Ungleiches Europa Regionale Disparitäten in der EU überwinden - Björn Hacker - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
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FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA Europa braucht Soziale Demokratie! In welchem Europa wollen wir leben? Wie können wir unsere europäischen Träu- me von Freiheit, Frieden und Demokratie auch gegen innere und äußere Wider- stände verwirklichen? Wie können wir die Soziale Demokratie stark in Europa po- sitionieren? Diesen Fragen widmet sich die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrer Reihe »Politik für Europa«. Wir zeigen, dass die europäische Integration demokratisch, wirtschaftlich sozial und außenpolitisch zuverlässig gestaltet werden kann und muss! Folgende Themenbereiche stehen dabei im Mittelpunkt: – Demokratisches Europa – Sozial-ökologische Transformation – Zukunft der Arbeit – Frieden und Sicherheit In Veröffentlichungen und Veranstaltungen greifen wir diese Themen auf. Wir geben Impulse und beraten Entscheidungsträger_innen aus Politik und Gewerk- schaften. Wir treiben die Debatte zur Zukunft Europas voran und legen konkrete Vorschläge zur Gestaltung der zentralen Politikfelder vor. Wir wollen diese Debatte mit Ihnen führen in unserer Reihe »Politik für Europa«! Über diese Publikation Quer über den Kontinent ist eine doppelte soziale und räumliche Polarisierung zwischen wirtschaftlich entwickelten Zentren und peripheren Regionen entstan- den, die sich in jeweils eigenen Zyklen in ihrer Entwicklung nach unten oder oben bestärken. Externe Faktoren wie struktureller Wandel, die Globalisierung oder schwere Wirtschaftskrisen befeuern die Divergenzen. Nötig ist der Wandel vom Wettbewerbs- und Wachstumsparadigma hin zu einer auf gleichwertige Lebens- verhältnisse abzielenden integrierten europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik als Schutzfilter gegen globale Herausforderungen wie Pandemien oder den Klima wandel. Über den Autor Dr. Björn Hacker ist Professor für europäische Wirtschaftspolitik an der Hoch- schule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin. Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Dr. Philipp Fink, Direktor des FES-Büros für die Nordischen Länder. Mit finanzieller Unterstützung des Europäischen Parlaments. Dieser Bericht gibt nicht die Danksagungen Meinung des Europäischen Der Autor möchte allen beteiligten Autoren der acht Länderstudien und den Kol- Parlaments wieder. leg_innen der FES und FEPS für ihre hilfreichen Kommentare und Hinweise herz- lich danken. Weiterführende Informationen und Materialien zum Projekt finden Sie auf folgen- der Internetseite https://www.fes.de/politik-fuer-europa/ungleiches-europa
Björn Hacker Ungleiches Europa Regionale Disparitäten in der EU überwinden VORWORT 4 EXECUTIVE SUMMARY 6 1 EINLEITUNG 7 2 UNGLEICHHEIT ALS EUROPÄISCHES PHÄNOMEN 9 2.1 Zunahme globaler Ungleichheit 9 2.2 Wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in der Europäischen Union 10 2.2.1 Vertiefung der konstitutionellen Asymmetrie 10 2.2.2 Ausgestaltung der Politikkoordinierung 11 2.2.3 Management der Finanz- und Wirtschafts- sowie der Eurokrise 11 2.2.4 Entwicklung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit 12 2.3 Territoriale Ungleichheit in der Europäischen Union 15 2.3.1 Reformen der Kohäsionspolitik 15 2.3.2 Entwicklung territorialer Ungleichheit 16 2.4 Zwischenfazit: Schwache Sozialstandards und unterbrochene Aufholprozesse 19 3 REGIONALE DISPARITÄTEN IM VERGLEICH 21 3.1 Ergebnisse der Länderstudien 21 3.1.1 Regionale Disparitäten in Deutschland 21 3.1.2 Regionale Disparitäten in Estland 22 3.1.3 Regionale Disparitäten in Spanien 24 3.1.4 Regionale Disparitäten in Finnland 25 3.1.5 Regionale Disparitäten in Frankreich 26 3.1.6 Regionale Disparitäten in Italien 28 3.1.7 Regionale Disparitäten in Rumänien 29 3.1.8 Regionale Disparitäten in Schweden 31 3.2 Muster der interregionalen Disparitäten 33 3.2.1 Strukturwandel und Einflussfaktoren 33 3.2.2 Gegensatz zwischen wirtschaftlich entwickelten Zentren und peripheren Regionen 34 3.2.3 Identifikation von Entwicklungszyklen 35 >>
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA 2 3.3 Zwischenfazit: Doppelter sozialer und räumlicher Dualismus 37 4 POLITIKEMPFEHLUNGEN 38 4.1 Nationale Maßnahmen zur Überwindung von Disparitäten 39 4.2 Eine neue Rolle der EU als Schutzfilter vor globalen Herausforderungen 40 4.2.1 Konzentration auf Kohäsion statt auf Binnenwettbewerb der Regionen 41 4.2.2 Entwicklung einer integrierten europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik 41 4.2.3 Gemeinsame Bewältigung neuer Herausforderungen 42 5 FAZIT 44 Literatur 46 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 48
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FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA 4 VORWORT Einstmals als „Konvergenzmaschine“ gepriesen, kann die EU inzwischen immer weniger das Verdienst für ein territorial ausgeglichenes Wirtschaftswachstum für sich in Anspruch nehmen. Osteuropäische Volkswirtschaften mit ihren über- durchschnittlichen langfristigen BIP-Wachstumsraten entwi- ckelten große binnenwirtschaftliche Ungleichheiten, trotz enormer Ressourcen aus den EU-Struktur- und Investitions- fonds. Der einst konvergierende Süden der EU hat zur Zeit der Eurokrise ein auffallendes Auseinanderdriften erlebt, das diesen seitdem, besonders während der Pandemie, verfolgt. EU-Mitgliedsstaaten reagierten auf die pandemiebedingte Rezession mit einem beispiellosen Steuerpaket. Wenn der territoriale Zusammenhalt bei den entstehenden Aufbau- und Resilienzplänen jedoch nicht das Topthema wird, wer- den die unterentwickelten Regionen weiterhin stagnieren oder zurückgehen und sich sogar stärker auseinanderent‑ wickeln. Wir sind Zeugen eines besorgniserregenden Teufelskreises, der die Ungleichheiten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und innerhalb der Länder verstärkt. Einerseits weisen die schwachen Regionen immer weniger Industrien und wirt- schaftliche Aktivitäten auf, was eine Abwanderung der Hochqualifizierten zur Folge hat. Dies wiederum führt zu einer Verschlechterung der Bedingungen für die wirtschaftli- che Wiederbelebung und mittelfristig zur Verschlechterung der Infrastruktur und der Investitionen des öffentlichen Diens- tes, mit einem weiteren Verlust von Human- und Nicht-Hu mankapital. Hoch urbanisierte Gebiete sind entstanden, in denen sich die wirtschaftlichen Aktivitäten konzentrieren und die mehr und mehr Menschen anlocken, mit der Folge höherer Lebens- und Wohnkosten sowie stärkerer Umwelt- verschmutzung und einem höheren Risiko sozialer Ausgren- zung. Andererseits werden die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der ländlichen Gebiete und derjenigen, die unter dem industriellen und wirtschaftlichen Niedergang leiden, oft vergessen und weniger sichtbar und weniger häufig dis- kutiert. Kumulative wirtschaftliche Nachteile und soziale Marginalisierung gelangen nur in die Schlagzeilen, wenn wir deren Auswirkungen in den verschiedenen Formen eines populistischen Rückschlags zu spüren bekommen. Die europaweite Untersuchung, die in diesem Band präsen- tiert wird, analysiert elf sozio-ökonomische Indikatoren und Wohlstandsindikatoren in acht EU-Mitgliedsstaaten, wobei Regionen im Hinblick auf sozio-ökonomische Ungleichheiten zusammengefasst werden. (Deutschland, Frankreich, Italien,
