IBO - Österreichisches Institut für Baubiologie und -ökologie
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WIR SIND EIN NETZWERK VON FORSCHUNGSINSTITUTEN UND BETREIBEN ANGEWANDTE FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG FÜR UNTERNEHMEN, SPEZIELL FÜR KMU. EIN WICHTIGER FORSCHUNGS- SCHWERPUNKT DER ACR IST NACHHALTIGES BAUEN. www.acr.ac.at Wunschlos wohnlich Umidus. Hi-Tech für behagliches und gesundes Wohnen. Mit dem UMIDUS bekommen die Nutzer eine normgerechte Raumklimainterpretation mit verständlichen Hinweisen zum richtigen Lüften und Heizen sowohl für Neubauten Schimmelvorbeugung als auch für Altbauten – gesundheitsgefährdender Schimmelbildung kann effektiv Luftgütekontrolle vorgebeugt werden. Dr. Karl Torghele Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger Anzeige Alarm CO2 Umidus-Cloud Auswertung Feuchte-Verlauf Schlafzimmer Umidus Bon Air Guardian ist eine registrierte Marke der Kühnel Electronic GmbH AT 1030 Wien, Leopold-Böhm-Straße 12/D65 +43 1 / 79 80 333 www.umidus.com | office@kuehnel.at
EDITORIAL Liebe Mitglieder, liebe Leserinnen und Leser! Als wir vor drei Jahren den Kitting eingeführt haben, ahnten wir nicht, dass er gerade heuer perfekt zu den Entwicklungen passen würde. Nicht nur, weil er „kittet“, Themen und Men- schen in einer Zeit des „social distancing“ ver- bindet, sondern weil gerade heuer Antworten von der Wissenschaft im Be- reich ökologischen Bauen und Wohnen mehr denn je gesucht werden. Wir teilen unser geballtes Wissen auf über 50 Seiten mit Ihnen, es kommt aus den vielen Forschungsprojekten des IBO und gibt Antworten auf (Forschungs-) fragen, von Ökobilanzdaten über Akustikmessungen und Digitalisierung bis zu low-tec. Gebaute Beispiele zeigen uns, wie vielfältig Nachhaltigkeit inter- pretiert wird. Und dass das Streben nach immer mehr zwar begründbar, aber nicht immer sinnvoll ist, speziell wenn Menschen im Spiel sind: Das wird z.B. anhand der Auswirkungen von zu hoher Luftdichtigkeit deutlich. Dieses Stre- ben nach mehr mündet – so wir mit dieser einen Erde auskommen wollen – zwangsläufig in Kreislaufwirtschaft. Mit neuen Berechnungsmöglichkeiten der Kreislauffähigkeit wird das Bewusstsein dafür stärker werden. Klimawan- del bleibt das bestimmende Thema – auch Hitzeschutzmaßnahmen für Tro- pennächte lassen sich hinsichtlich ihrer Wirkmächtigkeit berechnen und mit Begrünung und Beschattung lässt sich viel kompensieren und verbessern. Und so ganz nebenbei feiert das IBO heuer ein besonderes Jubiläum: 40 Jahre lang sind wir im Dienste der Bauökologie und Baubiologie aktiv und dazu haben wir einige Zahlen zusammengetragen – die großen Leute lieben nämlich Zahlen, wie schon der kleine Prinz wusste. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen, Stöbern, Aufbewahren und Nach- blättern! Mit freundlichen Grüßen DI Susanne Formanek Präsidentin Impressum Medieninhaber, Verleger & Herausgeber Grafik, Layout, Produktion IBO – Österreichisches Institut für Baubiologie Gerhard Enzenberger, IBO und -ökologie, A-1090 Wien, Alserbachstraße 5/8 Tel: 01/319 20 05-0, email: ibo@ibo.at, www.ibo.at Anzeigen Gudrun Dorninger, IBO Redaktionsteam Barbara Bauer, Isabella Dornigg MSc, Gudrun Dorninger, Druck Gerhard Enzenberger, Mag. Veronika Huemer-Kals gugler print, Melk Service & Vertrieb Mitarbeiter*innen dieser Ausgabe IBO – Österreichisches Institut für Baubiologie und -ökologie Alexander Baranyai, Barbara Bauer, DI Pia Anna Buxbaum, 1090 Wien, Alserbachstrasse 5/8 DI Dr. Franz Dolezal, Isabella Dornigg MSc, Mag. Hildegund email: ibo@ibo.at Figl, DI Mag. Cristina Florit, DI Susanne Formanek, DI (FH) Felix www.ibo.at Heisinger, Mag. Veronika Huemer-Kals, Andreas Krenauer BSc, DI Ute Muñoz-Czerny, Arch. DI Georg W. Reinberg, DI (FH) Astrid Gesamtauflage & Erscheinungsweise Scharnhorst MSc, Univ. Prof.in Rosemarie Stangl, DI Tobias 3.000 Stück, 1 x jährlich Steiner, Univ. Prof. Martin Treberspurg, Dr. Tobias Waltjen, DI Dr. Karl Torghele Gedruckt nach der Richtlinie Höchster Standard für Ökoeffektivität. „Schadstoffarme Druckerzeugnisse“ Cradle to CradleTM zertifiziertes des Österreichischen Umweltzeichens. Druckprodukt. gugler print & media, Melk; UWZ 609 Innovated by gugler*print K itting 2020 – Magazin des IBO 1
DER INHALT 4 Wiener Kongress für zukunftsfähiges Bauen 15 22 42 Materialökologie 4 Die Kreislauffähigkeit berechnen Der Baubereich trägt zum allgemeinen Abfallaufkommen mit einem Anteil zwischen 40 und 50 % bei. Dabei wären viele Bauabfälle am Ende ihres Lebenszyklus wieder verwertbar. 8 eco2soft – schnell und einfach zur Ökobilanz Ein Online-Werkzeug der baubook GmbH, mit dem einfach und schnell Ökobilanzen für Gebäude erstellt und die Aufwände für Errichtung, Erneuerung und Entsorgung übersichtlich dargestellt werden können. Bauphysik 10 Wiener Tropennächte – Hitzeschutzmaßnahmen für den privaten Wohnbe- reich Trotz höchster Lebensqualität stellt Hitze für die Menschen in der Stadt eine besondere Herausforde- rung dar. 15 Apfelbaum – kein Baumhaus. Ein Wohnprojekt für inklusives Wohnen Das Projekt Apfelbaum integriert nicht nur Singles und Familien, Paare und PensionistInnen, dort wer- den auch Menschen mit besonderen Bedürfnissen leben. 17 Neue Grenzen der Luftdichtigkeit Türen, die sich schlecht öffnen lassen, Fenster die pfeifen und zu hohe Luftfeuchtigkeit in Konstruktio- nen, das alles kann bei zu hoher Luftdichtigkeit zu Komforteinbußen führen. Gebäude 22 Gebäude bewerten – viele Wege zu besseren Bauvorhaben Seit ca. 20 Jahren sind nun Gebäudebewertungssysteme am Markt, anhand einiger Projekte der letzten Zeit werden die vielfältigen Maßnahmen für nachhaltigeres Bauen in der Praxis gezeigt. 26 Haus L., Klosterneuburg – ein Projektbericht Wie das langjährige IBO-Mitglied Georg W. Reinberg in 11 Monaten Bauzeit ein Einfamilienhaus unter besonderen Bedingungen möglichst ökologisch verwirklicht hat. 28 Begrünte Gebäude und Freiflächen sind eine Frage der sozialen Fairness Investitionen für den Klimaschutz müssen die Aufrüstung solarer Techniken mit der grünen Aufrüstung unserer Gebäude, Städte und Gemeinden integral kombinieren. 2 K itting 2020 – Magazin des IBO
