KLIMA: Wie es unsere Vorfahren beeinflusste - Schweizerischer Nationalfonds (SNF)
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
SNF_Hor_69_UG_D.qxd 15.11.2006 20:25 Uhr Seite 2 DAS SCHWEIZER inhalt FORSCHUNGSMAGAZIN Nr. 69, Juni 2006 horizonte KLIMA: Wie es unsere Vorfahren beeinflusste CO : Tropische Bäume und Kakteen fixieren das Treibhausgas 2 DILEMMA: Wenn Juristen gegen ihr Gewissen handeln ATOMUHR: Das Ticken des Cäsiums neu modelliert
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:39 Uhr Seite 2 editorial MAESAO Nicht in Stein gemeisselt J ede neue Entdeckung verändert unser Wissen, und je mehr wir wissen, desto komplexer wird es... Diese Erkenntnis trifft auf die ganze Forschung zu, doch ganz besonders augenfällig wird sie in Disziplinen wie der Archäologie, wo immer wieder neue aufsehenerregende Funde dafür sorgen, dass, was heute gilt, morgen schon wieder überholt ist. In der Geschichte der Menschheit ist nichts in Stein gemeisselt. Schon gar nicht, seit das Interesse bei Grabungen über die archäologischen Funde selbst hinausgeht und ver- In Mali entdeckten Archäologen die ältesten Keramikreste Afrikas. mehrt auch der Lebensraum unserer Vorfahren Keystone systematisch mitanalysiert wird – Pflanzen, Tiere, die Bodenbeschaffenheit, Temperatur-, Regen- oder Windverhältnisse. Moderne interdisziplinäre Ausgrabungsprojekte machen einem in ihrer Breite immer wieder überdeutlich bewusst, wie bruchstückhaft unser Wissen ist. Zugleich ermöglicht die Horizonterweiterung von der Archäologie auf die Archäobotanik, Geomorpho- logie, Sedimentologie, Klimatologie und weitere Fachbereiche aber auch neue interessante Zusammenhänge. Es wird immer klarer, welchen Anteil die Umwelt und als Teil von ihr das Klima an der menschlichen Entwicklung haben. In der Titelgeschichte der aktuellen Ausgabe illustrieren wir mit Beispielen aus Mali, Sudan und Nigeria, wie dieser Einfluss konkret aussehen kann (ab S. 9). Und stellen die Frage, wie 18 weit der Einfluss von Umwelt und Klima allgemein auf unsere Kurse in der Muttersprache fördern die Sprachkompetenz. Entwicklung geht (S. 15). Die Fachmeinungen sind zwar geteilt, Einar Timdal/nhm.uio.no doch unbestritten bleibt, dass der Mensch längst nicht so selbstbestimmt ist, wie er sich einst sah. Vermutlich ist dies Wasser auf die Mühle von Bertrand Kiefer, der sich in den «Perspektiven» (S. 33) mit dem menschlichen Narzissmus auseinandersetzt bzw. mit den Erschütterungen, die das ichbezogene Welt- und Selbstbild durch die Forschung zunehmend erfährt. Bertrand Kiefer wird in den nächsten Ausgaben von «Horizonte» abwechselnd mit der Wis- senschaftsjournalistin Rosmarie Waldner die besagte Kolumne bestreiten. Wir heissen beide an dieser Stelle willkommen! Anita Vonmont Redaktion «Horizonte» Eine der wenigen Flechten mit deutschem Namen: das Eichenmoos 2 S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:39 Uhr Seite 3 inhalt Umschlagbild oben: Ausgrabungsstätte Ravin de la Mouche in Ounjougou, «Wer von der Forschung profitiert, sollte Mali (S. 10). Bild: MAESAO auch bereit sein, ihr etwas zu geben.» Umschlagbild unten: Hirnforscherin Stephanie Clarke zum Entwurf Kalziumoxalatkristalle unter dem Elektronenmikroskop des Humanforschungsgesetzes. (S. 20). Bild: Eric Verrecchia/unine.ch Seite 28 Aktuell Weitere Themen 5 Nachgefragt 18 Mehr Chancen für Migrantenkinder Wider den «Clash of Civilizations» Kurse in der Muttersprache fördern 9 6 Kindheit – statistisch gesehen die Sprachkompetenz. Schlaganfall-Therapie: 20 Pflanzen gegen den Treibhauseffekt Gegenspieler im Gehirn entdeckt Bäume und Kakteen fixieren Kohlendioxid Wenn Arbeit zum sozialen Ausschluss führt dauerhaft und in grossen Mengen. 7 Im Bild 23 Das Ticken des Cäsiums neu modelliert Gute Noten für Bt-Pflanzen Die Eigenfrequenz des Cäsiums, Taktgeber vieler Atomuhren, wird noch genauer 8 Auszeichnung für René Schwarzenbach berechenbar. Das feuchteste Jahrhundert seit 1000 Jahren Impfung gegen Leishmaniose 24 Ängstlichkeit macht unbeweglich Die Angst zu fallen fördert die Sturzgefahr älterer Menschen. Titel 25 Keusche Lebenskünstler 9 Die Umwelt und wir Weltweit gibt es 15 000 Flechtenarten, Die Entwicklung des Menschen wird entscheidend doch kaum einer kennt sie. Ein Besuch bei von Umwelteinflüssen mitbestimmt.Vor allem in der Lichenologin Rosmarie Honegger. frühen Kulturen, die noch stark von den natürlichen Ressourcen abhängig sind, lassen sich interessante 27 Recht gegen Gerechtigkeit Zusammenhänge feststellen. Beispiele aus unserem Wenn Juristen im Widerspruch zu ihrem archäologisch reichen Nachbarkontinent Afrika – Gewissen urteilen, leidet ihre Psyche. aus Mali (S.10), Sudan (S.12) und Nigeria (S.14). Aus den konkreten Einzelfällen lassen sich allerdings 31 Vor Ort: Klimaforschung in den USA erst vage allgemeine Tendenzen ableiten (S.15). Remo Nessler tüftelt in den USA an einem Messgerät für Aerosole. Porträt 16 Marguerite Neerman-Arbez: Genetik oder Schauspielkunst Die Genetikerin hat auf eine Schauspielkarriere verzichtet, nicht aber auf eine Familie. Interview Rubriken 28 «Die heutige Forschung 4 Meinungen 34 Nussknacker dient der nächsten Generation» 4 In Kürze 34 Exkursion 25 Der Entwurf des Humanforschungsgesetzes sei nicht ausgewogen, sagt SNF-Forschungsrätin 22 32 Wie funktionierts? Cartoon 34 35 Impressum Bücher Stephanie Clarke. 33 Perspektiven 35 Agenda S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6 3
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:39 Uhr Seite 4 aktuell meinungen in kürze Sinnlose Dafür vielen Dank.Weniger Schwerpunkte begeistert bin ich dagegen Schweizer Jugend forscht Nr. 68 (März 2006) über die laienhafte Verbreitung wissenschaftlicher Informa- Im 40. Wettbewerb von «Schweizer Jugend forscht» sind Ende Ganz herzlichen Glückwunsch April aus 44 Arbeiten, die sich qualifizieren konnten, 13 mit tionen in der Romandie. «Hori- zu Ihrem ausgezeichneten dem Prädikat «hervorragend» ausgezeichnet worden. Sie zonte» erscheint nur gerade Editorial. In der Öffentlichkeit handeln von Themen wie Kafkas Frühwerk, dem Völkermord vier Mal jährlich. Die Medien ist erfahrungsgemäss sehr an den Armeniern, der Chaostheorie oder der Keimhemmung beschränken ihr Engagement von Kartoffeln. Eingabefrist für den Wettbewerb 2007 ist der schwierig zu vermitteln, dass in diesem Bereich auf ein 16. Oktober 2006. Teilnehmen können Jugendliche aus Berufs- für die langfristige Grund- Minimum. Der Beweis: der und Mittelschulen zwischen 14 und 21 Jahren. www.sjf.ch lagenforschung keine gut be- Entscheid von Télévision gründeten Schwergewichte Suisse Romande (TSR), das gesetzt werden können, da Magazin «Territoire 21» nicht Neue Förderungsprofessuren Grundlagenforschung ihrer mehr auszustrahlen. Obwohl Natur nach spielerisch, kreativ, es keineswegs schlecht war, Der SNF hat im Februar 31 SNF-Förderungsprofessuren an