Ungleiches Europa Regionale Disparitäten in der EU überwinden - Björn Hacker - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

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Ungleiches Europa Regionale Disparitäten in der EU überwinden - Björn Hacker - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
Björn Hacker

Ungleiches Europa
Regionale Disparitäten in der EU überwinden
Ungleiches Europa Regionale Disparitäten in der EU überwinden - Björn Hacker - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA

Europa braucht Soziale Demokratie!
In welchem Europa wollen wir leben? Wie können wir unsere europäischen Träu-
me von Freiheit, Frieden und Demokratie auch gegen innere und äußere Wider-
stände verwirklichen? Wie können wir die Soziale Demokratie stark in Europa po-
sitionieren? Diesen Fragen widmet sich die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrer Reihe
»Politik für Europa«. Wir zeigen, dass die europäische Integration demokratisch,
wirtschaftlich sozial und außenpolitisch zuverlässig gestaltet werden kann und
muss!

Folgende Themenbereiche stehen dabei im Mittelpunkt:

–   Demokratisches Europa
–   Sozial-ökologische Transformation
–   Zukunft der Arbeit
–   Frieden und Sicherheit

In Veröffentlichungen und Veranstaltungen greifen wir diese Themen auf. Wir
geben Impulse und beraten Entscheidungsträger_innen aus Politik und Gewerk-
schaften. Wir treiben die Debatte zur Zukunft Europas voran und legen konkrete
Vorschläge zur Gestaltung der zentralen Politikfelder vor. Wir wollen diese Debatte
mit Ihnen führen in unserer Reihe »Politik für Europa«!

Über diese Publikation
Quer über den Kontinent ist eine doppelte soziale und räumliche Polarisierung
zwischen wirtschaftlich entwickelten Zentren und peripheren Regionen entstan-
den, die sich in jeweils eigenen Zyklen in ihrer Entwicklung nach unten oder oben
bestärken. Externe Faktoren wie struktureller Wandel, die Globalisierung oder
schwere Wirtschaftskrisen befeuern die Divergenzen. Nötig ist der Wandel vom
Wettbewerbs- und Wachstumsparadigma hin zu einer auf gleichwertige Lebens-
verhältnisse abzielenden integrierten europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik
als Schutzfilter gegen globale Herausforderungen wie Pandemien oder den Klima­
wandel.

Über den Autor
Dr. Björn Hacker ist Professor für europäische Wirtschaftspolitik an der Hoch-
schule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin.

Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich
Dr. Philipp Fink, Direktor des FES-Büros für die Nordischen Länder.

                                                                                      Mit finanzieller Unterstützung
                                                                                      des Europäischen Parlaments.

                                                                                      Dieser Bericht gibt nicht die
Danksagungen                                                                          Meinung des Europäischen
Der Autor möchte allen beteiligten Autoren der acht Länderstudien und den Kol-        Parlaments wieder.
leg_innen der FES und FEPS für ihre hilfreichen Kommentare und Hinweise herz-
lich danken.

Weiterführende Informationen und Materialien zum Projekt finden Sie auf folgen-
der Internetseite
https://www.fes.de/politik-fuer-europa/ungleiches-europa
Björn Hacker

Ungleiches Europa
Regionale Disparitäten in der EU überwinden

        VORWORT                                                       4

        EXECUTIVE SUMMARY                                             6

1       EINLEITUNG                                                    7

2       UNGLEICHHEIT ALS EUROPÄISCHES
        PHÄNOMEN                                                      9

2.1     Zunahme globaler Ungleichheit                                 9

2.2     Wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in der
        Europäischen Union                                            10
2.2.1   Vertiefung der konstitutionellen Asymmetrie                   10
2.2.2   Ausgestaltung der Politikkoordinierung                        11
2.2.3   Management der Finanz- und Wirtschafts- sowie der Eurokrise   11
2.2.4   Entwicklung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit        12

2.3     Territoriale Ungleichheit in der Europäischen Union           15
2.3.1   Reformen der Kohäsionspolitik                                 15
2.3.2   Entwicklung territorialer Ungleichheit                        16

2.4     Zwischenfazit: Schwache Sozialstandards und unterbrochene
        Aufholprozesse                                                19

3       REGIONALE DISPARITÄTEN IM VERGLEICH                           21

3.1     Ergebnisse der Länderstudien                                  21
3.1.1   Regionale Disparitäten in Deutschland                         21
3.1.2   Regionale Disparitäten in Estland                             22
3.1.3   Regionale Disparitäten in Spanien                             24
3.1.4   Regionale Disparitäten in Finnland                            25
3.1.5   Regionale Disparitäten in Frankreich                          26
3.1.6   Regionale Disparitäten in Italien                             28
3.1.7   Regionale Disparitäten in Rumänien                            29
3.1.8   Regionale Disparitäten in Schweden                            31

3.2     Muster der interregionalen Disparitäten                       33
3.2.1   Strukturwandel und Einflussfaktoren                           33
3.2.2   Gegensatz zwischen wirtschaftlich entwickelten Zentren
        und peripheren Regionen                                       34
3.2.3   Identifikation von Entwicklungszyklen                         35

        >>
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA                                 2

3.3         Zwischenfazit: Doppelter sozialer und räumlicher Dualismus   37

4           POLITIKEMPFEHLUNGEN                                          38

4.1         Nationale Maßnahmen zur Überwindung von Disparitäten         39

4.2         Eine neue Rolle der EU als Schutzfilter vor globalen
            Herausforderungen                                            40
4.2.1       Konzentration auf Kohäsion statt auf Binnenwettbewerb
            der Regionen                                                 41
4.2.2       Entwicklung einer integrierten europäischen Wirtschafts-
            und Sozialpolitik                                            41
4.2.3       Gemeinsame Bewältigung neuer Herausforderungen               42

5           FAZIT                                                        44

            Literatur                                                    46
            Abbildungs- und Tabellenverzeichnis                          48
3
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA                                                                4

                                                VORWORT

                                                Einstmals als „Konvergenzmaschine“ gepriesen, kann die EU
                                                inzwischen immer weniger das Verdienst für ein territorial
                                                ausgeglichenes Wirtschaftswachstum für sich in Anspruch
                                                nehmen. Osteuropäische Volkswirtschaften mit ihren über-
                                                durchschnittlichen langfristigen BIP-Wachstumsraten entwi-
                                                ckelten große binnenwirtschaftliche Ungleichheiten, trotz
                                                enormer Ressourcen aus den EU-Struktur- und Investitions-
                                                fonds. Der einst konvergierende Süden der EU hat zur Zeit
                                                der Eurokrise ein auffallendes Auseinanderdriften erlebt, das
                                                diesen seitdem, besonders während der Pandemie, verfolgt.
                                                EU-Mitgliedsstaaten reagierten auf die pandemiebedingte
                                                Rezession mit einem beispiellosen Steuerpaket. Wenn der
                                                territoriale Zusammenhalt bei den entstehenden Aufbau-
                                                und Resilienzplänen jedoch nicht das Topthema wird, wer-
                                                den die unterentwickelten Regionen weiterhin stagnieren
                                                oder zurückgehen und sich sogar stärker auseinanderent‑
                                                wickeln.

                                                Wir sind Zeugen eines besorgniserregenden Teufelskreises,
                                                der die Ungleichheiten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten
                                                und innerhalb der Länder verstärkt. Einerseits weisen die
                                                schwachen Regionen immer weniger Industrien und wirt-
                                                schaftliche Aktivitäten auf, was eine Abwanderung der
                                                Hochqualifizierten zur Folge hat. Dies wiederum führt zu
                                                einer Verschlechterung der Bedingungen für die wirtschaftli-
                                                che Wiederbelebung und mittelfristig zur Verschlechterung
                                                der Infrastruktur und der Investitionen des öffentlichen Diens-
                                                tes, mit einem weiteren Verlust von Human- und Nicht-Hu­
                                                mankapital. Hoch urbanisierte Gebiete sind entstanden, in
                                                denen sich die wirtschaftlichen Aktivitäten konzentrieren
                                                und die mehr und mehr Menschen anlocken, mit der Folge
                                                höherer Lebens- und Wohnkosten sowie stärkerer Umwelt-
                                                verschmutzung und einem höheren Risiko sozialer Ausgren-
                                                zung. Andererseits werden die wirtschaftlichen und sozialen
                                                Probleme der ländlichen Gebiete und derjenigen, die unter
                                                dem industriellen und wirtschaftlichen Niedergang leiden,
                                                oft vergessen und weniger sichtbar und weniger häufig dis-
                                                kutiert. Kumulative wirtschaftliche Nachteile und soziale
                                                Marginalisierung gelangen nur in die Schlagzeilen, wenn wir
                                                deren Auswirkungen in den verschiedenen Formen eines
                                                populistischen Rückschlags zu spüren bekommen.

