JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN

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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N

37. JAHRGANG / NR. 149                                     â“ôùú äëåðç                                                15. DEZEMBER 2022

                 CHAG CHANUKKA                                                               çîù âç
                    SAMEACH                                                        HAPPY CHANUKKA

                                                                                                      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022   1
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Unser Titelbild                        Familie geboren. Die Familie betrieb         und Arbeitsmethoden der Bauhaus-Schule
                                                  zunächst eine kleine Strickerei, später      mit. Wolpert machte sich den modernis-
Ludwig Yehuda Wolpert, Chanukka-                  wurde Wolperts Vater Salomon Schochet        tischen Stil zu eigen und konzentrierte
Leuchter, Frankfurt/Main 1924; Jüdi-              und amtierte als Rabbiner eines Alten-       sich in der Folgezeit auf die Herstellung
sches Museum Berlin. Foto: Roman März.            heims. Im Alter von 16 Jahren nahm           moderner, funktionaler jüdischer Zere-
                                                  Ludwig das Studium der Bildhauerei an        monialobjekte aus Silber. 1928 beauftrag-
Das Jüdische Museum Berlin hat vor ei-            der Frankfurter Kunstgewerbeschule auf;      te Karl Schwarz, der Direktor des ersten
nem Jahr mit Unterstützung der Freunde            1920 begann er, als Bildhauer zu arbei-      Jüdischen Museums Berlin, Wolpert mit
des Museums einen Chanukka-Leuchter               ten.                                         der Anfertigung einer Reihe von jüdi-
erworben, der als das erste Stück moder-                                                       schen Zeremonialobjekten, die dann im
ner Judaica bezeichnet werden kann. Der           Da Wolpert sich von der Anfertigung von      Museum sowie in einer Wanderausstel-
Künstler Ludwig Yehuda Wolpert hatte              Gebrauchsgegenständen ein sichereres         lung gezeigt wurden.
den Leuchter 1924 in Frankfurt am Main            Einkommen erhoffte, kehrte er 1925 für
angefertigt. Seine Gestaltung brach mit           ein zweites Studium an die Frankfurter       Wolpert emigrierte 1935 nach Palästina,
den bis dahin geltenden stilistischen Kon-        Kunstschule zurück und wandte sich der       wo er weiterhin Objekte in seinem einzig-
ventionen und läutete einen Wandel in             Silberschmiedekunst zu. Der damalige         artigen Stil schuf und durch seine Lehrtä-
Form und Stil der Judaica ein. Der Leuch-         Leiter der Schule war Christian Dell, zu-    tigkeit an der New Bezalel School bis
ter ist aus Messing gegossen und pati-            vor Meister der Form an der Bauhaus-         1956 eine ganze Generation von Silber-
niert, 34 cm hoch und 38 cm breit.                Schule. Dell brachte die innovativen Ideen   schmieden ausbildete, die in einem mo-
                                                                                               dernistischen Stil arbeiteten. Danach zog
„Das Jüdische Museum hat sich seit sei-                                                        Wolpert in die Vereinigten Staaten, wo er
ner Eröffnung auf das Sammeln von                                                              die Tobe-Pascher-Werkstatt im Jüdischen
jüdischen Zeremonialobjekten aus dem                     Leider kann dieses Heft               Museum von New York leitete. Seitdem
späten 19. bis frühen 20. Jahrhundert                      krankheitsbedingt                   gilt Wolpert als der „Vater“ der zeitgenös-
spezialisiert“, erläutert Hetty Berg, Direk-                                                   sisch gestalteten Judaica-Objekte. Seine
torin des Jüdischen Museums. „Wir wol-                       nicht mit allen                   Stücke zeichnen sich durch ihre elegan-
len den stilistischen Wandel in dieser Zeit                geplanten Beiträgen                 ten, schlichten Formen, ihren Funktiona-
dokumentieren. Aus den 1920er Jahren                           erscheinen.                     lismus und die Schönheit der hebräischen
sind nur wenige Zeremonialobjekte erhal-                                                       Schriftzüge aus, die er in viele seiner spä-
ten. Der Chanukka-Leuchter von Wolpert
                                                         Wir bitten unsere Leser
                                                                                               teren Kreationen integrierte. Wolpert hat
vertritt diese entscheidende Periode und                    um Verständnis.                    bei den Weltausstellungen in New York
den gestalterischen Aufbruch in die Mo-                                                        und in Montreal Werke ausgestellt und
derne auf höchstem Niveau und füllt eine                    Redaktion                          viele international bekannte Werke ge-
Lücke in der Museumssammlung.                                                                  schaffen, etwa die Bronzetüren der Syna-
                                                    JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
                                                                                               goge am John F. Kennedy Airport.
Ludwig Yehuda Wolpert wurde 1900 in                       Benno Reicher
Hildesheim in eine orthodoxe jüdische                                                          Er starb 1981 in New York.

                                            ST OL PE R ST E I N E W Ü R Z BU RG
                                                  In der Schönbornstraße 6 wohnten

                                                                                                       ROSA WEIMERSHEIMER
         KARL HORST FRANK                                    MAX KAUFMANN                                GEB. KAUFMANN
              JG. 1925                                            JG 1876                                  GESCH. FRANK
          DEPORTIERT 1941                                    DEPORTIERT 1942                                  JG. 1904
           KOWNO FORT IX                                     THERESIENSTADT                              DEPORTIERT 1941
        MASSENERSCHIESSUNG                                   1944 AUSCHWITZ                               KOWNO FORT IX
             25.11.1941                                         ERMORDET                               MASSENERSCHIESSUNG
                                                                                                             25.11.1941

Bilder Rückseite: (alle Beiträge dazu im Heft), Nr. 1: Leo-Baeck-Preis für Cem Özdemir, von links: Dr. Josef Schuster, Laudatorin
Ronya Othman, der Preisträger und Zentralratsvize Abraham Lehrer, © Zentralrat der Juden. Nr. 2: Festakt für Charlotte Knobloch
mit Anne-Sophie Mutter und ihrem Ensemble, © Daniel Schwarcz IKG München. Nr. 3: Der bayerische Kultusminister Michael
Piazolo in Yad Vashem, © StMUK. Nr. 4: Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat präsentiert eine Broschüre mit den prämierten
Texten, rechts Moderatorin Shelly Kupferberg, © Jule Roehr / Initiative kulturelle Integration. Nr. 5: Schach in der Gemeinde
Regensburg. Nr. 6: Das neue Koffer-Denkmal in Geroldshausen, © Riccardo Altieri. Nr. 7: Auf dem Jüdischen Friedhof in Augsburg.
Nr. 8: Die Straubinger Gemeinde in Pilsen.

2      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
EDITOR I A L

Liebe Leserinnen, liebe Leser,                                                                                                geplant. Die deutsche Fassung ihres Tex-
                                                                                                                              tes hatte sie bereits am 25. September an
Rabbiner Berger erinnert in seinem Bei-                                                                                       die Redaktion geschickt. „Nach meiner
trag auf der nächsten Seite an die Mitz-                                                                                      Abnahme der deutschen Version“, sagt
wa, „das Wunder von Chanukka bekannt                                                                                          Benno Reicher, „sollte sie ihren Artikel
und für die Öffentlichkeit sichtbar zu ma-                                                                                    für das Heft auf Russisch übersetzen.“
chen“. Deshalb sollen wir den brennen-                                                                                        Dazu kam es leider nicht mehr. „Es war
den Leuchter jeden Abend vor das Fenster                                                                                      eine angenehme Zusammenarbeit mit
oder vor unsere Haustür stellen. Dieser                                                                                       ihr“, sagt der Redakteur. „Sie hatte keine
Brauch hat mittlerweile sogar dazu ge-                                                                                        journalistische Erfahrung, aber sie war
führt, dass viele Jüdische Gemeinden den                                                                                      ganz offen und dankbar für meine fach-
Chanukka-Leuchter in die „Öffentlichkeit“                                                                                     lichen Hinweise. In ihrem Alter wollte sie
stellen und anzünden. In Berlin macht                                                                                         noch was dazu lernen.“
man das seit vielen Jahren, in Stuttgart                                                                                      Regina Kon kam 1999 nach Würzburg.
und sogar in Erlangen.                                                                                                        Vorher war sie in Moskau in der Musik-
Wir werden die Chanukka-Lichter in der                                                                                        wissenschaft tätig. In ihren 23 Würzbur-
Würzburger Gemeinde gemeinsam mit                                                                                             ger Jahren hat sie sich auf zahlreichen
unserem Rabbiner Jakov Ebert und sei-                                                                                         neuen Arbeitsfeldern großen Respekt
nem Nachfolger, Rabbiner Avrasin, an-                                                                                         erworben. Ihr Engagement für die Ge-
zünden. Es wird also das letzte Mal sein,                                                                                     meinde machte die freundliche Frau zu
dass „unser Rebbe“, wie wir ihn nennen                                                                                        einer zentralen Vermittlerin für unsere
dürfen, als Gemeinderabbiner mit uns                                                                                          zugewanderten Mitglieder. Als jüdische
das Chanukka-Fest feiert. Er geht näm-                                                                                        Vorsitzende der Gesellschaft für christ-
lich zum Ende des Jahres 2022 in den                                                                                          lich-jüdische Zusammenarbeit war sie die
sehr wohlverdienten Ruhestand. Rabbi-                                                                                         Verbindung zwischen Gemeinde und der
ner Ebert kam 2001 aus Heidelberg nach                           Erlaubte zu verbieten“ ist auch heute noch                   Gesellschaft. Besonders gefragt war sie
Würzburg. Der Nachkomme einer ange-                              ein Leitgedanke in unserer Gemeinde.                         auch in der Migranten- und Senioren-
sehenen Rabbinerfamilie wurde 1948 in                            Wir sind Rabbi Ebert sehr dankbar, dass                      arbeit der ZWST. Für uns als Gemeinde
Tel Aviv geboren, die Jeschiva besuchte er                       auch er die von Rabbi Bamberger geprägte                     war sie das Musterbeispiel für gelungene
in Jerusalem.                                                    Tradition gepflegt hat.                                      Integration.
Rabbi Ebert hat die von dem bedeutenden
Rabbiner Seligmann Bär Bamberger (1807–                          Am 7. Oktober mussten wir uns auf dem                        Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und
1878) im 19. Jahrhundert geprägte „Würz-                         Jüdischen Friedhof von Regina Kon ver-                       Leser, ein frohes Fest,
burger Orthodoxie“ mit neuem Leben ge-                           abschieden. Sie schrieb seit Ende 2020 für
                                                                                                                                    CHAG CHANUKKA SAMEACH
füllt. Bambergers Grundsatz „Sie mögen                           JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN die russi-
wissen, dass ich alles, was ich aufgrund                         sche Seite. Im Heft vom 10. Dezember                         Ihr
der Religion und des Gesetzes unserer                            2020 war es ein Artikel über den Würzbur-                            Dr. Josef Schuster
heiligen Torah erlauben kann, erlaube.                           ger Habima-Skandal vom November 1930.                                          Präsident
Denn so wie es verboten ist, das Ver-                            Für dieses Heft war ein Beitrag über die                     des Zentralrats der Juden in Deutschland und
botene zu erlauben, so ist es verboten, das                      jüdische Kinderärztin Clara Oppenheimer                         des Landesverbandes der IKG in Bayern