Vorwort 5 Spanien, Schweden, Finnland, Estland, Rumänien). Sie zeigt, Aufbau eine aktive Rolle spielt. Die Lebensbedingungen in dass die Vorteile der Einkommensentwicklung und Stellen- den europäischen Randregionen können sich nicht verbes- angebote auf eine zunehmend ungleiche Weise, nicht nur sern und soziale Ungleichheiten nicht verringert werden, innerhalb der Gesellschaftsschichten, sondern auch geogra- wenn es nicht eine neue Strategie zur Bekämpfung des regio fisch, verteilt wurden. Einige der Ungleichheiten innerhalb nalen Gefälles gibt. Die Europäische Union muss hier eine eines Landes sind besser bekannt und sogar sprichwörtlich. entscheidende Rolle spielen. Die EU soll ihren Auftrag für Das Nord-Süd-Gefälle in Italien hat eine lange Tradition, wäh- Wohlstand sowie gute und verbesserte Lebensstandards in rend die Ost-West-Kluft in Deutschland noch nicht so lange allen europäischen Ländern erneut bekräftigen. Erreichen existiert. Die wirtschaftliche Geografie Rumäniens, die durch kann sie die mit einem Policy Mix aus einer ambitionierten das Karpatengebirge mit seiner umgedrehten L-Form stark Sozialagenda und der Koordination von Wirtschaftspolitik, strukturiert wird, überrascht hingegen niemanden. Die Kluft dem Überdenken der Kohäsionspolitik und einer Post-Co- zwischen den Randgebieten und den urbanen Wachstums- vid-19-Aufbaustrategie, die zu einem neuen Wachstumsmo- zentren ist jedoch ein Trend, der alle Länder betrifft. Metro- dell führt, die sich den grünen und digitalen Wandel zu Nut- polregionen mit breit gefächerten wirtschaftlichen Struktu- ze macht. ren haben von dem internen Wettbewerb auf nationaler und europäischer Ebene stärker profitiert als die ländlichen Regi- onen mit ihrem geringen innovativen Potential und den be- LÁSZLÓ ANDOR trächtlichen Hindernissen für den Strukturwandel. Die daraus Generalsekretär resultierenden sozialen und räumlichen Unterschiede führen Foundation for European Progressive Studies in vielen europäischen Ländern zu einer Unzufriedenheit mit den politischen und wirtschaftlichen Systemen. PHILIPP FINK Direktor des FES-Büros für die Nordischen Länder Warum ist das ein europäisches Problem? Erstens weil es mehr oder weniger alle EU-Länder betrifft. Zweitens weil es eine Herausforderung für die Einheit und den Zusammenhalt darstellt, welche im Zentrum des europäischen Projekts ste- hen. Zudem ist dies, und das ist wohl von größerer Bedeu- tung, mit dem EU-Regulierungsrahmen verbunden, der den Auftrag des „territorialen Zusammenhalts“ durch Finanzie- rung erfüllt, jedoch ohne eine echte Strategie zur Bekämp- fung regionaler Unterschiede anzubieten. Die Verantwor- tung, die Entwicklungsstrategien festzulegen, wird an nati‑ onale und regionale Behörden delegiert, und das Ergebnis zeigt, dass dies nicht ausreicht. Territorialer Zusammenhang muss neu überdacht und mit neuen Instrumenten ausgerüs- tet werden. Die Kohäsionspolitik kann beispielsweise nicht wirksam sein, wenn sie von der Verteilung von Steuerein‑ nahmen und -ausgaben abgekoppelt wird. Ausgleichsme- chanismen sollten angepasst und neu konzipiert werden. Sehr wichtig ist, die lokale Ebene durch einen direkten Zugriff auf EU-Haushaltsmittel mit mehr Befugnissen auszustatten. Björn Hackers politische Empfehlungen, die in diesem Bericht dargelegt werden, sind einstimmig: Wegkommen von dem Prinzip des Wettbewerbs zwischen den Regionen, der die schwachen Regionen nie aufholen lässt, und einen Investiti- onsstaat bilden, der in punkto Innovationen und regionalem
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA 6 EXECUTIVE SUMMARY Die Europäische Union wird nicht nur durch soziale und wirt- Diese Studie verwendet einen multi-dimensionalen Ansatz, schaftliche Ungleichheiten zwischen den Mitgliedsstaaten um zu analysieren, wie und wo diese Art der wirtschaftlichen, belastet, eine ähnlich starke sozioökonomische Ungleichheit sozialen und territorialen Ungleichheit in der EU auftritt. Es hat sich auch räumlich innerhalb jedes einzelnen Staates ver- wird hier auf die Studien Bezug genommen, die in Deutsch- festigt. Auf dem ganzen europäischen Kontinent ist eine land, Estland, Spanien, Finnland, Frankreich, Italien, Rumäni- räumliche sozioökonomische Polarisierung zwischen den en und Schweden durchgeführt wurden. Dieser Artikel fasst wirtschaftlich entwickelten Bevölkerungszentren und den die Ergebnisse der einzelnen Länderstudien zusammen, ver- abgelegenen Regionen entstanden. Diese räumlichen Unter- gleicht die Ergebnisse und betrachtet sie vor dem Hinter- schiede werden nicht nur durch externe Faktoren wie Struk- grund des europäischen Mehrebenensystems, wodurch fol- turwandel, Globalisierung oder schwere Wirtschaftskrisen gende Einblicke gewonnen wurden: befeuert, sie sind auch ein Resultat der vorherrschenden Wirtschafts- und Regionalpolitiken. – Bei der Untersuchung der in allen Ländern auf Bezirks- – Auch wenn externe Faktoren wie Strukturwandel und Kommunalebene untersuchten Daten wird deut- und Wirtschaftskrisen zu räumlichen Ungleichheiten lich, dass es ein Muster der sozialen und wirtschaftli- geführt und diese verstärkt haben, sind die Unter- chen Unterschiede gibt, die in räumlichen Disparitäten schiede innerhalb der Regionen vor allem durch eine kumulieren. Große Unterschiede werden in der wirt- seit den 1990ern einseitige Wirtschaftspolitik ver- schaftlichen Struktur, den lokalen Arbeitsmärkten schärft worden. Im Laufe der Zeit florierten Regio- und der sozialen Entwicklung zwischen den zentralen nen mit günstigen Startbedingungen immer stärker Wachstumsregionen und den Randgebieten deutlich. und ließen Regionen mit nachteiligen Startbedingun- Diese Polarisierung zwischen den Bevölkerungszent- gen weit hinter sich. ren und Randgebieten zeigt sich sowohl sozial als auch räumlich. – Das praktizierte wirtschaftliche Entwicklungsmodell der EU funktioniert nur bedingt und steckt in der Kri- – Während die Wachstumspole in und um Metropolen se. Nötig ist die Wandlung des bestehenden Wettbe- in die globalen Wertschöpfungsketten integriert sind, werbs- und Wachstumsparadigmas in ein integrier kämpfen abgelegene Regionen mit dem Struktur- tes europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell, das wandel und der Deindustrialisierung oder sind weit- gleichwertige Lebensbedingungen anstrebt. Ein sol- gehend ländlich und stark von der Landwirtschaft ches Modell würde als Schutzfilter fungieren ange- geprägt. Diese wirtschaftlich isolierten Gebiete sind sichts globaler Herausforderungen wie Pandemien meist auch sozial von höherer Arbeitslosigkeit, einem und Klimawandel sowie der anstehenden industriel- verstärktem Armutsrisiko oder einer alternden Gesell- len Transformationen. schaft betroffen.