                                                Die europaweite Untersuchung, die in diesem Band präsen-
                                                tiert wird, analysiert elf sozio-ökonomische Indikatoren und
                                                Wohlstandsindikatoren in acht EU-Mitgliedsstaaten, wobei
                                                Regionen im Hinblick auf sozio-ökonomische Ungleichheiten
                                                zusammengefasst werden. (Deutschland, Frankreich, Italien,
Vorwort                                                                                                                     5

Spanien, Schweden, Finnland, Estland, Rumänien). Sie zeigt,       Aufbau eine aktive Rolle spielt. Die Lebensbedingungen in
dass die Vorteile der Einkommensentwicklung und Stellen-          den europäischen Randregionen können sich nicht verbes-
angebote auf eine zunehmend ungleiche Weise, nicht nur            sern und soziale Ungleichheiten nicht verringert werden,
innerhalb der Gesellschaftsschichten, sondern auch geogra-        wenn es nicht eine neue Strategie zur Bekämpfung des re­gio­
fisch, verteilt wurden. Einige der Ungleichheiten innerhalb       nalen Gefälles gibt. Die Europäische Union muss hier eine
eines Landes sind besser bekannt und sogar sprichwörtlich.        entscheidende Rolle spielen. Die EU soll ihren Auftrag für
Das Nord-Süd-Gefälle in Italien hat eine lange Tradition, wäh-    Wohlstand sowie gute und verbesserte Lebensstandards in
rend die Ost-West-Kluft in Deutschland noch nicht so lange        allen europäischen Ländern erneut bekräftigen. Erreichen
existiert. Die wirtschaftliche Geografie Rumäniens, die durch     kann sie die mit einem Policy Mix aus einer ambitionierten
das Karpatengebirge mit seiner umgedrehten L-Form stark           Sozialagenda und der Koordination von Wirtschaftspolitik,
strukturiert wird, überrascht hingegen niemanden. Die Kluft       dem Überdenken der Kohäsionspolitik und einer Post-Co-
zwischen den Randgebieten und den urbanen Wachstums-              vid-19-Aufbaustrategie, die zu einem neuen Wachstumsmo-
zentren ist jedoch ein Trend, der alle Länder betrifft. Metro-    dell führt, die sich den grünen und digitalen Wandel zu Nut-
polregionen mit breit gefächerten wirtschaftlichen Struktu-       ze macht.
ren haben von dem internen Wettbewerb auf nationaler und
europäischer Ebene stärker profitiert als die ländlichen Regi-
onen mit ihrem geringen innovativen Potential und den be-         LÁSZLÓ ANDOR
trächtlichen Hindernissen für den Strukturwandel. Die daraus      Generalsekretär
resultierenden sozialen und räumlichen Unterschiede führen        Foundation for European Progressive Studies
in vielen europäischen Ländern zu einer Unzufriedenheit mit
den politischen und wirtschaftlichen Systemen.                    PHILIPP FINK
                                                                  Direktor des FES-Büros für die Nordischen Länder
Warum ist das ein europäisches Problem? Erstens weil es
mehr oder weniger alle EU-Länder betrifft. Zweitens weil es
eine Herausforderung für die Einheit und den Zusammenhalt
darstellt, welche im Zentrum des europäischen Projekts ste-
hen. Zudem ist dies, und das ist wohl von größerer Bedeu-
tung, mit dem EU-Regulierungsrahmen verbunden, der den
Auftrag des „territorialen Zusammenhalts“ durch Finanzie-
rung erfüllt, jedoch ohne eine echte Strategie zur Bekämp-
fung regionaler Unterschiede anzubieten. Die Verantwor-
tung, die Entwicklungsstrategien festzulegen, wird an nati­‑
onale und regionale Behörden delegiert, und das Ergebnis
zeigt, dass dies nicht ausreicht. Territorialer Zusammenhang
muss neu überdacht und mit neuen Instrumenten ausgerüs-
tet werden. Die Kohäsionspolitik kann beispielsweise nicht
wirksam sein, wenn sie von der Verteilung von Steuerein‑
nahmen und -ausgaben abgekoppelt wird. Ausgleichsme-
chanismen sollten angepasst und neu konzipiert werden.
Sehr wichtig ist, die lokale Ebene durch einen direkten Zugriff
auf EU-Haushaltsmittel mit mehr Befugnissen auszustatten.

Björn Hackers politische Empfehlungen, die in diesem Bericht
dargelegt werden, sind einstimmig: Wegkommen von dem
Prinzip des Wettbewerbs zwischen den Regionen, der die
schwachen Regionen nie aufholen lässt, und einen Investiti-
onsstaat bilden, der in punkto Innovationen und regionalem
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA                                                                                 6

EXECUTIVE SUMMARY

Die Europäische Union wird nicht nur durch soziale und wirt-     Diese Studie verwendet einen multi-dimensionalen Ansatz,
schaftliche Ungleichheiten zwischen den Mitgliedsstaaten         um zu analysieren, wie und wo diese Art der wirtschaftlichen,
be­lastet, eine ähnlich starke sozioökonomische Ungleichheit     sozialen und territorialen Ungleichheit in der EU auftritt. Es
hat sich auch räumlich innerhalb jedes einzelnen Staates ver-    wird hier auf die Studien Bezug genommen, die in Deutsch-
festigt. Auf dem ganzen europäischen Kontinent ist eine          land, Estland, Spanien, Finnland, Frankreich, Italien, Rumäni-
räumliche sozioökonomische Polarisierung zwischen den            en und Schweden durchgeführt wurden. Dieser Artikel fasst
wirtschaftlich entwickelten Bevölkerungszentren und den          die Ergebnisse der einzelnen Länderstudien zusammen, ver-
abgelegenen Regionen entstanden. Diese räumlichen Unter-         gleicht die Ergebnisse und betrachtet sie vor dem Hinter-
schiede werden nicht nur durch externe Faktoren wie Struk-       grund des europäischen Mehrebenensystems, wodurch fol-
turwandel, Globalisierung oder schwere Wirtschaftskrisen         gende Einblicke gewonnen wurden:
befeuert, sie sind auch ein Resultat der vorherrschenden
Wirtschafts- und Regionalpolitiken.

   –   Bei der Untersuchung der in allen Ländern auf Bezirks-    –   Auch wenn externe Faktoren wie Strukturwandel
       und Kommunalebene untersuchten Daten wird deut-               und Wirtschaftskrisen zu räumlichen Ungleichheiten
       lich, dass es ein Muster der sozialen und wirtschaftli-       geführt und diese verstärkt haben, sind die Unter-
       chen Unterschiede gibt, die in räumlichen Disparitäten        schiede innerhalb der Regionen vor allem durch eine
       kumulieren. Große Unterschiede werden in der wirt-            seit den 1990ern einseitige Wirtschaftspolitik ver-
       schaftlichen Struktur, den lokalen Arbeitsmärkten             schärft worden. Im Laufe der Zeit florierten Regio-
       und der sozialen Entwicklung zwischen den zentralen           nen mit günstigen Startbedingungen immer stärker
       Wachstumsregionen und den Randgebieten deutlich.              und ließen Regionen mit nachteiligen Startbedingun-
       Diese Polarisierung zwischen den Bevölkerungszent-            gen weit hinter sich.
       ren und Randgebieten zeigt sich sowohl sozial als
       auch räumlich.                                            –   Das praktizierte wirtschaftliche Entwicklungsmodell
                                                                     der EU funktioniert nur bedingt und steckt in der Kri-
   –   Während die Wachstumspole in und um Metropolen                se. Nötig ist die Wandlung des bestehenden Wettbe-
       in die globalen Wertschöpfungsketten integriert sind,         werbs- und Wachstumsparadigmas in ein inte­grier­
       kämpfen abgelegene Regionen mit dem Struktur-                 tes europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell, das
       wandel und der Deindustrialisierung oder sind weit-           gleichwertige Lebensbedingungen anstrebt. Ein sol-
       gehend ländlich und stark von der Landwirtschaft              ches Modell würde als Schutzfilter fungieren ange-
       geprägt. Diese wirtschaftlich isolierten Gebiete sind         sichts globaler Herausforderungen wie Pandemien
       meist auch sozial von höherer Arbeitslosigkeit, einem         und Klimawandel sowie der anstehenden industriel-
       verstärktem Armutsrisiko oder einer alternden Gesell-         len Transformationen.
       schaft betroffen.
Einleitung                                                                  7