risikobehaftet und deshalb Nachwuchsforschende vergeben, die sich durch hervor- ganz im Gegenteil. Ersetzt auch nicht planbar ist. In ragende wissenschaftliche Leistungen auszeichnen. Sie sind wurde es durch ein Gesund- der heutigen Situation ist es an sieben schweizerischen Universitäten und den beiden heitsmagazin, bei dem es nicht deshalb besonders fatal, dass ETH tätig. Beworben hatten sich 208 Wissenschaftlerinnen um Wissenschaft, sondern via parlamentarische Budget- und Wissenschaftler. um die Gesellschaft geht. Als www.snf.ch/de/fop/awa/awa_pfs_info.asp vorgaben und Verwaltungs- kleines Zückerchen bietet TSR manöver der – für die Zukunft eine Miniserie, die offensicht- der Schweiz existenziellen – lich gemeinsam mit der Stif- Grundlagenforschung zuneh- Neue Kohortenstudien tung Science et Cité produziert mend SNF-Gelder zu Gunsten wurde. Fünfzehn dreiminütige Der SNF hat zwei neue Langzeitstudien, so genannte Ko- angewandter Schwerpunkt- Episoden, mit denen die Neu- hortenstudien, bewilligt: Die Schweizer HIV-Kohorte unter und Verbundprojekte ent- gier eines breiten Publikums der Leitung von Patrick Francioli (Uni Lausanne) und die Sapal- zogen werden. Hier dürfte dia-Kohorte, die den Zusammenhang zwischen Luftver- geweckt wird und weit ver- Ihr prägnanter Beitrag, nicht schmutzung und Herz- und Lungenkrankheiten untersucht, breitete Irrtümer aufgedeckt zuletzt auch dank seiner unter der Leitung von Thierry Rochat (Unispital Genf ). Im werden. Das ist zu wenig. Kürze, auch in den Köpfen letzten Dezember waren bereits drei Kohorten bewilligt Vor einem Vierteljahrhundert in Bundesbern zu einer worden (Hepatitis C, chronischen Darmentzündungen sowie bereits gelang es dem begab- eine nationale Plattform zur Analyse von Gesundheitsdaten). Klärung beitragen. Der grif- ten Rafaël Carreras, die fige, journalistische Titel wissenschaftliche Neugier «Giesskannenprinzip» ist der Jugend zu wecken. Man vielleicht etwas doppeldeutig Susan Gasser ausgezeichnet ist sich einig, dass die wissen- und könnte von der Politik, schaftliche Forschung und Die Molekularbiologin und Direktorin des die ja ein eher gespaltenes ihre Anwendungsgebiete Friedrich-Miescher-Instituts, Susan Gasser, Verhältnis zum Giesskan- unterstützt werden müssen. ist mit dem Otto-Naegeli-Preis 2006 aus- nenprinzip hat, eher negativ gezeichnet worden. Sie erhält den Preis Daneben braucht es jedoch empfunden werden. Doch für Ihre bahnbrechenden Beiträge über auch ein kohärentes Konzept, dies ist halt wohl der Preis der die räumliche Organisation des Zellkerns um die wissenschaftlichen journalistischen Kürze. im Zusammenhang mit der höheren Chro- Erkenntnisse einem breiten Hans-Peter Bernhard, Basel mosomenstruktur. Der mit 200000 Franken Publikum zugänglich zu dotierte Preis wird alle zwei Jahre von der Bonizzi-Theler- machen. Stiftung vergeben. Französische Minder- Jean-Marcel Schorderet, heit ernst genommen Chêne-Bougeries Nr. 68 (März 2006) SNF: Strenge Selektion Ich habe mich beim Lesen der Ausgabe Nr. 68 gefreut pri@snf.ch 2005 hat der SNF 466 Millionen Franken in die Forschungs- förderung investiert. 22 Prozent der Beiträge flossen in die über die gelungene Darstel- Ihre Meinung interessiert uns. Geistes- und Sozialwissenschaften, 37 Prozent in die Mathe- lung neuer wissenschaftlicher Schreiben Sie bitte mit vollstän- matik, die Natur- und Ingenieurwissenschaften und 40 Prozent Erkenntnisse, aber auch diger Adresse an: Redaktion in die Biologie und die Medizin (1 Prozent nicht zuschreibbar). darüber, dass die ganze Zeit- «Horizonte», Schweiz. Natio- nalfonds, Leserbriefe, Pf 8232, In der freien Forschung wurden 5000 junge Forschende unter- schrift in französischer Spra- 3001 Bern, oder an pri@snf.ch. stützt. Die Projekte wurden sehr streng ausgewählt, wie der che erscheint und damit die Die Redaktion behält sich Aus- soeben erschienene Jahresbericht aufzeigt. französischsprachige Minder- wahl und Kürzungen vor. www.snf.ch/de/com/inb/inb_rep.asp heit ernst genommen wird. 4 S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:39 Uhr Seite 5 Elisabeth von Pölnitz-Eisfeld/Nordbayerischer Kurier nachgefragt Wider den «Clash of Civilizations» Wie sollen Rechtsstaat und Gesell- schaft mit der veränderten religiösen Landschaft in der Schweiz umgehen? Christoph Bochinger, Präsident eines neuen Forschungsprogramms, will durch Forschung die emotionali- sierte Diskussion versachlichen. Wo sehen Sie in der aktuellen «Religions- Natürlich ist vieles beunruhigend: Die landschaft Schweiz» am meisten Handlungs- «Zu fundamentalistischen Mobilisierungskraft religiöser Motive – bedarf? Strömungen und zur etwa bei Selbstmordattentaten oder Christoph Bochinger: Die religiöse Land- Frage, wie die Schweiz im Karikaturenstreit – ist beängstigend. schaft der Schweiz hat sich enorm verän- dert. Im Zuge der Globalisierung gibt es mit solchen Tendenzen Ebenso beängstigend ist aber auch die Reaktion darauf in westlichen Debatten, immer mehr neue Religionsgemeinschaf- umgehen soll, gibt es wenn etwa Samuel Huntington mit seinem ten. Gleichzeitig hat sich die Integrations- dringenden Forschungs- «Clash of Civilizations» ein Schwarz- kraft der christlichen Kirchen verringert, fundamentalistische Tendenzen nehmen bedarf.» Weiss-Szenario herbeischreibt. Es ist ein wichtiges Forschungsthema, diese Ausein- zu. Der Staat wird seine Gesetzgebung auf Was für konkrete Ergebnisse erwarten Sie andersetzungen zu untersuchen. die neue Situation einrichten müssen. Für von den NFP- 58- Projekten? sachgerechte Entscheide fehlt aber häufig Wir wollen Einstellungen in der Bevölke- Was halten Sie von einem Kopftuchverbot? das Grundlagenwissen. Wie können bei- rung untersuchen und Bedingungen für Unter Kopftüchern stecken sehr unter- spielsweise die Bedürfnisse von grossen ein gelingendes Miteinander religiöser schiedliche, keineswegs nur verblendete und kleinen Religionsgemeinschaften und und nichtreligiöser Gemeinschaften und Köpfe. In diesem Bereich ist vorurteilsfreie die Assimiliationsforderungen des Staates Individuen in der Schweiz klären. Das NFP Forschung dringend angezeigt. Gross- aufeinander abgestimmt werden? Fördert 58 schafft die Möglichkeit, Ergebnisse flächige Verbote sind ohne solche Grund- etwa ein so genannt neutraler Religions- unterschiedlicher Disziplinen zusam- lagenforschung kontraproduktiv. Diese unterricht die allgemeine Toleranz? menzutragen. Ich hoffe, dass sich neben kann auch dazu dienen, rechtliche Re- Forschenden aus Religionswissenschaft, gelungen, etwa zur Sicherung der religiö- Ethnologie und Soziologie beispielsweise sen Neutralitätspflicht in Schulen, besser Neues Forschungsprogramm auch Vertreter aus Rechtswissenschaft abzustützen. und Psychologie beteiligen. Neben der Anfang Juni ist das Nationale Forschungs- programm «Religionsgemeinschaften, Staat Erforschung traditioneller und neuer