  Chanukka 5783                                                  Ansprache von Zentralsrats-                                  IMPRESSUM
  Chanukka                                                       präsident Dr. Josef Schuster . . . . . . . 12                JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4                       Rede von Dr. h.c. Charlotte Knobloch 13                      authentisch bayerisch jüdisch
                                                                                                                              Redaktionsleitung: Benno Reicher,
  Die Kämpfe der Hasmonäer                                       Rede von Bundespräsident                                     Vorländerweg 25, 48151 Münster,
  Von Yizhak Ahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5         Dr. Frank-Walter Steinmeier . . . . . . . 14                 Telefon 0251-7475546
                                                                                                                              www.bayerisch-jüdisch.de
  Kultur                                                         Nachrichten aus Frankreich                                   redaktion@berejournal.de
  Henny Stahl                                                    Was bleibt vom Pletzel                                       Wir erscheinen im April zu Pessach,
  Von Rotraud Ries . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6         Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 15              im September zu Rosch Haschana und
                                                                                                                              im Dezember zu Chanukka
  Cem Özdemir erhielt Leo-Baeck-Preis . 7
                                                                 Bayern                                                       In dieser Ausgabe mit Beiträgen von
  Jüdisches Museum Berlin . . . . . . . . . . . 8                                                                             Rabbiner Joel Berger, Yizhak Ahren, Angela
                                                                 DenkOrt Gerolshausen . . . . . . . . . . . . 18              Genger, Daniel Hoffmann, Charlotte
  Le’Chaim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
                                                                 Piazolo in Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19     Knobloch, Gaby Pagener-Neu, Ellen Presser,
  Stiften aus Tradition . . . . . . . . . . . . . . 10                                                                        Benno Reicher, Monika Richarz, Rotraud
  Lehrerbildung ausbauen . . . . . . . . . . . 10                Aus den jüdischen Gemeinden                                  Ries, Josef Schuster und Frank-Walter
                                                                 in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20   Steinmeier
  Kontinuität: Schuster wiedergewählt 11
                                                                                                                              Herausgeber: Landsverband Israelitischer
                                                                 Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 28               Kultusgemeinden in Bayern
  Der 90. Geburtstag                                                                                                          Gesamtherstellung: Druckerei Höhn,
  Festakt für Charlotte Knobloch . . . . . 12                    Russische Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35       Gottlieb-Daimler-Str. 14, 69514 Laudenbach

                                                                                                                                     Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022   3
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
C H A N U K K A 57 8 3

                                                             Chanukka
                                                  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger

                                                  sondere die jüdische Geschichtsschrei-        ertragen wurde. Ohne sich aufzulehnen.
                                                  bung nur aus den hebräischen Quellen          Alles, was blieb, war die Hoffnung auf die
                                                  schöpfen können, würden wir nicht ein-        Fürsorge Gottes und das mit übermensch-
                                                  mal das Wort „Makkabäer“ kennen, jenen        licher Geduld geübte Gott-Vertrauen.
                                                  hebräischen Namen der Freiheitskämp-          Warten auf das Kommen der göttlichen
                                                  fer. In dem ganzen heldenhaften Kampf         Erlösung.
                                                  für die Freiheit und Unabhängigkeit des
                                                  jüdischen Landes blieb nur ein kurzer         In den langen Jahrhunderten der Gesetz-
                                                  Bericht im Talmud, der Schatzkammer           losigkeit unseres Volkes wie auch in der
                                                  der nachbiblischen jüdischen Literatur,       Neuzeit mit ihrer Emanzipation und Assi-
                                                  übrig: die Wiederherstellung des Altars,      milation, konnten und wollten die Rabbi-
                                                  das Anzünden des Tempelleuchters, der         ner in den Makkabäern keine Freiheits-
                                                  Menora, die dann doch acht Tage lang          kämpfer sehen, sondern nur fromme, reli-
                                                  brannte. Wie durch ein Wunder!                giöse Männer, deren Ziel und Verdienst es
                                                                                                war, sich selbstlos für Chanukkat Hamis-
                                                  Das Öl in der Lampe hätte nur für einen       beach, für die Wiedereinweihung des
                                                  Tag gereicht. In den Büchern der Makka-       Altars, einzusetzen. Auf der Grundlage
                                                  bäer sind jedoch die Ereignisse, die dem      der Berichte der Makkabäerbücher lern-
                                                  Aufstand vorausgingen, in klassischem         ten wir die Geschichte von Chana, der
            Rabbiner Joel Berger                  Griechisch überliefert. Antiochus Epi-        jüdischen Mutter, die mit ihren sieben
                                                  phanes, ein eigensinniger Despot, verbot      Söhnen den Märtyrertod wählte anstatt
Chanukka, das jüdische Lichterfest, ist           nicht nur die Ausübung jüdischer Zere-        dem griechischen Gott Zeus zu huldigen.
auch ein Gedenken an die Freiheit des             monien, sondern sogar das Studium der
Gewissens. Es zeugt von der Richtung der          Tora, einschließlich der Brit Mila, der Be-   Wie die meisten unserer Feste ist Cha-
Entwicklung des Judentums gegen Ende              schneidung jüdischer Jungen. Statt jüdi-      nukka ein inniges Familienfest. Nach un-
der biblischen Zeit. Im 2. Jahrhundert vor        scher Schulen gründete er griechische         seren traditionellen Geboten sind wir ver-
der Zeitrechnung wollte der Hellenismus,          Gymnasien und Theater auf dem Boden           pflichtet, das Wunder von Chanukka be-
der damals Politik und Kultur beherrsch-          der jüdischen Propheten. Doch diese           kannt und für die Öffentlichkeit sichtbar
te, die freie Ausübung der Riten der jüdi-        Gymnasien und Theater waren keine Bil-        zu machen. Deshalb stellen wir den
schen Lebensweise verbieten. Der Tempel           dungseinrichtungen. Sie dienten den blu-      Chanukkaleucher mit den Lichtern jeden
in Jerusalem wurde entweiht und grie-             tigen hellenistischen Wettkämpfen, bei        Abend auf unsere Fensterbank oder vor
chische Götzenbilder aufgestellt. Die             denen die Besiegten selten lebend davon-      unsere Haustür.
Israeliten leisteten unerwartet starken           kamen. Die Arenen der Theater wurden
Widerstand gegen die Besatzer. Die Pries-         oft für solche Massenveranstaltungen          Das Ölwunder, die Sehnsucht nach Frei-
ter des Heiligtums sowie zahlreiche ein-          genutzt, bei denen die Gladiatoren ihre       heit und das freiheitliche Ausüben des
fache Handwerker und Bauern verstärk-             Kräfte mit denen von wilden Tieren mes-       Glaubens, das blieb in allen jüdischen Ge-
ten das zunächst kleine Heer, das sich            sen mussten. In den Jahrhunderten der         meinden lebendig.
unter der Führung der Makkabäer ge-               Diaspora gab es keinen jüdischen Wider-
waltsam gegen die Eindringlinge erhob.            stand; es blieb nur das bittere Leid, das     Die große Rolle, die Chanukka heute als
Ihre Gegner waren kampferprobte Solda-                                                          wohl unser populärstes Fest spielt, ist eben-
ten der syrisch-mazedonischen Heere.                                                            falls ein kleines Wunder, denn in früheren
Dennoch gelang es den Aufständischen                                                            Zeiten fand außer einem abendlichen Got-
nach harten Jahren am 25. des jüdischen                                                         tesdienst eigentlich nur das Aufstellen und
Monats Kislew, Jerusalem und sein Hei-                                                          Entzünden der Chanukkija statt. Aber der
ligtum zurückzuerobern. Nach ihrem                                                              zweite Teil des Wunders, dass eine kleine
Einmarsch sahen es die Befreier als ihre                                                        Schar die übermächtigen Feinde besiegen
wichtigste Aufgabe an, den Tempel auf                                                           und die Freiheit unseres Volkes erkämpfen
dem Tempelberg zu reinigen, damit er für                                                        konnte, hat heute die Bedeutung des Fes-
den täglichen Gottesdienst wieder einge-                                                        tes stark gehoben. Jeder zweite Sportver-
weiht werden konnte. Diese Einweihung                                                           ein in Israel und auch anderswo nennt sich
des Altars heißt auf Hebräisch Chanukkat                                                        nach den Makkabäern Makkabi (deutsch:
Hamisbeach. Daher auch der Name des                                                             Hammer). Wahrscheinlich handelt es sich
Festes Chanukka.                                                                                beim Begriff Makkabi um ein Akronym
                                                                                                des Lobgesangs in der Tora im zweiten
Und doch sind die Ereignisse, die Episo-                                                        Mosebuch, Schemot (2.B.M. 15:11) nach
den dieses Freiheitskampfes im jüdischen                                                        dem Wunder der Überquerung des Schilf-
Volksgedächtnis jahrhundertelang in den                                                         meeres und der Errettung unserer Ahnen
Hintergrund gedrängt worden. Als ob die                                                         durch den Allmächtigen: Mi Kamocha
jüdische Nachwelt sich nicht erinnern                                                           ba’Elim „Wer ist wie DU, Oh Herr, unter
wollte. Hätte die Geschichte und insbe-                                                         den Göttern“.