Inhalt 30 BeRTA – das kompakte Fassadenbegrünungsmodul Bauwerksbegrünungen in der Stadt verbessern die Luftqualität, sorgen für ein naturnahes, gesünderes Umfeld sowie für Abkühlung in heißen Sommern durch Verdunstung. 32 Energiesparen mit Hilfe der Wettervorhersage Was steckt In einem Passivhaus im niederösterreichischen Purkersdorf wurde die thermische Bau- teilaktivierung mit prädiktiver Steuerung erstmals im Wohnbau zur Anwendung gebracht. Forschung hinter 34 Kann denn billig besser sein? Neue Wege in der bauakustischen Messtechnik mit innovativer Sensorsteuerung und Bionik bei Sto? Sensordatenverarbeitung des IBO. 38 Eine Digital Landscape für KMU der Baubranche Die Baubranche hinkt bei der Digitalisierung hinterher. Das ist schade, denn die neuen Die Idee, Natur Technologien bieten faszinierende Möglichkeiten. intelligent zu nutzen. 40 Fluktuierend und low Forschungen zur Nutzer*innenakzeptanz von Maßnahmen zur Gebäudeenergieoptimierung 42 Das 6D BIM Terminal – ein intelligentes Werkzeug Im „6D BIM Terminal“ werden Daten, die für Lebenszyklusbewertungen und Ausschreibun- gen von Bauleistungen notwendig sind, zur Verfügung gestellt. 43 Farben im Gesundheitswesen Farbkombinationen, die gemütlich und heimelig wirken oder positive Assoziationen wecken, können uns beim Heilprozess unterstützen. Wissensverbreitung 46 6 Module für die Qualifizierung von Bauwerksbegrüner*innen Langjährige Kompetenz und Erfahrung zur Begrünung von Gebäuden wird in einem struk- turierten Wissenstransfer in maßgeschneiderten Paketen weitergegeben. 47 Die großen Leute lieben nämlich Zahlen Das IBO ist vierzig Jahre alt! Zeit, zurückzublicken. Wir verknüpfen Zahlen mit Bildern und Langlebig durch die Erinnerungen. Erfahrung der Natur 50 Baustoffe, die bleiben – Klimagerechte, kreislauffähige Architektur Seit 20 Jahren entwickeln wir Produkte nach den effizientesten Lösungen der Natur. Kreislauffähigkeit als weiteres Leistungsmerkmal für Bauprodukte und Konstruktionen. Unser Vorbild: 3430 Millionen Jahre Evolu Eine Rückschau auf den BauZ!-Kongress 2020 tion, das ständige Optimieren durch Weiter entwicklung. Ihr Vorteil: strahlende Farbkraft, 53 Bauen und Energie 2020 – grün in vielen Schattierungen Das IBO trug auch heuer wieder mit seinen Expert*innen, seinen Werkzeugen und Informations- UV und Witterungsschutz, sich selbst reinigende Oberflächen – und ein längerer Lebenszyklus von Fassaden. So vereinen sich angeboten ebenso wie mit nachweislich nachhaltigen Bauprodukten zum Erfolg der Messe bei. Wirtschaftlichkeit und Ökologie. Das verstehen wir unter: Bewusst bauen. 55 Ordentliche und fördernde Mitglieder des IBO www.sto.at/bionik K itting 2020 – Magazin des IBO 3
Materialökologie Die Kreislauffähigkeit berechnen Der Baubereich trägt zum allgemeinen Abfallaufkom- men mit einem Anteil zwischen 40 und 50 % bei. Dabei wären viele Bauabfälle am Ende ihres Lebenszyklus wie- der verwertbar. Damit hat das Thema Kreislaufwirtschaft im Baubereich hohe Priorität für den Ressourcen- und Klimaschutz. Hildegund Figl, IBO GmbH Einleitung und Vorarlberger Kommunalgebäudeausweis wird für die Bewer- Im Beitrag werden unterschiedliche Methoden und Verfahren tung der Ökobilanzindikatoren der Oekoindex OI3 herangezogen. vorgestellt, mit denen die Kreislauffähigkeit eines Gebäudes be- Der OI3 ist eine aggregierte Kennzahl, die sich aus den drei Ökobi- reits im Planungsprozess berechnet und gestaltet werden kann. lanz-Indikatoren Bedarf an nicht erneuerbaren Energieträgern Das Ziel ist dabei Gebäude am Ende ihres Lebenszyklus in Zukunft (PENRT), Beitrag zur Klimaveränderung (GWP) und Beitrag zur Ver- nicht mehr als Abfall, sondern als Rohstofflager für Bauvorhaben sauerung (AP) zusammensetzt. In der ursprünglichen Form des OI3 der Zukunft zu behandeln. werden die Herstellungsphase (A1-3) und der Ersatz von Baumate- Der Beitrag konzentriert sich auf die kurze Vorstellung der unter- rialien während der Nutzungsphase (B4) bewertet. 2018 wurde das schiedlichen Berechnungsmethoden. Dabei wird zwischen der OI3 Konzept um die Entsorgungsphase (C1-4) erweitert [4]. quantitativen Methode (Ökobilanz) und qualitativen Methoden Der OI3 kann mit dem Online-Tool baubook eco2soft (https:// (Entsorgungsindikator, Verwertungsindikator) unterschieden. Bei www.baubook.info/eco2soft/) berechnet werden. Im Tool sind den qualitativen wird grundsätzlich ein verwertungsorientierter für die unterschiedlichen Baumaterialien Entsorgungsszenarien Rückbau, wie er beispielsweise in Österreich durch die Recycling- hinterlegt, die von den AnwenderInnen ausgewählt werden kön- Baustoff-Verordnung vorgeschrieben ist, vorausgesetzt. Auf die nen (Abbildung 1). Darauf basierend werden die Ökobilanzindika- konstruktiven Möglichkeiten zur Erhöhung der Trennbarkeit kann toren für die Entsorgungsphase berechnet. im vorliegenden Beitrag nicht eingegangen werden. Ebenso wer- den die wichtigen Aspekte der Abfallvermeidung und Wiederver- Deklaration der Entsorgungsphase in baubook wendung hier nicht behandelt. Die Deklaration von Ökobilanzdaten in baubook war bisher nur Der Begriff „Entsorgung“ umfasst immer die Beseitigung und die für die Herstellungsphase (A1-A3) möglich. Ab sofort können alle Verwertung von Abfällen. Die Verwertung von Abfällen kann die für Baustoffe relevanten Lebensphasen entsprechend der EN stoffliche Verwertung (Recycling) oder die energetische (thermi- 15804, also auch die Entsorgungsphase, deklariert werden. Für sche) Verwertung bedeuten. die Entsorgungsphase gibt es fünf vordefinierte Szenarien: Recy- cling, Sekundärbrennstoff, Energierückgewinnung, thermische Die Ökobilanzmethode Beseitigung, Deponie (siehe Abbildung 2). Die Ökobilanzdaten Lebensphasen in der Ökobilanzmethode müssen einem (oder mehreren) dieser Szenarien zuordenbar sein. Die Ökobilanz ist eine Methode zur quantitativen Abschätzung der Es sind nur „eindeutige“ Szenarien zulässig. mit einem Produkt verbundenen Umweltaspekte und produktspe- zifischen „potenziellen Umweltwirkungen“ (ISO 14040 [1]). Da Öko- Die wichtigsten Aufnahmekriterien für Ökobilanzdaten in bau- bilanzen grundsätzlich auf die Bewertung des gesamten Lebenszy- book sind (Details siehe [5]): klus abzielen, werden sie auch als Lebenszyklusanalyse (englisch: 1. Ökobilanzdaten müssen den Ökobilanzregeln der Bau-EPD Life Cycle Assessment, kurz LCA) bezeichnet. GmbH (www.bau-epd.at) entsprechen. In der europäischen Normung wird der Lebensweg des Gebäudes 2. Die generischen Hintergrund-Daten müssen aus ecoinvent in unterschiedliche Module (Modul A1-3 Herstellungsphase, A4-5 entnommen werden. Errichtungsphase, Modul B1-7 Nutzungsphase, Modul C1-4 Entsor- 3. Die Produktkategorie-Zuordnung erfolgt nach der Logik der gungsphase) unterteilt ([2], [3]). Das Modul D, das die Vorteile und baubook-Datenbank. Belastungen durch Wiederverwendungs-, Rückgewinnungs- und 4. Im Modul D sollen nur Inputs aus den Modulen C1 bis C4 abge- Recyclingprozesse abbildet, steht außerhalb der Systemgrenze des bildet werden. Bauwerks. Schwächen der Ökobilanzmethode Entsorgungsphase im Oekoindex-Konzept Eine der meist-diskutierten Fragen bei der Erstellung von Ökobi- In den österreichischen Gebäudebewertungssystemen „klimaaktiv lanzen ist, wie die Vorteile und Belastungen der Verwertung von Bauen & Sanieren“, „Total Quality Building“ (TQB), IBO ÖKOPASS Materialien am Ende der Lebensdauer auf die Systeme verteilt 4 K itting 2020 – Magazin des IBO