Re- Ist denkbar, dass christliche Fundamenta- und Gesellschaft» (NFP 58) ausgeschrieben ligionsgemeinschaften ist die Auswirkung listen in der Schweiz ein Verbot der Evolu- worden, für das der Bundesrat 10 Millionen religiöser Sozialisation auf die Individuen tionslehre bewirken? Franken gesprochen hat. Die Forschungs- ein wichtiges Thema. Und auch globale Zu fundamentalistischen Strömungen gibt schwerpunkte sind: Religionsgemeinschaf- Aspekte – mit klarem Bezug auf die es dringenden Forschungsbedarf. Auch ist ten im Wandel, Religion und Individuum, Schweizer Situation – sollen einfliessen, die Frage, wie das säkulare Verfassungs- Religion in Öffentlichkeit und Gesellschaft, etwa wenn es um die Beobachtung von recht der Schweiz mit solchen Tendenzen Staat und Religion sowie Religion und So- internationalen Vernetzungen geht. umgehen soll. zialisation. Projektskizzen können bis am 15. September 2006 eingereicht werden. Die Interview von Susanne Birrer Forschungsarbeiten beginnen im Mai 2007. Beunruhigt Sie selber an den aktuellen Ent- Das Programm dauert drei Jahre. www.snf.ch wicklungen nichts? Wie schätzen Sie etwa Christoph Bochinger ist Professor für Religions- wissenschaft an der Universität Bayreuth und den «Karikaturenstreit» ein? Präsident der Leitungsgruppe des NFP 58. S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6 5
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:39 Uhr Seite 6 aktuell Keystone Schlaganfall-Therapie: Gegenspieler im Gehirn entdeckt Bei einem Schlaganfall wird ein Teil des Gehirns ungenügend durchblutet, und die betroffenen Nervenzellen erhalten zu wenig Sauerstoff und Nährstoffe. Dies führt zu biochemischen Verände- rungen, die auch dann noch anhalten, wenn das Gewebe wieder ausreichend durchblutet ist. Eine neue Gruppe von Wirkstoffen, so genannte Neuroprotektiva, soll die Bildung von schädlichen Stoffwechselprodukten in den unterdurchbluteten Zellen hemmen. Doch bisherige klinische Studien liefen erfolglos. Nun hat die Arbeitsgruppe des Neurologen Dirk M. Hermann von der Universität Zürich herausgefunden, weshalb diese Wirkstoffe nicht wirken: Ein Eiweiss transpor- tiert die Neuroprotektiva in grossen Mengen vom Hirngewebe zurück in die Blutbahn, so dass die Wirkstoffe die Nervenzellen nicht richtig erreichen können. Das Eiweiss namens Mdr-1 wird im Hirngewebe gebildet, wenn dieses schlecht durchblutet ist, wie dies beim Hirnschlag der Fall ist. Indem die Wissenschaftler das Eiweiss Mdr-1 hemmten, konnten sie die Konzentration ver- schiedener Neuroprotektiva bis zum Zehnfachen steigern, was die Wirksamkeit der Medikamente Die Familienverhältnisse von Kindern in der Schweiz deutlich verbessert. Solche Mdr-1-Hemmer wurden von der Pharmaindustrie bereits gegen andere wurden erstmals umfassend statistisch untersucht. Krankheiten entwickelt und werden zurzeit klinisch geprüft. em Nature Neuroscience (2006), Band 9, S. 487 – 488 Kindheit – statistisch gesehen SPL/Keystone Seit kurzem verfügt die Schweiz über eine der umfassendsten soziodemografischen Be- schreibungen, wie Kindheit erlebt wird: In sei- ner innovativen Studie «Die Lebensumstände von Kindern: von der Geburt bis zum Verlassen des Elternhauses» hat Philippe Wanner von der Universität Genf eine Fülle von statisti- schen Informationen zusammengetragen, unter anderem auch solche aus der eidgenös- sischen Volkszählung im Jahr 2000. So erfährt Bei einem Schlaganfall wird ein Teil des Gehirns ungenügend durchblutet. man, dass in der Schweiz nur 10 Prozent der Kinder ausserehelich geboren werden – eine der niedrigsten Raten in Europa. Fast alle Väter Wenn Arbeit zum sozialen Ausschluss führt dieser Kinder anerkennen die Vaterschaft, und sie tun dies immer öfter bereits vor der Geburt. Arbeit ist ein zentraler Wert unserer Gesell- stammt aus der Studie «Integrations- und Aus- Jede zweite Frau, die Mutter wird, geht einer schaft. Doch heute ist die Erwerbstätigkeit schluss-Mechanismen in Arbeit und Beruf» des Arbeit nach. Paare mit Kindern lassen sich keineswegs mehr automatisch Garant für Nationalen Forschungsprogramms «Integration weniger oft scheiden als kinderlose, und nur 10 wirtschaftliches Auskommen, soziale Integra- und Ausschluss» (NFP 51), die vom Soziologen Prozent der Kinder erleben die Scheidung ihrer tion, Anerkennung und Selbstachtung – alles François Hainard von der Universität Neuen- Eltern in den ersten zehn Lebensjahren. Diese zentrale Bestandteile der Menschenwürde. burg geleitet wurde. Sie kommt zum Schluss, Rate ist allerdings doppelt so hoch, wenn die Verschiedene Indikatoren zeigen, dass eine dass Arbeitsunsicherheit (Unzufriedenheit Mutter Schweizerin und der Vater Ausländer Verschlechterung der Arbeits- und Anstellungs- über die Arbeitsbedingungen, Entlöhnung, ist. Weitere interessante Daten: Im internatio- bedingungen zum sozialen Ausschluss führen Arbeitsatmosphäre) belastender zu sein scheint nalen Vergleich verlassen die Kinder in der kann. Dieser Besorgnis erregende Befund als Unsicherheit in Bezug auf die Anstellungs- Schweiz das Elternhaus frühzeitig, in nahezu bedingungen (zeitlich befristete Anstellung, Keystone sechs von zehn Fällen bereits vor dem Ende Kündigungsrisiko). Laut den Forscherinnen der Ausbildung. Die Studie, die im Nationalen Pascale Gazareth, Katia Iglesias und Malika Forschungsprogramm «Kindheit, Jugend und Wyss stellt die berufliche Unsicherheit nicht nur Generationenbeziehungen im gesellschaft- ein Verarmungsrisiko dar, sondern beeinträch- lichen Wandel» (NFP 52) durchgeführt wurde, tigt vor allem auch das psychische Wohl- macht deutlich, wie sich die Lebensumstände befinden, mit deutlichen Konsequenzen für das von Kindern verändern und wie sich die elterli- ganze Sozialversicherungssystem. Die Studie che Situation zum Zeitpunkt der Geburt auf fordert deshalb ein stärkeres Bewusstsein der den weiteren Verlauf der Kindheit auswirkt. Politik für dieses Thema, damit Arbeits- und Ausserdem zeigt sie auf, wie wichtig es ist, die- Anstellungsbedingungen nicht nur zwischen sen Lebensabschnitt in der Familienpolitik Berufliche Unsicherheit beeinträchtigt Arbeitgebern und Gewerkschaften, sondern stärker zu berücksichtigen. Ariane Geiser das psychische Wohlbefinden. auch breit diskutiert werden. Ariane Geiser 6 S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:39 Uhr Seite 7 im bild Gute Noten für Bt-Pflanzen Der gentechnisch veränderte Bt-Mais und die Bt-Baumwolle sind gegen Schädlinge resistent, weil sie ein spezifisches Insekten- gift bilden. Doch sind sie auch für nützliche Insekten gefährlich, wie beispielsweise Marienkäfer, die Blattläuse fressen, oder Florfliegenlarven, die Thripse verspeisen (im Bild)? Dieser Frage sind Jörg Romeis, Michael Meissle und Franz Bigler von der Forschungsanstalt für Agrarökologie und Landbau in Zürich-Reckenholz nachgegan- gen. Sie haben dafür zahlreiche Studien ausgewertet und kommen zum Schluss, dass das Toxin der Bt-Pflanzen keine schäd- lichen Auswirkungen auf die Nützlinge hat. So schadet ihnen weder der Frass an der Bt-Pflanze noch der Verzehr von Beutetieren, die das Bt-Toxin aufgenommen haben. Allerdings könne dieses Resultat nicht auf gentechnisch veränderte Pflanzen über- tragen werden, die andere Insektengifte bilden, so die Forscher. Die entsprechenden Analysen müssten von Fall zu Fall neu vor- genommen werden. Die Studie ist Teil des Nationalen Forschungsschwerpunkts «Überlebenserfolg von Pflanzen». em Nature Biotechnology (2006), Band 24 (1), S. 63 – 71 Bild Gabriela Brändle/Agroscope Reckenholz ART S C H W E I Z E R I S C H E R N A T I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6 7