4      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Die Kämpfe der Hasmonäer
In seinem religionsgesetzlichen Kodex          fremde Regierung damals abschaffen –          tik war, dass der Götzendienst im Land
Mischne Tora beschreibt Maimonides die         gegen das halachafeindliche Dekret rebel-     Israel zunahm und nicht reduziert wurde.
Vorschriften von Chanukka in zwei Kapi-        lierten die Hasmonäer. Dieser Aufstand
teln (Hilchot Megilla und Chanukka,            gegen die Hellenisten ging wohlgemerkt        Es kam zu erheblichen Spannungen zwi-
Kapitel 3 und 4). Bemerkenswert ist, dass      von einer Priester-Familie aus dem Dorf       schen dem hasmonäischen König und den
er Kap. 4 in Ausdeutung einer bestimm-         Modiin aus, nicht von der religiösen Füh-     frommen Pharisäern, und der Machthaber
ten halachischen Anweisung, die hier           rung in Jerusalem.                            ließ viele seiner Gegner umbringen. Diese
nicht zu referieren ist, mit einer allgemei-                                                 traurige Entwicklung beweist, dass Matit-
nen Aussage über die Tora beendet: „Groß       Die Wichtigkeit des Einzelnen für den         jahus Geist gehegt und gepflegt werden
ist der Frieden (hebr. Schalom), denn die      Fortbestand des Judentums hat Rabbiner        muss – Gottesfurcht wird offensichtlich
Tora wurde gegeben, um Schalom in der          S. R. Hirsch mehrfach betont: „Und wenn       nicht automatisch vererbt. Auch dies eine
Welt zu schaffen, denn es heißt: Des           auch rings um dich alles entweiht wäre        wichtige Lehre, die an Aktualität nicht
Glückes Wege sind ihre Wege und alle ihre      im Drang der Zeiten, wenn auch nur in         verloren hat. Den Untergang der Hasmo-
Pfade Schalom (Sprüche 3,17)“.                 eines Hauses Kreise, ja nur in eines          näer-Dynastie haben Geschichtsforscher
                                               Mannes Brust rein bleibt das Licht – lebet    sorgfältig analysiert. Von Bedeutung ist,
Kapitel 3 beginnt Maimonides mit einer         nur heiter mitten in der Verirrung, sterbt    dass das Judentum dieses tragische Ge-
Erklärung, warum die Weisen in der Zeit        selbst heiter unter eines Rasenden Wut –      schehen, ebenso wie viele spätere Kata-
des Zweiten Tempels das Chanukka-Fest          Israels Geistesleben bleibt gerettet – Gott   strophen, überlebt hat – auf die Konsoli-
als Tage der Freude festgelegt haben. In       wacht darüber, und auch nur an eines          dierung und Weiterentwicklung des jüdi-
seiner historischen Skizze erwähnt der         Mannes Licht entzündet Er es neu“ (Cho-       schen Volkes kommt es an.
Kodifikator nicht nur die Neueinweihung        rew, § 246. Siehe auch § 73).
des Tempels zu Jerusalem im Jahre 164                                                        Die Lichter, die wir am Chanukka zu
vor der üblichen Zeitrechnung, sondern         Um ihren Sieg über die fremde Macht ab-       Hause und auch in den Synagogen ent-
auch die Tatsache, dass die Hasmonäer          zusichern und auszubauen, haben die           zünden, erinnern nicht nur an den glor-
einen König in Israel eingesetzt haben         Hasmonäer eine jüdische Monarchie er-         reichen Aufstand der Hasmonäer und an
und dass diese Monarchie mehr als 200          richtet. Aber schon sehr bald sind Ver-       das im Talmud (Schabbat 21b) erwähnte
Jahre bis zur Zerstörung des Heiligtums        kehrungen eingetreten. Die Eroberungs-        Ölwunder. Sie regen jeden von uns an,
durch die Römer existiert hat.                 kriege, die Jochanan Hyrkanus I (Joch-        ernsthaft über die jüdische Zukunft nach-
                                               anan Kohen Gadol) und nach ihm sein           zudenken: Welche Irrwege sollte ich ver-
Zweifellos bewertet Maimonides diese           Sohn Alexander Jannai führten, wurden         meiden? Was kann ich zur Stärkung der
historische Epoche positiv. Auch Nachma-       von vielen Tora-Gelehrten nicht befür-        Tora beitragen, die gegeben wurde, um
nides schreibt in seinem Tora-Kommentar        wortet. König und Hohepriester Jannai         Frieden in der Welt zu schaffen?
(zu Bereschit 49,10), dass ohne die Leis-      heuerte nichtjüdische Soldaten an und
tung der Hasmonäer Tora und Mitzwot in         siedelte sie dann an. Ergebnis dieser Poli-                                         Yizhak Ahren
Vergessenheit geraten wären. Allerdings
merkt Nachmanides gleich an, dass die
Hasmonäer vom Himmel bestraft wur-
den, weil sie Kohanim (Priester aus dem
Stamme Levi) als Könige amtieren lie-
ßen. Das Herrscheramt stehe jedoch dem
Stamme Jehuda zu. Problematisch sei die
Vereinigung des geistlichen und des poli-
tischen Amtes in einer Person.

Die dramatische und wendungsreiche
Geschichte der Hasmonäer ist spannend;
sie hat schon viele Historiker beschäftigt.
Aus den Kämpfen der Hasmonäer kann
man einige Lehren ziehen. Auf die Frage,
die nicht selten in den Chanukka-Tagen
gestellt wird: „Immer wieder die alte
Geschichte?“, ist zu erwidern, dass der
Einsatz der Hasmonäer für die Erhaltung
der jüdischen Eigenart vorbildlich war
und deshalb niemals in Vergessenheit
geraten sollte. Manche Leute sprechen
daher von der ewigen Botschaft der Cha-
nukka-Lichter.

