das Historische wie das Autobiographische in Lezama
Limas Paradiso besser verstehen.
     Vergessen wir jedoch nicht, dass Lezamas Poetik des Exzesses, wie sie sich
vielfach in Paradiso zeigt, bereits in La expresión americana stets darauf abzielte,
die Ursprünge und Herkünfte zu verwischen. Zugleich entwickelt sie aus einem
grundlegenden Synkretismus, welcher die verschiedensten kulturellen Einfluss-
sphären miteinander zu verknüpfen sucht, jene Eigenheiten, die für das Schrei-
ben in Amerika, nicht zuletzt aber auch für das eigene Schreiben in Lyrik wie
Prosa prägend sind. Die Verhüllung des Ursprungs ist nur die andere Seite eines
Schreibens, das ständig seine eigenen Anknüpfungspunkte verschiebt und ver-
ändert, pastichiert und parodiert: also deformiert, in eine neue Form im stetigen
Werden bringt. Vor diesem Hintergrund sollte José Lezama Limas furioser Para-
dies-Roman gesehen werden.
     Dabei ist Paradiso bereits von seinem Titel her ein aufsehenerregender Text,
gehört dieser Titel doch nicht der spanischen, sondern der italienischen Sprache
an und verweist letztlich auf das Paradies in Dantes monumentaler Divina Com-
media. Vielleicht hat Bernhard Teuber recht, dass bereits im Titel auf die Lesbar-
keit dieses Textes als Allegorie hingewiesen wird und weniger auf die strukturelle
Parallele zu Dante Alighieris Werk.17 Man könnte folglich davon ausgehen, dass
der kubanische Autor vor allem auf eine Parallelität des poetischen Verfahrens
aufmerksam machen wollte.

17 Vgl. Teuber, Bernhard: José Lezama Lima: „Paradiso“. In: Roloff, Volker / Wentzlaff-Eggebert,
Harald (Hg.): Der lateinamerikanische Roman. Bd. II: Von Cortazar bis zur Gegenwart. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 104–119.
756         Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung

     Sicherlich ist in Paradiso ein Verfahren der Verschiebung und vielleicht – wie
bei Roland Barthes – auch Verstellung zu beobachten, das sich im Insistieren auf
einem Wechselverhältnis zwischen Natur und ‚Widernatur‘ und damit der ‚Perver-
sion‘ ausdrücke. Ich würde freilich nicht von ‚Perversion‘ sprechen! So lasse sich
die homosexuelle ‚Widernatur‘ einbetten in größere Zusammenhänge, die Teuber
von Areopagitus ableitet. Mir scheint jedoch vor allem, dass das Verstellen, Ver-
rücken, Umkehren, das Invertieren ein grundlegendes dichterisches Verfahren
in Paradiso darstellt, das vielleicht weniger von einem bestimmten intertextuell
eingespielten theologischen Modell ableitbar ist als vielmehr von einem Verhält-
nis zur Welt, wie es in La expresión americana als grundlegende Disposition zum
amerikanischen Ausdruck aufgezeigt wurde. Dass es dabei zahlreiche vom Text
Lezamas überflutete Tiefseebeziehungen im Plural gibt, steht außer Frage!
     Selbstverständlich zeigt sich bei alledem die Präsenz des Fremden im Eigenen,
des von der Außenwelt als ‚pervers‘ Angesehenen in dem, was von einer Mehrzahl
als ‚normal‘ erachtet wird. Lezama Lima lebte in einer Welt, in der die Kubanische
Revolution ab Mitte der sechziger Jahre die Lager der UMAP, der Unidades Mili-
tares de Ayuda a la Producción, für die gewaltsame Umerziehung Homosexueller
einrichtete – die freilich könnte man sehr wohl als pervers bezeichnen!
     Körper und Leib werden damit zu Figurationen der Sprache, zu rhetorischen
Figuren der Rede. Transgression und Exzess verwandeln sich in Charakteristika,
die sich nicht nur auf Ebene des Inhalts, sondern mehr noch jener konkreter
Schreibverfahren leicht herausarbeiten lassen. In vielem ließe sich Lezama Limas
Roman mit dem kleinen Bändchen in Beziehung setzen, das Roland Barthes im
Jahre 1973 unter dem Titel Le Plaisir du texte veröffentlichte. Ein Barthes, der
durch seine Freundschaft mit dem in Paris lebenden Kubaner Severo Sarduy sehr
wohl über literarische Entwicklungen wie Veränderungen im massiven, aber
noch immer angefeindeten Milieu der Homosexuellen auf der Insel informiert
war. Paradiso ist im Sinne von Le Plaisir du texte ein Text der Lust, ja ein Text der
Wollust.
     Genau an dieser Stelle siedelt sich gleichsam eine zusätzliche Verbindung zu
Dantes Paradies an: auf Ebene einer Dichtungslehre, einer Poetologie, die sich
ohne jeden Zweifel hinter der Geschichte des José Cemí verbirgt. So ist Paradiso
nicht nur, wie oft gesagt wurde, eine Art Bildungsroman des Protagonisten,18
sondern zugleich eine in Gang gesetzte, narrativierte Dichtungslehre, in der
sich die grundlegenden Verfahren dessen, was man eine barocke – beziehungs-
weise neobarocke – Schreibweise genannt hat, in höchster Dichte manifestieren.