             1

             EINLEITUNG

             Wie und wo zeigt sich wirtschaftliche, soziale und territori-
             ale Ungleichheit in der Europäischen Union und was kann
             dagegen unternommen werden? Diese Studie möchte als
             Teil eines umfassenden paneuropäischen Projekts der Fried-
             rich-Ebert-Stiftung (FES) und der Foundation for Progressive
             Studies (FEPS) dieser Frage nachspüren. Dafür wurden in
             einem ersten Projektschritt Einzelstudien zu regionaler Un-
             gleichheit in acht Mitgliedstaaten der EU veröffentlicht.1 Hier
             sollen als zweiter Schritt die Erkenntnisse aus diesen Dispa­
             ritätenberichten zusammenfassend vorgestellt, komparativ
             be­trachtet und die Ergebnisse in den die Länder umgeben-
             den ökonomischen und politischen Bezugsrahmen des
             Mehr­ebenensystems der EU eingeordnet werden. Bewusst
             wird ein Ansatz gewählt, der neben den klassischen ökono-
             mischen Kennziffern des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bzw.
             des BIP pro Kopf auch Beschäftigung und Arbeitsmarkt, Bil-
             dungs- und Entwicklungschancen, Wohlstand und Gesund-
             heit, staatliches Handeln und Partizipation sowie Zu- und
             Abwanderungen berücksichtigt.

             Die Wirkungen von EU-Politiken auf die Region sind keines-
             falls mit einer Betrachtung der EU-Kohäsionspolitik abgetan.
             Deren Einfluss ist in der Summe gewaltig, die Europäische
             Kommission (2017: 175ff.) gibt in ihrem letzten Kohäsionsbe-
             richt Investitionen in Höhe von 480 Milliarden Euro im Zeit-
             raum 2014 bis 2020 an, etwa drei Viertel davon finanziert
             über die europäischen Förderlinien, der Rest von den Mit-
             gliedstaaten beigesteuert. Für die vorherige Förderperiode
             2007 bis 2013 schätzt sie die positiven Wirkungen auf das
             BIP der EU auf 3 Prozent. Doch die Kontextualisierung regio-
             naler Ungleichheit und der EU-Kohäsionspolitik ist wichtig,
             da bestimmte Entwicklungen vor Ort nur mit Blick auf sich
             verändernde Umstände, strukturellen Wandel, neue Heraus-
             forderungen, Krisen und volatile Politikpräferenzen erklärt
             werden können: „A wide set of structural features of the
             target regions shape the influence of the policy on regional
             economic performance. However, the interaction of Cohe-
             sion Policy with other EU (and non-EU) policies, as well as
             with political economy dynamics, is also a crucial factor con-
             ditioning impacts” (Crescenzi/Giuia 2017: 29).

             Entsprechend soll hier eine mehrdimensionale Aufgabe er-
             füllt werden, die eine Lücke schließen möchte zwischen
             Untersuchungen, die entweder allein die regionale, die nati-

             1   https://www.fes.de/politik-fuer-europa/ungleiches-europa
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA                                                                                8

onale oder die europäische Ebene bzw. einen zu engen               heit in der EU in vergleichender Perspektive genähert, wobei
Fokus auf die Kohäsionspolitik als Gegenstand haben. Na­           aggregierte, länderbezogene und regionale Perspektiven
türlich stellt sich ein Grundproblem von zur Verfügung ste-        ein­genommen werden (Kapitel 2). Daran anschließend wird
henden Daten, die hinreichend detailliert aufbereitet sind,        die Betrachtungsebene vertieft, indem wesentliche Ergebnis-
ebenso wie die Frage ihrer Vergleichbarkeit. Diese ist oft         se der acht Länderstudien zu regionalen Disparitäten vorge-
nicht gegeben, da für gleiche Themenkategorien je nach             stellt und auf Ähnlichkeiten und Muster untersucht werden
nationaler Situation unterschiedliche Indikatoren herangezo-       (Kapitel 3). Aus den gewonnenen Erkenntnissen werden in
gen werden müssen. Um ein Beispiel zu nennen: Infrastruk-          der Folge politische Handlungsempfehlungen zur Überwin-
turelle Entwicklung lässt sich etwa in Finnland gut anhand         dung regionaler Disparitäten formuliert (Kapitel 4).
der Verfügbarkeit schnellen Internets in den Haushalten
messen; in Rumänien ist der Anschluss der Haushalte an die
öffentliche Wasserversorgung ein besserer Indikator. Anders
als die EU es in ihren Kohäsionsberichten praktiziert, werden
hier also zur Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Unter-
schiede nur sehr begrenzt regionale Indikatoren miteinander
in Relation gesetzt.

Nicht geleistet werden kann im Projekt eine alle 27 Mitglied-
staaten umfassende Untersuchung. Acht Länder wurden
ausgewählt, die in verschiedenen Betrachtungen geeignete
Gruppen bilden, um mit diesen Fällen ein möglichst umfas-
sendes Bild der sozioökonomischen Situation innerhalb der
EU zu erhalten. Bezogen auf die zeitliche Dimension des euro-
päischen Integrationsprozesses sind drei Gründungsmitglie-
der der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
(­EGKS) 1951 (Deutschland, Frankreich, Italien) vertreten, für
die Süderweiterung 1986 steht Spanien, die Erweiterung
1995 decken Schweden und Finnland und die Erweiterung
nach Mittelosteuropa Estland (2004) und Rumänien (2007)
ab. Bis auf Schweden und Rumänien sind die Länder Mitglie-
der der Eurozone, des innersten Zirkels der Integration. Zwei
von ihnen sind dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime
(Schweden und Finnland), zwei den konservativen Wohl-
fahrtsstaaten (Deutschland und Frankreich), zwei dem südeu-
ropäischen Wohlfahrtsmodell (Italien, Spanien) zuzuordnen
(Esping-Andersen 1990; Ferrera 1996). Die beiden verbliebe-
nen können als postsozialistische Wohlfahrtsstaaten aufge-
fasst werden, doch gehört Rumänien eher zur Gruppe des
südeuropäischen Modells und Estland hat sich in vielerlei Hin-
sicht zu einem li­beralen Wohlfahrtsstaat entwickelt (Baum-
Ceisig et al. 2008). Beim Pro-Kopf-Einkommen zeichnen sich
zwei Gruppen ab: Deutschland, Schweden, Finnland und
Frankreich liegen oberhalb des europäischen Durchschnitts,
darunter befinden sich Italien, Spanien, Estland und Rumänien.

Die Studie gliedert sich in drei große Abschnitte. Zunächst
wird sich wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Ungleich-
Ungleichheit als europäisches Phänomen                                                                                          9

2

 UNGLEICHHEIT ALS EUROPÄISCHES
­PHÄNOMEN

Hinweise auf die Zunahme globaler Ungleichheit sind inzwi-        des Einzelnen durchdekliniert. Der Traum vom grenzenlo-
schen Legion. Die Quittung für das vor 40 Jahren schrittwei-      sen Weltmarkt nach dem Ende der Blockkonfrontation und
se praktizierte Einschwenken vieler Staaten und internationa-     dessen digitales Pendant im World Wide Web zeigten nicht
ler Wirtschaftsorganisationen auf den von Margaret Thatcher       nur, was möglich ist, sondern beförderten auch den Impe-
und Ronald Reagan politisch zum Durchbruch verholfenen            rativ von am Markt ausgerichteten Individuen und ihrer Ge-
Kurs politischer Zurückhaltung aus dem Marktgeschehen             sellschaften. Die Kehrseite von Flexibilisierung, Privatisierung
und der Individualisierung sozioökonomischer Risiken ist          und Deregulierung war das Ende des sozialen Aufstiegs in
längst sichtbar. Sie ist international in einer von vielen Wis-   der Breite der Gesellschaft. Lohnstagnation und atypische
senschaftler_innen beschriebenen (2.1) Zunahme globaler           Beschäftigungsformen wie Leiharbeit, Teilzeit, Geringfügig-
Ungleichheit präsent. Die (2.2) Ungleichheit in der Europäi-      keit, Befristung und Solo-Selbständigkeit sind die Kennzei-
schen Union zeigt sich seit 2008 – dem Jahr der Weltfinanz-       chen des modernen Arbeitsmarktes. Dekollektivierung von
und Wirtschaftskrise – in ökonomischer, sozialer und territo-     Arbeitnehmer_inneninteressen, die Ausweitung prekärer Be-
rialer Gestalt (2.3).                                             schäftigungsverhältnisse (Standing 2011) und private Vor­
                                                                  sorgeerfordernisse zur Absicherung der großen Lebens­
                                                                  risiken im Sozialen gehen einher mit der gesellschaftlichen
2.1 ZUNAHME GLOBALER UNGLEICHHEIT                                 Individualisierung und verstärken sie.