Der Priester Matitjahu und seine Söhne
haben im zweiten Jahrhundert vor der
üblichen Zeitrechnung erfolgreich für das
Recht der Juden gekämpft, gemäß den            Sufganiot (Berliner) und Lattkes (Reibekuchen) sind typische Chanukkaspeisen. Als
Vorschriften der Tora leben zu dürfen.         Ölgebäck erinnern sie an das Öl für den Tempelleuchter. Der Dreidel mit den hebräischen
Das religiöse jüdische Leben wollte die        Buchstaben gehört zu einem beliebten Chanukka-Spiel.        © Jüdisches Museum Franken

                                                                                                    Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022   5
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
K U LT U R

                                                                 Henny Stahl
                                                  Eine jüdische Journalistin der Frauenbewegung
                                                                 Von Rotraud Ries

Wir kennen sie als Johanna Stahl (1895–                                                               engen Freundin, schrieb 1995: „Meine
1943), denn diesen Namen bekam sie bei                                                                Mutter war mit ihr sehr befreundet […].
ihrer Geburt 1895. So ist in Würzburg der                                                             Und dann, als eine Auswanderung un-
Stolperstein für sie beschriftet, eine                                                                möglich wurde, spendete sie ihre Zeit –
Straße in der Stadt und schließlich das                                                               Tag und Nacht – für Alte, Kranke, Kinder
Zentrum für jüdische Geschichte und                                                                   und Hilflose. Ich erinnere mich, wie meine
Kultur in Unterfranken benannt. Sie                                                                   Mutter […] zu ihr sagte: ‚Henny, wenn
selbst trat allerdings nur mit der Kurz-                                                              Du so weiter machst, fällst Du von den
form „Henny“ auf und publizierte aus-                                                                 Füßen!‘ Solche Art Reden machten kei-
schließlich unter diesem Namen.                                                                       nen Eindruck auf Dr. Henny Stahl. Diese
Die Rahmendaten ihrer Biografie sind seit                                                             intelligente, besonders fähige Person
Mitte der 1980er Jahre bekannt, seitdem                                                               konnte Würzburg verlassen, jedoch sie
mehrfach ergänzt worden. Henny Stahl                                                                  wie auch einige Bekannte wollten das
studierte in Würzburg und in Frankfurt                                                                untergehende Schiff nicht verlassen.“
a.M. und schloss das Studium der Volks-                                                               Ihre einschlägige akademische Qualifika-
wirtschaftslehre Ende 1921 mit einer so-                                                              tion und ihre praktische Erfahrung be-
zialwissenschaftlichen Doktorarbeit ab.                          Johanna Stahl ca. 1938               fähigten Henny Stahl zu ihren außer-
Zurück in Würzburg verfasste sie 1927                         © Staatsarchiv Würzburg 14898           ordentlichen Hilfeleistungen in der Ver-
eine Studie über öffentlich unterstützte                                                              folgungssituation. Zur ihrer Persönlichkeit
Bedürftige in der Stadt. Dafür benötigte                gierte sie sich politisch in der liberalen    und ihren Interessen lässt sich darüber
sie Daten der Stadtverwaltung, wo sie be-               DDP und wurde 1929 zu einer Stadtrats-        hinaus jedoch kaum etwas sagen. Denn
reits als Studentin gearbeitet hatte. Vor               stellvertreterin gewählt. Zur gleichen Zeit   es fehlen die privaten Quellen, persön-
allem begann Stahl jedoch als freiberuf-                begründete sie in einer Gemeindever-          liche Dokumente, Briefe oder Fotos. Von
lich tätige Journalistin zu schreiben: für              sammlung der Jüdischen Gemeinde das           ihrer Familie überlebte nur ihr Bruder
die Bayerische Israelitische Gemeinde-                  Anliegen, Frauen das passive Wahlrecht        Leo (1888–1960) in Paris, dessen Woh-
zeitung (1926, 1932) und für die Frank-                 zu gewähren – mit mäßigem Erfolg.             nung jedoch von der NS-Besatzung ge-
furter Zeitung (mind. 1929–1931). 1927                  Bekannt ist Henny Stahl jedoch vor allem      plündert wurde.
organisierte sie für den Würzburger Ver-                für die letzten zehn Jahre ihres Lebens:      So möchte ich mich der Persönlichkeit
ein „Frauenheil“ eine Vortragsreihe zur                 für ihren Einsatz in der Zeit der NS-Ver-     Henny Stahls über ihr journalistisches
kulturellen Bedeutung der „Fürsorge“,                   folgungen – bis hin zu ihrer Verhaftung       Werk annähern. Denn neben tagesaktuel-
1930 referierte sie zur „Stellung der Frau              im März, der Deportation und ihrem Tod        len Berichten hat sie wohl viele Arbeiten
im Recht“. Sie war also beim Verband der                in Auschwitz im Sommer 1943. Mit größ-        über Themen geschrieben, die sie selbst
Bayerischen Frauenvereine wohl keine                    tem Engagement wirkte sie seit 1934 als       grundsätzlich oder in einer aktuellen
Unbekannte, der Ende 1926 seine Ver-                    Mitarbeiterin der „Arbeitsgemeinschaft        Situation für relevant hielt. Medien und
bandszeitung als „Bayerische Frauenzei-                 für Beratung und Wirtschaftshilfe“ der        Inhalte ihres journalistischen Oeuvres
tung“ neu auflegte und in Würzburg er-                  Jüdischen Gemeinde, leistete Sozial- und      teilen sich dabei in zwei Phasen. Ermittelt
scheinen ließ. Die Schriftleitung über-                 Emigrationsberatung sowie konkrete Hilfe.     werden konnten insgesamt 57 Artikel, zu
nahm von Herbst 1927 bis Sommer 1931                    Nur aus dieser Zeit gibt es spärliche per-    denen weitere in unbekannter Zahl in der
Dr. Henny Stahl und verfasste in der Zei-               sönliche Aussagen über sie. Mordechai         Frankfurter Zeitung hinzukommen. Vor
tung auch eigene Artikel. Daneben enga-                 Ansbacher (1927–2021), der Sohn einer         1933 publizierte Stahl ganz überwiegend

Stolpersteine für Johanna Stahl und ihre Geschwister Eugen und Jenny in der Würzburger Konradstraße.

6      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
in nichtjüdischen, nach dem NS-Berufs-
verbot für jüdische Journalisten in jüdi-
schen Medien wie den Zeitungen des
bayerischen Israelitischen Landesverbands
(insgesamt 5 Artikel), der Jüdischen Ge-
meinde Frankfurt, „Für die jüdische Frau“
(5), der CV-Zeitung, „Das Blatt der jüdi-
schen Frau“ (15), in den Blättern des jüdi-
schen Frauenbundes (2) sowie in zwei wei-
teren jüdischen Frauenzeitungen (je 1).
Das Themenspektrum von Dr. Henny
Stahl ist breit, gesellschaftliche und so-
ziale Themen sowie Rechtsfragen domi-
nieren. Gelegentlich fasste sie auch wis-
senschaftliche Untersuchungen zusam-
men, schrieb Rezensionen. Nach 1933,
vor allem aber zwischen 1936 und 1938,
als sie die meisten Artikel in jüdischen
Zeitungen publizierte, hat sich ihr Fokus
verschoben. Nun geht es, nah an ihrer
Beratungsarbeit, vermehrt um Fragen,
die im weitesten Sinne mit der Emigra-
tion und dem Weiterleben der jüdischen        Bayerische Frauenzeitung, 15.01.1930                           © UB Würzburg Misc. q. 115-5
Gesellschaft, mit Ermutigung und dem
Erhalt von Werten zu tun haben. Wie ein       hingegen der bürgerlichen Frauenbe-           Henny Stahl fand einen Ort für ihr frauen-
roter Faden zieht sich durch ihr gesamtes     wegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts         politisches Engagement wohl in Würzburg
Oeuvre dabei das Thema „Frauen“: Nur          und ihren Zielen zuordnen. Er organisierte    im Verein „Frauenheil“, von dem keine
zwei ihrer 57 Artikel wurden nicht in         sich deutschlandweit, trat für die Rechte     Mitgliederlisten vorliegen. Bereits als Schü-
einer Frauenzeitung oder einer Frauen-        der Frauen, für ihre Bildung und eine         lerin der Sophienschule ist sie mit dem
beilage gedruckt oder drehten sich um         professionelle Sozialarbeit ein – gepaart     Verein und seiner Bildungsarbeit in Kon-
ein Frauenthema.                              mit einer Erneuerung jüdisch-religiösen       takt gekommen. Gemeinsame Veranstal-
So stellt sich die Frage, an welcher Stelle   Lebens. Nur zwei Artikel von Dr. Henny        tungen in den 1920er Jahren wurden ge-
der Frauenbewegung Henny Stahl zu ver-        Stahl sind in den „Blättern des Jüdischen     nannt. Ihre Tätigkeit für die Zeitung des
orten ist. Jüdischen Frauen boten sich da-    Frauenbundes“ (1926–1938) nachweisbar.        Bayerischen Frauenbundes deutet in die
für drei Möglichkeiten. Die traditionellen    Ein dritter erschien mit der Autorinnenan-    gleiche Richtung. Man kann Dr. Henny
Wohltätigkeitsvereine waren stark einge-      gabe „Johanna Stahl“ und belegt ein enges     Stahl also wohl am ehesten als Akteurin
bunden in die jüdischen Gemeinden. Eine       Verhältnis der Autorin zu Bertha Pappen-      der allgemeinen bürgerlichen Frauen-
politische Agenda für eine Verbesserung       heim. Er wurde nicht von Dr. Henny Stahl,     bewegung ansehen.
der Stellung der Frauen in der Gesell-        sondern von Johanna Stahl, geb. Kahn
schaft oder in den jüdischen Gemeinden        (1888–1942) mitverfasst, die bis zu ihrer     Weitere Informationen und ein Literatur-
verfolgten sie nicht. Da es keine Mit-        Heirat 1927 für den Jüdischen Frauen-         verzeichnis siehe auch www.rotraud-ries.
gliedslisten des Israelitischen Frauenver-    bund arbeitete und zeitweilig bei Pappen-     de/johanna-stahl
eins in Würzburg aus den 1920er Jahren        heim wohnte. Der Jüdische Frauenbund
gibt, lässt sich eine Mitgliedschaft von      gewann vor allem verheiratete Frauen als
Henny Stahl nicht überprüfen. Zu ihrer        Mitglieder und legte viel Wert auf jüdisch-   Unsere Autorin Rotraud Ries ist Historike-
liberalen Einstellung würde sie jedoch        religiöses Leben. Liberale, unverheiratete    rin und von 2009 bis Mai 2022 leitete sie
kaum passen.                                  und berufstätige Frauen organisierten         das Würzburger Johanna-Stahl-Zentrum
Der jüdische Frauenbund, 1904 gegrün-         sich eher unter dem Dach des Bundes           für jüdische Geschichte und Kultur in Unter-
det von Bertha Pappenheim, lässt sich         Deutscher Frauenvereine.                      franken (JSZ).