18 Vgl. auch die Aufsätze und Materialien in Strausfeld, Mechthild (Hg.): Aspekte von José Le-
zama Limas „Paradiso“. Frankfurt am Main: suhrkamp 1979.
Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung    757

Dass die zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung als „Jahrhundertübersetzung“
gepriesene Übertragung von Curt Meyer-Clason,19 die heute wesentlich kritischer
gesehen wird, in diese Kerbe des deutschen Bildungsromans schlug, ist ange-
sichts neuer Übertragungen mittlerweile wieder in Vergessenheit geraten.20
     Es fällt nicht leicht zu resümieren, was sich in den vierzehn Kapiteln dieses
1966 in Havanna erstmals erschienenen Romans abspielt, der nach langer Vor-
bereitungszeit zwei Jahre nach dem Tode von Lezama Limas Mutter endlich
erscheinen konnte, in einer Ausgabe, die – wie viele Texte zu Lebzeiten Lezamas –
eine unendliche Vielzahl an Fehlern enthielt. Die Kapitel ordnen sich nicht zu
einem bruchlosen Ganzen an, keine organisch gewachsene Struktur fügt alles
zusammen, bleibt doch ein deutlich archipelischer Grundzug in diesem großen
und großartigen Roman unverkennbar. Leicht zugänglich ist dieser Text fürwahr
nicht, erzählte doch beispielsweise Daniel Balderston, der vor einigen Jahren in
Potsdam zu den Fußnoten in Manuel Puigs El beso de la mujer araña vortrug, dass
er seinen Studierenden normalerweise die Lektüre eines Romans über eine Woche
aufgebe, bei Lezama Limas Roman Paradiso aber immerhin zwei Wochen für
die Lektüre vorsehe. Bereits Lezama Lima hatte seine Essays wie seine Lyrik als
unverzichtbare Voraussetzungen für ein adäquates Verständnis seines Romans
bezeichnet und damit die Messlatte sehr hoch gelegt.
     Im Mittelpunkt des Romans steht der ebenso wie Lezama selbst in La Habana
lebende José Cemí, Sohn seiner geliebten Mutter Rialta und seines Vaters José
Eugenio. Eine recht verwirrende Technik von Retrospektiven und Prospektiven
zeichnet die Lebensjahre José Cemís nach, die wohl wie bei Lezama im Jahr 1910
beginnen und mindestens bis in die Studentenproteste gegen die Machado-Dikta-
tur Anfang der dreißiger Jahre reichen. Zahlreiche Rückblicke auf die Geschichte
von Eltern und Großeltern öffnen die Romandiegese jedoch bis auf die Zeit der
kubanischen Emigration gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Florida, speziell
Jacksonville, und verweisen damit zurück in die Zeit der „Guerra de Martí“, die
große Zeit des Unabhängigkeitskampfes unter der Feder José Martís.
     Die intradiegetischen Rückblenden zeigen, dass der aus dem spanischen
Baskenland eingewanderte Großvater Cemí in der kubanischen Stadt Sancti Spí-
ritus eine Rohrzuckermühle zusammen mit seiner aus einer englischen Familie

19 Vgl. Meyer-Clason, Curt: Zur Übersetzung von „Paradiso“. In: Strausfeld, Mechthild (Hg.):
Aspekte von José Lezama Limas „Paradiso“, S. 173–180.
20 Vgl. die Übertragung von Lezama Lima, José: Inferno. Oppiano Licario. Aus dem kubanischen
Spanisch übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Klaus Laabs. Zürich:
Ammann Verlag 2004; sowie Laabs, Klaus (Hg.): Beiheft: Tod des Narziß. Leben und Werk José
Lezama Limas. Zürich: Ammann Verlag 2004.
758       Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung

stammenden Frau betrieb und dass sein Sohn José Eugenio sich mit der Nach-
barstochter Rialta Olaya vermählte. Das Paar schenkte zwei Kindern das Leben,
der Schwester Violanta und dem wie Lezama asthmakranken José, der bereits in
der ersten Szene des Romans gezeichnet durch seine schwere Erkrankung gezeigt
wird. Das Körperliche steht damit im Zeichen der Krankheit und situiert sich von
Beginn an im Vordergrund der Romanhandlung. Doch Josés Vater stirbt uner-
wartet bei einer militärischen Übung in Florida, wonach Rialta mit ihren beiden
Kindern nach Havanna zurückkehrt, in den barocken Palast ihrer Mutter in der
Altstadt unweit des Paseo. Die Landschaft der Kindheit wird durch die urbane
Landschaft Havannas ersetzt.
     Die einzelnen Erzählsequenzen fügen sich nur widerwillig aneinander und
bauen eher eine von Vielverbundenheit und einer tiefgreifenden Multirelationa-
lität charakterisierte, archipelische Struktur auf. Doch macht bereits der frühe
Tod des Vaters auf ein Grundmotiv aufmerksam, das uns bereits aus La expresión
americana bekannt ist: das Thema der Abwesenheit, „ausencia“, die bei José
Lezama Lima stets auch unmögliche Präsenz, „presencia imposible“, ist. Oftmals
ist unklar, welchem Bewusstsein das jeweils Erzählte zugeordnet werden kann:
Viele Handlungselemente sind mit einer fundamentalen Unschärfe versehen.
Traumartige Sequenzen, die nicht leicht bestimmten Erzählinstanzen zugeordnet
werden können, geben die Grundstruktur eines Textes vor, in dem freilich bis-
weilen eine Ich-Erzählerfigur erscheint, die von den Kritikern oftmals als Lapsus
gedeutet wurde, ein Lapsus natürlich, der gerade auch die bereits erwähnte auto-
biographische Dimension in den Text einblendet.
     Kein Zweifel kann auch dahingehend bestehen, dass die Grundkonfiguration
des Liebesverlangens und Liebesverhältnisses eine ödipale Dreieckssituation
darstellt, in welcher sich immer wieder psychoanalytisch leicht deutbare Bezie-
hungen feststellen lassen. Doch wollen wir nicht zu dieser psychoanalytischen
Dimension des Lezamaʼschen Schreibens vordringen, sondern zu jener anderen,
die mit dessen Bedeutung für die Literaturen im Zeichen der Postmoderne in Ver-
bindung zu bringen ist. Denn wo es hierzu Ansatzpunkte in der Ästhetik Lezama
Limas gibt, haben wir schon in unserem Durchgang von La expresión americana
gesehen.
     Aufschlussreich ist, dass die Lyrik für Lezama Lima in enger Verbindung steht
mit der Respiration, eine Konstellation, wie sie sich mit Blick auf eine verdichtete
Prosa bei dem ebenfalls asthmakranken Marcel Proust manifestiert – keineswegs
die einzige Relation, welche sich zwischen den beiden großen Schriftstellern
nachweisen lässt. Die Beziehung zwischen Klang, Rhythmus und Text wird deut-
lich, wenn wir uns Texte des Asthmatikers Lezama anhören, die er selbst auf-
sprach. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich kaum schönere und bedeutungsvollere
Selbstaufsprachen kenne als jene José Lezama Limas! Die Phonotextualität, also
Fernando Ortiz, José Lezama Lima oder die ­transkulturelle Archipelisierung       759

die Verbindung zwischen Klang und Text,21 wird unverkennbar zu einer wichti-
gen Grundlage des Schreibens dieses kubanischen Poeten und Poetologen.
     Ich empfehle Ihnen daher herzlich, sich einmal eine von Lezama Lima selbst
ausgewählte und eingeleitete Passage aus dem Roman Paradiso anzuhören! Es
handelt sich dabei leider nicht um einen Auszug aus dem berühmten achten
Kapitel, auf das ich noch zu sprechen kommen werde, sondern um mehrere
kurze Exzerpte aus dem siebten Kapitel vor dem Tod von Alberto Olaya, jener
Romanfigur, die zu einem wichtigen Bezugspunkt des jungen José Cemí wurde.
Es handelt sich dabei zugleich um eine Reihe „décimas“, die nicht nur auf ein-
gestreute poetischen Elemente, sondern auch auf die stark rhythmisierte Sprache
im Roman hinweisen und auf das, was José Lezama Lima in seinem Kommentar
als das Tanzbare charakterisiert, das „bailable“. Diese choreographische Dimen-
sion des Romans können Sie sich aus den Bewegungen der Stimme Lezama Limas
erschließen. Ich habe versucht, in deutschsprachigen Reimen diese Bewegungen
nachzuzeichnen:

    Ich sag’ es ihr im Morgengrauen,
    sie möge Schritt für Schritt vorbeischauen,
    mit ihrem Satinkleid so schön,
    das fertig grad vom frischen Nähn.
    Die Spottdrossel kommt schon wieder
    und wäscht sich ihr Gefieder
    im Fluss, der murmelnd fließt,
    sich fröhlich in Freiheit ergießt.
    Im Weiler dort ihr Haus,
    oben singt Rauch heraus.

    Morgen ist’s, im Tau so glatt
    fragt bei der Berührung das Blatt,
    ob eigenes Fleisch oder kalter Kristall,
    was es spürt und verspürt ist überall.
    Es rollt das Blatt sich zum Fluss,
    lässt los, weil’s getäuscht sein muss,
    die Münze ist’s, die im Glanz
    den Lauf des Fließens tönt ganz.
    Die Brise ist’s, eine Wissenschaft
    vom Ewigen sich zu scheiden schafft.

21 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Dimensiones de la obra: iconotextualidad, fonotextualidad, inter-
medialidad. In: Spiller, Roland (Hg.): Culturas del Río de la Plata (1973–1995). Transgresión e
intercambio. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 1995, S. 13–35.
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