Thatcherismus und Reagonomics haben durch ihr Vertrauen           Hellsichtig hat Joseph Stiglitz (2002) bereits vor 20 Jahren
in die angebotsseitige Wirtschaftspolitik, die Segnungen des      konträr zur damals vorherrschenden Globalisierungseupho-
Steuerwettbewerbs sowie die Flexibilisierung und Neuer-           rie auf den Irrglauben hingewiesen, freie und grenzenlose
schließung von einst durch den öffentlichen Sektor regulier-      Märkte würden automatisch den Wohlstand aller heben, wie
ten Märkten den Weg gebahnt für die Ablösung der in vielen        der „Washington Consensus“ mit der Idee des Trickle-
westlichen Volkswirtschaften als „goldenes Zeitalter“ emp-        Down-Effekts glaubhaft machen wollte. Colin Crouch (2004)
fundenen 1960er und 1970er Jahre. Auf Nachkriegswirt-             warnte ähnlich zeitig vor der angeblich alternativlos primär
schaft und fordistische Massenproduktion mit umfassenden          am Markt ausgerichteten neuen Arbeitswelt. Die entstehen-
Investitionen in die Infrastruktur, ausgebauten Wohlfahrts-       den Unsicherheiten für viele Beschäftigte durch Einkom-
staaten und weit entwickelter Wirtschaftsdemokratie folgte        mensverlust, Armutsgefährdung und das Nicht-Mithalten-
eine Ablösung der realwirtschaftlichen durch die finanzkapi-      Können in einer globalen Wettbewerbsumgebung würden
talistische „Spielanordnung“ (Schulmeister 2018: 75). Statt       den Verdruss über das politische System und sein Establish-
keynesianischer Globalsteuerung und Konsenssuche der              ment nähren und rechten Populisten ein leichtes Spiel be-
wirtschaftspolitischen Akteure im Stakeholder-Kapitalismus,       scheren. Doch erst im analytischen Nachgang der globalen
setzte sich zunehmend der Shareholder-Kapitalismus durch,         Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 gelangten in der Öko-
dessen Fokus kurzfristige Profite durch hohe Kapitalrenditen      nomie und der Soziologie kritische Auseinandersetzungen
auf dem sich internationalisierenden Börsenparkett sind.          mit dem neuen globalen Kapitalismus publizistisch zum
                                                                  Durchbruch.
Der neue Marktliberalismus, orientiert an Konzepten von
Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, diffun-           Mittlerweile füllt die Beschreibung und Analyse neuer Un-
dierte in unterschiedlicher Geschwindigkeit von Land zu           gleichheiten zwischen Staaten und innerhalb von Gesell-
Land durch Aufnahme in die Programme sehr unterschied­            schaften ganze Bibliotheksregale: Thomas Piketty (2013,
licher politischer Akteure. In Europa erwies er sich als be­      2019) hat umfassend die Entwicklung zunehmender Einkom-
sonders einflussreich durch Adaption vieler sozialdemokra-        mens- und Vermögensungleichheit nachgezeichnet und die
tischer Parteien an die theoretischen Konstrukte optimaler        Abgabe politischer Gestaltungsinstrumente zur Reduktion
Allokationseffekte durch die freien bzw. freigelassenen           und Verhinderung sozioökonomischer Ungleichheiten in den
Marktkräfte im Zuge des sogenannten „Dritten Wegs“                letzten Dekaden kritisiert. Agnus Deaton (2013) macht auf
(­Bailey 2009). Wettbewerbsfähigkeit galt längst nicht mehr       den zwischen den Ländern ungleich verteilten Wohlstand
als Begriff für die unternehmerische Konkurrenz; sie wurde        aufmerksam. Branko Milanović (2016: 225) wendet sich der
für die beruflichen und privaten Lebensräume jeder und je-        wachsenden Ungleichheit innerhalb der reichen Staaten zu.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA                                                                                 10

Seine Analyse einer „von den Kräften der Automatisierung          Instrumenten auf Gemeinschaftsebene – u. a. Synchronisie-
und Globalisierung heraufbeschworene[n] Zwangslage (die           rung von Haushaltsverfahren, steuerliche Harmonisierung,
‚Mittelschicht-Squeeze‘)“ breiter Teile der Gesellschaft zwi-     wirtschaftspolitisches Entscheidungsgremium, lohnpolitische
schen einem in die Oberschicht aufsteigenden und einem            Koordinierung der Sozialpartner – zur Bewältigung asymme-
zunehmend mit Abstiegssorgen kämpfenden Bereich der               trischer Schocks. Obwohl der Staatenverbund durch die Er-
Mittelschicht wird von Andreas Reckwitz (2017) und Oliver         weiterungsrunden sozioökonomisch diverser geworden ist,
Nachtwey (2016) im Detail untersucht. Dani Rodrik (2011),         glaubte man nun an die angleichende Wirkungskraft der
Joseph Stiglitz (2012) und Colin Crouch (2011), später Kate       Binnenmarktintegration: Die Flexibilisierung von Kapital und
Raworth (2017) und Mariana Mazzucato (2018) klagen die            Arbeit und die Diversifizierung der Produktionsstrukturen
vorherrschenden ökonomischen Theorien der marktlibera-            durch Marktöffnung und Strukturreformen zur Stärkung der
len Globalisierung, ihren Glauben an die Effizienz des Mark-      Wettbewerbsfähigkeit sollten ausreichend sein, um die An-
tes und seine Allokationskräfte, die unterstellte Rationalität    fälligkeit für asymmetrische Schocks, für die Ungleichzeitig-
von Marktprozessen und ihrer Akteure sowie das Vertrau-           keit der Konjunkturzyklen der Mitgliedstaaten, zu bannen.
en auf die Selbstheilungskräfte des Marktes an. Anthony           Der Streit um die Ausgestaltung der WWU zwischen Anhän-
B. Atkinson (2015), Sebastian Dullien et al. (2009) und Paul      gern einer Fiskalunion und Verfechtern einer Stabilitätsunion
Collier (2018) unterbreiten konkrete Vorschläge, wie der          (vgl. hierzu: Brunnermeier et al. 2016 und Hacker/Koch 2017)
transnational entfesselte Kapitalismus besser reguliert und       wurde von jenen gewonnen, die von politischen Regularien
die Gesellschaften vor wachsender Ungleichheit, sozialem          befreite Märkte und die Verhinderung von Inflation als wich-
und politischem Zerfall bewahrt werden können.                    tigste Ziele beschrieben. In dieser Denke brauchte man stren-
                                                                  ge Regeln, um interventionistische Fiskalpolitiken und moral
                                                                  hazard zu verhindern. Daraus wurden die sanktionsbewehr-
2.2 WIRTSCHAFTLICHE UND SOZIALE                                   ten Budgetkriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
UNGLEICHHEIT IN DER EUROPÄISCHEN                                  und die Nicht-Beistandsklausel in den Verträgen. Ein gemein-
UNION                                                             sames Entscheidungsgremium der wirtschaftspolitischen Glo­
                                                                  balsteuerung war in dieser Konzeption undenkbar, schließ-
Auch die Europäische Union blieb von den beschriebenen            lich sollte die Fiskalpolitik weitestmöglich auf Abstand ge‑
Entwicklungen des Anwachsens globaler Ungleichheit nicht          halten und die Geldpolitik primär der Preisstabilität statt der
verschont. Neben dem Friedensnarrativ wurde die europä­           Wachstums- und Beschäftigungsförderung verpflichtet wer-
ische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie      den. Dass der Stabilitätspakt noch das Suffix eines Wachs-
in ökonomischer Absicht auf den Weg gebracht: Zollunion,          tumspaktes im Namen trägt, stellte ein letztes Aufbäumen
gemeinsamer Markt, später die Wirtschafts- und Währungs-          der Konzeption einer Währungsunion nach keynesianischer
union (WWU) dienten der Schaffung eines einheitlichen und         Lesart dar, die jedoch kaum mit Inhalt gefüllt wurde: „The
großen europäischen Marktes. Der Marktschaffung ebenfalls         Maastricht Treaty never supposed that the European Mone-
zugehörig sind auch viele europäische Politiken, die zusätz-      tary Union should include such an insurance scheme. Europe
lich noch anderen Zielen dienten. Dazu zählen die Erweite-        was not intended as an instrument for fiscal solidarity. From
rungsrunden um neue Mitgliedstaaten, die Umsetzung der            a German perspective, such schemes are plagued with moral
Personenfreizügigkeit durch Abschaffung der Binnengren-           hazard“ (Brunnermeier et al. 2016).
zen und Initiativen zur Stärkung der wirtschaftlichen, berufli-
chen und sozialen Entwicklung. Der neue Marktliberalismus,        Ein von Binnensolidarität geprägtes Konvergenzmodell, das
wie er in Kapitel 2.1 skizziert wird, fand seinen Weg in die      sich die Annäherung der Lebensverhältnisse zum Ziel setzt
europäischen Staaten. Als das Binnenmarktprojekt auf die          und im „Schutz gegen Sozialdumping“ eine Maßnahme
Ziel­gerade einbog und mit dem Vertrag von Maastricht die         für die Erhöhung der gemeinsamen europäischen Wettbe-
Schaffung der Eurozone vereinbart wurde, kam es in den            werbsfähigkeit versteht (Europäische Kommission 1994: 13)
folgenden 30 Jahren schrittweise zur Schärfung des Wett­          konnte sich in den Folgejahren nicht durchsetzen. Grund
bewerbsparadigmas. Dazu trugen insbesondere die (2.2.1)           dafür ist die nur kleinteilig vorankommende Ausgestaltung
Vertiefung der konstitutionellen Asymmetrie, die (2.2.2) Aus-     der positiven Integration der Marktgestaltung gegenüber
gestaltung der Politikkoordinierung und (2.2.3) das Manage-       der mit Binnenmarkt und WWU weit vorangeschrittenen
ment der Finanz- und Wirtschafts- sowie der Eurokrise bei.        negativen Integration der Marktschaffung. Diese „konstituti-
Abschließend wird ein Blick auf die (2.2.4) Entwicklung wirt-     onelle Asymmetrie“ (Scharpf 2002) konnte auf Basis der Ver-
schaftlicher und sozialer Ungleichheit in den acht in Kapitel 3   träge weiter ausgebaut werden, indem im Binnenmarkt der
betrachteten Länder geworfen.                                     Europäische Gerichtshof die bestehenden Freiheiten des Wa-
                                                                  ren- und Dienstleistungsverkehrs, der Arbeitnehmer_innen-
                                                                  und der Kapitalmobilität großzügig interpretierte (Grimm
2.2.1 VERTIEFUNG DER KONSTITUTIONELLEN                            2016). Zudem ignorierten in der WWU die Europäische Kom-
ASYMMETRIE                                                        mission und der Rat den Mangel eines fiskalpolitischen
                                                                  Pendants zur Geldpolitik weitgehend und stellten auf die
In der Konzeption der WWU setzte sich mit dem Delors-Plan         Erfüllung budgetärer Regeln und wettbewerbsfördernder
ein ordoliberal und monetaristisch inspiriertes Verständnis       Strukturreformen ab. Auch bedingt durch die Existenz his-
über das Funktionieren einer Währungsunion durch. Anders          torisch gewachsener, schwer miteinander zu vereinbaren-
als noch im keynesianistisch inspirierten Werner-Plan der         den Welten des Wohlfahrtskapitalismus (grundlegend dazu:
1970er Jahre plante man nun nicht mehr mit fiskalpolitischen      Esping-Andersen 1990 und Hall/Soskice 2001) flüchteten
Ungleichheit als europäisches Phänomen                                                                                         11