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:39 Uhr Seite 8 aktuell Auszeichnung für den Umweltforscher René Schwarzenbach Impfung gegen Leishmaniose Der Schweizer Umweltchemiker René ETHZ Die Tropenkrankheit Leishmaniose tötet Schwarzenbach hat als erster Nicht-Ame- jährlich 60000 Menschen. Nun hat ein Team um rikaner den «Award for Creative Advances den Biochemiker Peter Seeberger von der ETH in Environmental Science & Technology» Zürich zusammen mit dem Schweizerischen erhalten. Obwohl der Preis der American Tropeninstitut in Basel und der Firma Pevion in Chemical Society (ACS) «nur» mit 5000 Bern eine neuartige Impfung entwickelt, die im Dollar dotiert ist, geniesst er hohes An- Tierversuch eine starke Immunreaktion gegen sehen. «Es zeigt, dass Umweltchemie sich die Krankheit auslöste. als Zweig der Chemie etabliert hat», sagt Das Prinzip ist das Gleiche wie bei anderen der 60-jährige Preisträger. René Schwar- Impfungen: Das Immunsystem lernt auf scho- zenbach steht dem Departement Umwelt- nende Weise, den Erreger zu erkennen und zu wissenschaften der ETH Zürich vor und bekämpfen. Die Forschenden verwendeten ist zudem Vizepräsident der Abteilung hin, das René Schwarzenbach 1993 ver- dazu eine Zuckerverbindung aus der Hülle «Orientierte Forschung» des SNF-For- fasst hat, nicht allein, wie er betont, son- des Erregers, die sie künstlich herstellten. Der schungsrats. Zur Umweltchemie kam er dern zusammen mit Philip Gschwend und Zucker bildete das spezifische Ziel (Antigen) durch Zufall. 1974 wollte er sich eigentlich Dieter Imboden, dem SNF-Forschungs- für das Immunsystem. als Chemie-Informatiker selbstständig ratspräsidenten. «Environmental Organic Impfungen, die auf Zuckerverbindungen ba- machen, als er einen Vortrag von Max Chemistry» war das erste Lehrbuch über- sieren, sind bereits auf dem Markt, zum Bei- Blumer hörte, einem Pionier der Geo- haupt zu diesem Thema und ist noch immer spiel jene gegen Meningitis. Sie brauchen aber chemie. Er war fasziniert, ging für zwei das Standardwerk. Die stark erweiterte Hilfsstoffe, damit die Immunantwort genügend Jahre ans Ozeanforschungsinstitut Woods zweite Auflage mit ihren 1300 Seiten stark ausfällt, haben Nebenwirkungen und Hole auf Cape Cod, bevor er Mitarbeiter wurde sogar ins Chinesische übersetzt. sind nicht sehr effektiv. und schliesslich Direktionsmitglied des «Es freut mich sehr, dass nicht nur die Peter Seebergers Team wählte einen vollkom- Wasserforschungsinstituts Eawag wurde. Forschung, sondern auch die Lehre stark men neuen Ansatz: Die Forschenden integrier- Die ACS weist in ihrer Laudatio be- gewichtet wurde», sagt René Schwarzen- ten die Zuckerverbindung der Leishmaniose in sonders auf das bahnbrechende Buch bach. Antoinette Schwab eine leere Grippenvirenhülle. Eine erfolgreiche Strategie: Die Mäuse, die mit dem Impfstoff geimpft wurden, entwickelten eine starke Das feuchteste Jahrhundert seit 1000 Jahren Antikörper-Antwort. «Die Studie hat bewiesen, dass das Prinzip funktioniert», sagt Peter Kerstin Treydte/WSL mengen einer bestimmten Region untersucht Seeberger. «Es ist für viele andere Krankheiten werden, wenn direkte Messungen nur bis zum vielversprechend, bei denen Kohlenhydrate als Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen? Antigene vorkommen, von Infektionskrank- Forschende der Eidgenössischen Forschungs- heiten bis zu Krebs.» anstalt für Wald, Schnee und Landschaft haben Die Leishmaniose-Impfung braucht allerdings kürzlich in der Fachzeitschrift «Nature» gezeigt, noch viel Arbeit: Peter Seeberger rechnet dass die Zellulose von Bäumen nicht nur im Hin- damit, dass die Entwicklung mindestens wei- blick auf die Papierherstellung eine wichtige tere fünf Jahre in Anspruch nimmt. em Rolle bei der Archivierung klimatischer Daten ACS Chemical Biology, Band 1(3), S. 161 – 164, www.seeberger.ethz.ch spielt. Sie haben das Verhältnis zweier Sauer- stoffisotope in der Zellulose von Wacholder- SPL/Keystone sträuchern analysiert und konnten dadurch die Entwicklung der Niederschläge seit 826 nach Christus in der Region von Karakorum in Nord- pakistan rekonstruieren. Und dies mit einer ausgezeichneten und einzigartigen zeitlichen Die Zellulose tausendjähriger Wacholdersträuche Auflösung, die auf den Jahresringen beruht. in Nordpakistan dient der Klimarekonstruktion. Die Ergebnisse zeigen, dass das 20. Jahr- Temperaturveränderungen sind nicht die ein- hundert der weitaus feuchteste Zeitraum der zigen Anzeichen einer Klimaveränderung. Einen letzten tausend Jahre war. Die Intensivierung noch grösseren Einfluss auf die menschlichen des hydrologischen Kreislaufs dürfte auf die Gemeinschaften können Schwankungen des seit Ende des 19. Jahrhunderts beobachtete hydrologischen Kreislaufs haben. Wie soll Klimaerwärmung zurückzuführen sein. pm jedoch die Entwicklung der Niederschlags- Nature (2006), Band 440, S. 1179 – 1182 Der Erreger der Leishmaniose ist ein Einzeller. 8 S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:39 Uhr Seite 9 titel Die Umwelt und wir Der Faktor «Umwelt» bestimmt massgeblich mit, ob und wie sich die menschliche Gesellschaft über die Jahrtausende hinweg entwickelt hat. Interdisziplinär angelegte Ausgrabungen lassen interessante Zusammenhänge erkennen. Bilder: Prisma (oben), MAESAO S C H W E I Z E R I S C H E R N A T I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6 9