Materialökologie werden sollen – auf das primäre System (Gebäude) oder auf das 1. Einstufung der aktuellen Entsorgungseigenschaften der Bau- System, das die sekundären Ressourcen nutzt? Es gibt dazu die teilschichten in Abhängigkeit ihrer Trennbarkeit unterschiedlichsten Lösungsansätze (Cut-Off-Methode, Strikte 2. Einstufung des Verwertungspotentials der Bauteilschichten, Co-Produkt-Allokation, Value-corrected Substitution etc.). Die das bei Verbesserung der Rahmenbedingungen aus wirt- europäische Normung hat für den Baubereich die Cut-Off-Metho- schaftlicher und technischer Sicht möglich wäre . de zum Standard erhoben ([2], [3]). Die Grenze zwischen dem Sy- Für die ersten beiden Schritte sind die einzelnen Baustoffe mit stem des Bauwerks und dem Modul D (Prozesse außerhalb der Defaultwerten voreingestuft, die durch die AnwenderInnen Systemgrenze des Bauwerks) ist der erreichte Zustand des Abfal- spezifisch angepasst werden können (Abbildung 3). lendes (EOW). 3. Aggregation von Entsorgungseinstufung und Verwertungspo- Bisher war in Umweltproduktdeklarationen (EPD) die Deklaration tenzial von Modul D optional, sodass nur wenig Erfahrung mit der Be- 4. Gewichtung mit dem über den Lebenszyklus anfallenden Vo- rechnung von Modul D auf Produkt- oder Gebäudeebene vor- lumen liegt. Wie unter anderen eine belgische Fallstudie zur Berücksich- 5. Addition der Baustoffergebnisse zum Bauteilergebnis (EI kon) tigung von Modul D in der Ökobilanz von Gebäu- den zeigt [6], können die methodischen Entschei- dungen, Interpretationen und Annahmen im Zu- sammenhang mit der Berechnung von Modul D einen erheblichen Einfluss auf die Ergebnisse haben. Die Ergebnisse von Modul D sind daher mit großen Unsicherheiten behaftet. Wird das Modul D darum – wie heute in vielen Gebäudebe- wertungssytemen üblich – nicht betrachtet, bringt das in der Regel Vorteile für den Einsatz von Recyclingmaterialien, da sie „gratis“ aus dem vorherigen Produktsystem übernommen wer- den. Das Recycling der Materialien am Gebäude- lebensende erspart zwar die Aufwendungen für die Beseitigung, diese Vorteile kommen aber im Gesamtlebenszyklus eines Gebäudes kaum zum Tragen – die Vorteile durch das Recycling werden Abb. 1: Eingabe der Entsorgungsphase in baubook eco2soft ja erst im Modul D abgebildet. Die alternative Deponierung zeigt sich zum Beispiel lediglich durch die damit verbundenen Abbruch- und Transportprozesse, welche in den meisten Ökobi- lanzindikatoren im Vergleich zum Herstellungs- aufwand wenig Beitrag leisten. Bereits 2003 [7] begann das IBO daher der quan- titativen Ökobilanzbewertung eine qualitative Bewertung gegenüberzustellen, welche die Qua- lität der Entsorgungswege und der aus den Alt- materialien hergestellten Produkte ins Zentrum stellt. Diese Methode wurde seither kontinuier- lich weiterentwickelt. Abb. 2: Eingabe der Ökobilanzwerte in baubook. Zunächst wird die Lebensphase gewählt. Für die Entsorgungsphase ist anschließend noch eines der fünf möglichen Szenarien festzulegen. Der „Entsorgungsindikator“ in den öster- reichischen Gebäudebewertungssystemen Der „Entsorgungsindikator“ eines Gebäudes wird in den Gebäudebewertungssystemen „klimaaktiv Bauen und Sanieren“, „Total Quality Building“ (TQB), IBO ÖKOPASS und Vorarlberger Kommunalgebäu- deausweis für die Berechnung der Kreislauffähig- keit eines Gebäudes herangezogen. Der Entsor- gungsindikator kann gemeinsam mit dem Oekoin- dex OI3 in baubook eco2soft berechnet werden. Die Bewertungsmethode setzt auf Bauteilebene Abb. 3: Defaultwerte für die Entsorgungseigenschaften („Einst“) und das Verwertungspotenzial an. Jedes Bauteil wird in mehreren Schritten be- („Pot“) liegen in „baubook eco2soft“ für alle Baustoffe vor und können durch die AnwenderIn- wertet: nen angepasst werden. K itting 2020 – Magazin des IBO 5
Materialökologie Die aus diesem Verfahren für jeden Bauteil resultierenden Entsor- Zukunft Bau Projekt zur Weiterentwicklung der Bewertungs- gungsindikatoren EIKon werden durch die Flächen gemittelt und methode so der Entsorgungsindikator EI des Gebäudes errechnet. Die Zu- Das IBO hat mit seinen ProjektpartnerInnen TU München, TU Ans- ordnung der klimaaktiv bzw. TQB Punkte erfolgt durch eine line- bach und Aidelsburger Kellner Architekten GbR diesen Steckbrief are Funktion. in einem Zukunft-Bau-Projekt methodisch und wissenschaftlich Die Bilanzgrenze auf Gebäudeebene kann entsprechend der kli- überarbeitet. Wie beim Entsorgungsindikator beruht die neue maaktiv oder TQB Ökobilanzvorgaben entweder vereinfacht ge- Bewertungsmethode auf der Erfassung der eingesetzten Bauteile, wählt werden (Bilanzgrenze 1 (BG1) – thermische Gebäudehülle welche virtuell in kleinere, nicht mehr mit wirtschaftlichem Auf- inkl. Trenndecken) oder detailliert (ab Bilanzgrenze 3 (BG3) für wand voneinander trennbare Fraktionen zerlegt werden. den gesamten Baukörper). Im Unterschied zur Ökobilanz wird der Jede einzelne Fraktion wird dann anhand eines Bewertungssche- Entsorgungsindikator immer (auch auf BG1) unter Berücksichti- mas mit einer Note zwischen 1 (sehr gut) und 6 (sehr schlecht) gung der Nutzungsdauern der einzelnen Bauteilschichten be- beurteilt, die der Qualität des Entsorgungsweges dieser Fraktion rechnet. entspricht. 2018 wurde eine neue, ergänzte Version – der Entsorgungsindika- Das neue Bewertungsschema spiegelt die gesetzlichen Rahmen- tor EI10 – eingeführt. Details zum Entsorgungsindikator sind im bedingungen wider. Berechnungsleitfaden [8] nachzulesen. Für jeden der möglichen Entsorgungswege gibt es eine detaillier- Der Entsorgungsindikator ermöglicht eine richtungsstabile Ein- te Aufstellung der Kriterien für die Einstufung in die jeweilige stufung der durchschnittlichen Verwertbarkeit der in einem Ge- Qualitätsstufe. In Abbildung 6 ist beispielhaft das Bewertungs- bäude verbauten Materialien. Schwächen der Methode liegen schema für die energetische Verwertung dargestellt. Für die Ein- derzeit noch bei der Umsetzung der Abfallhierarchie, der automa- stufung in die jeweilige Heizwert- bzw. Schadstoffkategorie (SB, tisierten Berücksichtigung von Störstoffen durch angrenzende EV, EB) gibt es erneut Tabellen mit den Kriterien. Schichten und der präzisen Definition der Einstufungskriterien. Schlussendlich werden die Bewertungsnoten der einzelnen Frak- tionen nach Volumen gewichtet, zu Bauteilen aufsummiert und Entwicklung eines Verwertungsindikators für das Bewer- schließlich auf Gebäudeebene aggregiert. tungssystem Nachhaltiges Bauen (BNB) Abfallverwertung heute und morgen BNB Kriteriensteckbrief 4.1.4 In das Bewertungsverfahren fließen auch Entsorgungswege ein, Das „Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen“ (BNB) [9] wurde die derzeit noch nicht flächendeckend beschritten werden, deren vom deutschen Bundesministerium für Bau (aktuell im BMI) in Einführung jedoch absehbar ist. Kooperation mit dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raum- Gips zum Beispiel ist ein Werkstoff, der durch erneutes Brennen in forschung (BBSR) entwickelt. Das planungsbasierte Bewertungs- unzähligen Zyklen geführt werden kann. Derzeit ist die Recycling- system richtet sich an öffentliche und private Büro- und Verwal- quote von Gipsprodukten aber gering. Rückgebaute Gipsplatten tungsbauten, Unterrichts- sowie Laborgebäude. Die Anforderun- werden heute noch aus Deutschland nach Tschechien zur Stabili- gen sind thematisch gegliedert und in Form von Kriteriensteck- sierung von uranhaltigen Schlammteichen exportiert. Mit stei- briefen formuliert. gendem Bewusstsein für die Kreislaufwirtschaft scheint eine flä- Der BNB-Kriteriensteckbrief 4.1.4 „Rückbau, Trennung, Verwer- chendeckende Einführung eines Recyclingsystems in ganz tung“ (BNB 4.1.4) hat zum Ziel, Gebäude bereits im Planungspro- Deutschland aber in greifbarer Nähe. Mehrere Recyclinganlagen zess so zu optimieren, dass sie am Ende des Lebenszyklus einen haben sich bereits auf die Aufbereitung von Gipsplattenabfällen optimalen Beitrag zur Kreislaufführung von Baustoffen leisten zu Gipspulver spezialisiert, das in Gipsplatten eingesetzt werden und möglichst wenig unverwertbaren Abfall hinterlassen. In der kann. Namhafte Gipsplattenhersteller haben sich bereit erklärt, gültigen Fassung (Version 2015) [10] greifen die AuditorInnen auf das aufbereitete Gipspulver in ihre Platten einzuarbeiten. vorbewertete Beispielaufbauten zur Selbsteinschätzung ihrer zu Derart vorbildliche Entwicklungen sollen in der neuen Bewer- bewertenden Konstruktionen zurück. Die Selbsteinschätzung tungsmethode belohnt werden. Dafür wurde ein Technologiefak- wird anschließend über eine Prüfung durch die Konformitätsstel- tor eingeführt, der die Bewertung einer Abfallfraktion um einen le verifiziert. vom Reifegrad der Technologie abhängigen Bruchteil der Verbes- serung zum derzeitigen Stand der Technik hinaufsetzt. Ausblick Die vorgeschlagene Methode wurde an mehreren Pilotprojekten erprobt und auf Konsistenz geprüft. Sie legt einen guten Grundstein für eine transparente qualitati- ve Bewertung der End-of-Life Perfor- mance von Baustoffen, Bauteilen und Ge- Abb. 4: Beispielhafte Ausgabe der Berechnungsergebnisse für ein Gebäude in eco2soft. Für die bessere bäuden. Derzeit weist sie jedoch noch ei- Einordnung wird der Entsorgungsindikator EI 10 zusätzlich auf einer Skala bildlich dargestellt. ne zu geringe Ausdifferenzierung der Er- 6 K itting 2020 – Magazin des IBO
Materialökologie gebnisse auf. Verbesserungspotenzial besteht auch noch hin- [6] Delem L., Wastiels L.: The practical use of module D in a building case study: assumpti- sichtlich eindeutigerer Definition der Recyclingklassen und der ons, limitations and methodological issues. Sustainable Built Environment Conference 2019 (SBE19 Graz). IOP Conf. Series: Earth and Environmental Science 323 (2019) Rangordnung von energetischer und stofflicher Verwertung. 012048 Die Erstfassung der Methode wurde 2019 auf der Sustainable Built [7] Waltjen, T., et al, Passivhaus-Bauteilkatalog – Ökologisch bewertete Kons-truktionen Environment (SBE) Konferenz in Brüssel erfolgreich vorgestellt – Details for Passive Houses – A Catalogue of Ecologically Rated Constructions (Hg. [11]. Weitere Publikationen sind in Vorbereitung. Parallel wird vom IBO – Österreichisches Institut für Baubiologie und -ökologie, Springer, Wien, geprüft, ob die Ergebnisse auch für die Anwendung in Österreich 2003, 3. Auflage 2009) geeignet sind. [8] Leitfaden zur Berechnung des Entsorgungsindikators EI Kon von Bauteilen und des Entsorgungsindikators EI10 auf Gebäudeebene. Version 2.0. Hrsg: IBO, Wien Jänner Literatur 2018 https://www.ibo.at/fileadmin/ibo/materialoekologie/EI10_Berechnungsleitfa- den_V2.0_2018.pdf [1] ÖNORM EN ISO 14040 Umweltmanagement – Ökobilanz. Grundsätze und Rahmenbedin- gungen [9] Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat. (2018) Bewertungssystem für nachhaltiges Bauen (BNB). [Online]. https://www.bnb-nachhaltigesbauen.de/bewer- [2] ÖNORM EN 15804 Nachhaltigkeit von Bauwerken – Umweltdeklaration für Produkte – tungssystem.html Grundregeln für die Produktkategorie Bauprodukte [10] Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen (BNB). Kriterien – BNB Büro- und Verwaltungs- [3] ÖNORM EN 15978 Nachhaltigkeit von Bauwerken – Bewertung der umweltbezogenen gebäude – Neubau. Version 2015. [Online]. https://www.bnb-nachhaltigesbauen.de/ Qualität von Gebäuden – Berechnungsmethoden bewertungssystem/bnb-buerogebaeude/bnb-bn-2015/kriterien-bnb-buero-und- [4] OI3 Berechnungsleitfaden Version 4.0. Hrsg.: IBO, Wien, Oktober 2018. dol: https://www. verwaltungsgebaeude-neubau.html: Technische Qualität / 4.1.4. Rückbau, Trennung ibo.at/fileadmin/ibo/materialoekologie/OI3_Berechnungsleitfaden_V4.0_20181025. und Verwertung. pdf [11] H. Figl, C. Thurner, F. Dolezal, P. Schneider-Marin, I. Nemeth; A new Evaluation Method [5] Kriterien und Prozedere für die Aufnahme von produktspezifischen Ökobilanzdaten in for the End-of-life Phase of Buildings. SBE19 Brussels BAMB-CIRCPATH Conference, Feb. die baubook Datenbank. Version 4.0 Hrsg.: baubook. Wien, Mai 2020. https://www. 2019. IOP Conference Series Earth and Environmental Science 225:012024; DOI: https:// baubook.info/m/PHP/getDownloadFile.php?type=Aufnahmekriterien_Oekobilanzda- iopscience.iop.org/issue/1755-1315/225/1 ten Informationen Mag. Hildegund Figl IBO – Österreichisches Institut für Bauen und Ökologie GmbH A-1090 Wien, Alserbachstr. 5/8 email: hildegund.figl@ibo.at www.ibo.at Legende: WV+CL … (Vorbereitung zur) Wiederverwendung und Closed loop; RC … Recycling; AV … Andere Verwertung; EV … Energetische Verwertung; EB … Energetische Beseitigung; DK … Deponieklasse; Dep. nach Aufb. … Deponierung nach Aufbereitung. Abb. 5: Einstufungstabelle für die End-of-Life-Szenarien Abb. 6: Bewertungsschema für die energetische Verwertung K itting 2020 – Magazin des IBO 7
Materialökologie K itting 2020 – Magazin des IBO 9
