JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N 37. JAHRGANG / NR. 149 â“ôùú äëåðç 15. DEZEMBER 2022 CHAG CHANUKKA çîù âç SAMEACH HAPPY CHANUKKA Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022 1
Unser Titelbild Familie geboren. Die Familie betrieb und Arbeitsmethoden der Bauhaus-Schule zunächst eine kleine Strickerei, später mit. Wolpert machte sich den modernis- Ludwig Yehuda Wolpert, Chanukka- wurde Wolperts Vater Salomon Schochet tischen Stil zu eigen und konzentrierte Leuchter, Frankfurt/Main 1924; Jüdi- und amtierte als Rabbiner eines Alten- sich in der Folgezeit auf die Herstellung sches Museum Berlin. Foto: Roman März. heims. Im Alter von 16 Jahren nahm moderner, funktionaler jüdischer Zere- Ludwig das Studium der Bildhauerei an monialobjekte aus Silber. 1928 beauftrag- Das Jüdische Museum Berlin hat vor ei- der Frankfurter Kunstgewerbeschule auf; te Karl Schwarz, der Direktor des ersten nem Jahr mit Unterstützung der Freunde 1920 begann er, als Bildhauer zu arbei- Jüdischen Museums Berlin, Wolpert mit des Museums einen Chanukka-Leuchter ten. der Anfertigung einer Reihe von jüdi- erworben, der als das erste Stück moder- schen Zeremonialobjekten, die dann im ner Judaica bezeichnet werden kann. Der Da Wolpert sich von der Anfertigung von Museum sowie in einer Wanderausstel- Künstler Ludwig Yehuda Wolpert hatte Gebrauchsgegenständen ein sichereres lung gezeigt wurden. den Leuchter 1924 in Frankfurt am Main Einkommen erhoffte, kehrte er 1925 für angefertigt. Seine Gestaltung brach mit ein zweites Studium an die Frankfurter Wolpert emigrierte 1935 nach Palästina, den bis dahin geltenden stilistischen Kon- Kunstschule zurück und wandte sich der wo er weiterhin Objekte in seinem einzig- ventionen und läutete einen Wandel in Silberschmiedekunst zu. Der damalige artigen Stil schuf und durch seine Lehrtä- Form und Stil der Judaica ein. Der Leuch- Leiter der Schule war Christian Dell, zu- tigkeit an der New Bezalel School bis ter ist aus Messing gegossen und pati- vor Meister der Form an der Bauhaus- 1956 eine ganze Generation von Silber- niert, 34 cm hoch und 38 cm breit. Schule. Dell brachte die innovativen Ideen schmieden ausbildete, die in einem mo- dernistischen Stil arbeiteten. Danach zog „Das Jüdische Museum hat sich seit sei- Wolpert in die Vereinigten Staaten, wo er ner Eröffnung auf das Sammeln von die Tobe-Pascher-Werkstatt im Jüdischen jüdischen Zeremonialobjekten aus dem Leider kann dieses Heft Museum von New York leitete. Seitdem späten 19. bis frühen 20. Jahrhundert krankheitsbedingt gilt Wolpert als der „Vater“ der zeitgenös- spezialisiert“, erläutert Hetty Berg, Direk- sisch gestalteten Judaica-Objekte. Seine torin des Jüdischen Museums. „Wir wol- nicht mit allen Stücke zeichnen sich durch ihre elegan- len den stilistischen Wandel in dieser Zeit geplanten Beiträgen ten, schlichten Formen, ihren Funktiona- dokumentieren. Aus den 1920er Jahren erscheinen. lismus und die Schönheit der hebräischen sind nur wenige Zeremonialobjekte erhal- Schriftzüge aus, die er in viele seiner spä- ten. Der Chanukka-Leuchter von Wolpert Wir bitten unsere Leser teren Kreationen integrierte. Wolpert hat vertritt diese entscheidende Periode und um Verständnis. bei den Weltausstellungen in New York den gestalterischen Aufbruch in die Mo- und in Montreal Werke ausgestellt und derne auf höchstem Niveau und füllt eine Redaktion viele international bekannte Werke ge- Lücke in der Museumssammlung. schaffen, etwa die Bronzetüren der Syna- JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN goge am John F. Kennedy Airport. Ludwig Yehuda Wolpert wurde 1900 in Benno Reicher Hildesheim in eine orthodoxe jüdische Er starb 1981 in New York. ST OL PE R ST E I N E W Ü R Z BU RG In der Schönbornstraße 6 wohnten ROSA WEIMERSHEIMER KARL HORST FRANK MAX KAUFMANN GEB. KAUFMANN JG. 1925 JG 1876 GESCH. FRANK DEPORTIERT 1941 DEPORTIERT 1942 JG. 1904 KOWNO FORT IX THERESIENSTADT DEPORTIERT 1941 MASSENERSCHIESSUNG 1944 AUSCHWITZ KOWNO FORT IX 25.11.1941 ERMORDET MASSENERSCHIESSUNG 25.11.1941 Bilder Rückseite: (alle Beiträge dazu im Heft), Nr. 1: Leo-Baeck-Preis für Cem Özdemir, von links: Dr. Josef Schuster, Laudatorin Ronya Othman, der Preisträger und Zentralratsvize Abraham Lehrer, © Zentralrat der Juden. Nr. 2: Festakt für Charlotte Knobloch mit Anne-Sophie Mutter und ihrem Ensemble, © Daniel Schwarcz IKG München. Nr. 3: Der bayerische Kultusminister Michael Piazolo in Yad Vashem, © StMUK. Nr. 4: Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat präsentiert eine Broschüre mit den prämierten Texten, rechts Moderatorin Shelly Kupferberg, © Jule Roehr / Initiative kulturelle Integration. Nr. 5: Schach in der Gemeinde Regensburg. Nr. 6: Das neue Koffer-Denkmal in Geroldshausen, © Riccardo Altieri. Nr. 7: Auf dem Jüdischen Friedhof in Augsburg. Nr. 8: Die Straubinger Gemeinde in Pilsen. 2 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
EDITOR I A L Liebe Leserinnen, liebe Leser, geplant. Die deutsche Fassung ihres Tex- tes hatte sie bereits am 25. September an Rabbiner Berger erinnert in seinem Bei- die Redaktion geschickt. „Nach meiner trag auf der nächsten Seite an die Mitz- Abnahme der deutschen Version“, sagt wa, „das Wunder von Chanukka bekannt Benno Reicher, „sollte sie ihren Artikel und für die Öffentlichkeit sichtbar zu ma- für das Heft auf Russisch übersetzen.“ chen“. Deshalb sollen wir den brennen- Dazu kam es leider nicht mehr. „Es war den Leuchter jeden Abend vor das Fenster eine angenehme Zusammenarbeit mit oder vor unsere Haustür stellen. Dieser ihr“, sagt der Redakteur. „Sie hatte keine Brauch hat mittlerweile sogar dazu ge- journalistische Erfahrung, aber sie war führt, dass viele Jüdische Gemeinden den ganz offen und dankbar für meine fach- Chanukka-Leuchter in die „Öffentlichkeit“ lichen Hinweise. In ihrem Alter wollte sie stellen und anzünden. In Berlin macht noch was dazu lernen.“ man das seit vielen Jahren, in Stuttgart Regina Kon kam 1999 nach Würzburg. und sogar in Erlangen. Vorher war sie in Moskau in der Musik- Wir werden die Chanukka-Lichter in der wissenschaft tätig. In ihren 23 Würzbur- Würzburger Gemeinde gemeinsam mit ger Jahren hat sie sich auf zahlreichen unserem Rabbiner Jakov Ebert und sei- neuen Arbeitsfeldern großen Respekt nem Nachfolger, Rabbiner Avrasin, an- erworben. Ihr Engagement für die Ge- zünden. Es wird also das letzte Mal sein, meinde machte die freundliche Frau zu dass „unser Rebbe“, wie wir ihn nennen einer zentralen Vermittlerin für unsere dürfen, als Gemeinderabbiner mit uns zugewanderten Mitglieder. Als jüdische das Chanukka-Fest feiert. Er geht näm- Vorsitzende der Gesellschaft für christ- lich zum Ende des Jahres 2022 in den lich-jüdische Zusammenarbeit war sie die sehr wohlverdienten Ruhestand. Rabbi- Verbindung zwischen Gemeinde und der ner Ebert kam 2001 aus Heidelberg nach Erlaubte zu verbieten“ ist auch heute noch Gesellschaft. Besonders gefragt war sie Würzburg. Der Nachkomme