Einleitung 7 1 EINLEITUNG Wie und wo zeigt sich wirtschaftliche, soziale und territori- ale Ungleichheit in der Europäischen Union und was kann dagegen unternommen werden? Diese Studie möchte als Teil eines umfassenden paneuropäischen Projekts der Fried- rich-Ebert-Stiftung (FES) und der Foundation for Progressive Studies (FEPS) dieser Frage nachspüren. Dafür wurden in einem ersten Projektschritt Einzelstudien zu regionaler Un- gleichheit in acht Mitgliedstaaten der EU veröffentlicht.1 Hier sollen als zweiter Schritt die Erkenntnisse aus diesen Dispa ritätenberichten zusammenfassend vorgestellt, komparativ betrachtet und die Ergebnisse in den die Länder umgeben- den ökonomischen und politischen Bezugsrahmen des Mehrebenensystems der EU eingeordnet werden. Bewusst wird ein Ansatz gewählt, der neben den klassischen ökono- mischen Kennziffern des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bzw. des BIP pro Kopf auch Beschäftigung und Arbeitsmarkt, Bil- dungs- und Entwicklungschancen, Wohlstand und Gesund- heit, staatliches Handeln und Partizipation sowie Zu- und Abwanderungen berücksichtigt. Die Wirkungen von EU-Politiken auf die Region sind keines- falls mit einer Betrachtung der EU-Kohäsionspolitik abgetan. Deren Einfluss ist in der Summe gewaltig, die Europäische Kommission (2017: 175ff.) gibt in ihrem letzten Kohäsionsbe- richt Investitionen in Höhe von 480 Milliarden Euro im Zeit- raum 2014 bis 2020 an, etwa drei Viertel davon finanziert über die europäischen Förderlinien, der Rest von den Mit- gliedstaaten beigesteuert. Für die vorherige Förderperiode 2007 bis 2013 schätzt sie die positiven Wirkungen auf das BIP der EU auf 3 Prozent. Doch die Kontextualisierung regio- naler Ungleichheit und der EU-Kohäsionspolitik ist wichtig, da bestimmte Entwicklungen vor Ort nur mit Blick auf sich verändernde Umstände, strukturellen Wandel, neue Heraus- forderungen, Krisen und volatile Politikpräferenzen erklärt werden können: „A wide set of structural features of the target regions shape the influence of the policy on regional economic performance. However, the interaction of Cohe- sion Policy with other EU (and non-EU) policies, as well as with political economy dynamics, is also a crucial factor con- ditioning impacts” (Crescenzi/Giuia 2017: 29). Entsprechend soll hier eine mehrdimensionale Aufgabe er- füllt werden, die eine Lücke schließen möchte zwischen Untersuchungen, die entweder allein die regionale, die nati- 1 https://www.fes.de/politik-fuer-europa/ungleiches-europa
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA 8 onale oder die europäische Ebene bzw. einen zu engen heit in der EU in vergleichender Perspektive genähert, wobei Fokus auf die Kohäsionspolitik als Gegenstand haben. Na aggregierte, länderbezogene und regionale Perspektiven türlich stellt sich ein Grundproblem von zur Verfügung ste- eingenommen werden (Kapitel 2). Daran anschließend wird henden Daten, die hinreichend detailliert aufbereitet sind, die Betrachtungsebene vertieft, indem wesentliche Ergebnis- ebenso wie die Frage ihrer Vergleichbarkeit. Diese ist oft se der acht Länderstudien zu regionalen Disparitäten vorge- nicht gegeben, da für gleiche Themenkategorien je nach stellt und auf Ähnlichkeiten und Muster untersucht werden nationaler Situation unterschiedliche Indikatoren herangezo- (Kapitel 3). Aus den gewonnenen Erkenntnissen werden in gen werden müssen. Um ein Beispiel zu nennen: Infrastruk- der Folge politische Handlungsempfehlungen zur Überwin- turelle Entwicklung lässt sich etwa in Finnland gut anhand dung regionaler Disparitäten formuliert (Kapitel 4). der Verfügbarkeit schnellen Internets in den Haushalten messen; in Rumänien ist der Anschluss der Haushalte an die öffentliche Wasserversorgung ein besserer Indikator. Anders als die EU es in ihren Kohäsionsberichten praktiziert, werden hier also zur Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Unter- schiede nur sehr begrenzt regionale Indikatoren miteinander in Relation gesetzt. Nicht geleistet werden kann im Projekt eine alle 27 Mitglied- staaten umfassende Untersuchung. Acht Länder wurden ausgewählt, die in verschiedenen Betrachtungen geeignete Gruppen bilden, um mit diesen Fällen ein möglichst umfas- sendes Bild der sozioökonomischen Situation innerhalb der EU zu erhalten. Bezogen auf die zeitliche Dimension des euro- päischen Integrationsprozesses sind drei Gründungsmitglie- der der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951 (Deutschland, Frankreich, Italien) vertreten, für die Süderweiterung 1986 steht Spanien, die Erweiterung 1995 decken Schweden und Finnland und die Erweiterung nach Mittelosteuropa Estland (2004) und Rumänien (2007) ab. Bis auf Schweden und Rumänien sind die Länder Mitglie- der der Eurozone, des innersten Zirkels der Integration. Zwei von ihnen sind dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime (Schweden und Finnland), zwei den konservativen Wohl- fahrtsstaaten (Deutschland und Frankreich), zwei dem südeu- ropäischen Wohlfahrtsmodell (Italien, Spanien) zuzuordnen (Esping-Andersen 1990; Ferrera 1996). Die beiden verbliebe- nen können als postsozialistische Wohlfahrtsstaaten aufge- fasst werden, doch gehört Rumänien eher zur Gruppe des südeuropäischen Modells und Estland hat sich in vielerlei Hin- sicht zu einem liberalen Wohlfahrtsstaat entwickelt (Baum- Ceisig et al. 2008). Beim Pro-Kopf-Einkommen zeichnen sich zwei Gruppen ab: Deutschland, Schweden, Finnland und Frankreich liegen oberhalb des europäischen Durchschnitts, darunter befinden sich Italien, Spanien, Estland und Rumänien. Die Studie gliedert sich in drei große Abschnitte. Zunächst wird sich wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Ungleich-
Ungleichheit als europäisches Phänomen 9 2 UNGLEICHHEIT ALS EUROPÄISCHES PHÄNOMEN Hinweise auf die Zunahme globaler Ungleichheit sind inzwi- des Einzelnen durchdekliniert. Der Traum vom grenzenlo- schen Legion. Die Quittung für das vor 40 Jahren schrittwei- sen Weltmarkt nach dem Ende der Blockkonfrontation und se praktizierte Einschwenken vieler Staaten und internationa- dessen digitales Pendant im World Wide Web zeigten nicht ler Wirtschaftsorganisationen auf den von Margaret Thatcher nur, was möglich ist, sondern beförderten auch den Impe- und Ronald Reagan politisch zum Durchbruch verholfenen rativ von am Markt ausgerichteten Individuen und ihrer Ge- Kurs politischer Zurückhaltung aus dem Marktgeschehen sellschaften. Die Kehrseite von Flexibilisierung, Privatisierung und der Individualisierung sozioökonomischer Risiken ist und Deregulierung war das Ende des sozialen Aufstiegs in längst sichtbar. Sie ist international in einer von vielen Wis- der Breite der Gesellschaft. Lohnstagnation und atypische senschaftler_innen beschriebenen (2.1) Zunahme globaler Beschäftigungsformen