                              Cem Özdemir erhielt Leo-Baeck-Preis
Der Zentralrat der Juden in Deutschland       recht-Karls-Universität Heidelberg (2005).    Antisemitismus. Cem Özdemir ist der erste
hat Ende Oktober seine höchste Aus-           Cem Özdemir erlebte als Kind türkischer       Leo-Baeck-Preisträger mit einem mus-
zeichnung, den Leo-Baeck-Preis, an den        Einwanderer viele Facetten von Diskrimi-      limischen Hintergrund. Der Preis wird
Bundesminister für Ernährung und Land-        nierung. Das Einleben in eine fremde          auch als Zeichen gegen Radikalismus und
wirtschaft, Cem Özdemir, verliehen. Lau-      Sprache und Kultur prägte seinen Werde-       Fanatismus und für Religionsfreiheit und
datorin war die Schriftstellerin Ronya        gang. Gleichzeitig lernte er Bildungs-        Toleranz verstanden.
Othmann.                                      chancen und Demokratie in Deutschland         Der Präsident des Zentralrats der Juden
Unter den 300 Gästen waren auch der           zu schätzen, was seinen Weg in die Poli-      in Deutschland, Dr. Josef Schuster, er-
israelische Botschafter, Prof. Ron Prosor,    tik ebnete. Er setzt sich für ein liberales   klärte in einer Pressemeldung: „Cem Öz-
und Margot Friedländer sowie die ehe-         und aufgeklärtes Deutschland ein. Dies        demir ist ein Grüner, ein Liberaler, ein
maligen Preisträger Volker Beck (2015),       ist die Voraussetzung für eine funktionie-    Verfassungspatriot, um einmal einen Be-
heute Präsident der Deutsch-Israelischen      rende demokratische Gesellschaft, für         griff Dolf Sternbergers wieder aufleben
Gesellschaft, und Prof. Dr. Dr. Peter Hom-    Religionsfreiheit, Gleichberechtigung und     zu lassen. Er ist ein Verteidiger Israels,
melhoff, der ehemalige Rektor der Rup-        ein Leben ohne Vorurteile, Rassismus und      ein vehementer Streiter gegen Fanatis-

                                                                                                   Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022   7
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
legungen, wann ein Mensch „anständig“
                                                                                                  und wann er „gut“ sei. Sie betonte: „Cem
                                                                                                  Özdemir hat den Kampf gegen Antisemi-
                                                                                                  tismus zu seiner eigenen Sache gemacht,
                                                                                                  wie wir ihn alle zu unserer eigenen Sache
                                                                                                  machen sollten.“ Auf die Frage, was es be-
                                                                                                  deute, in einer liberalen Demokratie an-
                                                                                                  ständig zu bleiben, erklärte Ronya Oth-
                                                                                                  mann: „Vielleicht bedeutet es nicht weg-
                                                                                                  zusehen, wo leider zu oft weggesehen
                                                                                                  wird, zu handeln, wo leider oft nur untä-
                                                                                                  tig zugeschaut wird, konsequent zu blei-
                                                                                                  ben, ob man sich Freunde macht und/
                                                                                                  oder Feinde. Die richtigen Worte zu fin-
                                                                                                  den, mit Witz und Würde. Mit Achtung
                                                                                                  und Respekt, nicht mehr und auch nicht
                                                                                                  weniger. Das alles hat Cem Özdemir be-
                                                                                                  wiesen und dafür gebührt ihm diese Aus-
                                                                                                  zeichnung.“
Josef Schuster gratuliert Cem Özdemir zum Leo-Baeck-Preis.         Foto: © Zentralrat der Juden   Mit dem Leo-Baeck-Preis, der an den Rab-
                                                                                                  biner Leo Baeck erinnert, ehrt der Zent-
mus, Ausgrenzung und Antisemitismus                moderne, weltoffene Deutschland ange-          ralrat der Juden seit 1957 Persönlichkei-
sowie für Religionsfreiheit und damit ein          griffen wird, da ist der Antisemitismus        ten, die sich in herausragender Weise um
würdiger Träger des Leo-Baeck-Preises.             nicht weit. Daher ist der wehrhafte Kampf      die jüdische Gemeinschaft verdient ge-
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland           für die liberale Demokratie immer auch         macht haben. Zu den Preisträgern zählen
ist ihm zu tiefstem Dank verpflichtet.“            ein Kampf gegen Antisemitismus. Und            die Bundespräsidenten a. D. Richard von
In seiner Dankesrede wies Bundesminis-             daher ist der Kampf gegen Antisemitis-         Weizsäcker (1994), Roman Herzog (1998)
ter Cem Özdemir auf den Zusammen-                  mus immer auch ein Kampf für die libe-         und Christian Wulff (2011), Bundeskanz-
hang von Antisemitismus und der Vertei-            rale Demokratie. Das gehört untrennbar         lerin Angela Merkel (2007) und andere
digung der Werte der liberalen Demokra-            zusammen.“                                     Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.
tie hin: „Wo Antisemitismus grassiert, da          Die Laudatorin Ronya Othmann erinner-          2019 erhielt der Vorstandsvorsitzende der
wird auch unser Grundgesetz angegriffen            te in ihrer Laudatio für den Preisträger an    Axel Springer AG, Mathias Döpfner, den
und alles, wofür ein modernes, weltoffe-           die Philosophin und ungarische Shoa-           Preis. Die Auszeichnung ist mit 10.000
nes Deutschland steht. Und da, wo dieses           Überlebende Agnes Heller und ihre Über-        Euro dotiert.                       pm-va

                                                  Jüdisches Museum Berlin
Am 12. November verlieh das Jüdische               für Herta Müller hielt der Schriftsteller      ranz“ seit 2002 Persönlichkeiten aus Kul-
Museum Berlin zum 21. Mal den „Preis für           und Übersetzer Ernest Wichner, die für         tur, Politik und Wirtschaft aus, die sich auf
Verständigung und Toleranz“. Die Aus-              Barrie Kosky die Musikkritikerin Julia Spi-    herausragende Weise um die Förderung
zeichnungen gingen in diesem Jahr an die           nola. Hetty Berg, Direktorin des Jüdischen     der Menschenwürde, der Völkerverstän-
Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin            Museums Berlin, überreichte die Preise.        digung, der Integration von Minderheiten
Herta Müller und an den Theater- und               Das Jüdische Museum Berlin zeichnet mit        und des Zusammenlebens unterschied-
Opernregisseur Barrie Kosky. Die Laudatio          dem „Preis für Verständigung und Tole-         licher Religionen und Kulturen verdient
                                                                                                  gemacht haben. Der Preis wird traditionell
                                                                                                  im Rahmen eines festlichen Dinners ge-
                                                                                                  meinsam vom Jüdischen Museum Berlin
                                                                                                  und den Freunden des Museums ver-
                                                                                                  liehen. Im vergangenen Jahr hatten Char-
                                                                                                  lotte Knobloch, die Präsidentin der Israe-
                                                                                                  litischen Kultusgemeinde München, und
                                                                                                  der Architekt Daniel Libeskind den Preis
                                                                                                  erhalten.