Bauphysik Wiener Tropennächte Hitzeschutzmaßnahmen für den privaten Wohnbereich Wien wurde 2019, zum wiederholten Mal, als die Stadt mit der weltweit höchsten Lebensqualität eingestuft. Dies verdankt Wien seiner ausgezeichneten Infrastruktur, einem gut ausge- bauten öffentlichen Verkehrsnetz, der Wasser- und Gesund- heitsversorgung sowie der breiten Kultur- und Bildungsange- bote. Außerdem punktet Wien mit einem hervorragenden Angebot an hochwertigem Wohnraum. (Vgl. [1]) Aber trotz höchster Lebensqualität stellt Hitze für die Menschen in der Stadt eine besondere Herausforde- rung dar. Der Beitrag beschreibt die Besonderheiten des Stadtklimas, zeigt die künftige Klima- entwicklung für Wien auf und gibt Empfehlungen zum Schutz vor sommerlicher Überwärmung Ihrer Wohnräume. Tobias Steiner, IBO GmbH Stadtklima Strahlungs- und Energiehaushalt Das Stadtklima stellt ein modifiziertes Klima dar, welches durch Sonnenstand und Trübung der Atmosphäre sind für die Strah- die Wechselwirkung von Bebauung und deren Auswirkungen lungsbilanz entscheidend. Das Verhältnis zwischen reflektierter (z.B. Abwärme und Emission von luftverunreinigenden Stoffen) und einfallender Sonnenstrahlung, welches u.a. von Farbgebung, entsteht. (Vgl. [2]) Das Stadtklima wird bestimmt durch Material der Oberflächen und Exposition der einfallenden Strah- • Wärmeleitfähigkeit und spezifische Wärmekapazität der gro- lung abhängig ist, wird Albedo genannt. Asphalt hat beispiels- ßen Mengen Beton, Asphalt und Stein weise eine Albedo von 10 – 20 %, reflektiert nur sehr wenig Solar- • Strahlungsverhältnisse infolge der Oberflächengeometrie strahlung und speichert sehr viel Wärme. • Luftverunreinigungen Die städtische Energiebilanz wird durch hohe Versiegelungsgra- • vermindertes Feuchteangebot de und Vegetationsarmut beeinflusst. Durch den raschen Regen- • anthropogene Wärmeproduktion wasserabfluss verdunstet nur wenig. Die Evapotranspiration und • aerodynamische Eigenschaften der Stadtoberfläche damit die latente Wärme sind in der Stadt stark reduziert und erhöhen damit den fühlbaren Wärmestrom. Die Vegetationsar- Das Zusammenwirken dieser Faktoren führt zu einer Vielzahl mut in der Stadt führt dazu, dass für Wasserverdunstung und meteorologischer Stadtphänomene. Der bekannteste Effekt ist Transpiration etwa ein Drittel weniger Energie verbraucht wird die Temperaturerhöhung gegenüber dem Umland, die „städti- als im Umfeld. (Vgl. [5]) sche Wärmeinsel“. Straßenbeläge und verdichteter Untergrund sind für den Boden- wärmestrom entscheidend. Wärmeleitfähigkeit wie auch spezifi- Stadtatmosphäre sche Wärmekapazität ist bei städtischen Materialien in der Regel Die Stadtatmosphäre unterscheidet sich aufgrund ihrer größeren hoch. Sie können deshalb gegenüber Wiese oder Ackererde etwa Rauigkeit, der überwiegend trockenen Oberflächen sowie der drei Mal mehr Energie aufnehmen. emittierten Luftschadstoffe und Freisetzung von Abwärme Ursachen für die Ausbildung der städtischen Wärmeinsel sind grundlegend von der Freilandatmosphäre und wird deshalb in insbesondere eine erhöhte Absorption kurzwelliger Strahlung, folgende Bereiche unterteilt (vgl. [3]): die verringerte langwellige Ausstrahlung, die veränderten Beträ- 1) die vom Boden bis zum mittleren Dachniveau reichende Stadt- ge latenter und sensibler Wärmeströme sowie die anthropogene hindernisschicht (urban canopy layer UCL), deren meteorolo- Wärmeabgabe. Die Überwärmung wird durch die Dunstglocke, gische Verhältnisse eine Mischung unterschiedlicher Mikrokli- die Wärme- und Abgasemissionen sowie eine von der Art der mata darstellt und durch die Wechselwirkungen mit der un- Luftverunreinigung abhängige Absorption der kurzwelligen mittelbaren Umgebung (Gebäude, Straßen, Plätze, Parks, Was- Strahlung bestimmt. (Vgl. [3]) serflächen) bestimmt werden (vgl. [4].) 2) die Stadtgrenzschicht (urban boundary layer UBL), welche ein Städtische Wärmeinsel mikro- bis mesoskaliertes Phänomen darstellt, dessen Eigen- Nicht nur zwischen Stadt und Land sind deutliche klimatische schaften durch die Stadtoberfläche bestimmt sind (vgl. [3]). Unterschiede zu erkennen, auch zwischen Innen- und Außenbe- 10 K itting 2020 – Magazin des IBO
Bauphysik zirken. Bei der Messstation Wien Innere Stadt liegt das absolute Maximum der Lufttemperatur (Abbildung 1) mit 38,4 °C um 1,4 °C, das mittlere Maximum (Abbildung 2) um 0,5 °C höher als bei der Messstation Hohe Warte im 19. Bezirk. Der Unterschied beim mittleren Minimum (Abbil- dung 3) beträgt 2,1 °C. Das bedeutet, dass nicht nur tags- über sondern insbesondere abends eine Übertemperatur der Innenbezirke gegenüber den Außenbezirken zu be- obachten ist. Hitzestress Abb. 1: Temperaturunterschied, absolutes Maximum der Lufttemperatur, Innen- und Hohe Temperaturen führen bei Menschen zu einer Stress- Außenbezirke, Wien, Juli 2019, Rohdaten [6], eigene Auswertung situation und stellen bei körperlicher Aktivität, aber auch bei Ruhe, eine Belastung für Herz und Kreislauf dar. Hitze führt unter anderem zu Konzentrationsstörungen, Schlaf- losigkeit, Aggressionen, Depressionen, Herzinfarkt und Herzversagen. Kleinkinder, Kranke und ältere Menschen mit einge- schränkter Akklimatisierungskapazität sind besonders gefährdet. Die Anfälligkeit für städtische Hitze in den Wiener Wählerbezirken zeigt Abbildung 4. Sie wird an- hand der Temperaturbelastung und der Dichte der Risiko- gruppen berechnet. Im Tagesverlauf besonders kritisch ist grundsätzlich der Spätnachmittag, wenn die Tempera- tur noch hoch ist und der Wind bereits abflaut. Aber auch Abb. 2: Temperaturunterschied, mittleres Maximum der Lufttemperatur, Innen- und bis in die Nacht andauernde hohe Temperaturen durch Außenbezirke, Wien, Juli 2019, Rohdaten [6], eigene Auswertung die aufgeheizten Baumassen stellen eine große Gefahr dar. Bei einer nächtlichen Temperatur von über 25 °C ent- fällt der für die Erholung wichtige Tiefschlaf. Das Aufein- anderfolgen heißer Nächte stellt damit ein besonders hohes Hitzerisiko dar. Neben der Analyse von Hitze- und Hitzewelletagen ist deshalb ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung der Tropennächte zu legen, also auf jene Nächte, bei denen die Minimaltemperatur über 20 °C liegt. Die Beobachtungen zeigen einen deutlichen Trend hinsichtlich der Tropennächte (Abbildung 5). Während die jährliche Anzahl von Tagen mit Tropennächten vor 1990 noch bei maximal 5 lag steigt die Anzahl rapide. Das Ma- ximum in Wien liegt derzeit bei 23 Tropennächten im Jahr Abb. 3: Temperaturunterschied, mittleres Minimum der Lufttemperatur, Innen- und 2015 an der Messstation Hohe Warte. Außenbezirke, Wien, Juli 2019, Rohdaten [6], eigene Auswertung Abb. 4: Anfälligkeit für städtische Hitze, Urban Heat Vulnerability Abb. 5: Entwicklung Tropennächte, Wien, Rohdaten [6], eigene Auswertung Index, Rohdaten [7], eigene Darstellung K itting 2020 – Magazin des IBO 11