wie Leiharbeit, Teilzeit, Geringfügig- Ungleichheit präsent. Die (2.2) Ungleichheit in der Europäi- keit, Befristung und Solo-Selbständigkeit sind die Kennzei- schen Union zeigt sich seit 2008 – dem Jahr der Weltfinanz- chen des modernen Arbeitsmarktes. Dekollektivierung von und Wirtschaftskrise – in ökonomischer, sozialer und territo- Arbeitnehmer_inneninteressen, die Ausweitung prekärer Be- rialer Gestalt (2.3). schäftigungsverhältnisse (Standing 2011) und private Vor sorgeerfordernisse zur Absicherung der großen Lebens risiken im Sozialen gehen einher mit der gesellschaftlichen 2.1 ZUNAHME GLOBALER UNGLEICHHEIT Individualisierung und verstärken sie. Thatcherismus und Reagonomics haben durch ihr Vertrauen Hellsichtig hat Joseph Stiglitz (2002) bereits vor 20 Jahren in die angebotsseitige Wirtschaftspolitik, die Segnungen des konträr zur damals vorherrschenden Globalisierungseupho- Steuerwettbewerbs sowie die Flexibilisierung und Neuer- rie auf den Irrglauben hingewiesen, freie und grenzenlose schließung von einst durch den öffentlichen Sektor regulier- Märkte würden automatisch den Wohlstand aller heben, wie ten Märkten den Weg gebahnt für die Ablösung der in vielen der „Washington Consensus“ mit der Idee des Trickle- westlichen Volkswirtschaften als „goldenes Zeitalter“ emp- Down-Effekts glaubhaft machen wollte. Colin Crouch (2004) fundenen 1960er und 1970er Jahre. Auf Nachkriegswirt- warnte ähnlich zeitig vor der angeblich alternativlos primär schaft und fordistische Massenproduktion mit umfassenden am Markt ausgerichteten neuen Arbeitswelt. Die entstehen- Investitionen in die Infrastruktur, ausgebauten Wohlfahrts- den Unsicherheiten für viele Beschäftigte durch Einkom- staaten und weit entwickelter Wirtschaftsdemokratie folgte mensverlust, Armutsgefährdung und das Nicht-Mithalten- eine Ablösung der realwirtschaftlichen durch die finanzkapi- Können in einer globalen Wettbewerbsumgebung würden talistische „Spielanordnung“ (Schulmeister 2018: 75). Statt den Verdruss über das politische System und sein Establish- keynesianischer Globalsteuerung und Konsenssuche der ment nähren und rechten Populisten ein leichtes Spiel be- wirtschaftspolitischen Akteure im Stakeholder-Kapitalismus, scheren. Doch erst im analytischen Nachgang der globalen setzte sich zunehmend der Shareholder-Kapitalismus durch, Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 gelangten in der Öko- dessen Fokus kurzfristige Profite durch hohe Kapitalrenditen nomie und der Soziologie kritische Auseinandersetzungen auf dem sich internationalisierenden Börsenparkett sind. mit dem neuen globalen Kapitalismus publizistisch zum Durchbruch. Der neue Marktliberalismus, orientiert an Konzepten von Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, diffun- Mittlerweile füllt die Beschreibung und Analyse neuer Un- dierte in unterschiedlicher Geschwindigkeit von Land zu gleichheiten zwischen Staaten und innerhalb von Gesell- Land durch Aufnahme in die Programme sehr unterschied schaften ganze Bibliotheksregale: Thomas Piketty (2013, licher politischer Akteure. In Europa erwies er sich als be 2019) hat umfassend die Entwicklung zunehmender Einkom- sonders einflussreich durch Adaption vieler sozialdemokra- mens- und Vermögensungleichheit nachgezeichnet und die tischer Parteien an die theoretischen Konstrukte optimaler Abgabe politischer Gestaltungsinstrumente zur Reduktion Allokationseffekte durch die freien bzw. freigelassenen und Verhinderung sozioökonomischer Ungleichheiten in den Marktkräfte im Zuge des sogenannten „Dritten Wegs“ letzten Dekaden kritisiert. Agnus Deaton (2013) macht auf (Bailey 2009). Wettbewerbsfähigkeit galt längst nicht mehr den zwischen den Ländern ungleich verteilten Wohlstand als Begriff für die unternehmerische Konkurrenz; sie wurde aufmerksam. Branko Milanović (2016: 225) wendet sich der für die beruflichen und privaten Lebensräume jeder und je- wachsenden Ungleichheit innerhalb der reichen Staaten zu.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA 10 Seine Analyse einer „von den Kräften der Automatisierung Instrumenten auf Gemeinschaftsebene – u. a. Synchronisie- und Globalisierung heraufbeschworene[n] Zwangslage (die rung von Haushaltsverfahren, steuerliche Harmonisierung, ‚Mittelschicht-Squeeze‘)“ breiter Teile der Gesellschaft zwi- wirtschaftspolitisches Entscheidungsgremium, lohnpolitische schen einem in die Oberschicht aufsteigenden und einem Koordinierung der Sozialpartner – zur Bewältigung asymme- zunehmend mit Abstiegssorgen kämpfenden Bereich der trischer Schocks. Obwohl der Staatenverbund durch die Er- Mittelschicht wird von Andreas Reckwitz (2017) und Oliver weiterungsrunden sozioökonomisch diverser geworden ist, Nachtwey (2016) im Detail untersucht. Dani Rodrik (2011), glaubte man nun an die angleichende Wirkungskraft der Joseph Stiglitz (2012) und Colin Crouch (2011), später Kate Binnenmarktintegration: Die Flexibilisierung von Kapital und Raworth (2017) und Mariana Mazzucato (2018) klagen die Arbeit und die Diversifizierung der Produktionsstrukturen vorherrschenden ökonomischen Theorien der marktlibera- durch Marktöffnung und Strukturreformen zur Stärkung der len Globalisierung, ihren Glauben an die Effizienz des Mark- Wettbewerbsfähigkeit sollten ausreichend sein, um die An- tes und seine Allokationskräfte, die unterstellte Rationalität fälligkeit für asymmetrische Schocks, für die Ungleichzeitig- von Marktprozessen und ihrer Akteure sowie das Vertrau- keit der Konjunkturzyklen der Mitgliedstaaten, zu bannen. en auf die Selbstheilungskräfte des Marktes an. Anthony Der Streit um die Ausgestaltung der WWU zwischen Anhän- B. Atkinson (2015), Sebastian Dullien et al. (2009) und Paul gern einer Fiskalunion und Verfechtern einer Stabilitätsunion Collier (2018) unterbreiten konkrete Vorschläge, wie der (vgl. hierzu: Brunnermeier et al. 2016 und Hacker/Koch 2017) transnational entfesselte Kapitalismus besser reguliert und wurde von jenen gewonnen, die von politischen Regularien die Gesellschaften vor wachsender Ungleichheit, sozialem befreite Märkte und die Verhinderung von Inflation als wich- und politischem Zerfall bewahrt werden können. tigste Ziele beschrieben. In dieser Denke brauchte man stren- ge Regeln, um interventionistische Fiskalpolitiken und moral hazard zu verhindern. Daraus wurden die sanktionsbewehr- 2.2 WIRTSCHAFTLICHE UND SOZIALE ten Budgetkriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes UNGLEICHHEIT IN DER EUROPÄISCHEN und die Nicht-Beistandsklausel in den Verträgen. Ein gemein- UNION sames Entscheidungsgremium der wirtschaftspolitischen Glo balsteuerung war in dieser Konzeption undenkbar, schließ- Auch die Europäische Union blieb von den beschriebenen lich sollte die Fiskalpolitik weitestmöglich auf Abstand ge‑ Entwicklungen des Anwachsens globaler