einer ange- ein Leitgedanke in unserer Gemeinde. auch in der Migranten- und Senioren- sehenen Rabbinerfamilie wurde 1948 in Wir sind Rabbi Ebert sehr dankbar, dass arbeit der ZWST. Für uns als Gemeinde Tel Aviv geboren, die Jeschiva besuchte er auch er die von Rabbi Bamberger geprägte war sie das Musterbeispiel für gelungene in Jerusalem. Tradition gepflegt hat. Integration. Rabbi Ebert hat die von dem bedeutenden Rabbiner Seligmann Bär Bamberger (1807– Am 7. Oktober mussten wir uns auf dem Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und 1878) im 19. Jahrhundert geprägte „Würz- Jüdischen Friedhof von Regina Kon ver- Leser, ein frohes Fest, burger Orthodoxie“ mit neuem Leben ge- abschieden. Sie schrieb seit Ende 2020 für CHAG CHANUKKA SAMEACH füllt. Bambergers Grundsatz „Sie mögen JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN die russi- wissen, dass ich alles, was ich aufgrund sche Seite. Im Heft vom 10. Dezember Ihr der Religion und des Gesetzes unserer 2020 war es ein Artikel über den Würzbur- Dr. Josef Schuster heiligen Torah erlauben kann, erlaube. ger Habima-Skandal vom November 1930. Präsident Denn so wie es verboten ist, das Ver- Für dieses Heft war ein Beitrag über die des Zentralrats der Juden in Deutschland und botene zu erlauben, so ist es verboten, das jüdische Kinderärztin Clara Oppenheimer des Landesverbandes der IKG in Bayern Chanukka 5783 Ansprache von Zentralsrats- IMPRESSUM Chanukka präsident Dr. Josef Schuster . . . . . . . 12 JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4 Rede von Dr. h.c. Charlotte Knobloch 13 authentisch bayerisch jüdisch Redaktionsleitung: Benno Reicher, Die Kämpfe der Hasmonäer Rede von Bundespräsident Vorländerweg 25, 48151 Münster, Von Yizhak Ahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Dr. Frank-Walter Steinmeier . . . . . . . 14 Telefon 0251-7475546 www.bayerisch-jüdisch.de Kultur Nachrichten aus Frankreich redaktion@berejournal.de Henny Stahl Was bleibt vom Pletzel Wir erscheinen im April zu Pessach, Von Rotraud Ries . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 15 im September zu Rosch Haschana und im Dezember zu Chanukka Cem Özdemir erhielt Leo-Baeck-Preis . 7 Bayern In dieser Ausgabe mit Beiträgen von Jüdisches Museum Berlin . . . . . . . . . . . 8 Rabbiner Joel Berger, Yizhak Ahren, Angela DenkOrt Gerolshausen . . . . . . . . . . . . 18 Genger, Daniel Hoffmann, Charlotte Le’Chaim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Piazolo in Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Knobloch, Gaby Pagener-Neu, Ellen Presser, Stiften aus Tradition . . . . . . . . . . . . . . 10 Benno Reicher, Monika Richarz, Rotraud Lehrerbildung ausbauen . . . . . . . . . . . 10 Aus den jüdischen Gemeinden Ries, Josef Schuster und Frank-Walter in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Steinmeier Kontinuität: Schuster wiedergewählt 11 Herausgeber: Landsverband Israelitischer Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 28 Kultusgemeinden in Bayern Der 90. Geburtstag Gesamtherstellung: Druckerei Höhn, Festakt für Charlotte Knobloch . . . . . 12 Russische Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Gottlieb-Daimler-Str. 14, 69514 Laudenbach Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022 3
C H A N U K K A 57 8 3 Chanukka Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger sondere die jüdische Geschichtsschrei- ertragen wurde. Ohne sich aufzulehnen. bung nur aus den hebräischen Quellen Alles, was blieb, war die Hoffnung auf die schöpfen können, würden wir nicht ein- Fürsorge Gottes und das mit übermensch- mal das Wort „Makkabäer“ kennen, jenen licher Geduld geübte Gott-Vertrauen. hebräischen Namen der Freiheitskämp- Warten auf das Kommen der göttlichen fer. In dem ganzen heldenhaften Kampf Erlösung. für die Freiheit und Unabhängigkeit des jüdischen Landes blieb nur ein kurzer In den langen Jahrhunderten der Gesetz- Bericht im Talmud, der Schatzkammer losigkeit unseres Volkes wie auch in der der nachbiblischen jüdischen Literatur, Neuzeit mit ihrer Emanzipation und Assi- übrig: die Wiederherstellung des Altars, milation, konnten und wollten die Rabbi- das Anzünden des Tempelleuchters, der ner in den Makkabäern keine Freiheits- Menora, die dann doch acht Tage lang kämpfer sehen, sondern nur fromme, reli- brannte. Wie durch ein Wunder! giöse Männer, deren Ziel und Verdienst es war, sich selbstlos für Chanukkat Hamis- Das Öl in der Lampe hätte nur für einen beach, für die Wiedereinweihung des Tag gereicht. In den Büchern der Makka- Altars, einzusetzen. Auf der Grundlage bäer sind jedoch die Ereignisse, die dem der Berichte der Makkabäerbücher lern- Aufstand vorausgingen, in klassischem ten wir die Geschichte von Chana, der Rabbiner Joel Berger Griechisch überliefert. Antiochus Epi- jüdischen Mutter, die mit ihren sieben phanes, ein eigensinniger Despot, verbot Söhnen den Märtyrertod wählte anstatt Chanukka, das jüdische Lichterfest, ist nicht nur die Ausübung jüdischer Zere- dem griechischen Gott Zeus zu huldigen. auch ein Gedenken an die Freiheit des monien, sondern sogar das Studium der Gewissens. Es zeugt von der Richtung der Tora, einschließlich der Brit Mila, der Be- Wie die meisten unserer Feste ist Cha- Entwicklung des Judentums gegen Ende schneidung jüdischer Jungen. Statt jüdi- nukka ein inniges Familienfest. Nach un- der biblischen Zeit. Im 2. Jahrhundert vor scher Schulen gründete er griechische seren traditionellen Geboten sind wir ver- der Zeitrechnung wollte der Hellenismus, Gymnasien und Theater auf dem Boden pflichtet, das Wunder von Chanukka be- der damals Politik und Kultur beherrsch- der jüdischen Propheten. Doch diese kannt und für die Öffentlichkeit sichtbar te, die freie Ausübung der Riten der jüdi- Gymnasien und Theater waren keine Bil- zu machen. Deshalb stellen wir den schen Lebensweise verbieten. Der Tempel dungseinrichtungen. Sie dienten den blu- Chanukkaleucher mit den Lichtern jeden in Jerusalem wurde entweiht und grie- tigen hellenistischen Wettkämpfen, bei Abend auf unsere Fensterbank oder vor chische Götzenbilder aufgestellt. Die denen die Besiegten selten lebend davon- unsere Haustür. Israeliten leisteten unerwartet starken kamen. Die Arenen der Theater wurden Widerstand gegen die Besatzer. Die Pries- oft für solche Massenveranstaltungen Das Ölwunder, die Sehnsucht nach Frei- ter des Heiligtums sowie zahlreiche ein- genutzt, bei denen die Gladiatoren ihre heit und das freiheitliche Ausüben des fache Handwerker und Bauern verstärk- Kräfte mit denen von wilden Tieren mes- Glaubens, das blieb in allen jüdischen Ge- ten das zunächst kleine Heer, das sich sen mussten. In den Jahrhunderten der meinden lebendig. unter der Führung der Makkabäer ge- Diaspora gab es keinen jüdischen Wider- waltsam gegen die Eindringlinge erhob. stand; es blieb nur das bittere Leid, das Die große Rolle, die Chanukka heute als Ihre Gegner waren kampferprobte Solda- wohl unser populärstes Fest spielt, ist