Bauphysik Wiener Stadtklima Wien – Hohe Warte [6] wird aus den vergangenen Jahren jenes Ausgehend von einer Analyse der Klimaindizes Sommer- und Klimadatenset gewählt bei dem die Mittelwerte über die letzten Hitzetage (Abbildung 6), Hitzewelletage (Abbildung 7) und Tro- 15 Jahre (Abbildung 8) für die genannten Klimaindizes am besten pennächte (Abbildung 5) anhand der langjährigen Klimadaten für entsprechen. Mit 84 Sommertagen, 21 Hitzetagen, 6 Hitzewel- letagen und 6 Tropennächten entsprechen die Klimadaten aus dem Jahr 2007 nahezu dem gleitenden Mittelwert über die letzten 15 Jahre. Durch Verschiebung der Temperatur- kurve in 0,5 Grad Schritten ergeben sich damit die in Abbil- dung 10 gezeigten Szenarien für die künftigen Sommer in Wien. Diese Verschiebung der gesamten Temperaturkurve (alle Stundenwerte) ist insofern zulässig, da die Analyse der Klimadaten zeigt, dass nicht nur die Mittelwerte, sondern parallel dazu auch die Maximaltemperaturen, hier in Abbil- dung 9 für Juli gezeigt, steigen. Grundsätzlich ist zusätzlich zur Verschiebung des Mittelwerts eine Zunahme der Streu- ung zu erwarten, was zu einer weiteren Erhöhung der be- trachteten Klimaindizes führt. Dies erfordert jedoch eine aufwändige Manipulation der Klimadaten, auf die in die- sem Beitrag verzichtet werden kann. Betrachtet man die Jahre 2015, 2017 und 2019 so zeigt sich, dass diese bei den Hitzetagen, den Tropennächten wie auch den Hitzewelletagen in etwa dem in Abbildung 10 Abb. 6: Entwicklung Sommer- und Hitzetage, Wien, Rohdaten [6], eigene Auswer- gezeigten Szenario +1,5 °C entsprechen. tung Während für Gesamtösterreich in der nahen Zukunft eine mittlere Zunahme von 11 Sommer- und 4,3 Hitzetagen pro- gnostiziert wird gelten für Wien, bedingt durch die geogra- fische Lage und die Städtische Wärmeinsel, weit kritischere Prognosen. Es ist für die kommenden Jahre mit einer Zu- nahme von 25 Sommer- und 12 Hitzetagen zu rechnen. Dies entspricht ungefähr dem Szenario „gleitender Mittel- wert der letzten 15 Jahre plus 1,5 °C“ bzw. den Klimadaten aus dem Jahr 2019. Erste Hilfe, die wirksamsten Maßnahmen! Die beliebteste Maßnahme »viel und regelmäßig trinken«, ist zwar eine notwendige, aber nicht immer ausreichende Maßnahme, um negativen Konsequenzen von Hitzewellen vorzubeugen. Abb. 7: Entwicklung Hitzewelletage, Wien, Rohdaten [6], eigene Auswertung Ausflüge in den Park oder zu kühlen Orten sind nicht allen Menschen möglich. Hitze führt für daher für sehr viele Men- schen zu einem Rückzug in die eigene Wohnung. Deshalb ist es besonders wichtig, den privaten Wohnbereich auf Hitzewellen vorzubereiten, um diese erfolgreich zu bewäl- tigen. Insbesondere in kleinen Räumen und Wohnungen besteht ein hohes Risiko für sommerliche Überwärmung, wie die Ergebnisse aus einer thermischen Gebäudesimulation für Wiener Gründerzeitgebäude in Abbildung 11 zeigen. Ein kleines Zimmer mit nur einem Fenster ohne Verschattung zeigt fast 900 Stunden mit einer empfundenen Temperatur über 27 °C, und das trotz Nachtlüftung (1). Größere Zimmer mit zwei Fenstern zeigen mit knapp über 600 Stunden ein günstigeres thermisches Verhalten im Sommer. Abb. 8: Lufttemperatur gemittelt über 15 Jahre, Wien, Rohdaten [6], eigene Auswer- tung 12 K itting 2020 – Magazin des IBO
Bauphysik Abb. 9: Entwicklung Sommer- und Hitzetage, Wien, Rohdaten [6], eigene Auswertung Abb. 10: Klimaszenarien Wien - Sommertage, Hitzetage, Tropennächte und Hitzewelletage www.liapor.at Abb. 11: Maßnahmen zur Reduktion von Hitze in Wohnräumen, Ergebnisse thermische Gebäudesimulation K itting 2020 – Magazin des IBO Lias Österreich GesmbH | A-8350 Fehring | Fabrikstraße 11 | +43 3155 2368 0 | info@liapor.at
Bauphysik Eine gute Lösung um die Belastung durch sommerliche Überwär- ungedämmten Feuermauern stehen). Es lohnt sich also mehrfach mung für den privaten Wohnbereich zu reduzieren stellt eine über thermische Sanierung und Sonnenschutz nachzudenken. außen liegende Verschattung dar wie beispielsweise ein Raffstore Mit diesen Maßnahmen können Sie, auch ohne Klimaanlagen, den (2) oder eine Markisolette (3) wodurch der Wärmeeintrag der kommenden Wiener Tropennächten entspannt entgegensehen. Sonne über die Fenster deutlich reduziert wird. Im Neubau wird in der Regel ein Nachweis zur Vermeidung som- Literatur merlicher Überwärmung geführt. Aber auch hier gibt es deutliche [1] https://www.wien.gv.at/politik/international/vergleich/mercerstudie.html (zuletzt Unterschiede, so sollte darauf geachtet werden, dass die Räume abgerufen am 29.04.2020, 17:15) der Wohnung mit „A+“ bzw. als „sehr gut sommertauglich“ einge- [2] https://www.dwd.de/DE/service/lexikon/Functions/glossar html?lv2=102248&lv3=102558 stuft sind. (zuletzt abgerufen am 29.04.2020, 17:33) Sollen bestehende Wohnräume auch bei zukünftigen Klimaent- [3] Hubfer, P. und W. Kuttler (Hrsg.): Witterung und Klima. B.G. Teubner, 1998, Stuttgart. wicklungen noch vor Hitze schützen führt eine thermische Sanie- [4] Schirmer, et al: Handbuch zur Stadt- und Regionalplanung, 1988 rung in Kombination mit außenliegender Verschattung zu den [5] Fezer, F.: Das Klima der Städte, Perthes Geographie Kolleg, Justus Perthes Verlag Gotha. besten Resultaten (4). Die Anzahl der Stunden über 27 °C wird 1995 damit um 80 % reduziert. [6] https://www.zamg.ac.at/cms/de/klima/klimauebersichten/jahrbuch (zuletzt abgeru- fen am 29.04.2020, 17.56) Abbildung 12 zeigt den Tagesverlauf der empfundenen Tempera- [7] Urban Heat Vulnerability Index (UHVI) Wien, https://www.data.gv.at/katalog/ tur für das Zimmer mit zwei Fenstern an einem heißen Sommer- dataset/67d4a45f-2031-4dd5-a03d-92f64be7147c (zuletzt abgerufen am 29.04.2020, tag in einer Hitzeperiode. Die Wärmedämmung, egal ob außen an 17:58) der Fassade oder raumseitig, also in der eigenen Wohnung, auf- gebracht, führt zu einer deutlichen Reduktion der empfundenen Temperaturen im Raum. Für die Auswahl und Bemessung der Dämmung gibt es umfang- reiches Informations- und Beratungsangebot. Neben der Wirt- Informationen schaftlichkeit kommt insbesondere im Wohnbereich, z.B. im DI Tobias Steiner Schlaf- oder Kinderzimmer der Materialwahl eine besondere Be- IBO – Österreichisches Institut deutung zu. Während die Maßnahme im Sommer einen übermä- für Bauen und Ökologie GmbH A-1090 Wien, Alserbachstr. 5/8 ßigen Wärmeeintrag in den Raum verhindert, reduziert die Wär- email: tobias.steiner@ibo.at medämmung im Winter die Wärmeverluste und das Risiko von www.ibo.at Schimmelbildung (z.B. hinter Betten und Möbeln, die direkt an Abb. 12: Einfluss Dämmstandard auf empfundene Temperatur, Zimmer mit zwei Fenstern, Tagesgang der empfundenen Temperatur, heißer Sommertag 14 K itting 2020 – Magazin des IBO