Ungleichheit nicht halten und die Geldpolitik primär der Preisstabilität statt der verschont. Neben dem Friedensnarrativ wurde die europä Wachstums- und Beschäftigungsförderung verpflichtet wer- ische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie den. Dass der Stabilitätspakt noch das Suffix eines Wachs- in ökonomischer Absicht auf den Weg gebracht: Zollunion, tumspaktes im Namen trägt, stellte ein letztes Aufbäumen gemeinsamer Markt, später die Wirtschafts- und Währungs- der Konzeption einer Währungsunion nach keynesianischer union (WWU) dienten der Schaffung eines einheitlichen und Lesart dar, die jedoch kaum mit Inhalt gefüllt wurde: „The großen europäischen Marktes. Der Marktschaffung ebenfalls Maastricht Treaty never supposed that the European Mone- zugehörig sind auch viele europäische Politiken, die zusätz- tary Union should include such an insurance scheme. Europe lich noch anderen Zielen dienten. Dazu zählen die Erweite- was not intended as an instrument for fiscal solidarity. From rungsrunden um neue Mitgliedstaaten, die Umsetzung der a German perspective, such schemes are plagued with moral Personenfreizügigkeit durch Abschaffung der Binnengren- hazard“ (Brunnermeier et al. 2016). zen und Initiativen zur Stärkung der wirtschaftlichen, berufli- chen und sozialen Entwicklung. Der neue Marktliberalismus, Ein von Binnensolidarität geprägtes Konvergenzmodell, das wie er in Kapitel 2.1 skizziert wird, fand seinen Weg in die sich die Annäherung der Lebensverhältnisse zum Ziel setzt europäischen Staaten. Als das Binnenmarktprojekt auf die und im „Schutz gegen Sozialdumping“ eine Maßnahme Zielgerade einbog und mit dem Vertrag von Maastricht die für die Erhöhung der gemeinsamen europäischen Wettbe- Schaffung der Eurozone vereinbart wurde, kam es in den werbsfähigkeit versteht (Europäische Kommission 1994: 13) folgenden 30 Jahren schrittweise zur Schärfung des Wett konnte sich in den Folgejahren nicht durchsetzen. Grund bewerbsparadigmas. Dazu trugen insbesondere die (2.2.1) dafür ist die nur kleinteilig vorankommende Ausgestaltung Vertiefung der konstitutionellen Asymmetrie, die (2.2.2) Aus- der positiven Integration der Marktgestaltung gegenüber gestaltung der Politikkoordinierung und (2.2.3) das Manage- der mit Binnenmarkt und WWU weit vorangeschrittenen ment der Finanz- und Wirtschafts- sowie der Eurokrise bei. negativen Integration der Marktschaffung. Diese „konstituti- Abschließend wird ein Blick auf die (2.2.4) Entwicklung wirt- onelle Asymmetrie“ (Scharpf 2002) konnte auf Basis der Ver- schaftlicher und sozialer Ungleichheit in den acht in Kapitel 3 träge weiter ausgebaut werden, indem im Binnenmarkt der betrachteten Länder geworfen. Europäische Gerichtshof die bestehenden Freiheiten des Wa- ren- und Dienstleistungsverkehrs, der Arbeitnehmer_innen- und der Kapitalmobilität großzügig interpretierte (Grimm 2.2.1 VERTIEFUNG DER KONSTITUTIONELLEN 2016). Zudem ignorierten in der WWU die Europäische Kom- ASYMMETRIE mission und der Rat den Mangel eines fiskalpolitischen Pendants zur Geldpolitik weitgehend und stellten auf die In der Konzeption der WWU setzte sich mit dem Delors-Plan Erfüllung budgetärer Regeln und wettbewerbsfördernder ein ordoliberal und monetaristisch inspiriertes Verständnis Strukturreformen ab. Auch bedingt durch die Existenz his- über das Funktionieren einer Währungsunion durch. Anders torisch gewachsener, schwer miteinander zu vereinbaren- als noch im keynesianistisch inspirierten Werner-Plan der den Welten des Wohlfahrtskapitalismus (grundlegend dazu: 1970er Jahre plante man nun nicht mehr mit fiskalpolitischen Esping-Andersen 1990 und Hall/Soskice 2001) flüchteten
Ungleichheit als europäisches Phänomen 11 sich die Mitgliedstaaten in das Festhalten an nationaler Sou- Vordergrund, sondern die Anpassung der nationalen Wohl- veränität (Becker 2015: 10), anstatt sich auf neue regulative fahrtsstaaten an eine für gut befundene marktliberale globa- Instrumente und Verfahren zur Gestaltung der positiven In- le Umgebung. Vorteilhaft zur Durchsetzung der Zielvorstel- tegration zu verständigen. lungen von finanzieller Nachhaltigkeit und Strukturreformen war, dass sich die Finanzminister der Mitgliedstaaten über den immer mächtiger werdenden ECOFIN-Rat der Wirt- 2.2.2 AUSGESTALTUNG DER schafts- und Finanzminister zeitig zu den maßgeblichen Ent- POLITIKKOORDINIERUNG scheidern in den Koordinierungszyklen machten (De la Porte 2013: 412). Nicht nur nationale Haushaltspolitiken, sondern Mitte der 1990er Jahre kam man auf die Idee, die faits ac- auch Reformbedarfe von Rentensystemen und Arbeitsmärk- complis der Markt- und Währungsintegration souveränitäts- ten wurden hier mit budgetpolitischer Brille verhandelt. Die schonend zu rahmen durch zwischen den Mitgliedstaaten an die Mitgliedstaaten zurückgespielten Reformempfehlun- abgestimmte Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpoliti- gen betonten entsprechend individuelle Flexibilität und Mo- ken. Künftig sollte soft Governance dazu beitragen, den Gra- bilität im Job, privates Rentensparen, lebenslanges Lernen ben zwischen marktschaffender und marktgestaltender Inte- und niedrige Steuern bei beschnittenen Investitionen in die gration zu überbrücken. öffentliche Infrastruktur und gekürzten Sozialleistungen auf- grund der Priorisierung ausgeglichener Staatshaushalte und Zu den frühen Anwendungsfeldern der neuen weichen Steu- der Betonung von Bürgerpflichten im Wohlfahrtsstaat. Dies erung zählen die 1994 begonnene Koordinierung der Be- stellten in etwa die Eckpunkte dessen dar, was Anthony Gid- schäftigungspolitiken, der 1996 geschlossene Stabilitäts- und dens (2006: 12f.) und die Anhänger des sogenannten Dritten Wachstumspakt und der Makroökonomische Dialog ab Wegs das „erneuerte Europäische Sozialmodell“ nannten. 