sich die Mitgliedstaaten in das Festhalten an nationaler Sou-    Vordergrund, sondern die Anpassung der nationalen Wohl-
veränität (Becker 2015: 10), anstatt sich auf neue regulative    fahrtsstaaten an eine für gut befundene marktliberale globa-
Instrumente und Verfahren zur Gestaltung der positiven In-       le Umgebung. Vorteilhaft zur Durchsetzung der Zielvorstel-
tegration zu verständigen.                                       lungen von finanzieller Nachhaltigkeit und Strukturreformen
                                                                 war, dass sich die Finanzminister der Mitgliedstaaten über
                                                                 den immer mächtiger werdenden ECOFIN-Rat der Wirt-
 2.2.2 AUSGESTALTUNG DER                                         schafts- und Finanzminister zeitig zu den maßgeblichen Ent-
­POLITIKKOORDINIERUNG                                            scheidern in den Koordinierungszyklen machten (De la Porte
                                                                 2013: 412). Nicht nur nationale Haushaltspolitiken, sondern
Mitte der 1990er Jahre kam man auf die Idee, die faits ac-       auch Reformbedarfe von Rentensystemen und Arbeitsmärk-
complis der Markt- und Währungsintegration souveränitäts-        ten wurden hier mit budgetpolitischer Brille verhandelt. Die
schonend zu rahmen durch zwischen den Mitgliedstaaten            an die Mitgliedstaaten zurückgespielten Reformempfehlun-
abgestimmte Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpoliti-      gen betonten entsprechend individuelle Flexibilität und Mo-
ken. Künftig sollte soft Governance dazu beitragen, den Gra-     bilität im Job, privates Rentensparen, lebenslanges Lernen
ben zwischen marktschaffender und marktgestaltender Inte-        und niedrige Steuern bei beschnittenen Investitionen in die
gration zu überbrücken.                                          öffentliche Infrastruktur und gekürzten Sozialleistungen auf-
                                                                 grund der Priorisierung ausgeglichener Staatshaushalte und
Zu den frühen Anwendungsfeldern der neuen weichen Steu-          der Betonung von Bürgerpflichten im Wohlfahrtsstaat. Dies
erung zählen die 1994 begonnene Koordinierung der Be-            stellten in etwa die Eckpunkte dessen dar, was Anthony Gid-
schäftigungspolitiken, der 1996 geschlossene Stabilitäts- und    dens (2006: 12f.) und die Anhänger des sogenannten Dritten
Wachstumspakt und der Makroökonomische Dialog ab                 Wegs das „erneuerte Europäische Sozialmodell“ nannten.
1999. Erst mit der Jahrhundertwende wird die neue Form
der Governance umfassend institutionalisiert im Rahmen der
Offenen Methode der Koordinierung (OMK) als Bestandteil          2.2.3 MANAGEMENT DER FINANZ- UND
der im Jahr 2000 verabschiedeten Lissabon-Strategie der EU.      WIRTSCHAFTS- SOWIE DER EUROKRISE
Doch die „Behelfsbrücke“ (Hacker 2020) der Politikkoordi-
nierung zwischen dem normativen Anspruch an gemeinsa-            Die Kulmination der Orientierung an Strukturreformen und
me Politiken und der in den Hauptstädten der Mitgliedstaa-       Budgetrestriktionen erfolgte nach der globalen Finanz- und
ten verbleibenden Zuständigkeiten erwies sich als wackelige      Wirtschaftskrise von 2009, als das – ökonomisch zweifelsfrei
Angelegenheit. Das voluntaristische Politiklernen über natio-    sinnvolle – keynesianische Krisenmanagement vorschnell für
nale Grenzen hinweg hat sich dort als stark und disziplinie-     beendet erklärt wurde. Gemeinschaftsinstrumente zur Im-
rend erwiesen, wo die vertragliche Integration am weitesten      munisierung der WWU gegen künftige Finanzkrisen – Frank-
gediehen ist: Im Bereich der budgetären Regelsetzung über        reich schlug eine Bankenunion vor – wurden von den Ver­
den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Ohne quantitative Vor-       teidigern des in Maastricht beschlossenen Modells einer
gaben mit Vertragsrang – wie das öffentliche Defizit- und Ver-   Sta­bilitätsunion als modellfremde Instrumente abgelehnt.
schuldungsziel – und der Abwesenheit von Sanktionen – wie        Deutschland tat sich in den folgenden Jahren besonders her-
der Eröffnung eines Defizitverfahrens, an dessen Ende finan-     vor als Fürsprecher strenger Budgetkriterien und Struktur­
zielle Strafen stehen können – funktionierte das angedachte      reformen. Nachdem man im eigenen Land mittels umfas­
„naming und shaming“ des grenzüberschreitenden System-           sender Konjunkturpakete, Bankenrettungsprogramme und
vergleichs nur punktuell.                                        Dank einer gut funktionierenden Sozialpartnerschaft die gro-
                                                                 ße Wirtschaftskrise schnell hinter sich lassen konnte, wurde
Zeitig warnten Kritiker_innen vor der Illusion einer so zu er-   jenen Staaten wenig Verständnis entgegengebracht, die
reichenden Balance zwischen marktschaffender und markt-          auch 2010 noch hohe Defizite und wachsende Schulden-
gestaltender Integration. Ganz im Gegenteil würde die Poli-      stände aufwiesen.
tikkoordinierung zum trojanischen Pferd marktliberaler Wett‑
bewerbsvorstellungen bis in die innersten Bereiche national      Während der systemische Charakter der beginnenden Euro-
verantworteter Wirtschafts- und Sozialpolitik werden (vgl.       krise vielen Ökonom_innen bewusst und auch von vielen
Scharpf 2002; Offe 2003). Und in der Tat zeigte sich bald,       Regierungen und den Vertreter_innen der europäischen Ins-
wie alle zur Koordinierung freigegebenen Politiken schnell       titutionen verstanden wurde, gelang es nicht, das Narrativ
in die Abhängigkeit zu besser integrierten Bereichen gerie-      der angeblichen Schuldenkrise als nur einen kleinen Teil der
ten. Den Protagonisten des Wettbewerbsparadigmas kam             Wahrheit zu entlarven. Man hätte angesichts der in Lohn-
das vorhandene europäische Setting der weit entwickelten         stückkosten und Leistungsbilanzsalden messbaren divergen­
Marktintegration, der in der WWU inhärenten Konkurrenz-          ten Wirtschaftsentwicklungen und der „one size fits none“-
denke zwischen den Wohlfahrtsstaaten (vgl. Kapitel 2.2.1)        Leitzinspolitik der Europäischen Zentralbank die Chance nut-
und das Instrument der Priorisierung bestimmter politischer      zen können, um die in Maastricht versäumten Elemente in
Ziele über die neuen Governancestrukturen zupass. Mit Hilfe      das Regelwerk der WWU zu integrieren, sie gemäß dem Mo-
der Koordinierungszyklen konnten Reformkonzepte für Fle-         dell einer Fiskalunion weiter zu entwickeln (vgl. Kapitel 2.2.1).
xibilisierungen, Deregulierungen und Privatisierungen quer       Doch nachdem man an Griechenland – dem einzigen Lang-
durch die Mitgliedstaaten diffundieren. Plötzlich standen        zeit-Problemfall der budgetären Nachhaltigkeit – ein Exempel
nicht mehr gemeinsam identifizierte wirtschaftliche und so-      der Austerität zu statuieren bereit war, stülpte das Euro-Ret-
ziale Ziele als Eckpfeiler eines Europäischen Sozialmodells im   tungsmanagement dieses halbgare Konzept über alle Krisen-
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA                                                                                                                                                 12