eben- ten der syrisch-mazedonischen Heere. falls ein kleines Wunder, denn in früheren Dennoch gelang es den Aufständischen Zeiten fand außer einem abendlichen Got- nach harten Jahren am 25. des jüdischen tesdienst eigentlich nur das Aufstellen und Monats Kislew, Jerusalem und sein Hei- Entzünden der Chanukkija statt. Aber der ligtum zurückzuerobern. Nach ihrem zweite Teil des Wunders, dass eine kleine Einmarsch sahen es die Befreier als ihre Schar die übermächtigen Feinde besiegen wichtigste Aufgabe an, den Tempel auf und die Freiheit unseres Volkes erkämpfen dem Tempelberg zu reinigen, damit er für konnte, hat heute die Bedeutung des Fes- den täglichen Gottesdienst wieder einge- tes stark gehoben. Jeder zweite Sportver- weiht werden konnte. Diese Einweihung ein in Israel und auch anderswo nennt sich des Altars heißt auf Hebräisch Chanukkat nach den Makkabäern Makkabi (deutsch: Hamisbeach. Daher auch der Name des Hammer). Wahrscheinlich handelt es sich Festes Chanukka. beim Begriff Makkabi um ein Akronym des Lobgesangs in der Tora im zweiten Und doch sind die Ereignisse, die Episo- Mosebuch, Schemot (2.B.M. 15:11) nach den dieses Freiheitskampfes im jüdischen dem Wunder der Überquerung des Schilf- Volksgedächtnis jahrhundertelang in den meeres und der Errettung unserer Ahnen Hintergrund gedrängt worden. Als ob die durch den Allmächtigen: Mi Kamocha jüdische Nachwelt sich nicht erinnern ba’Elim „Wer ist wie DU, Oh Herr, unter wollte. Hätte die Geschichte und insbe- den Göttern“. 4 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
Die Kämpfe der Hasmonäer In seinem religionsgesetzlichen Kodex fremde Regierung damals abschaffen – tik war, dass der Götzendienst im Land Mischne Tora beschreibt Maimonides die gegen das halachafeindliche Dekret rebel- Israel zunahm und nicht reduziert wurde. Vorschriften von Chanukka in zwei Kapi- lierten die Hasmonäer. Dieser Aufstand teln (Hilchot Megilla und Chanukka, gegen die Hellenisten ging wohlgemerkt Es kam zu erheblichen Spannungen zwi- Kapitel 3 und 4). Bemerkenswert ist, dass von einer Priester-Familie aus dem Dorf schen dem hasmonäischen König und den er Kap. 4 in Ausdeutung einer bestimm- Modiin aus, nicht von der religiösen Füh- frommen Pharisäern, und der Machthaber ten halachischen Anweisung, die hier rung in Jerusalem. ließ viele seiner Gegner umbringen. Diese nicht zu referieren ist, mit einer allgemei- traurige Entwicklung beweist, dass Matit- nen Aussage über die Tora beendet: „Groß Die Wichtigkeit des Einzelnen für den jahus Geist gehegt und gepflegt werden ist der Frieden (hebr. Schalom), denn die Fortbestand des Judentums hat Rabbiner muss – Gottesfurcht wird offensichtlich Tora wurde gegeben, um Schalom in der S. R. Hirsch mehrfach betont: „Und wenn nicht automatisch vererbt. Auch dies eine Welt zu schaffen, denn es heißt: Des auch rings um dich alles entweiht wäre wichtige Lehre, die an Aktualität nicht Glückes Wege sind ihre Wege und alle ihre im Drang der Zeiten, wenn auch nur in verloren hat. Den Untergang der Hasmo- Pfade Schalom (Sprüche 3,17)“. eines Hauses Kreise, ja nur in eines näer-Dynastie haben Geschichtsforscher Mannes Brust rein bleibt das Licht – lebet sorgfältig analysiert. Von Bedeutung ist, Kapitel 3 beginnt Maimonides mit einer nur heiter mitten in der Verirrung, sterbt dass das Judentum dieses tragische Ge- Erklärung, warum die Weisen in der Zeit selbst heiter unter eines Rasenden Wut – schehen, ebenso wie viele spätere Kata- des Zweiten Tempels das Chanukka-Fest Israels Geistesleben bleibt gerettet – Gott strophen, überlebt hat – auf die Konsoli- als Tage der Freude festgelegt haben. In wacht darüber, und auch nur an eines dierung und Weiterentwicklung des jüdi- seiner historischen Skizze erwähnt der Mannes Licht entzündet Er es neu“ (Cho- schen Volkes kommt es an. Kodifikator nicht nur die Neueinweihung rew, § 246. Siehe auch § 73). des Tempels zu Jerusalem im Jahre 164 Die Lichter, die wir am Chanukka zu vor der üblichen Zeitrechnung, sondern Um ihren Sieg über die fremde Macht ab- Hause und auch in den Synagogen ent- auch die Tatsache, dass die Hasmonäer zusichern und auszubauen, haben die zünden, erinnern nicht nur an den glor- einen König in Israel eingesetzt haben Hasmonäer eine jüdische Monarchie er- reichen Aufstand der Hasmonäer und an und dass diese Monarchie mehr als 200 richtet. Aber schon sehr bald sind Ver- das im Talmud (Schabbat 21b) erwähnte Jahre bis zur Zerstörung des Heiligtums kehrungen eingetreten. Die Eroberungs- Ölwunder. Sie regen jeden von uns an, durch die Römer existiert hat. kriege, die Jochanan Hyrkanus I (Joch- ernsthaft über die jüdische Zukunft nach- anan Kohen Gadol) und nach ihm sein zudenken: Welche Irrwege sollte ich ver- Zweifellos bewertet Maimonides diese Sohn Alexander Jannai führten, wurden meiden? Was kann ich zur Stärkung der historische Epoche positiv. Auch Nachma- von vielen Tora-Gelehrten nicht befür- Tora beitragen, die gegeben wurde, um nides schreibt in seinem Tora-Kommentar wortet. König und Hohepriester Jannai Frieden in der Welt zu schaffen? (zu Bereschit 49,10), dass ohne die Leis- heuerte nichtjüdische Soldaten an und tung der Hasmonäer Tora und Mitzwot in siedelte sie dann an. Ergebnis dieser Poli- Yizhak Ahren Vergessenheit geraten wären. Allerdings merkt Nachmanides gleich an, dass die Hasmonäer vom Himmel bestraft wur- den, weil sie Kohanim (Priester aus dem Stamme Levi) als Könige amtieren lie- ßen. Das Herrscheramt stehe jedoch dem Stamme Jehuda zu. Problematisch sei die Vereinigung des geistlichen und des poli- tischen Amtes in einer Person. Die dramatische und wendungsreiche Geschichte der Hasmonäer ist spannend; sie hat schon viele Historiker beschäftigt. Aus den Kämpfen der Hasmonäer kann man einige Lehren ziehen. Auf die Frage, die nicht selten in den Chanukka-Tagen gestellt wird: „Immer wieder die alte Geschichte?“, ist zu erwidern, dass der Einsatz der Hasmonäer für die Erhaltung der jüdischen Eigenart vorbildlich war und deshalb niemals in Vergessenheit geraten sollte. Manche Leute sprechen daher von der ewigen Botschaft der Cha- nukka-Lichter. Der Priester Matitjahu und seine Söhne haben im zweiten Jahrhundert vor der üblichen Zeitrechnung erfolgreich für das Recht der Juden gekämpft, gemäß den Sufganiot (Berliner) und Lattkes (Reibekuchen) sind typische Chanukkaspeisen. Als Vorschriften der Tora leben zu dürfen. Ölgebäck erinnern sie an das Öl für den Tempelleuchter. Der Dreidel mit den hebräischen Das religiöse jüdische Leben wollte die Buchstaben gehört zu einem beliebten Chanukka-Spiel. © Jüdisches Museum Franken Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022 5