Bauphysik ÖKOLOGISCH Apfelbaum – kein Baumhaus BAUEN Ein Wohnprojekt für inklusives Wohnen MIT ABK8 in Hernals Gesamtheitliche ökologische Betrachtung Berechnung der Lebenszyklus- Bild ©: JAMJAM kosten Wie können Gebäude ein gutes Zusammenleben för- dern? Ideen dazu prägten die Wohnhöfe des Roten Wien LV-Erstellung ebenso wie die Baugruppenprojekte in Stadt und Land. nach ÖKO- Das Projekt Apfelbaum integriert nicht nur Singles und Familien, Paare und PensionistInnen, dort werden auch Kriterien Menschen mit besonderen Bedürfnissen leben. Felix Heisinger, IBO GmbH LV-Positionen ökologisch E ingebettet in Wohnungsverbünde, mit einem Gesundheitszentrum, Geschäften und bewerten Ateliers können dort Menschen mit und ohne Behinderungen, die ein hohes Maß an gegenseitigem Respekt und Toleranz mitbringen, arbeiten und leben. Natürlich mit viel Grün an Dächern und Fassaden und Freiräumen, versteht sich das Projekt doch als Dorf in der Stadt. Darüber hinaus ist diese Sockelsanierung auch ein Demoprojekt für neue Praxiserprobtes Entwicklungen zur Energieeffizienz in Plus-Energiehäusern und -gebieten. Datenmodell Nachhaltigkeit – die Säule Soziales Neben ökologischen Baustoffen und energieeffizientem Betrieb im Plus-Energiehaus ist ein weiteres Thema das sogenannte Soziale im Bauwesen oft als Gesundheit bzw. ge- Effizientes sunde Innenraumluft und Produktion ohne Schadstoffe zum Schutz der Arbeitneh- Softwaretool merInnen interpretiert . Darüber hinaus hat Bauen auch auf unser Zusammenleben Einfluss und zwar sowohl innerhalb der eigenen Wohnung, als auch in der Wohnhaus- anlage und im Grätzel. Attraktiver als Garagentore sind belebte Erdgeschoßzonen, barrierefreie Sanierungen ermöglichen auch älteren Menschen oder solchen, die mit Rollstühlen und Kinderwägen unterwegs sind, mehr Bewegungsfreiheit und selbstver- ständliches Leben in einer durchmischten Gesellschaft. Und wie wir ja wissen, ist Vielfalt zwar immer eine Herausforderung, aber auch wichtig fürs Überleben. Denn wo Men- schen wechselseitig füreinander Verantwortung übernehmen (können), entstehen be- sondere Plätze. Errichtung von Plusenergiehäusern ...und noch vieles mehr! Nicht nur soziales Engagement wird sichtbar, das Bauvorhaben ist eines von vier Demo- projekten in vier verschiedenen Klimazonen des EU-Projektes syn.ikia. Dessen Ziel ist, www.abk.at K itting 2020 – Magazin des IBO Die Lösung für OpenBIM und AVA | www.abk.at
Bauphysik Treibhausgasemissionen in Wohngebieten zu verringern. Netto- Verein das Zusammenleben, gründet die nötigen Arbeitsgruppen Null-Energie-Bezirke werden planerisch, aber eben auch prak- und achtet besonders auf die qualität- und würdevolle Betreuung tisch entwickelt. Dazu sollen lokale erneuerbare Energieträger in den Pflegebereichen. und lokale Speicherkapazitäten für eine gemeinsame Nutzung zur Verfügung stehen und so das Engagement der Gemeinschaft Bauphysik vom IBO fördern. Die IBO Bauphysik unterstützt das Projekt durch Berechnungen im Bereich thermische Bauphysik, Bauakustik, Raumakustik sowie Der Bauträger und Immobilienverwalter Liv, bekannt für seine Wärmebrückenberechnungen und hygrothermische Simulatio- Projekte mit Liebe zum Detail, an den schönsten Orten Wiens, nen für die Bestandssanierung. errichtet mit dem Verein Apfelbaum auf 6500 m2 in Hernals, nahe dem Yppenplatz, 104 Wohnungen und 40 Studentenapartments Das Leben in einer bunten Gemeinschaft und im Grünen, mitten im Rahmen einer Sockelsanierung. Mit den Geschäften und Ge- in Wien und mit Platz für besondere Menschen, stößt auf reges werbeflächen werden die Erdgeschoßzonen straßenseitig wieder Interesse – es gibt bereits 280 Anmeldungen. Der Baubeginn ist belebt, aber auch hofseitig wird es Platz zum Arbeiten geben. Der für 2020 geplant, zur Internationalen Bauausstellung IBA 2022 soll Pflegestützpunkt steht inmitten der Wohnungen für die Men- das Projekt fertig sein. schen mit hohem Betreuungsbedarf, mit eigenem Pflegebad, die umliegenden Satellitenwohnungen für Menschen mit weniger Informationen Bedarf können von dort aus mitbetreut werden. DI FH Felix Heisinger IBO – Österreichisches Institut Das wachsame Auge des Vereins für Bauen und Ökologie GmbH Wie in Baugruppen üblich, wurde zur Konzepterstellung und für A-1090 Wien, Alserbachstr. 5/8 die Durchführung ein Verein gegründet. Letztendlich sollen die email: felix.heisinger@ibo.at BewohnerInnen ihr Projekt selbst verwalten. Dazu moderiert der www.ibo.at Projekt des Vereins Apfelbaum mit 6500 m2 in Hernals • 104 Wohnungen für rund 280 Bewohner- Innen • 40 Studentenappartments (Helbling- gasse 7) • Gesundheitszentrum im 1. + 2. OG (Otta- kringer Straße 44) • Gewerbefläche in den EG-Bereichen • 98 Pkw-Stellplätze und Stellplätze für Motorräder und Lastenfahrräder Bild ©: JAMJAM www.apfelbaum.at 16 K itting 2020 – Magazin des IBO
Bauphysik Neue Grenzen der Luftdichtigkeit Schäden wegen zu HOHER Luftdichtigkeit Türen, die sich schlecht öffnen lassen, Fenster, die pfeifen und zu hohe Luftfeuchtigkeit in Kon- struktionen, das alles kann bei zu hoher Luftdichtigkeit zu Komforteinbußen bis hin zu ernsten Baumängeln führen. Karl Torghele, Spektrum GmbH S eit mehr als 20 Jahren bin ich in Vorarlberg und Tirol als versen normativen Regelwerken auf das Erfordernis der Luftdich- Sachverständiger für Bauphysik und Bauakustik tätig. In den tigkeit zur Vermeidung von Bauschäden bzw. zur Vermeidung letzten drei Jahren ist nun eine auffällige Häufung von von unkontrollierten Wärmeverluste hingewiesen (ÖNORM B Bemängelungen und Schäden festzustellen, die in letzter Konse- 8110 Teil 2, ÖNORM B 2320, ÖNORM B 5320 etc.). quenz auf eine zu dichte Gebäudehülle zurückzuführen sind. Die Nichteinhaltung der gesetzlichen Mindestanforderungen Wohlgemerkt, hier meine ich nicht eine Häufung von Feuchte und führt automatisch zu einem erheblichen Baumangel, der jeden- Schimmelschäden, die durch zu geringe Lüftung bzw. Frischluft- falls zu beheben ist. Die in der OIB-Richtlinie 6 niedergeschriebe- zufuhr bedingt ist. Die hier angesprochenen Mängelrügen lauten nen Mindestanforderungen sind allerdings nicht geeignet, „schlechte, stinkende Luft“, „Pfeifgeräusche“, „aufspringende Bauschäden durch ungenügende Luftdichtigkeit der Gebäude- Türen“ oder „nicht öffenbare Türen“ nach dem Lüften. hülle zu vermeiden. Eine Beurteilung der unvermeidlichen Lecka- gen in der Gebäudehülle hinsichtlich ihres Schadenspotenzials Warum die Gebäudehülle luftdicht sein soll? bedingt immer eine gutachterliche individuelle Beurteilung. Aus bauphysikalischer Sicht ergibt sich die Notwendigkeit einer Die Mindestanforderungen sind nicht für alle Gebäude in glei- luftdichten Gebäudehülle vor allem wegen der Vermeidung von cher Weise formuliert. Gebäude mit mechanischer Be- und Entlüf- Bauschäden durch konvektiven Feuchteeintrag in die Konstrukti- tung (mit Wärmerückgewinnung) müssen eine Luftdichtigkeit on. Darüber hinaus stellt die Luftdichtigkeit der Gebäudehülle der Gebäudehülle von n50 ≤ 1,5 h -1 erfüllen1, wogegen Gebäude bei Gebäuden mit Komfortlüftung ein zentrales Element der En- ohne eine solche einen Wert von n50 ≤ 3 h -1 erfüllen müssen. ergieeffizienz. Aber auch bei großer