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:39 Uhr Seite 10 titel In Mali hat ein Forschungsteam Überreste der ältesten Keramik J Afrikas entdeckt. Sie stammen aus der Zeit, als der Mensch Keramik erfunden hat. Dass wir heute aus kochfesten Töpfen essen, scheinen Heutiger Sand des Flusses Yamé wir einem früheren Klimawandel zu verdanken. Von Anita Vonmont, Bilder MAESAO 1 . . Keystone 2 3 Zeugen früher Erfindungskunst K arge Sandsteinplateaus, steil An eine solche Entdeckung hatten die Klima – mittlerweile mit einem Team abfallende Felsen, dazwischen Wissenschaftler überhaupt nicht gedacht, von Archäobotanikerinnen, Sedimento- malerische Dörfchen, in denen als sie 1997 am Fundort Ounjougou im Pays logen, Geomorphologen, Ethnohistorike- alte Traditionen weiter leben – Dogon ein grösseres Forschungsprojekt rinnen, Linguisten, Ethnoarchäologinnen das Bandiagara-Massiv gehört zu den ein- starteten. Der Reiz dieses Gebiets lag und weiteren Spezialisten. Beteiligt sind 5 drücklichsten Landschaften Westafrikas. anderswo: Im Mündungsgebiet von vier rund 30 Forschende der Universitäten Die Unesco hat es zum Welterbe erklärt. Flüssen gelegen, lässt es bis weit in die Genf, Freiburg, Bamako, Frankfurt, Oxford, Seit neustem ist die Gegend im Herzen Tiefe hinab deutliche geologische Schich- Paris, Rouen und Caen. von Mali um eine Attraktion reicher: Ein tungen erkennen, die durch Erosion frei- Die gefundenen Relikte internationales Forschungsteam hat hier gelegt wurden. Wind, Wasserläufe, Regen, decken heute einen Zeit- Tonscherben gefunden, die sich als Über- aber auch Pflanzen und Menschen haben raum ab, der vom 19.Jh. reste der frühesten Keramikproduktion hier sichtbare Spuren hinterlassen. n. Chr. bis in die frühe Afrikas herausgestellt haben und zu den Zeit des anatomisch ✩ ✩ ältesten Keramikfunden weltweit zählen. 200000 JAHRE MENSCHHEITSGESCHICHTE modernen Menschen Bei den seltenen Fundgegenständen «Es sah ganz danach aus, wie wenn sich vor 200000 Jahren zurück- handelt es sich um braune, daumennagel- hier die Entwicklung von Mensch, Umwelt reicht. Eine lückenlose Dokumen- bis handgrosse Fragmente, in die mit einem und Klima über eine sehr lange Zeit ver- tation lassen die Funde nicht zu, aber sie Kamm feine Verzierungen eingedrückt folgen liesse», sagt Eric Huysecom vom geben Aufschluss über wichtige Entwick- wurden. Sie bestehen aus gebranntem Departement für Anthroplogie und Ökolo- lungsschritte. So etwa entwickelten die Ton mit Schamotte-, Quarz- und Sand- gie der Universität Genf. Der Archäologe Menschen vor 150 000 Jahren eine neue stein-Einschlüssen. Es sind Teile von untersucht genau genommen seit 1988 Steinbearbeitungstechnik oder vor 30 000 schalenförmigen Gefässen – mindestens die Besiedelungsgeschichte des Ortes in Jahren neuartige, viel kleinere Steingeräte. ✩ 11 400 Jahre alt. ihrer Wechselbeziehung mit Umwelt und Um 10 000 v. Chr. benutzten sie Keramik- 8 10 S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:40 Uhr Seite 11 Schluchten der Fliege und der Eule Oumounaama Südliches Damatoumou Kélissogou Sedimente der Neolithisches Westliches Dandoli Kokolo südlichen Schlucht West-Oumounaama Vorgebirge Atelier Frühgeschichtliches Vorgebirge U2 U6 EH U5 U2 JH MH U3 U4 AH Flussaufwärts der Schlucht Ménié-Ménié é U1 .. Flussabwärts der Schlucht Ménié-Ménié . . . 4 1 Die Profilansicht zeigt alle Schichten, wel- che die Forschenden am Grabungsort Ounjou- gou für die letzten 200 000 Jahre festgestellt haben. Die mit U bezeichneten Ablagerungen stammen aus der letzten Eiszeit, AH, MH, JH und EH (altes Holozän: 9500 – 7000 v. Chr., mittleres Holozän: 7000 – 3500 v. Chr., junges Holozän 3500 – 500 v. Chr., Endholozän 500 v. Chr. bis heute) bezeichnen Ablagerun- gen des anschliessenden Holozäns. 6 7 Eines der malerischen Dörfer in der Um- 2 gebung. gefässe. Ab 3 500 v. Chr. brannten sie regel- Blick in eine der Schluchten des Bandia- 3 mässig und grossflächig Wälder ab, um gara-Massivs, deren Sedimente die Erosion fruchtbares Land zu gewinnen, und verän- gut sichtbar freigelegt hat. derten so – schon damals – die Umwelt, in 4 Die Töpferei – in Ounjougou in Mali bis der sie lebten. Sicher ab 1800 v. Chr., mö- heute ein verbreitetes Handwerk. glicherweise deutlich früher, betrieben sie ✩ ✩ 5 Eine zweiseitig bearbeitete Pfeilspitze. Ackerbau und begannen bald danach auch, Haustiere zu züchten. Im 1. Jahrtausend Sie stammt aus dem 10.Jahrtausend v.Chr., der gleichen Zeit wie die älteste Keramik Afrikas v. Chr. begann die Zeit der Eisenverarbei- tung, ab dem 13. Jh. n. Chr. die Kultur der Wüste 6 7 Überreste von Afrikas frühsten Keramik- heute noch hier lebenden Dogon. Wüstenartige Bereiche gefässen; die älteste Scherbe (Bild 6) ist Sahel mindestens 11 400-jährig. ÄLTESTE KERAMIK BISHER AUS ASIEN Savanne Je nach Klimaverhältnissen hat sich Afrika 8 Die Keramik aus dem Neolithikum ist also Regenwald massiv verändert. War die Sahara z.B. am nur eine unter vielen Entdeckungen. Aber Ausgrabungsort Ende der letzten Eiszeit extrem trocken und ✩ Ounjougou/Mali unbewohnt (links), veränderte sie sich in der eine besonders spektakuläre. Die erste Anfangsphase des Holozäns unter günstigeren Scherbe war schon vor ein paar Jahren zum Klimabedingungen zu einer bewohnten Savanne (rechts). H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6 11
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:40 Uhr Seite 12 titel Eric Huysecom (l.) und Samuel Schmid (r.), der als Bundespräsident 2005 das Grabungsgebiet von Ounjougou besuchte. Analysen laufen noch – wurde Ounjougou von einer wüstenhaften Gegend zu einer leicht bewaldeten Graslandschaft, die sich kurz darauf zur tropischen Savanne mit dichtem Urwald verwandelte. Den Menschen gab dies Gelegenheit, ihre Nahrungspalette um Wildgräser zu er- weitern. Um die neue Speise aber verdauen zu können, mussten sie sie kochen – und dazu brauchten sie feuerfeste Gefässe. Sie begannen, Keramik zu produzieren. Zeugen dieses Klima- und Umwelt- wandels sind auch neuartige Waffen, kleine Vorschein gekommen. Die Forschenden zweiseitig bearbeitete Pfeilspitzen, mit konnten es kaum glauben, denn die bisher denen vermutlich Hasen, Rebhühner und älteste afrikanische Keramik aus der anderes Kleinwild in der Grassteppe gejagt Sahara und dem Nilgebiet stammte aus wurden. Sie tauchen sowohl in Westafrika dem 8. und 9. Jahrtausend, allerhöchstens als auch in Nord- und Ostasien jeweils noch aus dem späten 10. Jahrtausend zusammen mit der frühsten Keramik auf. v. Chr. und war somit klar jünger. Mittler- Archäologen entdecken weile hat Eric Huysecom aber keine Zweifel mehr: Sechs Fundstücke sind bei- KLIMA ALS INNOVATIONSFAKTOR Seit den Funden von Mali wird klar, dass im Niltal Sudans eine sammen, deren Alter nach zwei Verfahren die Menschen Keramik unter ähnlichen vieltausendjährige übereinstimmend datiert wurde. Vielleicht Klimabedingungen, aber unabhängig sind sie sogar noch älter als 11 400-jährig. voneinander auf zwei Kontinenten er- Siedlungskontinuität: Auf jeden Fall gehören sie zur ältesten funden haben. Denn für einen kulturellen Von Jagdstationen über Keramik überhaupt. Bislang war ähnlich Austausch waren laut Eric Huysecom alte Töpferware nur aus Asien bekannt: In Westafrika und Nordostasien für die Bauerndörfer bis zur Sibirien, China und Japan stammen die frühesten Funde aus der Zeit zwischen Menschen von damals zu weit voneinan- der entfernt. Im Fall der Keramik lässt Stadt Kerma zwang die dem 15. und 9. Jahrtausend v.Chr. sich nach dem heutigen Wissensstand Aridisierung die Men- demnach sagen, dass tatsächlich ein «EINE ANPASSUNG