1999. Erst mit der Jahrhundertwende wird die neue Form der Governance umfassend institutionalisiert im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung (OMK) als Bestandteil 2.2.3 MANAGEMENT DER FINANZ- UND der im Jahr 2000 verabschiedeten Lissabon-Strategie der EU. WIRTSCHAFTS- SOWIE DER EUROKRISE Doch die „Behelfsbrücke“ (Hacker 2020) der Politikkoordi- nierung zwischen dem normativen Anspruch an gemeinsa- Die Kulmination der Orientierung an Strukturreformen und me Politiken und der in den Hauptstädten der Mitgliedstaa- Budgetrestriktionen erfolgte nach der globalen Finanz- und ten verbleibenden Zuständigkeiten erwies sich als wackelige Wirtschaftskrise von 2009, als das – ökonomisch zweifelsfrei Angelegenheit. Das voluntaristische Politiklernen über natio- sinnvolle – keynesianische Krisenmanagement vorschnell für nale Grenzen hinweg hat sich dort als stark und disziplinie- beendet erklärt wurde. Gemeinschaftsinstrumente zur Im- rend erwiesen, wo die vertragliche Integration am weitesten munisierung der WWU gegen künftige Finanzkrisen – Frank- gediehen ist: Im Bereich der budgetären Regelsetzung über reich schlug eine Bankenunion vor – wurden von den Ver den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Ohne quantitative Vor- teidigern des in Maastricht beschlossenen Modells einer gaben mit Vertragsrang – wie das öffentliche Defizit- und Ver- Stabilitätsunion als modellfremde Instrumente abgelehnt. schuldungsziel – und der Abwesenheit von Sanktionen – wie Deutschland tat sich in den folgenden Jahren besonders her- der Eröffnung eines Defizitverfahrens, an dessen Ende finan- vor als Fürsprecher strenger Budgetkriterien und Struktur zielle Strafen stehen können – funktionierte das angedachte reformen. Nachdem man im eigenen Land mittels umfas „naming und shaming“ des grenzüberschreitenden System- sender Konjunkturpakete, Bankenrettungsprogramme und vergleichs nur punktuell. Dank einer gut funktionierenden Sozialpartnerschaft die gro- ße Wirtschaftskrise schnell hinter sich lassen konnte, wurde Zeitig warnten Kritiker_innen vor der Illusion einer so zu er- jenen Staaten wenig Verständnis entgegengebracht, die reichenden Balance zwischen marktschaffender und markt- auch 2010 noch hohe Defizite und wachsende Schulden- gestaltender Integration. Ganz im Gegenteil würde die Poli- stände aufwiesen. tikkoordinierung zum trojanischen Pferd marktliberaler Wett‑ bewerbsvorstellungen bis in die innersten Bereiche national Während der systemische Charakter der beginnenden Euro- verantworteter Wirtschafts- und Sozialpolitik werden (vgl. krise vielen Ökonom_innen bewusst und auch von vielen Scharpf 2002; Offe 2003). Und in der Tat zeigte sich bald, Regierungen und den Vertreter_innen der europäischen Ins- wie alle zur Koordinierung freigegebenen Politiken schnell titutionen verstanden wurde, gelang es nicht, das Narrativ in die Abhängigkeit zu besser integrierten Bereichen gerie- der angeblichen Schuldenkrise als nur einen kleinen Teil der ten. Den Protagonisten des Wettbewerbsparadigmas kam Wahrheit zu entlarven. Man hätte angesichts der in Lohn- das vorhandene europäische Setting der weit entwickelten stückkosten und Leistungsbilanzsalden messbaren divergen Marktintegration, der in der WWU inhärenten Konkurrenz- ten Wirtschaftsentwicklungen und der „one size fits none“- denke zwischen den Wohlfahrtsstaaten (vgl. Kapitel 2.2.1) Leitzinspolitik der Europäischen Zentralbank die Chance nut- und das Instrument der Priorisierung bestimmter politischer zen können, um die in Maastricht versäumten Elemente in Ziele über die neuen Governancestrukturen zupass. Mit Hilfe das Regelwerk der WWU zu integrieren, sie gemäß dem Mo- der Koordinierungszyklen konnten Reformkonzepte für Fle- dell einer Fiskalunion weiter zu entwickeln (vgl. Kapitel 2.2.1). xibilisierungen, Deregulierungen und Privatisierungen quer Doch nachdem man an Griechenland – dem einzigen Lang- durch die Mitgliedstaaten diffundieren. Plötzlich standen zeit-Problemfall der budgetären Nachhaltigkeit – ein Exempel nicht mehr gemeinsam identifizierte wirtschaftliche und so- der Austerität zu statuieren bereit war, stülpte das Euro-Ret- ziale Ziele als Eckpfeiler eines Europäischen Sozialmodells im tungsmanagement dieses halbgare Konzept über alle Krisen-
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA 12 staaten (vgl. Hacker/Koch 2017). Im Rückblick avancierte 2.2.4 ENTWICKLUNG WIRTSCHAFTLICHER Deutschland – obwohl das Land als eines der ersten den Sta- UND SOZIALER UNGLEICHHEIT bilitätspakt 2002 brach – plötzlich zum Musterschüler der Währungsunion: Der wettbewerbsfördernde Charakter der Betrachtet man das Einkommen pro Kopf in den acht hier im 2003 auf den Weg gebrachten Agenda 2010 mit ihrer Aus- Fokus stehenden Ländern nach Kaufkraftstandards (KKS) weitung des Niedriglohnsektors und reduzierten Sozialleis- und setzt es ins Verhältnis zum europäischen Durchschnitt tungsansprüchen, die Exportorientierung mithilfe lohnpoliti- (EU 27 2020 = 100), dann zeigt sich für das letzte Jahr vor scher Stagnation und die 2009 in das Grundgesetz aufge‑ Beginn der Coronakrise eine Spaltung (vgl. Grafik 1) in vier nommene Schuldenbremse wurden über die makroökono- überdurchschnittlich reiche (Deutschland, Schweden, Finn- mischen Anpassungsprogramme der Rettungsschirme von land und Frankreich) und vier unterdurchschnittlich reiche, der Troika allen Krisenstaaten im Gegenzug für dringend be- also relativ arme Länder (Rumänien, Estland, Spanien und nötigte Kreditlinien zur Nachahmung oktroyiert. Italien). Es hat nicht an alternativen Plänen gefehlt, zeitig entwickelte Dies allerdings war nicht immer so. Italien und Spanien ge- insbesondere die Kommission Reformfahrpläne, die weit über hörten vor Beginn der Krisendekade zur Ländergruppe, die die Stabilitätsorientierung hinausreichten. Doch bis auf die reicher ist als der Durchschnitt der EU. In Tabelle 1 wird sicht- Bankenunion ist keines der Konzepte einer tieferen fiskali- bar, wie beide Länder relativ zum EU-Mittel zurückgeworfen schen Integration – Eurobonds, europäische Arbeitslosenver- sicherung, Fiskalkapazität, Europäische Wirtschaftsregierung Tabelle 1 – verwirklicht worden (vgl. etwa: Europäische Kommission BIP pro Kopf in KKS, ausgewählte Länder und Jahre, EU-27 2020 = 100. 2012). Erst 2015 konnte die Kommission die Austeritätspolitik mildern, die Anwendung des Stabilitätspakts flexibilisieren 2008 2013 2019 und die Aufmerksamkeit auf die sozialen Folgen der Krisen- jahre lenken. Hieraus wurde 2017 die ESSR, deren Herkunft Schweden 129 129 119 aus den sozialen Verwerfungen der Eurokrise in ihrer Präam- Finnland 123 115 111 bel nicht verschwiegen wird (vgl. Hacker 2019). An die sozia- len Ziele der Union zu erinnern wurde nötig angesichts der Deutschland 118 125 120 sich einstellenden Ergebnisse der Austeritätspolitik: Die Pro- Frankreich 108 110 106 zyklik des Krisenmanagements vertiefte die Wirtschaftskrise durch die kupierte Nachfrage in den betroffenen Ländern. Italien 108 100 96 Statt ökonomischer Erholung sank die Wirtschaftsleistung Spanien 102 90 91 infolge ausbleibender Investitionen, Mindestlohnsenkungen und Rentenkürzungen. Die Lockerung des Kündigungsschut- Estland 70 77 84 zes, die Durchlöcherung der Tariflandschaft und umfangrei- Rumänien 52 55 70 che Privatisierungen staatlicher Unternehmen führten zur Stagnation der Lohnentwicklung und Massenarbeitslosig- Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/tec00114/default /bar?lang=en. keit. Grafik 1 BIP pro Kopf in KKS, ausgewählte Länder 2019, EU-27 2020 = 100 Deutschland 120 Schweden 119 Finnland 111 Frankreich 106 EU-27 100 Italien 96 Spanien 91 Estland 84 Rumänien 69 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110 115 120 Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/tec00114/default /bar?lang=en.