K U LT U R Henny Stahl Eine jüdische Journalistin der Frauenbewegung Von Rotraud Ries Wir kennen sie als Johanna Stahl (1895– engen Freundin, schrieb 1995: „Meine 1943), denn diesen Namen bekam sie bei Mutter war mit ihr sehr befreundet […]. ihrer Geburt 1895. So ist in Würzburg der Und dann, als eine Auswanderung un- Stolperstein für sie beschriftet, eine möglich wurde, spendete sie ihre Zeit – Straße in der Stadt und schließlich das Tag und Nacht – für Alte, Kranke, Kinder Zentrum für jüdische Geschichte und und Hilflose. Ich erinnere mich, wie meine Kultur in Unterfranken benannt. Sie Mutter […] zu ihr sagte: ‚Henny, wenn selbst trat allerdings nur mit der Kurz- Du so weiter machst, fällst Du von den form „Henny“ auf und publizierte aus- Füßen!‘ Solche Art Reden machten kei- schließlich unter diesem Namen. nen Eindruck auf Dr. Henny Stahl. Diese Die Rahmendaten ihrer Biografie sind seit intelligente, besonders fähige Person Mitte der 1980er Jahre bekannt, seitdem konnte Würzburg verlassen, jedoch sie mehrfach ergänzt worden. Henny Stahl wie auch einige Bekannte wollten das studierte in Würzburg und in Frankfurt untergehende Schiff nicht verlassen.“ a.M. und schloss das Studium der Volks- Ihre einschlägige akademische Qualifika- wirtschaftslehre Ende 1921 mit einer so- tion und ihre praktische Erfahrung be- zialwissenschaftlichen Doktorarbeit ab. Johanna Stahl ca. 1938 fähigten Henny Stahl zu ihren außer- Zurück in Würzburg verfasste sie 1927 © Staatsarchiv Würzburg 14898 ordentlichen Hilfeleistungen in der Ver- eine Studie über öffentlich unterstützte folgungssituation. Zur ihrer Persönlichkeit Bedürftige in der Stadt. Dafür benötigte gierte sie sich politisch in der liberalen und ihren Interessen lässt sich darüber sie Daten der Stadtverwaltung, wo sie be- DDP und wurde 1929 zu einer Stadtrats- hinaus jedoch kaum etwas sagen. Denn reits als Studentin gearbeitet hatte. Vor stellvertreterin gewählt. Zur gleichen Zeit es fehlen die privaten Quellen, persön- allem begann Stahl jedoch als freiberuf- begründete sie in einer Gemeindever- liche Dokumente, Briefe oder Fotos. Von lich tätige Journalistin zu schreiben: für sammlung der Jüdischen Gemeinde das ihrer Familie überlebte nur ihr Bruder die Bayerische Israelitische Gemeinde- Anliegen, Frauen das passive Wahlrecht Leo (1888–1960) in Paris, dessen Woh- zeitung (1926, 1932) und für die Frank- zu gewähren – mit mäßigem Erfolg. nung jedoch von der NS-Besatzung ge- furter Zeitung (mind. 1929–1931). 1927 Bekannt ist Henny Stahl jedoch vor allem plündert wurde. organisierte sie für den Würzburger Ver- für die letzten zehn Jahre ihres Lebens: So möchte ich mich der Persönlichkeit ein „Frauenheil“ eine Vortragsreihe zur für ihren Einsatz in der Zeit der NS-Ver- Henny Stahls über ihr journalistisches kulturellen Bedeutung der „Fürsorge“, folgungen – bis hin zu ihrer Verhaftung Werk annähern. Denn neben tagesaktuel- 1930 referierte sie zur „Stellung der Frau im März, der Deportation und ihrem Tod len Berichten hat sie wohl viele Arbeiten im Recht“. Sie war also beim Verband der in Auschwitz im Sommer 1943. Mit größ- über Themen geschrieben, die sie selbst Bayerischen Frauenvereine wohl keine tem Engagement wirkte sie seit 1934 als grundsätzlich oder in einer aktuellen Unbekannte, der Ende 1926 seine Ver- Mitarbeiterin der „Arbeitsgemeinschaft Situation für relevant hielt. Medien und bandszeitung als „Bayerische Frauenzei- für Beratung und Wirtschaftshilfe“ der Inhalte ihres journalistischen Oeuvres tung“ neu auflegte und in Würzburg er- Jüdischen Gemeinde, leistete Sozial- und teilen sich dabei in zwei Phasen. Ermittelt scheinen ließ. Die Schriftleitung über- Emigrationsberatung sowie konkrete Hilfe. werden konnten insgesamt 57 Artikel, zu nahm von Herbst 1927 bis Sommer 1931 Nur aus dieser Zeit gibt es spärliche per- denen weitere in unbekannter Zahl in der Dr. Henny Stahl und verfasste in der Zei- sönliche Aussagen über sie. Mordechai Frankfurter Zeitung hinzukommen. Vor tung auch eigene Artikel. Daneben enga- Ansbacher (1927–2021), der Sohn einer 1933 publizierte Stahl ganz überwiegend Stolpersteine für Johanna Stahl und ihre Geschwister Eugen und Jenny in der Würzburger Konradstraße. 6 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
in nichtjüdischen, nach dem NS-Berufs- verbot für jüdische Journalisten in jüdi- schen Medien wie den Zeitungen des bayerischen Israelitischen Landesverbands (insgesamt 5 Artikel), der Jüdischen Ge- meinde Frankfurt, „Für die jüdische Frau“ (5), der CV-Zeitung, „Das Blatt der jüdi- schen Frau“ (15), in den Blättern des jüdi- schen Frauenbundes (2) sowie in zwei wei- teren jüdischen Frauenzeitungen (je 1). Das Themenspektrum von Dr. Henny Stahl ist breit, gesellschaftliche und so- ziale Themen sowie Rechtsfragen domi- nieren. Gelegentlich fasste sie auch wis- senschaftliche Untersuchungen zusam- men, schrieb Rezensionen. Nach 1933, vor allem aber zwischen 1936 und 1938, als sie die meisten Artikel in jüdischen Zeitungen publizierte, hat sich ihr Fokus verschoben. Nun geht es, nah an ihrer Beratungsarbeit, vermehrt um Fragen, die im weitesten Sinne mit der Emigra- tion und dem Weiterleben der jüdischen Bayerische Frauenzeitung, 15.01.1930 © UB Würzburg Misc. q. 115-5 Gesellschaft, mit Ermutigung und dem Erhalt von Werten zu tun haben. Wie ein hingegen der bürgerlichen Frauenbe- Henny Stahl fand einen Ort für ihr frauen- roter Faden zieht sich durch ihr gesamtes wegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts politisches Engagement wohl in Würzburg Oeuvre dabei das Thema „Frauen“: Nur und ihren Zielen zuordnen. Er organisierte im Verein „Frauenheil“, von dem keine zwei ihrer 57 Artikel wurden nicht in sich deutschlandweit, trat für die Rechte Mitgliederlisten vorliegen. Bereits als Schü- einer Frauenzeitung oder einer Frauen- der Frauen, für ihre Bildung und eine lerin der Sophienschule ist sie mit dem beilage gedruckt oder drehten sich um professionelle Sozialarbeit ein – gepaart Verein und seiner Bildungsarbeit in Kon- ein Frauenthema. mit einer Erneuerung jüdisch-religiösen takt gekommen. Gemeinsame Veranstal- So stellt sich die Frage, an welcher Stelle Lebens. Nur zwei Artikel von Dr. Henny tungen in den 1920er Jahren wurden ge- der Frauenbewegung Henny Stahl zu ver- Stahl sind in den „Blättern des Jüdischen nannt. Ihre Tätigkeit für die Zeitung des orten ist. Jüdischen Frauen boten sich da- Frauenbundes“ (1926–1938) nachweisbar. Bayerischen Frauenbundes deutet in die für drei Möglichkeiten. Die traditionellen Ein dritter erschien mit der Autorinnenan- gleiche Richtung. Man kann Dr. Henny Wohltätigkeitsvereine waren stark einge- gabe „Johanna Stahl“ und belegt ein enges Stahl also wohl am ehesten als Akteurin bunden in die jüdischen Gemeinden. Eine Verhältnis der Autorin zu Bertha Pappen- der allgemeinen bürgerlichen Frauen- politische Agenda für eine Verbesserung heim. Er wurde nicht von Dr. Henny Stahl, bewegung ansehen. der Stellung der Frauen in der Gesell- sondern von Johanna Stahl, geb. Kahn schaft oder in den jüdischen Gemeinden (1888–1942) mitverfasst, die bis zu ihrer Weitere Informationen und ein Literatur- verfolgten sie nicht. Da es keine Mit- Heirat 1927 für den Jüdischen Frauen- verzeichnis siehe auch www.rotraud-ries. gliedslisten des