staaten (vgl. Hacker/Koch 2017). Im Rückblick avancierte                                        2.2.4 ENTWICKLUNG WIRTSCHAFTLICHER
Deutschland – obwohl das Land als eines der ersten den Sta-                                     UND SOZIALER UNGLEICHHEIT
bilitätspakt 2002 brach – plötzlich zum Musterschüler der
Währungsunion: Der wettbewerbsfördernde Charakter der                                           Betrachtet man das Einkommen pro Kopf in den acht hier im
2003 auf den Weg gebrachten Agenda 2010 mit ihrer Aus-                                          Fokus stehenden Ländern nach Kaufkraftstandards (KKS)
weitung des Niedriglohnsektors und reduzierten Sozialleis-                                      und setzt es ins Verhältnis zum europäischen Durchschnitt
tungsansprüchen, die Exportorientierung mithilfe lohnpoliti-                                    (EU 27 2020 = 100), dann zeigt sich für das letzte Jahr vor
scher Stagnation und die 2009 in das Grundgesetz aufge‑                                         Beginn der Coronakrise eine Spaltung (vgl. Grafik 1) in vier
nommene Schuldenbremse wurden über die makroökono-                                              überdurchschnittlich reiche (Deutschland, Schweden, Finn-
mischen Anpassungsprogramme der Rettungsschirme von                                             land und Frankreich) und vier unterdurchschnittlich reiche,
der Troika allen Krisenstaaten im Gegenzug für dringend be-                                     also relativ arme Länder (Rumänien, Estland, Spanien und
nötigte Kreditlinien zur Nachahmung oktroyiert.                                                 Italien).

Es hat nicht an alternativen Plänen gefehlt, zeitig entwickelte                                 Dies allerdings war nicht immer so. Italien und Spanien ge-
insbesondere die Kommission Reformfahrpläne, die weit über                                      hörten vor Beginn der Krisendekade zur Ländergruppe, die
die Stabilitätsorientierung hinausreichten. Doch bis auf die                                    reicher ist als der Durchschnitt der EU. In Tabelle 1 wird sicht-
Bankenunion ist keines der Konzepte einer tieferen fiskali-                                     bar, wie beide Länder relativ zum EU-Mittel zurückgeworfen
schen Integration – Eurobonds, europäische Arbeitslosenver-
sicherung, Fiskalkapazität, Europäische Wirtschaftsregierung                                         Tabelle 1
– verwirklicht worden (vgl. etwa: Europäische Kommission                                             BIP pro Kopf in KKS, ausgewählte Länder und Jahre,
                                                                                                     EU-27 2020 = 100.
2012). Erst 2015 konnte die Kommission die Austeritätspolitik
mildern, die Anwendung des Stabilitätspakts flexibilisieren
                                                                                                                                            2008                 2013                2019
und die Aufmerksamkeit auf die sozialen Folgen der Krisen-
jahre lenken. Hieraus wurde 2017 die ESSR, deren Herkunft                                             Schweden                                 129                 129                 119
aus den sozialen Verwerfungen der Eurokrise in ihrer Präam-
                                                                                                      Finnland                                 123                 115                  111
bel nicht verschwiegen wird (vgl. Hacker 2019). An die sozia-
len Ziele der Union zu erinnern wurde nötig angesichts der                                            Deutschland                              118                 125                 120
sich einstellenden Ergebnisse der Austeritätspolitik: Die Pro-                                        Frankreich                               108                 110                 106
zyklik des Krisenmanagements vertiefte die Wirtschaftskrise
durch die kupierte Nachfrage in den betroffenen Ländern.                                              Italien                                  108                100                    96
Statt ökonomischer Erholung sank die Wirtschaftsleistung                                              Spanien                                  102                  90                   91
infolge ausbleibender Investitionen, Mindestlohnsenkungen
und Rentenkürzungen. Die Lockerung des Kündigungsschut-                                               Estland                                   70                   77                  84

zes, die Durchlöcherung der Tariflandschaft und umfangrei-                                            Rumänien                                  52                   55                  70
che Privatisierungen staatlicher Unternehmen führten zur
Stagnation der Lohnentwicklung und Massenarbeitslosig-                                               Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/tec00114/default /bar?lang=en.
keit.

   Grafik 1
   BIP pro Kopf in KKS, ausgewählte Länder 2019, EU-27 2020 = 100

   Deutschland                                                                                                                                                                         120

   Schweden                                                                                                                                                                          119

   Finnland                                                                                                                                                               111

   Frankreich                                                                                                                                                      106

   EU-27                                                                                                                                                   100

   Italien                                                                                                                                            96

   Spanien                                                                                                                                     91

   Estland                                                                                                                          84

   Rumänien                                                                                                    69

                      0       5     10     15     20     25     30      35     40     45   50   55    60     65     70     75     80      85     90     95 100 105 110 115 120

  Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/tec00114/default /bar?lang=en.
Ungleichheit als europäisches Phänomen                                                                                                                                                                  13

   Grafik 2
   s80/s20-Quote, ausgewählte Länder 2019

   Rumänien                                                                                                                                                                             7,08

   Italien                                                                                                                                                     6,01

   Spanien                                                                                                                                                    5,94

   Estland                                                                                                                              5,08

   EU-27                                                                                                                              4,99

   Deutschland                                                                                                                     4,89

   Schweden                                                                                                           4,33

   Frankreich                                                                                                        4,27

   Finnland                                                                                            3,69

                        0,25         0,75       1,25         1,75       2,25         2,75       3,25         3,75        4,25         4,75       5,25         5,75       6,25         6,75        7,25
                   0           0,5          1          1,5          2          2,5          3          3,5           4          4,5          5          5,5          6          6,5          7

   Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/tespm151/default /bar?lang=en.