DES MENSCHEN» Klimawandel bzw. die damit verbundene schen, immer näher am Die geomorphologischen und archäobota- Umweltveränderung massgeblich zu Fluss zu leben. nischen Untersuchungen des Teams führ- dieser Erfindung beigetragen hat. ten noch zu einer weiteren interessanten Von Geneviève Lüscher Erkenntnis. «Wir können heute annehmen, E dass es sich bei der Erfindung der Keramik twa auf dem gleichen Breitengrad Sonnenlicht verrät das Alter um eine Anpassung des Menschen an einen wie Mali, aber im Sudan auf der Klimawandel handelt», so Eric Huysecom. Wie alt die Keramikfunde von Ounjougou gegenüberliegenden Ostseite des Für diese Annahme spricht die Tatsache, sind, haben die Forschenden indirekt be- Kontinents befindet sich die Fund- dass die früheste Keramik der Menschheits- rechnet. Einerseits haben sie das Alter von stelle Kerma. Hier untersucht eine Gruppe Holzkohlestückchen aus den jeweiligen Erd- geschichte in Asien wie Afrika unter sehr von Schweizer Archäologen und Archäo- schichten mit der C14-Methode bestimmt, ähnlichen klimatischen Bedingungen ent- loginnen – ehemals unter der Leitung des die den Zerfall der C14-Kohlenstoffvariante standen ist. In der damaligen Übergangszeit in organischen Stoffen misst. Parallel dazu Genfer Archäologen Charles Bonnet, heute von der letzten Eiszeit zum Holozän pen- haben die Wissenschaftler auch mit der unter Matthieu Honegger von der Universi- delte das Klima zwischen Kalt- und Warm- OSL-Methode (Optically Stimulated Lumi- tät Neuenburg – seit mehreren Jahrzehnten phasen hin und her. Keramik entstand, als nescence) gearbeitet, die eine Datierung die Nilebene oberhalb der 3. Stromschnelle. das Klima für die Menschen günstiger, d.h. der im Boden vorhandenen Quarzpartikel Hier, im fruchtbaren Flusstal, entstand vor allem feuchter wurde. Dass dieser Ver- erlaubt. Unter dem Einfluss von natürlicher um 2500 v. Chr. das erste Königreich Radioaktivität speichert der Quarz im Boden änderungsprozess sehr rasch fortschreiten Nubiens mit seiner Hauptstadt Kerma, Energie und setzt sie im Sonnenlicht wieder konnte, belegen in den Schluchten von frei. Aus der Menge an Energie, die im Labor- deren Ruinen noch heute sichtbar sind. Bandiagara u.a. Pollen-, Blatt- und Holzreste kunstlicht freigesetzt wird, lässt sich das Kerma entstand aber nicht aus oder Phytoliten, d.h. mineralisierte Ablage- Alter der Quarzpartikel – und somit auch dem Nichts: «Wir konnten mit Hilfe von rungen, die von Pflanzen gebildet werden. der Fundobjekte ringsum – berechnen. vo Prospektionen, also Geländebegehungen, Zwischen 10 000 und 9 400 v. Chr. – die nachweisen, dass hier schon im Meso- 12 S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:40 Uhr Seite 13 Blick auf die nubische Stadt Kerma nach den Ausgrabungen eines Genfer und Neu- enburger Archäologenteams. Im Zentrum leicht erhöht gelegen (vgl. auch Bild rechts) der noch erhaltene Haupttempel aus der Zeit von 2500 bis 1500 v. Chr. Bilder Matthieu Honegger (oben), Prisma Vom Kraal zur Königsstadt lithikum, von 8000 bis 6000 vor Christus, rung war. Im Mesolithikum mit seinem und deren Körner zu mahlen – eine Früh- Menschen lebten», sagt Matthieu Honeg- noch ausgesprochen feuchten Klima war form des späteren Ackerbaus!» ger. Die Besiedlung liess sich dann mehr die Nilebene ständigen Überschwemmun- oder weniger kontinuierlich über das gen ausgesetzt. Die Archäologen fanden KONZENTRATION AM WASSER Neolithikum (6000 – 3500 v. Chr.) und das so verstreute Spuren aus dieser Zeit nur Die gleiche Flussinsel wurde dann auch in genannte Prä-Kerma (3500 – 2500 v. Chr.) auf erhöhten Schwemmlandterrassen, in der Prä-Kerma-Zeit bewohnt. Die Trocken- bis zum Königreich Kerma mit seiner einiger Entfernung vom heutigen Fluss- heit war nun bereits so weit fortgeschritten, gleichnamigen Hauptstadt (2500 – 1500 lauf. Damals in der Savanne, liegen diese dass Überschwemmungen ausblieben und v. Chr.) weiter verfolgen. Fundstellen heute vollständig in der Wüste. eine dauerhafte Siedlung gebaut werden Im Neolithikum beginnen die Men- konnte. Wieder fanden die Archäologen FÖRDERTE TROCKENHEIT DEN ACKERBAU? schen langsam und vorerst nur zeitweise Rundhütten und Viehpferche, aber neu «Spannend an unserem Projekt ist, dass sesshaft zu werden. Sie betreiben in der auch Vorratsgruben für das Getreide, denn sich die kulturelle und sozioökonomische Savanne Viehzucht, kennen jedoch den nun hatte der Ackerbau Einzug gehalten. Entwicklung von den Wildbeutern des Ackerbau noch nicht. Das Klima wird «Wichtig war für uns die Entdeckung Mesolithikums über die halbnomadischen trockener, aber noch immer ist der Nil sehr von zwei rechteckigen Häusern und von Viehzüchter des Neolithikums, die Acker- breit. Mehrere Flussarme umfliessen leicht Spuren einer Befestigung mit grossen bauern der Prä-Kerma-Zeit bis zu den erhöhte Inseln, die in Abständen überflutet Bastionen; das sind architektonisch völlig Stadtbewohnern von Kerma mit einer werden. Auf einer dieser Inseln fanden die neue Siedlungselemente», erklärt Honeg- Klimaveränderung – nämlich einer zuneh- Archäologen eine Siedlung: «Reste von ein- ger. Es könnte sich seiner Meinung nach um menden Trockenheit seit dem Mesolithi- fachen, rundovalen Hütten, Feuerstellen erste Anzeichen eines archaischen Ur- kum – parallelisieren lässt.» Den Forschern und Einfriedungen für das Vieh», erläutert banismus handeln, gebildet durch die stellt sich die Frage, ob die klimatische Ver- Honegger. Unter den Fundobjekten fanden zunehmende Konzentration der Bevöl- änderung in diesem Fall nicht sogar einer sich interessanterweise auch Mahlsteine. kerung in Flussnähe. «Die Trockenheit der Auslöser für kulturelle Entwicklungen «Wir vermuten, dass die Menschen ange- zwang alle Menschen, näher am Fluss zu wie Viehzucht, Ackerbau und Urbanisie- fangen hatten, Wildgräser zu sammeln siedeln; Klimaveränderung, Bevölkerungs- S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6 13