Ungleichheit als europäisches Phänomen 13 Grafik 2 s80/s20-Quote, ausgewählte Länder 2019 Rumänien 7,08 Italien 6,01 Spanien 5,94 Estland 5,08 EU-27 4,99 Deutschland 4,89 Schweden 4,33 Frankreich 4,27 Finnland 3,69 0,25 0,75 1,25 1,75 2,25 2,75 3,25 3,75 4,25 4,75 5,25 5,75 6,25 6,75 7,25 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5 5,5 6 6,5 7 Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/tespm151/default /bar?lang=en. wurden auf 96 Prozent (IT) bzw. 91 Prozent (ES) des BIP pro Tabelle 2 s80/s20-Quote, ausgewählte Länder und Jahre Kopf – ein direktes Ergebnis der lange wirkenden Eurokrise und ihres Managements (vgl. Kapitel 2.2.3). Dagegen hat 2009 2015 2019 Frankreich seine Position in der Gruppe der reichen Mitglied- staaten halten können (106 Prozent des BIP pro Kopf 2019). Finnland 3,71 3,56 3,69 Rumänien (70 Prozent) und Estland (84 Prozent) als aufho- Frankreich 4,42 4,29 4,27 lende Ökonomien nähern sich im betrachteten Zeitraum deutlich dem EU-Mittel an. Für Schweden (119 Prozent) und Schweden 3,96 4,06 4,33 Finnland (111 Prozent) sinkt das Einkommen pro Kopf rela- Deutschland 4,48 4,80 4,89 tiv zum EU-Durchschnitt von 2008, für Schweden allerdings erst nach 2015. Durch diesen Effekt gelingt Deutschland (120 Estland 5,01 6,21 5,08 Prozent) die Besetzung der Spitzenposition als reichstes hier Spanien 5,87 6,87 5,94 betrachtetes Land seit 2016. Italien 5,31 5,84 6,01 Analysiert man die Ungleichheit innerhalb der Mitgliedstaa- Rumänien 6,53 8,32 7,08 ten, zeigen sich ebenfalls große Unterschiede in der Einkom- mensverteilung. Grafik 2 zeigt die s80/s20-Quote, indem die Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/tespm151/default /bar?lang=en. einzelnen Bevölkerungen in Quintile aufgeteilt werden und für das Jahr 2019 das Verhältnis des Gesamteinkommens von 20 Prozent der Bevölkerung mit dem höchsten Einkommen gleichheiten aufzeigenden Ländern. Dagegen ist in den bei- (oberstes Quintil) zum Gesamteinkommen von 20 Prozent den osteuropäischen Staaten die Einkommensungleichheit der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen (unterstes zwischen 2009 und 2014/15 stark angestiegen, um dann in Quintil) angegeben wird. Für die hier betrachteten Staaten den Folgejahren wieder weitgehend zurückzugehen. Ange- fällt eine Dreiteilung um den EU-Durchschnitt ins Auge. Im stiegen ist die Einkommensungleichheit auch in Italien und Mittel aller EU-27-Staaten ist das verfügbare Einkommen des Spanien in der betrachteten Dekade, wobei nur Spanien ab obersten Quintils knapp fünfmal so hoch wie das verfügbare 2016 eine schrittweise Reduzierung in die Nähe der Werte Einkommen des untersten Quintils – in der Nähe befinden von 2009 gelingt.2 sich Deutschland (4,89) und Estland (5,08). Mit Abstand ge- ringere Ungleichheiten innerhalb ihrer Gesellschaften weisen Wie erfolgreich war die EU in der letzten Dekade bei der Schweden (4,33), Frankreich (4,27) und vor allem Finnland Bekämpfung des Risikos von Armut und sozialer Exklusion? (3,69) auf. Dagegen ist das Einkommensgefälle stärker aus- Der entsprechende Indikator enthält alle Menschen, die un- geprägt in Spanien (5,94), Italien (6,01) und Rumänien, wo ter die Armutsgrenze von 60 Prozent des jeweiligen nationa- das oberste Quintil im Durchschnitt etwa siebenmal (7,08) so viel verdient wie das unterste Quintil. 2 Vgl. auch die alternative Berechnung der Quintilverhältnisse bei Dauderstädt 2021, nach denen sich durch die Eurokrise eine lange Im Zeitverlauf (vgl. Tabelle 2) zeigen sich seit 2009 relativ ge- Stagnationsphase in der Reduktion der Ungleichheit zwischen 2011 ringe Veränderungen in den 2019 unterdurchschnittlich Un- und 2017 ausmachen lässt.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – POLITIK FÜR EUROPA 14 Grafik 3 Risiko von Armut oder sozialer Exklusion in Prozent, EU & Eurozone 25,5 25 24,8 24,6 24,3 24,4 24,5 24 23,8 23,8 23,7 23,3 23,5 23,5 23,5 23 23,3 23,1 23,1 23,1 22,9 22,4 22,5 21,8 22 22,0 22,1 21,4 21,5 21,7 21,6 21,6 21 20,8 20,5 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 Eurozone – 19 Länder (von 2015) Europäische Union Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/t2020_50/default /line?lang=en. len Medianeinkommens nach Sozialtransfers fallen, oder un- Tabelle 3 ter schwerer materieller Deprivation leiden oder in Haushal‑ Risiko von Armut oder sozialer Exklusion in Prozent der Bevölkerung, ausgewählte Länder und Jahre ten mit sehr geringer Arbeitsintensität leben. Die EU hatte in der Europa 2020-Strategie 2010 das Ziel ausgegeben, insge- 2009 2012 2016 2019 samt 20 Millionen Menschen vom Risiko der Armut oder so- zialer Exklusion zu befreien. Erreicht hat sie zwischen 2008 Finnland 16,9 17,2 16,6 15,6 und 2019 die Reduktion um knapp die Hälfte des ursprüngli- Deutschland 20,0 19,6 19,7 17,4 chen Plans. Dies hängt mit einem starken Anstieg (vgl. Grafik 3) der Gefährdungsquoten in den Wirtschaftskrisen von 23,3 Frankreich 18,5 19,1 18,2 17,9 Prozent 2009 auf 24,8 Prozent 2012 zusammen sowie in der Schweden 17,8 17,7 18,3 18,8 anschließend nur sehr langsam sinkenden Rate. In der WWU kommt es dagegen aufgrund der Eurokrise nach dem An- Europäische Union 23,3 24,8 23,5 21,4 stieg von 2009 bis 2011 zu einer langen Phase der Stagnati Estland 23,4 23,4 24,4 24,3 on auf hohem Niveau. Hier gelingt zwischen 2008 und 2019 kumulativ nur für knapp zwei Millionen Menschen die Her- Spanien 24,7 27,2 27,9 25,3 ausführung aus dem Risiko. Seit 2016 ist eine deutliche Re Italien 24,9 29,9 30,0 25,6 duzierung zu beobachten, die mit den oben besproche‑ nen Wachstumsraten des Einkommens korrespondiert. Dann Rumänien 43,0 43,2 38,8 31,2 kann die EU das Vorkrisenniveau wieder erreichen; in der Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat /databrowser/view/t2020_50/default /table?lang=en. Eurozone ist dies erst 2018 möglich. In der vergleichenden Perspektive des Risikos der Armut oder Dagegen ist in Spanien und Italien ab 2009/10 ein deutlicher der sozialen Ausgrenzung, nun gemessen am Erfolg der Ar- Anstieg der Armuts- und Exklusionsgefahr zu konstatieren, mutsreduzierung seit 2008, zeigt sich für 2019 eine bekann- der erst spät wieder reduziert werden kann. Italien erreicht te Verteilung: Die süd- und osteuropäischen Staaten liegen dabei 2019 erstmals wieder seinen Vorkrisenwert, Spanien oberhalb des EU-Durchschnitts, die skandinavischen Länder ist dies bislang noch nicht gelungen; kumulativ sind hier seit sowie Deutschland und Frankreich darunter (vgl. Tabelle 3). 2008 fast eine Million Menschen zusätzlich vom Risiko be- Während die Veränderungen über die Zeit in der unterdurch- troffen. Kaum mehr als fünf Prozentpunkte trennen in der schnittlich, also mit relativ geringen Gefährdungsquoten ab- relativen Betrachtung diese beiden südeuropäischen Staaten schneidenden Ländergruppe kleinteilig sind (wobei zumin- noch von Rumänien. Estland – im Betrachtungszeitraum stets dest Deutschland eine Reduktion um 2,2 Prozentpunkte besser aufgestellt als Italien und Spanien – erlebt bis 2014 zwischen 2012 und 2019 gelingt), sind die Entwicklungen einen Anstieg der Gefährdungsquote, den es nur in Teilen der anderen vier Länder bemerkenswerter: Rumänien holt wieder abbauen kann; seit damals bleibt es auf der Seite der mit großen Schritten auf – seit der Mitgliedschaft in der EU in der EU überdurchschnittlich betroffenen Staaten. 2007 ist die Gefährdungsquote von ursprünglich 47 Prozent um fast 16 Punkte auf 31,2 Prozent gefallen; etwa drei Milli- onen Menschen wurden aus dem Risiko geholt.