wurden auf 96 Prozent (IT) bzw. 91 Prozent (ES) des BIP pro                                                  Tabelle 2
                                                                                                             s80/s20-Quote, ausgewählte Länder und Jahre
Kopf – ein direktes Ergebnis der lange wirkenden Eurokrise
und ihres Managements (vgl. Kapitel 2.2.3). Dagegen hat
                                                                                                                                                    2009                 2015                2019
Frankreich seine Position in der Gruppe der reichen Mitglied-
staaten halten können (106 Prozent des BIP pro Kopf 2019).                                                    Finnland                                3,71               3,56                 3,69
Rumänien (70 Prozent) und Estland (84 Prozent) als aufho-
                                                                                                              Frankreich                             4,42                4,29                    4,27
lende Ökonomien nähern sich im betrachteten Zeitraum
deut­lich dem EU-Mittel an. Für Schweden (119 Prozent) und                                                    Schweden                               3,96                4,06                 4,33
Finnland (111 Prozent) sinkt das Einkommen pro Kopf rela-                                                     Deutschland                            4,48                4,80                 4,89
tiv zum EU-Durchschnitt von 2008, für Schweden allerdings
erst nach 2015. Durch diesen Effekt gelingt Deutschland (120                                                  Estland                                 5,01                6,21                5,08
Prozent) die Besetzung der Spitzenposition als reichstes hier                                                 Spanien                                5,87                 6,87                5,94
betrachtetes Land seit 2016.
                                                                                                              Italien                                 5,31               5,84                    6,01

Analysiert man die Ungleichheit innerhalb der Mitgliedstaa-                                                   Rumänien                               6,53                 8,32                7,08
ten, zeigen sich ebenfalls große Unterschiede in der Einkom-
mensverteilung. Grafik 2 zeigt die s80/s20-Quote, indem die                                                  Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/tespm151/default /bar?lang=en.
einzelnen Bevölkerungen in Quintile aufgeteilt werden und
für das Jahr 2019 das Verhältnis des Gesamteinkommens von
20 Prozent der Bevölkerung mit dem höchsten Einkommen                                                  gleichheiten aufzeigenden Ländern. Dagegen ist in den bei-
(oberstes Quintil) zum Gesamteinkommen von 20 Prozent                                                  den osteuropäischen Staaten die Einkommensungleichheit
der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen (unterstes                                               zwischen 2009 und 2014/15 stark angestiegen, um dann in
Quintil) angegeben wird. Für die hier betrachteten Staaten                                             den Folgejahren wieder weitgehend zurückzugehen. Ange-
fällt eine Dreiteilung um den EU-Durchschnitt ins Auge. Im                                             stiegen ist die Einkommensungleichheit auch in Italien und
Mittel aller EU-27-Staaten ist das verfügbare Einkommen des                                            Spanien in der betrachteten Dekade, wobei nur Spanien ab
obersten Quintils knapp fünfmal so hoch wie das verfügbare                                             2016 eine schrittweise Reduzierung in die Nähe der Werte
Einkommen des untersten Quintils – in der Nähe befinden                                                von 2009 gelingt.2
sich Deutschland (4,89) und Estland (5,08). Mit Abstand ge-
ringere Ungleichheiten innerhalb ihrer Gesellschaften weisen                                           Wie erfolgreich war die EU in der letzten Dekade bei der
Schweden (4,33), Frankreich (4,27) und vor allem Finnland                                              Bekämpfung des Risikos von Armut und sozialer Exklusion?
(3,69) auf. Dagegen ist das Einkommensgefälle stärker aus-                                             Der entsprechende Indikator enthält alle Menschen, die un-
geprägt in Spanien (5,94), Italien (6,01) und Rumänien, wo                                             ter die Armutsgrenze von 60 Prozent des jeweiligen nationa-
das oberste Quintil im Durchschnitt etwa siebenmal (7,08) so
viel verdient wie das unterste Quintil.
                                                                                                       2 Vgl. auch die alternative Berechnung der Quintilverhältnisse bei
                                                                                                       ­Dauderstädt 2021, nach denen sich durch die Eurokrise eine lange
Im Zeitverlauf (vgl. Tabelle 2) zeigen sich seit 2009 relativ ge-                                       ­Stagnationsphase in der Reduktion der Ungleichheit zwischen 2011
ringe Veränderungen in den 2019 unterdurchschnittlich Un-                                                und 2017 ausmachen lässt.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA                                                                                                                                                  14

   Grafik 3
   Risiko von Armut oder sozialer Exklusion in Prozent, EU & Eurozone

  25,5
  25                                                                      24,8
                                                                                         24,6
                                                            24,3                                  24,4
  24,5
  24                                          23,8                                                            23,8
                 23,7
                               23,3                                                                                         23,5
  23,5
                                                                                                  23,5
  23                                                                      23,3
                                                                                         23,1                 23,1        23,1
                                                              22,9                                                                           22,4
  22,5
                                                                                                                                                         21,8
  22
                                               22,0                                                                                        22,1                         21,4
  21,5            21,7          21,6                                                                                                                   21,6
  21
                                                                                                                                                                  20,8
  20,5
                2008           2009          2010           2011          2012          2013     2014         2015          2016          2017          2018           2019

                     Eurozone – 19 Länder (von 2015)                                    Europäische Union

   Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/t2020_50/default /line?lang=en.

len Medianeinkommens nach Sozialtransfers fallen, oder un-                                          Tabelle 3
ter schwerer materieller Deprivation leiden oder in Haushal‑                                        Risiko von Armut oder sozialer Exklusion in Prozent der
                                                                                                    ­Bevölkerung, ausgewählte Länder und Jahre
ten mit sehr geringer Arbeitsintensität leben. Die EU hatte in
der Europa 2020-Strategie 2010 das Ziel ausgegeben, insge-
                                                                                                                                        2009           2012          2016          2019
samt 20 Millionen Menschen vom Risiko der Armut oder so-
zialer Exklusion zu befreien. Erreicht hat sie zwischen 2008                                         Finnland                             16,9          17,2          16,6           15,6
und 2019 die Reduktion um knapp die Hälfte des ursprüngli-
                                                                                                     Deutschland                          20,0          19,6           19,7          17,4
chen Plans. Dies hängt mit einem starken Anstieg (vgl. Grafik
3) der Gefährdungsquoten in den Wirtschaftskrisen von 23,3                                           Frankreich                           18,5           19,1         18,2           17,9
Prozent 2009 auf 24,8 Prozent 2012 zusammen sowie in der                                             Schweden                             17,8           17,7         18,3          18,8
anschließend nur sehr langsam sinkenden Rate. In der WWU
kommt es dagegen aufgrund der Eurokrise nach dem An-                                                 Europäische Union                    23,3          24,8          23,5           21,4
stieg von 2009 bis 2011 zu einer langen Phase der Stagnati­                                          Estland                              23,4          23,4          24,4          24,3
on auf hohem Niveau. Hier gelingt zwischen 2008 und 2019
kumulativ nur für knapp zwei Millionen Menschen die Her-                                             Spanien                              24,7          27,2           27,9         25,3
ausführung aus dem Risiko. Seit 2016 ist eine deutliche Re­                                          Italien                              24,9          29,9          30,0          25,6
duzierung zu beobachten, die mit den oben besproche‑
nen Wachstumsraten des Einkommens korrespondiert. Dann                                               Rumänien                             43,0          43,2          38,8           31,2

kann die EU das Vorkrisenniveau wieder erreichen; in der
                                                                                                    Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/t2020_50/default /table?lang=en.
Eurozone ist dies erst 2018 möglich.

In der vergleichenden Perspektive des Risikos der Armut oder                                     Dagegen ist in Spanien und Italien ab 2009/10 ein deutlicher
der sozialen Ausgrenzung, nun gemessen am Erfolg der Ar-                                         Anstieg der Armuts- und Exklusionsgefahr zu konstatieren,
mutsreduzierung seit 2008, zeigt sich für 2019 eine bekann-                                      der erst spät wieder reduziert werden kann. Italien erreicht
te Verteilung: Die süd- und osteuropäischen Staaten liegen                                       dabei 2019 erstmals wieder seinen Vorkrisenwert, Spanien
oberhalb des EU-Durchschnitts, die skandinavischen Länder                                        ist dies bislang noch nicht gelungen; kumulativ sind hier seit
sowie Deutschland und Frankreich darunter (vgl. Tabelle 3).                                      2008 fast eine Million Menschen zusätzlich vom Risiko be-
Während die Veränderungen über die Zeit in der unterdurch-                                       troffen. Kaum mehr als fünf Prozentpunkte trennen in der
schnittlich, also mit relativ geringen Gefährdungsquoten ab-                                     relativen Betrachtung diese beiden südeuropäischen Staaten
schneidenden Ländergruppe kleinteilig sind (wobei zumin-                                         noch von Rumänien. Estland – im Betrachtungszeitraum stets
dest Deutschland eine Reduktion um 2,2 Prozentpunkte                                             besser aufgestellt als Italien und Spanien – erlebt bis 2014
zwischen 2012 und 2019 gelingt), sind die Entwicklungen                                          einen Anstieg der Gefährdungsquote, den es nur in Teilen
der anderen vier Länder bemerkenswerter: Rumänien holt                                           wieder abbauen kann; seit damals bleibt es auf der Seite der
mit großen Schritten auf – seit der Mitgliedschaft in der EU                                     in der EU überdurchschnittlich betroffenen Staaten.
2007 ist die Gefährdungsquote von ursprünglich 47 Prozent
um fast 16 Punkte auf 31,2 Prozent gefallen; etwa drei Milli-
onen Menschen wurden aus dem Risiko geholt.
Ungleichheit als europäisches Phänomen                                                                                          15