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:40 Uhr Seite 14 titel Geheimnisvolle Grosssiedlungen Um 500 vor Christus bildeten sich sozu- sagen aus dem Nichts erstmals im Afrika südlich der Sahara Siedlungen mit mehre- ren tausend Menschen. Wie sie entstanden Matthieu Honegger und wenig später wieder verschwanden, bleibt ein Rätsel. Auch in Nigeria sind Archäologen aktiv. Ein Projekt der Deutschen Forschungsgemein- Ausgrabung einer Befestigung des Siedlungsorts Prä-Kerma um 3000 v.Chr. schaft untersucht dort den Zusammenhang zwischen klimatischer Veränderung, Land- schaftswandel und kultureller Entwicklung dichte und zunehmender Wohlstand gehö- nun noch näher zum Nil hin verlagert, weil während der letzten beiden Jahrtausende ren zu den wichtigen Parametern für eine die Flussarme um Prä-Kerma vermutlich vor der Zeitenwende. Das Team unter Peter Urbanisierung», ist der Forscher überzeugt. ausgetrocknet sind; die Hauptstadt Kerma Breunig von der Universität Frankfurt a. M. Dass die menschliche Gemeinschaft liegt etwa 5 Kilometer weiter westlich als arbeitet v.a. im Tschadbecken und erforscht begonnen hat, sich umzuorganisieren, zei- die Vorgängersiedlung. Sie zeigt ein klas- die früheren Siedlungsstrukturen einerseits gen laut Honegger auch die gleichzeitigen sisch urbanes Gepräge mit einem Strassen- mit Hilfe flächendeckender Magnetprospek- tion und andererseits mit kleinflächigen Aus- Gräber mit ganz unterschiedlich reichen netz, Plätzen, monumentalen Tempeln und grabungen. Die Forscher konnten feststellen, Grabbeigaben. «Es hat nun ganz klar eine einer Umfassungsmauer mit Stadttoren. dass die im 2. Jahrtausend v.Chr. aufblühende soziale Differenzierung stattgefunden; der Die Gebäude sind nun rechteckig und aus Bauern- und Viehzüchterkultur in eine Krise Ackerbau mit Hilfe von Bewässerung und Lehmziegeln erbaut, beides geht wohl auf geraten war. Grund scheint ein Trockenheits- auch erste Ansätze eines Handels mit Ägyp- ägyptische Einflüsse zurück. Es handelt schub gewesen zu sein, der zwar die Lebens- ten ermöglichten die Bildung von Reichtum sich ausserhalb Ägyptens um die wohl grundlage zerstörte, aber offenbar gleichzeitig und damit von einer Elite.» älteste heute bekannte Stadt Afrikas. zu alternativen Lebensweisen anregte, näm- Das Königreich Kerma entstand um Zwischen der Siedlung Prä-Kerma und lich zu einer Rückkehr von der Sesshaftigkeit zur Mobilität. Das würde gemäss Breunig min- 2500 v. Chr. und dauerte bis zur Kolonisie- der Königsstadt klafft aber siedlungs- destens das auffällige Fehlen menschlicher rung Nubiens durch die Ägypter um 1500 v. geschichtlich eine Lücke. «Wir kennen Siedlungsspuren in Teilen des Untersuchungs- Chr. Der Siedlungsschwerpunkt hat sich die allerältesten Phasen der Stadt nicht», gebietes im ersten Jahrtausend erklären. bedauert Honegger. Er vermutet, dass die frühesten urbanen Strukturen mehr archi- «Wohl eher soziale Gründe» Urgeschichte der Schweiz Besiedelung tektonische Ähnlichkeiten hatten mit -Chr. G. von Kerma Um 500 vor Christus entstehen dann – quasi Eisen, Drehscheiben- Eisenzeit keramik, Münzen, Prä-Kerma. Tatsächlich finden sich in aus dem Nichts und erstmals im Afrika süd- erste urbane Zentren Stadt durch Ägypter den ältesten Quartieren Kermas noch «alt- lich der Sahara – sehr grosse Siedlungen, in - 800 - 1000 zerstört Bronze, Seeufer- modische» Rundhütten und Vorratsgruben. denen mehrere tausend Menschen lebten, Bronze- siedlungen, zeit befestigte - 1500 «eine eigentliche Sensation», erklärt Breu- Höhensiedlungen -2000 Kerma Stadt- bewohner nig. «Erstmals haben sich hier Siedlungskon- - 2200 ZERSTÖRT DURCH DIE ÄGYPTER zentrationen gebildet, ohne dass wir genauer - 2500 Ob die Stadtgründung eine direkte Antwort -3000 Prä- Ackerbauer erklären könnten, wie es dazu gekommen ist. Ackerbau und Viehzucht Kerma ist auf die zunehmende Trockenheit, kann Die Trockenheit mag eine Art Initialzündung Neo- – Sesshaftigkeit - 3500 Honegger nicht sagen. Sicher sei hingegen, lithikum – Keramik -4000 geliefert haben, aber dass dann eine Gross- – Textilien – Seeufer- dass die Standortverlagerung näher zum siedlung entstanden ist, das hat doch wohl siedlungen Neo- Halbnoma- lithikum dische lebenswichtigen Nass klimatisch begrün- eher soziale Gründe», meint er. Eine neue -5000 Viehzüchter Form des Zusammenlebens und neue soziale det war. Die Konzentration der Menschen - 5500 Strukturen seien jedenfalls anzunehmen. So -6000 entlang der lebenswichtigen Flussader, zeigen die Untersuchungen im nigerianischen dem Nil, hatte aber vermutlich zur Folge, Nomadisie- Zilum beispielsweise, dass ein mächtiger, Meso- rende Jäger dass sich das menschliche Zusammen- Nomadisierende -7000 geradezu «spektakulärer» Graben den Ort Meso- lithikum und Samm- lithikum Jäger und lerinnen leben neu organisieren musste. Ihre Pros- Sammlerinnen umgab, der nur in gemeinschaftlicher Arbeit perität verdankt die Stadt aber eher dem -8000 auszuheben war. Waren die Ressourcen so blühenden Handel mit Gold, Ebenholz und knapp geworden, dass Schutzmassnahmen Elfenbein aus Schwarzafrika – begehrte getroffen werden mussten, fragen sich die -9000 Keine Paläo- Güter im nun aufstrebenden Ägypten. Forscher. Die Grosssiedlungen verschwanden lithikum Besiede- Paläo- Nomadisierende lungsspuren um 200 v. Chr. so plötzlich, wie sie entstanden lithikum Jäger und -10000 Der ägyptische Pharao Thutmosis I. war es Sammlerinnen waren; «offenbar war das ‹urbane Experiment› dann aber auch, der die Stadt Kerma um v. Chr. gescheitert», mutmasst Breunig. 1500 v. Chr. zerstörte und Nubien seinem Die unterschiedlichen Zeiten gleichnamiger Epochen resul- tieren aus den unterschiedlichen Kulturentwicklungen. Reich einverleibte. 14 S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:40 Uhr Seite 15 Besonders in den Tropen lassen sich Blütezeiten von Kulturen eher in ruhigeren, regenreichen Klimaphasen feststellen. Im Bild ein Tempel der Mayakultur (hier in Guatemala), die nach extremer Trockenheit zusammenbrach. Bild Prisma E s gibt zu dieser Frage unterschied- liche Positionen», sagt der Geograf Martin Grosjean, Direktor des Nationalen Forschungsschwer- punkts Klima. «Sie reichen vom rigiden Determinismus, der alle Innovations- schritte – in der Technologie, sozialen Organisation, Kultur usw. – auf Umwelt- einflüsse zurückführt, bis zum Standpunkt jener, die alle Änderungen unabhängig von externen Faktoren, rein aus der gesellschaftlichen Entwicklung heraus, erklären.» Es überwiege aber eine dif- ferenziertere Haltung: «Danach stellen Umwelt und Klima so genannte ‹windows of opportunity› bereit, Bandbreiten mögli- cher Entwicklungen. Und es ist dann an der Gesellschaft, das Angebot für weitere Ent- wicklungsschritte zu nutzen oder nicht.» Existieren denn Umwelt- und Klima- Wie weit reicht der Einfluss von Umwelt und änderungen, die mehr Entwicklungen zulassen als andere? Laut Gerald Haug Klima auf die Entwicklung des Menschen? vom Geoforschungszentrum Potsdam Experten-Aussagen zu einer Frage, die leichter «lässt sich besonders in den Tropen beob- achten, dass die Wachstums- und Blüte- gestellt als beantwortet ist. Von Anita Vonmont phasen von Kulturen oft mit ruhigeren und eher regenreichen Klimaperioden zusammenfallen. Dagegen kommt es bei starken Klimaschwankungen und wenig Niederschlägen vor allem bei hoch- Vieles bleibt unerklärt entwickelten Kulturen tendentiell eher damals noch weit verstreut in land- menspielen und welche Bedeutung zum Kollaps.» Anschaulich nachvollziehen wirtschaftlich geprägten Gebieten. dabei Umwelt- und Klimafaktoren für lasse sich dies etwa bei der Kultur der Allerdings gibt es immer auch Bei- die menschliche Entwicklung haben. klassischen Maya, deren Entwicklung spiele, die solchen Tendenzen zuwider- sehr genau mit den klimatischen