Ungleichheit als europäisches Phänomen 15 2.3 TERRITORIALE UNGLEICHHEIT IN klassische Kategorisierung nach weniger entwickelten Regi- DER EUROPÄISCHEN UNION onen (bis zu 75 Prozent des BIP-Durchschnitts der Gemein- schaft), Übergangsregionen (zwischen 75 und 90 Prozent Schon früh haben sich der mit der Europäischen Wirtschafts- des BIP) und stärker entwickelte Regionen (über 90 Prozent gemeinschaft (EWG) geschaffene Europäische Sozialfonds des BIP) in ESF und EFRE wurden nach der Erweiterung um (ESF) und die Europäische Investitionsbank (EIB) der Beseiti- Schweden und Finnland 1995 Regionen in äußerster Rand- gung regionaler Ungleichheit verschrieben. Der EWG-Ver- lage berücksichtigt. Schon im Zuge der Verhandlungen des trag erwähnt in seiner Präambel das Ziel der sechs Gründer- Vertrags von Maastricht ist mit dem Kohäsionsfonds eine staaten, „ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren har‑ neue Quelle der Regionalförderung eingeführt worden. monische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand Nach der Osterweiterung der EU entfielen im Mehrjährigen zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger Finanzrahmen (MFR) 2007 bis 2013 mit 35,7 Prozent des begünstigter Gebiete verringern“. Die Regionalpolitiken und europäischen Gesamthaushalts so viele Mittel wie nie zuvor Strukturpolitiken sowie weitere territorial wirkende Program- auf die Politiken zur Förderung der Kohäsion in der Gemein- me der EU, hier zusammenfassend als Kohäsionspolitik be- schaft (Hartwig 2020: 551). zeichnet, haben sich über die Zeit stark verändert. Nach wichtigen Wegmarken der (2.3.1) Reformen der Kohäsions- Während die Vorteile der Kohäsionspolitik für die beigetrete- politik ist nach der faktischen (2.3.2) Entwicklung territorialer nen Staaten Irland, Spanien und Portugal in ihrer nach- und Ungleichheit in den acht in Kapitel 3 betrachteten Ländern zu aufholenden Wirtschaftsentwicklung in Richtung des euro- fragen. päischen Durchschnitts bis zur Eurokrise messbar wurden und als Erfolgsgeschichten gelten, drehte sich die Debatte zur Förderung regionaler Entwicklung markant nach der 2.3.1 REFORMEN DER KOHÄSIONSPOLITIK größten Erweiterungsrunde um 13 neue Mitgliedstaaten 2004, 2007 und 2013. Auch wenn deren Konvergenzstreben Der Wunsch nach Erzielung sozioökonomischer Kohäsion für das BIP pro Kopf in der Summe als positiv verlaufende wuchs parallel zur Marktintegration und den Erweiterungen Entwicklung beschrieben werden kann (Dauderstädt 2014: der Gemeinschaft. Nachdem die Disparitäten sich durch Auf- 14f.), stellen die sozioökonomischen Differenzen zwischen nahme Irlands, Großbritanniens und Dänemarks vergrößer- alten und neuen Mitgliedstaaten eine erhebliche Herausfor- ten, erfolgte 1975 mit dem Europäischen Fonds für regionale derung für die Schaffung der seit dem Vertrag von Maastricht Entwicklung (EFRE) der Start einer eigenen supranationalen zur Zielbestimmung erhobenen Förderung des wirtschaftli- Regionalpolitik. Doch erst nach der Süderweiterung um Grie- chen, sozialen und territorialen Zusammenhalts der Union chenland, Spanien und Portugal und der Verknüpfung mit (Art.3 (3) EUV) dar. Neue finanzielle Verteilungskonflikte zwi- dem Binnenmarktprojekt Ende der 1980er Jahre gewann die schen Ländern und Ländergruppen bei – insbesondere nach Kohäsionspolitik (oft auch als Struktur- und/oder Regional dem Beitritt der zwei großen in vielen wirtschaftlichen und politik bezeichnet) an Kontur. Dazu trugen insbesondere der sozialen Indikatoren weit abgeschlagenen Staaten Bulgari Übergang von maßnahmenorientierten Unterstützungspoli- en und Rumänien – gewachsener Ungleichheit in der Union tiken zur bis heute praktizierten Struktur mehrjähriger För- führten zusammen mit den Erfahrungen der Finanz- sowie derprogramme und die deutliche Erhöhung der bereitgestell- der Eurokrise zu einer signifikanten Neuausrichtung der Ko ten Finanzmittel bei (Becker 2020a: 874). häsionspolitik 2013. Unter den sechs Gründerstaaten der EGKS herrschte – ab- Diese Reform – John Bachtler et al. (2017: 1) sprechen von seits des italienischen Mezzogiorno (vgl. Fina/Heider/Prota dem „most significant and substantial set of regulatory 2021: 5f.) – noch weitgehende Homogenität ökonomischer changes“ seit den Neuerungen im Zuge der EEA – setzte ein und sozialer Indikatoren. Erst mit dem Beitritt der relativ är Streamlining der regionalen Politiken mit Zielen der europä- meren Länder Irland, Griechenland, Spanien und Portugal in ischen Wirtschaftsgovernance durch. Die oben erwähnten den 1970er und 1980er Jahren wuchs der Bedarf einer eige- Zielbestimmungen der Verträge gelten fort, deren Anspruch nen Kohäsionspolitik der EU erheblich. Nach Einschätzung an mehr Zusammenhalt wird jedoch ergänzt durch Ziele des Peter Beckers (2020a: 876f.) erhielt die Etablierung supra Wachstums, der Wettbewerbsfähigkeit, der Effektivität und nationaler Struktur- und Regionalpolitiken maßgebliche Im- Budgetierung. Seit der Förderperiode ab 2014 gelten die pulse, da ein Ausgleich für nationale Interessengegensätze Prioritäten der Zehnjahreswachstumsstrategie Europa 2020, gesucht wurde. Dabei ging es spätestens seit den Verhand- nach deren Auslaufen die Bestimmungen des integrativen lungen um die Vollendung des Binnenmarktes in der Einheit- Politikkoordinierungszyklus Europäisches Semester für alle lichen Europäischen Akte (EEA) Ende der 1980er Jahre in- Verästelungen der Kohäsionspolitiken. Neu eingeführte Kon- nerhalb der EWG einerseits um Unterstützungsleistungen ditionalitäten binden die Auszahlung von Geldern an die Er- für arme Neumitglieder, die befürchteten, von der Integra füllung von teilweise fachfremden Performanzleistungen der tionsvertiefung abgekoppelt zu werden. Andererseits ging Mitgliedstaaten in der Wirtschaftspolitik. Die Kontrolle der es um Kompensationen für reiche Neumitglieder, die einen Verwendung der Fördermittel wurde erhöht und das erfor- Anteil ihrer Nettozahlungen in das EU-Budget über die In derliche Antrags- und Berichtswesen neu aufgesetzt. Becker strumente der Kohäsionspolitik zurückerwarteten. In den (2020a: 875) konstatiert: „Die europäischen Strukturfonds nächsten Erweiterungsrunden wuchsen entsprechend die- traten nun in den Dienst einer engeren wirtschaftspolitischen ses Schemas die benötigten Fonds und Förderziele ebenso Koordinierung und sollten für die Erreichung der gemeinsa- an wie die Fördermittel für bestimmte Regionen. Neben die men wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Ziele und
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