Israelitischen Frauenver- bund arbeitete und zeitweilig bei Pappen- de/johanna-stahl eins in Würzburg aus den 1920er Jahren heim wohnte. Der Jüdische Frauenbund gibt, lässt sich eine Mitgliedschaft von gewann vor allem verheiratete Frauen als Henny Stahl nicht überprüfen. Zu ihrer Mitglieder und legte viel Wert auf jüdisch- Unsere Autorin Rotraud Ries ist Historike- liberalen Einstellung würde sie jedoch religiöses Leben. Liberale, unverheiratete rin und von 2009 bis Mai 2022 leitete sie kaum passen. und berufstätige Frauen organisierten das Würzburger Johanna-Stahl-Zentrum Der jüdische Frauenbund, 1904 gegrün- sich eher unter dem Dach des Bundes für jüdische Geschichte und Kultur in Unter- det von Bertha Pappenheim, lässt sich Deutscher Frauenvereine. franken (JSZ). Cem Özdemir erhielt Leo-Baeck-Preis Der Zentralrat der Juden in Deutschland recht-Karls-Universität Heidelberg (2005). Antisemitismus. Cem Özdemir ist der erste hat Ende Oktober seine höchste Aus- Cem Özdemir erlebte als Kind türkischer Leo-Baeck-Preisträger mit einem mus- zeichnung, den Leo-Baeck-Preis, an den Einwanderer viele Facetten von Diskrimi- limischen Hintergrund. Der Preis wird Bundesminister für Ernährung und Land- nierung. Das Einleben in eine fremde auch als Zeichen gegen Radikalismus und wirtschaft, Cem Özdemir, verliehen. Lau- Sprache und Kultur prägte seinen Werde- Fanatismus und für Religionsfreiheit und datorin war die Schriftstellerin Ronya gang. Gleichzeitig lernte er Bildungs- Toleranz verstanden. Othmann. chancen und Demokratie in Deutschland Der Präsident des Zentralrats der Juden Unter den 300 Gästen waren auch der zu schätzen, was seinen Weg in die Poli- in Deutschland, Dr. Josef Schuster, er- israelische Botschafter, Prof. Ron Prosor, tik ebnete. Er setzt sich für ein liberales klärte in einer Pressemeldung: „Cem Öz- und Margot Friedländer sowie die ehe- und aufgeklärtes Deutschland ein. Dies demir ist ein Grüner, ein Liberaler, ein maligen Preisträger Volker Beck (2015), ist die Voraussetzung für eine funktionie- Verfassungspatriot, um einmal einen Be- heute Präsident der Deutsch-Israelischen rende demokratische Gesellschaft, für griff Dolf Sternbergers wieder aufleben Gesellschaft, und Prof. Dr. Dr. Peter Hom- Religionsfreiheit, Gleichberechtigung und zu lassen. Er ist ein Verteidiger Israels, melhoff, der ehemalige Rektor der Rup- ein Leben ohne Vorurteile, Rassismus und ein vehementer Streiter gegen Fanatis- Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022 7
legungen, wann ein Mensch „anständig“ und wann er „gut“ sei. Sie betonte: „Cem Özdemir hat den Kampf gegen Antisemi- tismus zu seiner eigenen Sache gemacht, wie wir ihn alle zu unserer eigenen Sache machen sollten.“ Auf die Frage, was es be- deute, in einer liberalen Demokratie an- ständig zu bleiben, erklärte Ronya Oth- mann: „Vielleicht bedeutet es nicht weg- zusehen, wo leider zu oft weggesehen wird, zu handeln, wo leider oft nur untä- tig zugeschaut wird, konsequent zu blei- ben, ob man sich Freunde macht und/ oder Feinde. Die richtigen Worte zu fin- den, mit Witz und Würde. Mit Achtung und Respekt, nicht mehr und auch nicht weniger. Das alles hat Cem Özdemir be- wiesen und dafür gebührt ihm diese Aus- zeichnung.“ Josef Schuster gratuliert Cem Özdemir zum Leo-Baeck-Preis. Foto: © Zentralrat der Juden Mit dem Leo-Baeck-Preis, der an den Rab- biner Leo Baeck erinnert, ehrt der Zent- mus, Ausgrenzung und Antisemitismus moderne, weltoffene Deutschland ange- ralrat der Juden seit 1957 Persönlichkei- sowie für Religionsfreiheit und damit ein griffen wird, da ist der Antisemitismus ten, die sich in herausragender Weise um würdiger Träger des Leo-Baeck-Preises. nicht weit. Daher ist der wehrhafte Kampf die jüdische Gemeinschaft verdient ge- Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland für die liberale Demokratie immer auch macht haben. Zu den Preisträgern zählen ist ihm zu tiefstem Dank verpflichtet.“ ein Kampf gegen Antisemitismus. Und die Bundespräsidenten a. D. Richard von In seiner Dankesrede wies Bundesminis- daher ist der Kampf gegen Antisemitis- Weizsäcker (1994), Roman Herzog (1998) ter Cem Özdemir auf den Zusammen- mus immer auch ein Kampf für die libe- und Christian Wulff (2011), Bundeskanz- hang von Antisemitismus und der Vertei- rale Demokratie. Das gehört untrennbar lerin Angela Merkel (2007) und andere digung der Werte der liberalen Demokra- zusammen.“ Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. tie hin: „Wo Antisemitismus grassiert, da Die Laudatorin Ronya Othmann erinner- 2019 erhielt der Vorstandsvorsitzende der wird auch unser Grundgesetz angegriffen te in ihrer Laudatio für den Preisträger an Axel Springer AG, Mathias Döpfner, den und alles, wofür ein modernes, weltoffe- die Philosophin und ungarische Shoa- Preis. Die Auszeichnung ist mit 10.000 nes Deutschland steht. Und da, wo dieses Überlebende Agnes Heller und ihre Über- Euro dotiert. pm-va Jüdisches Museum Berlin Am 12. November verlieh das Jüdische für Herta Müller hielt der Schriftsteller ranz“ seit 2002 Persönlichkeiten aus Kul- Museum Berlin zum 21. Mal den „Preis für und Übersetzer Ernest Wichner, die für tur, Politik und Wirtschaft aus, die sich auf Verständigung und Toleranz“. Die Aus- Barrie Kosky die Musikkritikerin Julia Spi- herausragende Weise um die Förderung zeichnungen gingen in diesem Jahr an die nola. Hetty Berg, Direktorin des Jüdischen der Menschenwürde, der Völkerverstän- Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Museums Berlin, überreichte die Preise. digung, der Integration von Minderheiten Herta Müller und an den Theater- und Das Jüdische Museum Berlin zeichnet mit und des Zusammenlebens unterschied- Opernregisseur Barrie Kosky. Die Laudatio dem „Preis für Verständigung und Tole- licher Religionen und Kulturen verdient gemacht haben. Der Preis wird traditionell im Rahmen eines festlichen Dinners ge- meinsam vom Jüdischen Museum Berlin und den Freunden des Museums ver- liehen. Im vergangenen Jahr hatten Char- lotte Knobloch, die Präsidentin der Israe- litischen Kultusgemeinde München, und der Architekt Daniel Libeskind den Preis erhalten. In der Begründung für die Preisverleihung an Herta Müller heißt es: „In ihrer schrift- stellerischen Arbeit setzt sie sich intensiv damit auseinander, welche Gewalt Dikta- turen kontinuierlich ausüben, indem sie Freiheiten einschränken oder nehmen, die Würde von Menschen verletzen und sie traumatisieren. Darüber hinaus kritisiert sie deutlich die Machtverhältnisse inner- halb von Familien und ethnischen Grup- Von links: Laudator Ernest Wichner, Preisträgerin Herta Müller, Direktorin Hetty Berg, pen.“ Die Jury konstatierte weiter: „Den Preisträger Barrie Kosky, Laudatorin Julia Spinola. Konzepten ‚Verständigung‘ und ‚Toleranz‘ Foto: © Jüdisches Museum Berlin, Pietschmann / Ausserhofer kommt in einer Demokratie eine immen- 8 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