                                                                                                  In der Begründung für die Preisverleihung
                                                                                                  an Herta Müller heißt es: „In ihrer schrift-
                                                                                                  stellerischen Arbeit setzt sie sich intensiv
                                                                                                  damit auseinander, welche Gewalt Dikta-
                                                                                                  turen kontinuierlich ausüben, indem sie
                                                                                                  Freiheiten einschränken oder nehmen, die
                                                                                                  Würde von Menschen verletzen und sie
                                                                                                  traumatisieren. Darüber hinaus kritisiert
                                                                                                  sie deutlich die Machtverhältnisse inner-
                                                                                                  halb von Familien und ethnischen Grup-
Von links: Laudator Ernest Wichner, Preisträgerin Herta Müller, Direktorin Hetty Berg,            pen.“ Die Jury konstatierte weiter: „Den
Preisträger Barrie Kosky, Laudatorin Julia Spinola.                                               Konzepten ‚Verständigung‘ und ‚Toleranz‘
                                Foto: © Jüdisches Museum Berlin, Pietschmann / Ausserhofer        kommt in einer Demokratie eine immen-

8      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
se Bedeutung zu: Es geht um Vielfalt als       Barrie Kosky, der 2012 bis 2022 das Amt         Aufführungen waren damals auch jüdi-
Grundwert, um Anerkennung und Res-             als Intendant der Komischen Oper Berlin         sche Choreographen und jüdische Sänger
pekt, um gegenseitiges Verstehen und das       innehatte, erhielt den Preis, weil er zehn      beteiligt.“ Die Jury unterstreicht: „Barrie
Aushalten anderer Überzeugungen, um            Jahre lang jüdische Kultur wieder auf die       Kosky ist eine herausragende Künstlerper-
das Miteinander-Sprechen und das Mitei-        Bühne brachte: „Barrie Kosky hat verges-        sönlichkeit und steht mit seiner Arbeit wie
nander-Leben. Was Herta Müller aus-            sene Operetten jüdischer Komponisten            als Person für deutsch-jüdische Gegen-
zeichnet, ist eine klare Haltung zu diesen     und Librettisten, die in der Weimarer Re-       wartskultur und für deutsch-jüdisches Le-
Werten, ihre Auffassung, dass die Begrif-      publik populär waren und das kulturelle         ben in Berlin, auch wenn er in den Inter-
fe stets und ausschließlich im jeweiligen      Leben in Berlin vor 1933 prägten, wieder        views, die sein Judentum thematisieren,
konkreten Kontext betrachtet werden            auf die Spielpläne gesetzt, darunter Paul       stets betont, dass er nur für sich spricht. Er
müssten, in dem sie sich zu bewähren ha-       Abrahams Ball im Savoy, Oscar Straussʼ          eröffnete dem Publikum den Zugang zu
ben. Sie misst das Gewicht von Wort und        Die Perlen der Cleopatra und Jaromir            einem weitgehend vergessenen Bereich
Tat sehr genau.“                               Weinbergers Frühlingsstürme. An den             üdischer Kultur.“

                                                            L´CHAIM
                                          Schreibwettbewerb zum jüdischen Leben
BERLIN. Sie wollten die Sichtbarkeit des       den die zehn besten Texte des Schreib-          in unserer Mitte beeindruckt. Dass das
Judentums in Deutschland verstärken            wettbewerbs prämiert. Den ersten Preis          auch in Textform so eindrücklich gelin-
und die Vielfalt jüdischen Lebens in unse-     gewann die Berliner Jung-Schriftstellerin       gen würde, hat mich schier begeistert.“
rer Gesellschaft herausstellen. Dazu or-       Dana Vowinckel für ihren Beitrag „In my         Der Schreibwettbewerb „L’Chaim: Schreib
ganisierten sie unter dem Dach der „Initi-     Jewish Bag“. Darin beschreibt sie die „jü-      zum jüdischen Leben in Deutschland!“
ative kulturelle Integration“ einen bun-       dischen“ Inhalte ihrer fiktiven Handta-         wurde am 17. März 2022 von der Kultur-
desweiten Schreibwettbewerb mit verlo-         sche, und gleich zu Beginn ihres Textes         staatsministerin, dem Beauftragten der
ckenden Geldpreisen. Abgabefrist war           macht sie klar: „Alles, was ich hier ma-        Bundesregierung für jüdisches Leben in
der 6. Juni 2022, und die Beteiligung war      che, ist jüdisch.“ Der Jury war dieser le-      Deutschland und den Kampf gegen Antise-
erstaunlich groß. Mehr als 180 Autoren         bendige Beitrag einen ersten Platz wert.        mitismus, dem Zentralrat der Juden in
beteiligten sich mit fiktionalen und nicht-    „Auf amüsante und unterhaltsame, auf            Deutschland und der Initiative kulturelle
fiktionalen Texten zum jüdischen Leben         ernste und auch traurige Weise geben die        Integration ausgelobt. Die „Initiative kul-
in Deutschland.                                Wettbewerbsbeiträge neue und außerge-           turelle Integration“ unter dem Dach des
Eine hochkarätige Jury, darunter auch          wöhnliche Einblicke in die jüdische Le-         Deutschen Kulturrates hat den Wettbe-
Kulturstaatsministerin Claudia Roth,           benswirklichkeit hierzulande“, erklärte         werb federführend organisiert.
Zentralratspräsident Josef Schuster, die       Claudia Roth zur Preisverleihung und                                        Benno Reicher
Autorin und Vorsitzende des Verbandes          Antisemitismus-Beauftragter Felix Klein
deutscher Schriftsteller Lena Falkenha-        ergänzte: „Die Autoren spielen virtuos             Schreibwettbewerb L´CHAIM
gen, die Autorin Lena Gorelik, der Antise-     mit ästhetischen Formen, das Spektrum
mitismus-Beauftrage Felix Klein, die Lei-      reicht von tragikomischen und ironischen                  Die Preisträger
terin des Jüdischen Museums Frankfurt          bis sachlichen und politischen Texten.“
Mirjam Wenzel und der Geschäftsführer          Die vielen Facetten und Formen der Texte                         1. Platz:
des Deutschen Kulturrates Olaf Zimmer-         hätten ihn begeistert, sagt Josef Schuster.                 Dana Vowinckel mit
mann trafen sich Anfang Juli in Berlin,        „Außerdem haben die eingereichten Bei-                       In my Jewish Bag
um von den eingereichten Texten zehn           träge mir gezeigt, wie vielfältig der Blick
                                                                                                               2. Platz:
Gewinner zu ermitteln. An Preisgeldern         auf jüdisches Leben ist.“ Auch Olaf Zim-
                                                                                                         Dirk Clausmeier mit
standen ihnen insgesamt 12.500 Euro zur        mermann vom Deutschen Kulturrat war
                                                                                                   Willkommen bei den Zuckermanns
Verfügung, darunter 5.000 Euro für den         beeindruckt. „Bereits im Rahmen unseres
ersten Preis.                                  Fotowettbewerbs vor knapp zwei Jahren                           3. Platz:
Bei einer feierlichen Preisverleihung am       war ich von den lebendigen und vielfälti-                 Karoline Kay mit Chai
6. Oktober im Literaturhaus Berlin wur-        gen Perspektiven auf das jüdische Leben
                                                                                                             Alle 4. Plätze:
                                                                                                             Hila Amit mit
                                                                                                       Ich Sehe Nicht Jüdisch Aus
                                                                                                             Asaf Dvori mit
                                                                                                 Ein Mann mit Migrationshintergrund
                                                                                                  Ruben Gerczikow & Monty Ott mit
                                                                                                 Hat Halle uns verändert? Ein Manifest
                                                                                                  mutiger, widerständiger Jüdischkeit
                                                                                                         Evgenia Ivanchuk mit
                                                                                                 Eine moderne Komödie des Jüdischseins
                                                                                                          Marion Schubert mit
                                                                                                            Bis zur Hochzeit
                                                                                                             Ron Segal mit
                                                                                                         Großvaters letzter Witz
                                                                                                   Alle ausgezeichneten Texte auf:
                                                                                                    www.kulturelle-integration.de/
Glückliche Gewinner mit Jury-Mitgliedern und Veranstaltern.                                                schreibwettbewerb
                                            © Jule Roehr / Initiative kulturelle Integration

                                                                                                      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022   9
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Stiften aus Tradition
FÜRTH. Der Rechtsanwalt Alfred Nathan                                                           Schon bald nach seiner Einweihung 1909
war ein herausragender Stifter und Mä-                                                          galt das Nathanstift als renommierte
zen. Er steht beispielhaft für das wohl-                                                        medizinische und soziale Einrichtung.
tätige Engagement des deutsch-jüdischen                                                         Eine Visite der Geburtsklinik stand auf
Großbürgertums, das mit dem National-                                                           jedem Besuchsprogramm hoher Promi-
sozialismus sein Ende fand. Zum 100.                                                            nenz, so auch beim Besuch des Prinz-
Todestag erinnert das Jüdische Museum                                                           regenten Luitpold von Bayern 1913. Zu
Franken in Fürth bis zum 30. April 2023                                                         Alfred Nathans Lebzeiten war die ge-
an den großen Fürther Philanthropen                                                             sellschaftliche Anerkennung für sein
und Mäzen Alfred Nathan und ehrt sein                                                           wohltätiges Wirken jedoch nicht von
Lebenswerk in einer Ausstellung.                                                                Dauer. Der zunehmende Antisemitismus
Alfred Louis Nathan, der 1870 geboren                                                           in Deutschland nach dem Ersten Welt-
wurde und ledig blieb, reihte sich in die                                                       krieg verbitterte seine letzten Lebens-
mäzenatische Tradition der Bankiers-                                                            jahre. Nach seinem Tod 1922 erbte die
familie Nathan ein, die Ende der 1880er                                                         Israelitische Waisenanstalt in Fürth sein
Jahre mehrere Stiftungen in Fürth errich-                                                       gesamtes Vermögen.
tete. Nach Studium und nur kurzer Be-                                                           Während des Nationalsozialismus strich
rufstätigkeit als Rechtsanwalt zog der Teil-                                                    die Stadt Fürth auf Empfehlung des Vor-
haber des Bankhauses Nathan & Co aus                                                            stands der Nathanstiftung den jüdischen
gesundheitlichen Gründen 1902 nach Bad                                                          Stifternamen. Nach Kriegsende wurde
Reichenhall und war dort als Dichter und                                                        das Stift wieder umbenannt. 1967 zog es
Schriftsteller tätig.                                                                           in das Klinikum Fürth um. Dort wurde
Zeitlebens war er Mäzen. Die bedeutend-                                                         es in die geburtshilfliche Abteilung der
sten Spenden für die Stadt Fürth tätigte             Alfred Nathan um 1910.                     Frauenklinik integriert. Auch heute, mehr
Alfred Nathan für die Errichtung des                               © Jüdisches Museum Franken   als hundert Jahre nach Alfred Nathans
Wöchnerinnen- und Säuglingsheims „Na-                                                           gemeinnützigem Engagement, liegt das
thanstift“ in Fürth. 1906 schenkte er sei-           modernen Klinik war es, Frauen die Ge-     Nathanstift den Fürthern am Herzen und
ner Heimatstadt Fürth hierfür 300.000                burt zu erleichtern und die hohe Säug-     die „Frauenklinik mit Nathanstift“ sieht
Mark und setzte mit der Bezeichnung                  lingssterblichkeit zu senken, die zu Be-   sich in der Tradition der Werte, die den
„Nathanstift“ seinen Eltern Amalie und               ginn des 20. Jahrhunderts in Fürth bei     Stifter bewogen hatten.
Sigmund ein ehrendes Denkmal. Ziel der               30 Prozent lag.                            www.juedisches-museum.org