Dichtigkeit des Gebäudes ist Nicht gesetzlich geregelt ist die Anforderung der Luftdichtigkeit zu beachten, dass dadurch keine Absenkung des hygienisch er- der Gebäudehülle von Passivhäusern. Allerdings gilt es, wenn ein forderlichen Luftwechsels erfolgen kann bzw. soll. Der durch die Gebäude als Passivhaus zertifiziert werden soll, eine Luftdichtig- Nutzungsintensität bedingte mindesterforderliche hygienische keit von n50 ≤ 0,6 h -1 zu erfüllen. Luftwechsel muss entweder durch Infiltration, gezielte Fenster- Zwischenzeitlich hat ein regelrechter Wettbewerb in Richtung lüftung oder durch eine mechanische Belüftung sichergestellt eines möglichst geringen n50 -Wertes eingesetzt. werden. Eine hohe Dichtigkeit der Gebäudehülle erfordert daher aufgrund einer relativ geringen unkontrollierten Infiltration ver- Umsetzung in der Praxis stärkt ein bewussteres Lüftungsverhalten der Nutzer. In den letzten Jahren konnte in Österreich und vor allem auch in Eine geringe Qualität der Luftdichtigkeit der Gebäudehülle führt Vorarlberg durch eine immer gewissenhaftere Planung und Aus- gerade in exponierten Lagen zu einem überhöhten Luftaus- führung die Qualität der Luftdichtigkeit eines Gebäudes und tausch, der einerseits Behaglichkeitsdefizite verursacht, ande- auch einzelner Wohnungen deutlich verbessert werden. Zudem rerseits auch erhöhten Heizenergieaufwand oder gar Bauschä- war es früher üblich, Küchen mit Abluftanlagen auszustatten. den bedingt. Diese Ausstattung entspricht aber, nicht zuletzt wegen des Stre- Aus bauphysikalischer Sicht wird daher eine hohe Luftdichtigkeit bens nach dichten Gebäudehüllen, nicht mehr dem Standard. der Gebäudehülle angestrebt. Dabei werden aber allzu oft bau- Zwischenzeitlich werden in Vorarlberg von fast allen Bauträgern physikalisch bedingte Grenzen der erforderlichen Luftdichtigkeit nur mehr Umluftsysteme in den Küchen vorgesehen. außer Acht gelassen. War es vor etwa 10 Jahren also durchaus üblich, bei Blower-Door- Tests Messwerte von n50 ~ 1 bis 3 h -1 für eine Wohnung nachzu- Gesetzliche Mindestanforderungen und Ziele aus Sicht der weisen, messen wir heute auch für einzelne Wohnungen Werte Energieeffizienz im Bereich n50 ≤ 0,35 h -1. Dies bedeutet zum Beispiel für eine 50 Gesetzliche Mindestanforderungen an die Luftdichtigkeit der m² große Wohnung einen Luftvolumenstrom bei 50 Pa von etwa Gebäudehülle sind in Österreich in der OIB Richtlinie 6 bzw. in den länderspezifischen Bautechnikverordnungen (mit Verweis auf die OIB RL-6) niedergeschrieben. Darüber hinaus wird in di- 1 Der n50-Wert beschreibt die Luftwechselrate bei 50 Pa. K itting 2020 – Magazin des IBO 17
Bauphysik 44 m³/h. Konsequenterweise bedeutet dies im Umkehrschluss, bemessen, dass bei Betrieb der Abluftanlage jedenfalls ein maxi- dass ein Nassraumlüfter mit 60 m³/h einen Unterdruck in der Woh- maler Druckunterschied von 8–10 Pa induziert wird. So klar die nung von mehr als 50 Pa verursacht, wenn keine entsprechende Regelung auch sein mag, so häufig wird heute diese in der Praxis geordnete Nachströmöffnung geplant und ausgeführt ist. Bereits missachtet. diese Druckdifferenzen führen zu spürbaren und oft auch unan- genehmen Immissionen oder Nutzungseinschränkungen. Nicht alle Nachströmöffnungen sind geeignet Abluftanlagen benötigen also wohldimensionierte Außenluft- Schäden wegen zu dichter Gebäude durchlässe ALD, die wiederum hinsichtlich der Komfortanforde- Nassraumlüfter und Abluftanlagen rungen (Zugluft, Schallemission) zu beachten sind. Immer häufi- Zumindest in Westösterreich ist es immer noch geübte Praxis, bei ger werden statt herkömmlicher ALD auch passive Fensterfalzlüf- Nassraumlüftern keine geordnete Nachströmöffnung für jede ter eingesetzt, die bei Betrieb der Abluftanlage, durch den da- einzelne Wohnung vorzusehen. Wenn dann die Gebäudehülle zu durch induzierten Unterdruck im Gebäude, Außenluft über die luftdicht ausgeführt ist, kann dies in der Praxis zu Nutzungspro- Funktionsfuge des Fensters (Fensterfalz) nachströmen lassen. blemen führen. Beim Betrieb der WC-Abluft steigt z.B. der Unter- Gerade bei diesen Elementen ist aber zu beachten, dass nut- druck in der Wohnung so weit, dass im Bereich von Türschlössern zungsbedingt auch eine Umkehrung des Luftvolumenstroms oder Funktionsfugen von Fenstern und Türen Pfeifgeräusche ent- stattfinden kann. In diesem Fall kann feuchtwarme Raumluft in stehen, die einen Schalldruckpegel in Wohnräumen von über Lp,A den Fensterfalz geführt werden. Diese kann dort zu Kondensat ~ 50 dB verursachen. Auch das Betätigen der Wohnungsein- und insbesondere bei Holzfenstern zu massiven Schäden der gangstüre kann in diesem Fall zum Problemfall werden. Durch Fensterkonstruktion führen. Passive Fensterfalzlüfter sind daher den Unterdruck in der Wohnung von etwa 60 Pa liegt an der Türe nur bei Dauerbetrieb von Abluftanlagen eine denkbare Lösungs- eine Kraft von etwa 120 N an2 . Damit öffnet sich bei Betätigen des variante. Bei bedarfsgesteuerten Abluftanlagen stellen Fenster- Türdrückers die Türe schlagartig nach innen. Insbesondere Kin- falzlüfter aber aus bauphysikalischer Sicht einen schadensträch- der können dadurch gefährdet werden. Schmerzhafte Beulen tigen Konstruktions-fehler dar. Zu beachten ist auch, dass im Re- sind fast unvermeidlich. gelfall die Fensterfalzlüfter mit Klappen ausgestattet sind, die bei Die gutachterliche Beurteilung dieses Problems stellt zwar keine Druckdifferenzen jenseits von 10 Pa schließen. Dies führt dazu, große Herausforderung dar, da für diesen Fall klare Regelwerke dass bei falscher Bemessung der Fensterfalzlüfter diese in ihrer vorhanden sind. Wird eine mechanische Abluftanlage eingebaut, Funktion als Nachströmelement untauglich werden. Wenn durch so ist für eine geordnete Nachströmöffnung Sorge zu tragen. den Betrieb der Abluftanlage trotz der Fensterfalzlüfter die Wenn sie fehlt, handelt es sich um einen Planungs- und/oder Druckdifferenz über 10 Pa steigt, verschließen sie sich und wer- Ausführungsfehler. Die Nachströmöffnungen sind dabei so zu den damit unwirksam (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Messungen zum Verlauf der Druckdifferenz bei Betrieb von Abluftanlagen in einer Wohnung. Im konkreten Fall waren in der Wohnung Nassraumlüfter im WC, Badezimmer und Abstellraum installiert. Bei Betrieb der Anlagen wurde trotz der instal- lierten Fensterfalzlüftern eine Druckdifferenz von über 100 Pa gemessen. An der Wohnungseingangstüre lag somit eine Kraft von etwa 200 N an, die zu einer maßgeblichen Nutzungsbeeinträchtigung führte. Darüber hinaus waren auch stark störende Geräuschentwicklungen in den Funktionsfugen von Fenster und Türen zu hören. 18 K itting 2020 – Magazin des IBO
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