se Bedeutung zu: Es geht um Vielfalt als Barrie Kosky, der 2012 bis 2022 das Amt Aufführungen waren damals auch jüdi- Grundwert, um Anerkennung und Res- als Intendant der Komischen Oper Berlin sche Choreographen und jüdische Sänger pekt, um gegenseitiges Verstehen und das innehatte, erhielt den Preis, weil er zehn beteiligt.“ Die Jury unterstreicht: „Barrie Aushalten anderer Überzeugungen, um Jahre lang jüdische Kultur wieder auf die Kosky ist eine herausragende Künstlerper- das Miteinander-Sprechen und das Mitei- Bühne brachte: „Barrie Kosky hat verges- sönlichkeit und steht mit seiner Arbeit wie nander-Leben. Was Herta Müller aus- sene Operetten jüdischer Komponisten als Person für deutsch-jüdische Gegen- zeichnet, ist eine klare Haltung zu diesen und Librettisten, die in der Weimarer Re- wartskultur und für deutsch-jüdisches Le- Werten, ihre Auffassung, dass die Begrif- publik populär waren und das kulturelle ben in Berlin, auch wenn er in den Inter- fe stets und ausschließlich im jeweiligen Leben in Berlin vor 1933 prägten, wieder views, die sein Judentum thematisieren, konkreten Kontext betrachtet werden auf die Spielpläne gesetzt, darunter Paul stets betont, dass er nur für sich spricht. Er müssten, in dem sie sich zu bewähren ha- Abrahams Ball im Savoy, Oscar Straussʼ eröffnete dem Publikum den Zugang zu ben. Sie misst das Gewicht von Wort und Die Perlen der Cleopatra und Jaromir einem weitgehend vergessenen Bereich Tat sehr genau.“ Weinbergers Frühlingsstürme. An den üdischer Kultur.“ L´CHAIM Schreibwettbewerb zum jüdischen Leben BERLIN. Sie wollten die Sichtbarkeit des den die zehn besten Texte des Schreib- in unserer Mitte beeindruckt. Dass das Judentums in Deutschland verstärken wettbewerbs prämiert. Den ersten Preis auch in Textform so eindrücklich gelin- und die Vielfalt jüdischen Lebens in unse- gewann die Berliner Jung-Schriftstellerin gen würde, hat mich schier begeistert.“ rer Gesellschaft herausstellen. Dazu or- Dana Vowinckel für ihren Beitrag „In my Der Schreibwettbewerb „L’Chaim: Schreib ganisierten sie unter dem Dach der „Initi- Jewish Bag“. Darin beschreibt sie die „jü- zum jüdischen Leben in Deutschland!“ ative kulturelle Integration“ einen bun- dischen“ Inhalte ihrer fiktiven Handta- wurde am 17. März 2022 von der Kultur- desweiten Schreibwettbewerb mit verlo- sche, und gleich zu Beginn ihres Textes staatsministerin, dem Beauftragten der ckenden Geldpreisen. Abgabefrist war macht sie klar: „Alles, was ich hier ma- Bundesregierung für jüdisches Leben in der 6. Juni 2022, und die Beteiligung war che, ist jüdisch.“ Der Jury war dieser le- Deutschland und den Kampf gegen Antise- erstaunlich groß. Mehr als 180 Autoren bendige Beitrag einen ersten Platz wert. mitismus, dem Zentralrat der Juden in beteiligten sich mit fiktionalen und nicht- „Auf amüsante und unterhaltsame, auf Deutschland und der Initiative kulturelle fiktionalen Texten zum jüdischen Leben ernste und auch traurige Weise geben die Integration ausgelobt. Die „Initiative kul- in Deutschland. Wettbewerbsbeiträge neue und außerge- turelle Integration“ unter dem Dach des Eine hochkarätige Jury, darunter auch wöhnliche Einblicke in die jüdische Le- Deutschen Kulturrates hat den Wettbe- Kulturstaatsministerin Claudia Roth, benswirklichkeit hierzulande“, erklärte werb federführend organisiert. Zentralratspräsident Josef Schuster, die Claudia Roth zur Preisverleihung und Benno Reicher Autorin und Vorsitzende des Verbandes Antisemitismus-Beauftragter Felix Klein deutscher Schriftsteller Lena Falkenha- ergänzte: „Die Autoren spielen virtuos Schreibwettbewerb L´CHAIM gen, die Autorin Lena Gorelik, der Antise- mit ästhetischen Formen, das Spektrum mitismus-Beauftrage Felix Klein, die Lei- reicht von tragikomischen und ironischen Die Preisträger terin des Jüdischen Museums Frankfurt bis sachlichen und politischen Texten.“ Mirjam Wenzel und der Geschäftsführer Die vielen Facetten und Formen der Texte 1. Platz: des Deutschen Kulturrates Olaf Zimmer- hätten ihn begeistert, sagt Josef Schuster. Dana Vowinckel mit mann trafen sich Anfang Juli in Berlin, „Außerdem haben die eingereichten Bei- In my Jewish Bag um von den eingereichten Texten zehn träge mir gezeigt, wie vielfältig der Blick 2. Platz: Gewinner zu ermitteln. An Preisgeldern auf jüdisches Leben ist.“ Auch Olaf Zim- Dirk Clausmeier mit standen ihnen insgesamt 12.500 Euro zur mermann vom Deutschen Kulturrat war Willkommen bei den Zuckermanns Verfügung, darunter 5.000 Euro für den beeindruckt. „Bereits im Rahmen unseres ersten Preis. Fotowettbewerbs vor knapp zwei Jahren 3. Platz: Bei einer feierlichen Preisverleihung am war ich von den lebendigen und vielfälti- Karoline Kay mit Chai 6. Oktober im Literaturhaus Berlin wur- gen Perspektiven auf das jüdische Leben Alle 4. Plätze: Hila Amit mit Ich Sehe Nicht Jüdisch Aus Asaf Dvori mit Ein Mann mit Migrationshintergrund Ruben Gerczikow & Monty Ott mit Hat Halle uns verändert? Ein Manifest mutiger, widerständiger Jüdischkeit Evgenia Ivanchuk mit Eine moderne Komödie des Jüdischseins Marion Schubert mit Bis zur Hochzeit Ron Segal mit Großvaters letzter Witz Alle ausgezeichneten Texte auf: www.kulturelle-integration.de/ Glückliche Gewinner mit Jury-Mitgliedern und Veranstaltern. schreibwettbewerb © Jule Roehr / Initiative kulturelle Integration Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022 9
Stiften aus Tradition FÜRTH. Der Rechtsanwalt Alfred Nathan Schon bald nach seiner Einweihung 1909 war ein herausragender Stifter und Mä- galt das Nathanstift als renommierte zen. Er steht beispielhaft für das wohl- medizinische und soziale Einrichtung. tätige Engagement des deutsch-jüdischen Eine Visite der Geburtsklinik stand auf Großbürgertums, das mit dem National- jedem Besuchsprogramm hoher Promi- sozialismus sein Ende fand. Zum 100. nenz, so auch beim Besuch des Prinz- Todestag erinnert das Jüdische Museum regenten Luitpold von Bayern 1913. Zu Franken in Fürth bis zum 30. April 2023 Alfred Nathans Lebzeiten war die ge- an den großen Fürther Philanthropen sellschaftliche Anerkennung für sein und Mäzen Alfred Nathan und ehrt sein wohltätiges Wirken jedoch nicht von Lebenswerk in einer Ausstellung. Dauer. Der zunehmende Antisemitismus Alfred Louis Nathan, der 1870 geboren in Deutschland nach dem Ersten Welt- wurde und ledig blieb, reihte sich in die krieg verbitterte seine letzten Lebens- mäzenatische Tradition der Bankiers- jahre. Nach seinem Tod 1922 erbte die familie Nathan ein, die Ende der 1880er Israelitische Waisenanstalt in Fürth sein Jahre mehrere Stiftungen in Fürth errich- gesamtes Vermögen. tete. Nach Studium und nur kurzer Be- Während des Nationalsozialismus strich rufstätigkeit als Rechtsanwalt zog der Teil- die Stadt Fürth auf Empfehlung des Vor- haber des Bankhauses Nathan & Co aus stands der Nathanstiftung den jüdischen gesundheitlichen Gründen 1902 nach Bad Stifternamen. Nach Kriegsende wurde Reichenhall und war dort als Dichter und das Stift wieder umbenannt. 