                                                    Lehrerbildung ausbauen
GUNZENHAUSEN. Der Beauftragte der                    tragte mit dem Leiter des Prüfungsamtes    tismus sein kann. „Wissen ist eine wert-
Bayerischen Staatsregierung für jüdisches            und Referatsleiter für die Lehrerbildung   volle Grundlage gegen Judenhass“, so
Leben und gegen Antisemitismus, Dr. Lud-             im Bayerischen Kultusministerium, Mi-      Spaenle. „Und ich freue mich, dass das
wig Spaenle, will in der Lehrerbildung               nisterialrat Claus Pommer, am Standort     Kultusministerium seine bisherigen An-
im Freistaat zusätzliche Impulse gegen               Gunzenhausen über weitere Möglichkei-      strengungen weiter ausbauen wird.“
Antisemitismus setzen. Dabei geht es um              ten gesprochen. Die Erfahrungen mit dem    Im Bereich der universitären Lehrerbil-
inhaltliche Aspekte sowohl in der univer-            Festjahr „1700 Jahre Juden in Deutsch-     dung soll die Thematik für alle Schul-
sitären Ausbildungsphase wie auch um                 land“ sollen in die Überlegungen mitein-   arten, insbesondere im Rahmen des Er-
den Vorbereitungsdienst. Seit längerem               bezogen werden. In dem Festjahr wurde      ziehungswissenschaftlichen Studiums und
steht Spaenle dazu auch im Dialog mit                sichtbar, dass zusätzliches Wissen über    im Bereich der Didaktik, behandelt wer-
Kultusminister Prof. Michael Piazolo.                jüdisches Leben in Deutschland ein wich-   den. Gelungene Beispiele hierfür sind an
Ende Juni hat der Antisemitismus-Beauf-              tiges Element im Kampf gegen Antisemi-     der LMU München mit der Veranstaltung
                                                                                                „Antisemitismus in der Schule“ oder an
                                                                                                der Universität Würzburg in verschiedenen
                                                                                                Veranstaltungen zu Rassismus zu finden.
                                                                                                Auch im Vorbereitungsdienst existieren
                                                                                                in den Ausbildungsplänen aller Schul-
                                                                                                arten für die „Grundfragen staatsbürger-
                                                                                                licher Bildung“ sowie im Bereich der Leh-
                                                                                                rerfortbildung gute Möglichkeiten einer
                                                                                                intensiven Befassung angehender und be-
                                                                                                reits etablierter Lehrkräfte, die weiter
                                                                                                ausgebaut werden sollen. In diesem Zu-
                                                                                                sammenhang initiierte Spaenle auch eine
                                                                                                Fachtagung der Bund-Länder-Kommis-
                                                                                                sion der Antisemitismusbeauftragten, des
                                                                                                Zentralrats der Juden und der Kultus-
                                                                                                ministerkonferenz, um weitere Möglich-
                                                                                                keiten zu diskutieren, wie man die Präven-
                                                                                                tionsarbeit gegen Antisemitismus im schu-
Dr. Spaenle (links) zu Gast bei Prüfungsamtsleiter Pommer in Gunzenhausen.                      lischen Unterricht weiter ausbauen kann.

10       Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
Kontinuität: Schuster wiedergewählt
Der Präsident des Zentralrats der Juden      klares Zeichen von Stabilität und Konti-     wieder Brücken zu seinen Gegenübern zu
in Deutschland, Dr. Josef Schuster, ist      nuität an der Spitze des Zentralrats aus-    spannen. Ich habe höchsten Respekt vor
Ende November in Frankfurt am Main in        sendet. Ich wünsche ihm bei seiner Arbeit    seinem enormen Engagement in Würz-
seinem Amt bestätigt worden. Das Präsi-      auch in den nächsten vier Jahren viel        burg, in Bayern und in Deutschland.“
dium des Zentralrats wählte den 68-jähri-    Erfolg und werde ihn darin wie bisher        Der Würzburger Oberbürgermeister Chris-
gen Mediziner aus Würzburg einstimmig        unterstützen.“                               tian Schuchardt würdigt Schusters Hei-
für weitere vier Jahre. Dr. Schuster tritt   Gerade in der derzeitigen Lage sei Schus-    matverbundenheit: „Ich freue mich außer-
damit seine dritte Amtszeit an. Dies ist     ters Wahl die einzig richtige gewesen, so    ordentlich, dass Dr. Schuster für eine
ein Zeichen der Kontinuität für die jüdi-    Knobloch weiter: „Die Herausforderun-        weitere Amtszeit als Präsident des Zen-
sche Gemeinschaft in Deutschland.            gen für unsere Gesellschaft und für die      tralrates wiedergewählt worden ist. Er
Nach seiner Wahl erklärte Schuster: „Ich     jüdische Gemeinschaft als deren Be-          bezieht nicht nur klar und deutlich Stel-
freue mich sehr über die Wiederwahl und      standteil sind heute so groß wie nie seit    lung gegen jede Art von Antisemitismus,
danke den Delegierten und dem Präsi-         1945. Inmitten von sozialen und poli-        sondern gegen jegliche Art von Men-
dium für ihr Vertrauen. In meiner dritten    tischen Spannungen und vor dem Hinter-       schenfeindlichkeit. Für ihn ist ein Mensch
Amtszeit als Präsident möchte ich die        grund neuerlichen Krieges in Europa er-      ein Mensch, gleichgültig, welcher Nation,
positiven Elemente des Judentums in          warten die jüdischen Menschen in             welcher Religion oder welcher Hautfarbe.
Deutschland stärker in den Vordergrund       Deutschland einen Vertreter an der Spitze    Gleichzeitig setzt er sich für eine mo-
stellen. Wir wollen nicht immer nur          des Zentralrats, der sich mit Nachdruck      derne und zeitgemäße Gedenkkultur ein.
moralischer Mahner sein, sondern Ant-        für ihre Interessen einsetzt. Josef Schus-   Was ich an ihm besonders mag: Trotz all
worten auf die gesellschaftlichen Fragen     ter hat in den vergangenen acht Jahren       seinem überregionalen Engagement ist er
unserer Zeit finden und damit auch Be-       gezeigt, dass er diese Rolle hervorragend    immer seiner Heimat Würzburg verbun-
gegnungen schaffen und Vorurteile ab-        ausfüllt.“                                   den geblieben.“
bauen. Im Zentrum dieses Bemühens            Auch der bayerische Antisemitismus-Be-       Bayerns Ministerpräsident Markus Söder
steht die Eröffnung der Jüdischen Aka-       auftragte Dr. Ludwig Spaenle gratulierte:    zeigte sich ebenfalls erfreut. Dem Bayeri-
demie des Zentralrats in Frankfurt am        „Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster     schen Rundfunk erklärte er: „Josef
Main, die für das Frühjahr 2024 geplant      ist ein herausragender Repräsentant des      Schuster leistet überragende Arbeit und
ist. Mir geht es auch darum, die Arbeit      deutschen Judentums. Er vereinigt die        er ist ein Fixstern gerade in dieser Zeit
innerhalb der jüdischen Gemeinschaft         Fähigkeit, die Anliegen und Interessen       von Verunsicherung und Herausforde-
stetig weiterzuentwickeln. In dieser Hin-    der Jüdinnen und Juden in Bayern und         rung. Wir müssen alles tun gegen Antise-
sicht freue ich mich daher sehr, dass wir    Deutschland auch in einer Zeit wachsen-      mitismus, gegen Rassismus, gegen Intole-
nach langen Beratungen nun eine neue         den Antisemitismus klar zu akzentuieren      ranz anzugehen, und Josef Schuster ist
Gerichtsbarkeit für die Gemeinden ein-       und zugleich durch seine außergewöhn-        ein mutiger Streiter, jemand, der aufrecht
führen konnten und bedanke mich bei          lich ausgeprägte Dialogfähigkeit immer       für so viele Menschen steht.“
den Delegierten der Ratsversammlungen
für die Unterstützung dieser Reform.“
Als Vizepräsidenten wurden Mark Dainow
(Offenbach) und Abraham Lehrer (Köln)
ebenfalls in ihren Ämtern bestätigt. Da-
neben wurden folgende Mitglieder in das
Präsidium des Zentralrats gewählt: Vera
Szackamer (München), Daniel Neumann
(Darmstadt), Harry Schnabel (Frankfurt
a.M.), Bianca Nissim (Pforzheim), Prof.
Barbara Traub (Stuttgart) und Grigory
Rabinovich (Bochum).
Die knapp 90 Delegierten der Ratsver-
sammlung des Zentralrats wählten sat-
zungsgemäß aus ihrer Mitte für die Dauer
von vier Jahren drei Mitglieder in das
Präsidium des Zentralrats. Das Direk-
torium wählte anschließend die weite-
ren sechs Mitglieder des Präsidiums. Da-
nach fand im Präsidium die Wahl des
Präsidenten und der beiden Vizepräsi-
denten statt. Die Ratsversammlung ist
das oberste Entscheidungsgremium des
Zentralrats der Juden in Deutschland und
tagt einmal im Jahr. Sie verabschiedet
den Haushalt und überwacht die Arbeit
des Präsidiums.
                                             Nach der Zentralratswahl in Frankfurt stellt sich das neu gewählte Präsidium dem Foto-
Die Präsidentin der Israelitischen Kul-      grafen. Von links: Grigory Rabinovich (Bochum), Vera Szackamer (München), Vizepräsi-
tusgemeinde München und Oberbayern,          dent Mark Dainow (Offenbach), Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster (Würzburg), Prof.
Dr. Charlotte Knobloch, erklärte zur Wahl:   Barbara Traub (Stuttgart), Daniel Neumann (Darmstadt), Bianca Nissim (Pforzheim) und
„Ich gratuliere Dr. Schuster zu seiner       Harry Schnabel (Frankfurt). Vizepräsident Abraham Lehrer (Köln) ist nicht auf dem Foto.
Wiederwahl, mit der das Präsidium ein                                                                          © Zentralrat der Juden