Verän- laufen, weil noch diverse weitere Faktoren HEUTE VON UMWELT VÖLLIG ENTKOPPELT derungen übereinstimme. auf die Entwicklung der menschlichen Schon gar nicht, seit Umwelt und Klima Gesellschaft einwirken, betonen Haug wie umgekehrt auch durch den Menschen STÄDTE AM NIL – LÄNDLICHES EUROPA Honegger. Eine wichtige Rolle spielen beeinflusst werden, wie das auf globaler Wie feucht oder trocken es in unterschied- sozioökonomische Faktoren, zum Beispiel, Ebene seit rund 200 Jahren zu erkennen lichen Gegenden war, spielt auch bei der wie hierarchisch eine Gesellschaft ge- ist. Auf das Leben der steinzeitlichen Entstehung der ersten Städte eine Rolle. gliedert ist, ob sie über gemeinschaftliche Jäger und Sammlerinnen, die noch stark Sie finden sich etwa im 4. Jahrtausend Einrichtungen verfügt oder einen Aus- von den natürlichen Ressourcen abhängig v.Chr. in Mesopotamien zwischen Euphrat tausch mit Nachbarregionen hat. Letzteres waren, hatten zum Beispiel klimabedingte und Tigris und im 3. Jahrtausend in Nubien wiederum hängt zum Beispiel in frühen Schwankungen der Vegetation eine ver- im Tal des Nils. Hier war der Boden sehr Gesellschaften davon ab, wie die Erdober- gleichsweise grosse Auswirkung. «Heute fruchtbar, die weitere Umgebung dagegen fläche aussieht, ergänzt der Archäologe hingegen haben wir uns durch gross- eher wüstenhaft. «Viele Menschen kon- Eric Huysecom (vgl. S. 10): «Hochgebirge räumigen Güteraustausch, Mobilität, zentrierten sich daher auf engem Raum», und Wüsten hinderten die Menschen Transport, Energieversorgung etc. von der so der Archäologe Matthieu Honegger (vgl. am Durchkommen, Savannen oder frucht- lokalen Umwelt völlig entkoppelt», stellt S. 12), und entwickelten entsprechende bares Flachland förderten dagegen die Martin Grosjean fest, «und deren ‹Impact› Siedlungsstrukturen. Im regenreichen Migration.» auf die Gesellschaft ist ausser bei klima- Europa, wo kein solcher demografischer Es lässt sich nicht so einfach sagen, tischen Extremereignissen oder Umwelt- Druck herrschte, lebten die Menschen wie die verschiedenen Faktoren zusam- katastrophen kaum mehr sichtbar.» S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6 15
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:40 Uhr Seite 16 16 S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6
SNF_Horizonte_69_D.qxd 13.12.2006 15:40 Uhr Seite 17 porträt Marguerite Neerman-Arbez: Genetik oder Schauspielkunst V O N M A R I E - J E A N N E K R I L L B I L D E R M A R T I N E G A I L L A R D Zu Gunsten der Forschung hat Marguerite Neerman-Arbez auf eine Forschung an. «Ich konnte mir damals überhaupt nicht vorstellen, mit vierzig Karriere als Schauspielerin verzichtet. Zwischen Familie und Forschung Professorin zu sein», präzisiert sie. Aber musste sie sich aber nicht entscheiden – dank des Marie Heim-Vögtlin- sie tanze in ihrer französisch-irischen Programms des SNF. Familie, die eher zur Kunst neige – ihr «Ich konnte mir früher überhaupt nicht vorstellen, s gibt keinen Tag, an dem ich erbung von Merkmalen und Mutationen mit vierzig Professorin E nicht Lust hätte, zur Arbeit zu gehen. Ganz ehrlich, denn dieser Beruf kennt keine Routine. Man wird immer wieder überrascht, das ist so spannend daran.» Wenn sie von ihren von einer Generation zur anderen zu studieren. Mit 14 Jahren zog sie mit ihrer Mutter von England nach Genf, als diese bei der Uno eine Stelle erhielt. Nach einer mathematisch-naturwissenschaft- zu sein.» Bruder ist Jazzmusiker – etwas aus der Reihe, sagt sie. Trotz ihrer Leidenschaft für die Forschungsarbeiten über die Afibrino- lichen Matura am Lycée international Genetik überlegte sie sich eine Weile genämie spricht, eine Blutgerinnungs- in Ferney-Voltaire begann sie an der auch, Schauspielerin zu werden. «Ich kranktheit, die der Hämophilie gleicht, Universität Genf Biologie zu studieren. besuchte das Konservatorium für Schau- gerät Marguerite Neerman-Arbez ins Zunächst strebte sie weder eine akade- spielkunst in Genf. Irgendwann musste Schwärmen. «Es besteht wirklich Hoff- mische Karriere noch eine Arbeit in der ich mich für das eine oder andere ent- nung, diese Krankheit gentherapeutisch scheiden. Mir war klar, dass ich in der zu heilen, auch wenn jetzt schwierig zu Forschung arbeiten und nebenher Thea- sagen ist, wann das genau sein wird.» Erfolgreiches Programm ter spielen kann, das Umgekehrte aber Die 38-Jährige ist stellvertretende kaum möglich sein würde. Deshalb habe Die Marie Heim-Vögtlin-Beiträge des SNF Assistenzprofessorin und SNF-Förde- ich mich für die Forschung entschieden.» sollen Forscherinnen, deren Karrieren meist rungsprofessorin am Departement für Heute kommt ihr die Schauspielaus- aufgrund familiärer Umstände verzögert genetische Medizin und Entwicklung der sind, helfen, die Chancen für eine weitere bildung bei der Leitung von öffentlichen Universität Genf. 1999 konnte sie das für wissenschaftliche Laufbahn zu bewahren. Tagungen oder Wissenschaftscafés zu- diese Erbkrankheit verantwortliche Gen Ob das Programm seine Ziele erfüllt, liess die gute – Bereiche ihrer Arbeit, die sie ganz identifizieren. Eine Entdeckung, die im SNF-Gleichstellungskommission nun durch besonders mag. «Ich liebe es zu erklären Umfeld der Genetik grosse Beachtung eine externe Studie evaluieren. Das Fazit: und den Leuten zu helfen, sich über das Die MHV-Beiträge sind sehr erfolgreich: fand und für die sie mehrere internatio- kontroverse Gebiet der Biotechnologie 86 Prozent der geförderten Frauen sind nale Auszeichnungen erhielt. «Ein Teil eine Meinung zu bilden. Wir haben nichts beruflich aktiv geblieben, 64 Prozent davon dieser Entdeckung war einfach Glück», an einer Universität oder Fachhochschule. zu verbergen. Wenn man mit öffentlichen räumt sie ein. «Zufall spielt in der For- Das Programm trägt der Vielfalt der Berufs- Geldern finanziert wird, hat man die schung immer eine Rolle. Aber der laufbahnen von Frauen Rechnung. Und ein Pflicht zu informieren.» Schlüssel zum Erfolg ist die Beharrlich- interessantes Detail: Die vom MHV-Pro- Marguerite Neerman-Arbez hat sich keit. Man muss leidenschaftlich sein und gramm geförderten Frauen haben überdurch- zwar zwischen Theater und Forschung, darf die Arbeitsstunden nicht zählen.» schnittlich viele Kinder. Befragt wurden 117 nicht aber zwischen Karriere und Familie Beitragsempfängerinnen der Jahre 1991 bis Die Passion für Genetik begleitet entscheiden müssen: Sie ist Mutter eines 2002, 92 davon haben geantwortet. em Marguerite Neerman-Arbez seit ihrer Die Studie ist abrufbar unter: zehnjährigen Knaben und eines acht- Jugend, als sie in der Schule begann, www.snf.ch/de/wom/ wom_enc.asp jährigen Mädchens. Nach der Geburt die Mendelschen Gesetze über die Ver- ihres Sohnes 1996 bewarb sie sich um S C H W E I Z E R I S C H E R N AT I O N A L F O N D S • H O R I Z O N T E J U N I 2 0 0 6 17
Sie können auch lesen