1967 zog es Schriftsteller tätig. in das Klinikum Fürth um. Dort wurde Zeitlebens war er Mäzen. Die bedeutend- es in die geburtshilfliche Abteilung der sten Spenden für die Stadt Fürth tätigte Alfred Nathan um 1910. Frauenklinik integriert. Auch heute, mehr Alfred Nathan für die Errichtung des © Jüdisches Museum Franken als hundert Jahre nach Alfred Nathans Wöchnerinnen- und Säuglingsheims „Na- gemeinnützigem Engagement, liegt das thanstift“ in Fürth. 1906 schenkte er sei- modernen Klinik war es, Frauen die Ge- Nathanstift den Fürthern am Herzen und ner Heimatstadt Fürth hierfür 300.000 burt zu erleichtern und die hohe Säug- die „Frauenklinik mit Nathanstift“ sieht Mark und setzte mit der Bezeichnung lingssterblichkeit zu senken, die zu Be- sich in der Tradition der Werte, die den „Nathanstift“ seinen Eltern Amalie und ginn des 20. Jahrhunderts in Fürth bei Stifter bewogen hatten. Sigmund ein ehrendes Denkmal. Ziel der 30 Prozent lag. www.juedisches-museum.org Lehrerbildung ausbauen GUNZENHAUSEN. Der Beauftragte der tragte mit dem Leiter des Prüfungsamtes tismus sein kann. „Wissen ist eine wert- Bayerischen Staatsregierung für jüdisches und Referatsleiter für die Lehrerbildung volle Grundlage gegen Judenhass“, so Leben und gegen Antisemitismus, Dr. Lud- im Bayerischen Kultusministerium, Mi- Spaenle. „Und ich freue mich, dass das wig Spaenle, will in der Lehrerbildung nisterialrat Claus Pommer, am Standort Kultusministerium seine bisherigen An- im Freistaat zusätzliche Impulse gegen Gunzenhausen über weitere Möglichkei- strengungen weiter ausbauen wird.“ Antisemitismus setzen. Dabei geht es um ten gesprochen. Die Erfahrungen mit dem Im Bereich der universitären Lehrerbil- inhaltliche Aspekte sowohl in der univer- Festjahr „1700 Jahre Juden in Deutsch- dung soll die Thematik für alle Schul- sitären Ausbildungsphase wie auch um land“ sollen in die Überlegungen mitein- arten, insbesondere im Rahmen des Er- den Vorbereitungsdienst. Seit längerem bezogen werden. In dem Festjahr wurde ziehungswissenschaftlichen Studiums und steht Spaenle dazu auch im Dialog mit sichtbar, dass zusätzliches Wissen über im Bereich der Didaktik, behandelt wer- Kultusminister Prof. Michael Piazolo. jüdisches Leben in Deutschland ein wich- den. Gelungene Beispiele hierfür sind an Ende Juni hat der Antisemitismus-Beauf- tiges Element im Kampf gegen Antisemi- der LMU München mit der Veranstaltung „Antisemitismus in der Schule“ oder an der Universität Würzburg in verschiedenen Veranstaltungen zu Rassismus zu finden. Auch im Vorbereitungsdienst existieren in den Ausbildungsplänen aller Schul- arten für die „Grundfragen staatsbürger- licher Bildung“ sowie im Bereich der Leh- rerfortbildung gute Möglichkeiten einer intensiven Befassung angehender und be- reits etablierter Lehrkräfte, die weiter ausgebaut werden sollen. In diesem Zu- sammenhang initiierte Spaenle auch eine Fachtagung der Bund-Länder-Kommis- sion der Antisemitismusbeauftragten, des Zentralrats der Juden und der Kultus- ministerkonferenz, um weitere Möglich- keiten zu diskutieren, wie man die Präven- tionsarbeit gegen Antisemitismus im schu- Dr. Spaenle (links) zu Gast bei Prüfungsamtsleiter Pommer in Gunzenhausen. lischen Unterricht weiter ausbauen kann. 10 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
Kontinuität: Schuster wiedergewählt Der Präsident des Zentralrats der Juden klares Zeichen von Stabilität und Konti- wieder Brücken zu seinen Gegenübern zu in Deutschland, Dr. Josef Schuster, ist nuität an der Spitze des Zentralrats aus- spannen. Ich habe höchsten Respekt vor Ende November in Frankfurt am Main in sendet. Ich wünsche ihm bei seiner Arbeit seinem enormen Engagement in Würz- seinem Amt bestätigt worden. Das Präsi- auch in den nächsten vier Jahren viel burg, in Bayern und in Deutschland.“ dium des Zentralrats wählte den 68-jähri- Erfolg und werde ihn darin wie bisher Der Würzburger Oberbürgermeister Chris- gen Mediziner aus Würzburg einstimmig unterstützen.“ tian Schuchardt würdigt Schusters Hei- für weitere vier Jahre. Dr. Schuster tritt Gerade in der derzeitigen Lage sei Schus- matverbundenheit: „Ich freue mich außer- damit seine dritte Amtszeit an. Dies ist ters Wahl die einzig richtige gewesen, so ordentlich, dass Dr. Schuster für eine ein Zeichen der Kontinuität für die jüdi- Knobloch weiter: „Die Herausforderun- weitere Amtszeit als Präsident des Zen- sche Gemeinschaft in Deutschland. gen für unsere Gesellschaft und für die tralrates wiedergewählt worden ist. Er Nach seiner Wahl erklärte Schuster: „Ich jüdische Gemeinschaft als deren Be- bezieht nicht nur klar und deutlich Stel- freue mich sehr über die Wiederwahl und standteil sind heute so groß wie nie seit lung gegen jede Art von Antisemitismus, danke den Delegierten und dem Präsi- 1945. Inmitten von sozialen und poli- sondern gegen jegliche Art von Men- dium für ihr Vertrauen. In meiner dritten tischen Spannungen und vor dem Hinter- schenfeindlichkeit. Für ihn ist ein Mensch Amtszeit als Präsident möchte ich die grund neuerlichen Krieges in Europa er- ein Mensch, gleichgültig, welcher Nation, positiven Elemente des Judentums in warten die jüdischen Menschen in welcher Religion oder welcher Hautfarbe. Deutschland stärker in den Vordergrund Deutschland einen Vertreter an der Spitze Gleichzeitig setzt er sich für eine mo- stellen. Wir wollen nicht immer nur des Zentralrats, der sich mit Nachdruck derne und zeitgemäße Gedenkkultur ein. moralischer Mahner sein, sondern Ant- für ihre Interessen einsetzt. Josef Schus- Was ich an ihm besonders mag: Trotz all worten auf die gesellschaftlichen Fragen ter hat in den vergangenen acht Jahren seinem überregionalen Engagement ist er unserer Zeit finden und damit auch Be- gezeigt, dass er diese Rolle hervorragend immer seiner Heimat Würzburg verbun- gegnungen schaffen und Vorurteile ab- ausfüllt.“ den geblieben.“ bauen. Im Zentrum dieses Bemühens Auch der bayerische Antisemitismus-Be- Bayerns Ministerpräsident Markus Söder steht die Eröffnung der Jüdischen Aka- auftragte Dr. Ludwig Spaenle gratulierte: zeigte sich ebenfalls erfreut. Dem Bayeri- demie des Zentralrats in Frankfurt am „Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster schen Rundfunk erklärte er: „Josef Main, die für das Frühjahr 2024 geplant ist ein herausragender Repräsentant des Schuster leistet überragende Arbeit und ist. Mir geht es auch darum, die Arbeit deutschen Judentums. Er vereinigt die er ist ein Fixstern gerade in dieser Zeit innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Fähigkeit, die Anliegen und Interessen von Verunsicherung und Herausforde- stetig weiterzuentwickeln. In dieser Hin- der Jüdinnen und Juden in Bayern und rung. Wir müssen alles tun gegen Antise- sicht freue ich mich daher sehr, dass wir Deutschland auch in einer Zeit wachsen- mitismus, gegen Rassismus, gegen Intole- nach langen Beratungen nun eine neue den Antisemitismus klar zu akzentuieren ranz anzugehen, und Josef Schuster ist Gerichtsbarkeit für die Gemeinden ein- und zugleich durch seine außergewöhn- ein mutiger Streiter, jemand, der aufrecht führen konnten und bedanke mich bei lich ausgeprägte Dialogfähigkeit immer für so viele Menschen steht.