                                                                                                Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022   11
DE R 90. GE BU RTSTAG

                                               Festakt für Charlotte Knobloch
MÜNCHEN. Sie feiere gerne, bekennt eine bestens gelaunte 90-jährige Jubilarin ihren Geburtstagsgästen. „Ich liebe es, das
Leben zu spüren. Die Menschen. Die Freude. Momente des Glücks. In Gemeinschaft“, sagt Charlotte Knobloch, nachdem der
Bundespräsident, der Bayerische Ministerpräsident, Münchens Oberbürgermeister und der Zentralratspräsident zum
90. Geburtstag von Charlotte Knobloch gratuliert hatten. Es war ein würdiger und berührender Festakt für die große Dame
der Münchner Juden, und darüber hinaus, in der von ihr erbauten und bis auf den letzten Platz voll besetzten Ohel-Jakob-
Synagoge am St.-Jakobs-Platz in München. Anne-Sophie Mutter und ihr Ensemble begleiteten Charlotte Knoblochs Geburts-
tagsfeier. Durch das eindrucksvolle Programm führte die Schauspielerin Maria Furtwängler. Der Festakt bewegte die Jubi-
larin und auch alle Gäste. Wir dokumentieren nachfolgend die Ansprachen von Zentralratspräsident Schuster, von Charlotte
Knobloch und von Bundespräsident Steinmeier in Auszügen und auch wir sagen: MAZAL TOW FRAU KNOBLOCH – BIS 120.
                                                                                                           Benno Reicher

                       Ansprache von Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster
                        zum 90. Geburtstag von Dr. h.c. Charlotte Knobloch
Einer der ersten Termine Charlotte Knob-           Nein, dieses Glück, jüdisches Leben wie-     Erinnern an die Shoa erwächst, aber weit
lochs als Präsidentin des Zentralrats der          der zu einem Teil Deutschlands und auch      darüber hinaus geht. Sie war und ist eine
Juden in Deutschland führte sie in meine           Bayerns gemacht zu haben, das musste         gefragte Stimme, die Gewicht hat. An
Heimatstadt nach Würzburg. Wir eröff-              hart erkämpft werden nach dem Natio-         ihre beeindruckende Rede im Bundestag
neten im Oktober 2006 das jüdische Kul-            nalsozialismus, nach dem Zivilisations-      zum Gedenken an die Opfer des National-
tur- und Gemeindezentrum „Shalom Eu-               bruch, nach der Shoa. Niemand steht mit      sozialismus im Jahr 2021 wird dieser
ropa“. Ich kann mich noch gut an diesen            seinem Leben so exemplarisch auch für        Tage häufig erinnert. Aber ihr Blick geht
Tag erinnern, denn er hatte für die Jüdi-          diesen inneren Kampf der Wiederannähe-       auch über unser Land hinaus.
sche Gemeinde in Würzburg eine heraus-             rung wie Charlotte Knobloch. Als einer       So hat sie bereits 2007 als Präsidentin des
ragende Bedeutung.                                 ihrer Nachfolger im Präsidentenamt des       Zentralrats der Juden eine konsequente
Es war ganz ähnlich wie wenige Wochen              Zentralrats der Juden in Deutschland bin     Haltung gegenüber dem Mullah-Regime
später am 9. November 2006 in München,             ich ihr für diesen Einsatz zu großem         im Iran eingefordert. Heute sehen wir die
als das jüdische Zentrum, bestehend aus            Dank verpflichtet. Ich habe größten Res-     Notwendigkeit einer solchen klaren Posi-
der Ohel-Jakob-Synagoge, dem Gemein-               pekt vor dieser Leistung.                    tionierung mehr als bestätigt. Vor weni-
dezentrum der Israelitischen Kultusge-                                                          gen Tagen hat Bundesminister Cem Öz-
meinde und dem Museum, eingeweiht                  Charlotte Knobloch hat sich in ihrer Amts-   demir in seiner Dankesrede anlässlich der
wurde. Charlotte Knobloch war sich der             zeit als Präsidentin des Zentralrats der     Verleihung des Leo-Baeck-Preises des Zen-
Wirkung dieser beiden Ereignisse sehr              Juden sowie als Präsidentin der Israeliti-   tralrats der Juden in Deutschland sinn-
wohl bewusst: „Wer baut, hat seine Hei-            schen Kultusgemeinde München und             gemäß gesagt, dort wo Antisemitismus
mat gefunden“, sagte sie damals in Würz-           Oberbayern eine Reihe von Verdiensten        grassiere, werden auch die freiheitlichen
burg. Diese Worte sind mir in Erinne-              erworben. Sie hat der jüdischen Gemein-      Werte angegriffen, an dem sich unser
rung geblieben. Sie sind keine Selbstver-          schaft in Deutschland vor allem einen        Grundgesetz orientiert.
ständlichkeit für Jüdinnen und Juden in            Platz und eine Rolle gegeben, die ein        Was, wenn nicht diese Werte, sollten
Deutschland.                                       Selbstbewusstsein beinhaltet, das aus dem    Richtschnur des politischen Handelns der
                                                                                                Bundesrepublik Deutschland sein? Das
                                                                                                Mullah-Regime im Iran gehört zu den
                                                                                                schlimmsten antisemitischen Scharfma-
                                                                                                chern weltweit und unterstützt offen
                                                                                                Terrororganisationen, die den Staat Israel
                                                                                                vernichten wollen. Die Ideen von Freiheit,
                                                                                                Gleichberechtigung und Demokratie fin-
                                                                                                den unter diesen Bedingungen keine Luft
                                                                                                zum Atmen. Ein Iran unter dieser Füh-
                                                                                                rung kann niemals ein Partner auf Augen-
                                                                                                höhe für unser Land sein. Auch Charlotte
                                                                                                Knobloch hat darauf früh hingewiesen.

                                                                                                Liebe Charlotte Knobloch, das war nur
                                                                                                ein kurzes Schlaglicht Ihres Wirkens und
                                                                                                Streitens. Sie werden nicht müde, sich für
                                                                                                jüdisches Leben in Deutschland zu enga-
                                                                                                gieren, vor Entwicklungen zu warnen
                                                                                                und die Stimme für diejenigen zu er-
                                                                                                heben, die häufig nicht gehört werden.
Begrüßung vor der Synagoge, von links: Jutta Schuster, Dr. Josef Schuster, Dr. Charlotte        Ich sage dafür: Danke! Danke und Masal
Knobloch.                                      Fotos (3): © Daniel Schwarcz IKG München         Tow – bis 120!

12      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
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