2.3 TERRITORIALE UNGLEICHHEIT IN                                    klassische Kategorisierung nach weniger entwickelten Regi-
DER EUROPÄISCHEN UNION                                              onen (bis zu 75 Prozent des BIP-Durchschnitts der Gemein-
                                                                    schaft), Übergangsregionen (zwischen 75 und 90 Prozent
Schon früh haben sich der mit der Europäischen Wirtschafts-         des BIP) und stärker entwickelte Regionen (über 90 Prozent
gemeinschaft (EWG) geschaffene Europäische Sozialfonds              des BIP) in ESF und EFRE wurden nach der Erweiterung um
(ESF) und die Europäische Investitionsbank (EIB) der Beseiti-       Schweden und Finnland 1995 Regionen in äußerster Rand-
gung regionaler Ungleichheit verschrieben. Der EWG-Ver-             lage berücksichtigt. Schon im Zuge der Verhandlungen des
trag erwähnt in seiner Präambel das Ziel der sechs Gründer-         Vertrags von Maastricht ist mit dem Kohäsionsfonds eine
staaten, „ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren har‑­         neue Quelle der Regionalförderung eingeführt worden.
monische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand              Nach der Osterweiterung der EU entfielen im Mehrjährigen
zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger               Finanzrahmen (MFR) 2007 bis 2013 mit 35,7 Prozent des
begünstigter Gebiete verringern“. Die Regionalpolitiken und         europäischen Gesamthaushalts so viele Mittel wie nie zuvor
Strukturpolitiken sowie weitere territorial wirkende Program-       auf die Politiken zur Förderung der Kohäsion in der Gemein-
me der EU, hier zusammenfassend als Kohäsionspolitik be-            schaft (Hartwig 2020: 551).
zeichnet, haben sich über die Zeit stark verändert. Nach
wichtigen Wegmarken der (2.3.1) Reformen der Kohäsions-             Während die Vorteile der Kohäsionspolitik für die beigetrete-
politik ist nach der faktischen (2.3.2) Entwicklung territorialer   nen Staaten Irland, Spanien und Portugal in ihrer nach- und
Ungleichheit in den acht in Kapitel 3 betrachteten Ländern zu       aufholenden Wirtschaftsentwicklung in Richtung des euro-
fragen.                                                             päischen Durchschnitts bis zur Eurokrise messbar wurden
                                                                    und als Erfolgsgeschichten gelten, drehte sich die Debatte
                                                                    zur Förderung regionaler Entwicklung markant nach der
2.3.1 REFORMEN DER KOHÄSIONSPOLITIK                                 größten Erweiterungsrunde um 13 neue Mitgliedstaaten
                                                                    2004, 2007 und 2013. Auch wenn deren Konvergenzstreben
Der Wunsch nach Erzielung sozioökonomischer Kohäsion                für das BIP pro Kopf in der Summe als positiv verlaufende
wuchs parallel zur Marktintegration und den Erweiterungen           Entwicklung beschrieben werden kann (Dauderstädt 2014:
der Gemeinschaft. Nachdem die Disparitäten sich durch Auf-          14f.), stellen die sozioökonomischen Differenzen zwischen
nahme Irlands, Großbritanniens und Dänemarks vergrößer-             alten und neuen Mitgliedstaaten eine erhebliche Herausfor-
ten, erfolgte 1975 mit dem Europäischen Fonds für regionale         derung für die Schaffung der seit dem Vertrag von Maastricht
Entwicklung (EFRE) der Start einer eigenen supranationalen          zur Zielbestimmung erhobenen Förderung des wirtschaftli-
Regionalpolitik. Doch erst nach der Süderweiterung um Grie-         chen, sozialen und territorialen Zusammenhalts der Union
chenland, Spanien und Portugal und der Verknüpfung mit              (Art.3 (3) EUV) dar. Neue finanzielle Verteilungskonflikte zwi-
dem Binnenmarktprojekt Ende der 1980er Jahre gewann die             schen Ländern und Ländergruppen bei – insbesondere nach
Kohäsionspolitik (oft auch als Struktur- und/oder Regional­         dem Beitritt der zwei großen in vielen wirtschaftlichen und
politik bezeichnet) an Kontur. Dazu trugen insbesondere der         sozialen Indikatoren weit abgeschlagenen Staaten Bulgari­
Übergang von maßnahmenorientierten Unterstützungspoli-              en und Rumänien – gewachsener Ungleichheit in der Union
tiken zur bis heute praktizierten Struktur mehrjähriger För-        führten zusammen mit den Erfahrungen der Finanz- sowie
derprogramme und die deutliche Erhöhung der bereitgestell-          der Eurokrise zu einer signifikanten Neuausrichtung der Ko­
ten Finanzmittel bei (Becker 2020a: 874).                           häsionspolitik 2013.

Unter den sechs Gründerstaaten der EGKS herrschte – ab-             Diese Reform – John Bachtler et al. (2017: 1) sprechen von
seits des italienischen Mezzogiorno (vgl. Fina/Heider/Prota         dem „most significant and substantial set of regulatory
2021: 5f.) – noch weitgehende Homogenität ökonomischer              changes“ seit den Neuerungen im Zuge der EEA – setzte ein
und sozialer Indikatoren. Erst mit dem Beitritt der relativ är­     Streamlining der regionalen Politiken mit Zielen der europä-
meren Länder Irland, Griechenland, Spanien und Portugal in          ischen Wirtschaftsgovernance durch. Die oben erwähnten
den 1970er und 1980er Jahren wuchs der Bedarf einer eige-           Zielbestimmungen der Verträge gelten fort, deren Anspruch
nen Kohäsionspolitik der EU erheblich. Nach Einschätzung            an mehr Zusammenhalt wird jedoch ergänzt durch Ziele des
Peter Beckers (2020a: 876f.) erhielt die Etablierung supra­         Wachstums, der Wettbewerbsfähigkeit, der Effektivität und
nationaler Struktur- und Regionalpolitiken maßgebliche Im-          Budgetierung. Seit der Förderperiode ab 2014 gelten die
pulse, da ein Ausgleich für nationale Interessengegensätze          Prioritäten der Zehnjahreswachstumsstrategie Europa 2020,
gesucht wurde. Dabei ging es spätestens seit den Verhand-           nach deren Auslaufen die Bestimmungen des integrativen
lungen um die Vollendung des Binnenmarktes in der Einheit-          Politikkoordinierungszyklus Europäisches Semester für alle
lichen Europäischen Akte (EEA) Ende der 1980er Jahre in-            Verästelungen der Kohäsionspolitiken. Neu eingeführte Kon-
nerhalb der EWG einerseits um Unterstützungsleistungen              ditionalitäten binden die Auszahlung von Geldern an die Er-
für arme Neumitglieder, die befürchteten, von der Integra­          füllung von teilweise fachfremden Performanzleistungen der
tionsvertiefung abgekoppelt zu werden. Andererseits ging            Mitgliedstaaten in der Wirtschaftspolitik. Die Kontrolle der
es um Kompensationen für reiche Neumitglieder, die einen            Verwendung der Fördermittel wurde erhöht und das erfor-
Anteil ihrer Nettozahlungen in das EU-Budget über die In­           derliche Antrags- und Berichtswesen neu aufgesetzt. Becker
strumente der Kohäsionspolitik zurückerwarteten. In den             (2020a: 875) konstatiert: „Die europäischen Strukturfonds
nächsten Erweiterungsrunden wuchsen entsprechend die-               traten nun in den Dienst einer engeren wirtschaftspolitischen
ses Schemas die benötigten Fonds und Förderziele ebenso             Koordinierung und sollten für die Erreichung der gemeinsa-
an wie die Fördermittel für bestimmte Regionen. Neben die           men wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Ziele und
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