“ den Delegierten der Ratsversammlungen für die Unterstützung dieser Reform.“ Als Vizepräsidenten wurden Mark Dainow (Offenbach) und Abraham Lehrer (Köln) ebenfalls in ihren Ämtern bestätigt. Da- neben wurden folgende Mitglieder in das Präsidium des Zentralrats gewählt: Vera Szackamer (München), Daniel Neumann (Darmstadt), Harry Schnabel (Frankfurt a.M.), Bianca Nissim (Pforzheim), Prof. Barbara Traub (Stuttgart) und Grigory Rabinovich (Bochum). Die knapp 90 Delegierten der Ratsver- sammlung des Zentralrats wählten sat- zungsgemäß aus ihrer Mitte für die Dauer von vier Jahren drei Mitglieder in das Präsidium des Zentralrats. Das Direk- torium wählte anschließend die weite- ren sechs Mitglieder des Präsidiums. Da- nach fand im Präsidium die Wahl des Präsidenten und der beiden Vizepräsi- denten statt. Die Ratsversammlung ist das oberste Entscheidungsgremium des Zentralrats der Juden in Deutschland und tagt einmal im Jahr. Sie verabschiedet den Haushalt und überwacht die Arbeit des Präsidiums. Nach der Zentralratswahl in Frankfurt stellt sich das neu gewählte Präsidium dem Foto- Die Präsidentin der Israelitischen Kul- grafen. Von links: Grigory Rabinovich (Bochum), Vera Szackamer (München), Vizepräsi- tusgemeinde München und Oberbayern, dent Mark Dainow (Offenbach), Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster (Würzburg), Prof. Dr. Charlotte Knobloch, erklärte zur Wahl: Barbara Traub (Stuttgart), Daniel Neumann (Darmstadt), Bianca Nissim (Pforzheim) und „Ich gratuliere Dr. Schuster zu seiner Harry Schnabel (Frankfurt). Vizepräsident Abraham Lehrer (Köln) ist nicht auf dem Foto. Wiederwahl, mit der das Präsidium ein © Zentralrat der Juden Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022 11
DE R 90. GE BU RTSTAG Festakt für Charlotte Knobloch MÜNCHEN. Sie feiere gerne, bekennt eine bestens gelaunte 90-jährige Jubilarin ihren Geburtstagsgästen. „Ich liebe es, das Leben zu spüren. Die Menschen. Die Freude. Momente des Glücks. In Gemeinschaft“, sagt Charlotte Knobloch, nachdem der Bundespräsident, der Bayerische Ministerpräsident, Münchens Oberbürgermeister und der Zentralratspräsident zum 90. Geburtstag von Charlotte Knobloch gratuliert hatten. Es war ein würdiger und berührender Festakt für die große Dame der Münchner Juden, und darüber hinaus, in der von ihr erbauten und bis auf den letzten Platz voll besetzten Ohel-Jakob- Synagoge am St.-Jakobs-Platz in München. Anne-Sophie Mutter und ihr Ensemble begleiteten Charlotte Knoblochs Geburts- tagsfeier. Durch das eindrucksvolle Programm führte die Schauspielerin Maria Furtwängler. Der Festakt bewegte die Jubi- larin und auch alle Gäste. Wir dokumentieren nachfolgend die Ansprachen von Zentralratspräsident Schuster, von Charlotte Knobloch und von Bundespräsident Steinmeier in Auszügen und auch wir sagen: MAZAL TOW FRAU KNOBLOCH – BIS 120. Benno Reicher Ansprache von Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster zum 90. Geburtstag von Dr. h.c. Charlotte Knobloch Einer der ersten Termine Charlotte Knob- Nein, dieses Glück, jüdisches Leben wie- Erinnern an die Shoa erwächst, aber weit lochs als Präsidentin des Zentralrats der der zu einem Teil Deutschlands und auch darüber hinaus geht. Sie war und ist eine Juden in Deutschland führte sie in meine Bayerns gemacht zu haben, das musste gefragte Stimme, die Gewicht hat. An Heimatstadt nach Würzburg. Wir eröff- hart erkämpft werden nach dem Natio- ihre beeindruckende Rede im Bundestag neten im Oktober 2006 das jüdische Kul- nalsozialismus, nach dem Zivilisations- zum Gedenken an die Opfer des National- tur- und Gemeindezentrum „Shalom Eu- bruch, nach der Shoa. Niemand steht mit sozialismus im Jahr 2021 wird dieser ropa“. Ich kann mich noch gut an diesen seinem Leben so exemplarisch auch für Tage häufig erinnert. Aber ihr Blick geht Tag erinnern, denn er hatte für die Jüdi- diesen inneren Kampf der Wiederannähe- auch über unser Land hinaus. sche Gemeinde in Würzburg eine heraus- rung wie Charlotte Knobloch. Als einer So hat sie bereits 2007 als Präsidentin des ragende Bedeutung. ihrer Nachfolger im Präsidentenamt des Zentralrats der Juden eine konsequente Es war ganz ähnlich wie wenige Wochen Zentralrats der Juden in Deutschland bin Haltung gegenüber dem Mullah-Regime später am 9. November 2006 in München, ich ihr für diesen Einsatz zu großem im Iran eingefordert. Heute sehen wir die als das jüdische Zentrum, bestehend aus Dank verpflichtet. Ich habe größten Res- Notwendigkeit einer solchen klaren Posi- der Ohel-Jakob-Synagoge, dem Gemein- pekt vor dieser Leistung. tionierung mehr als bestätigt. Vor weni- dezentrum der Israelitischen Kultusge- gen Tagen hat Bundesminister Cem Öz- meinde und dem Museum, eingeweiht Charlotte Knobloch hat sich in ihrer Amts- demir in seiner Dankesrede anlässlich der wurde. Charlotte Knobloch war sich der zeit als Präsidentin des Zentralrats der Verleihung des Leo-Baeck-Preises des Zen- Wirkung dieser beiden Ereignisse sehr Juden sowie als Präsidentin der Israeliti- tralrats der Juden in Deutschland sinn- wohl bewusst: „Wer baut, hat seine Hei- schen Kultusgemeinde München und gemäß gesagt, dort wo Antisemitismus mat gefunden“, sagte sie damals in Würz- Oberbayern eine Reihe von Verdiensten grassiere, werden auch die freiheitlichen burg. Diese Worte sind mir in Erinne- erworben. Sie hat der jüdischen Gemein- Werte angegriffen, an dem sich unser rung geblieben. Sie sind keine Selbstver- schaft in Deutschland vor allem einen Grundgesetz orientiert. ständlichkeit für Jüdinnen und Juden in Platz und eine Rolle gegeben, die ein Was, wenn nicht diese Werte, sollten Deutschland. Selbstbewusstsein beinhaltet, das aus dem Richtschnur des politischen Handelns der Bundesrepublik Deutschland sein? Das Mullah-Regime im Iran gehört zu den schlimmsten antisemitischen Scharfma- chern weltweit und unterstützt offen Terrororganisationen, die den Staat Israel vernichten wollen. Die Ideen von Freiheit, Gleichberechtigung und Demokratie fin- den unter diesen Bedingungen keine Luft zum Atmen. Ein Iran unter dieser Füh- rung kann niemals ein Partner auf Augen- höhe für unser Land sein. Auch Charlotte Knobloch hat darauf früh hingewiesen. Liebe Charlotte Knobloch, das war nur ein kurzes Schlaglicht Ihres Wirkens und Streitens. Sie werden nicht müde, sich für jüdisches Leben in Deutschland zu enga- gieren, vor Entwicklungen zu warnen und die Stimme für diejenigen zu er- heben, die häufig nicht gehört werden. Begrüßung vor der Synagoge, von links: Jutta Schuster, Dr. Josef Schuster, Dr. Charlotte Ich sage dafür: Danke! Danke und Masal Knobloch. Fotos (3): © Daniel Schwarcz IKG München Tow – bis 120! 12 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 149/2022
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